Zukunftsvisionen

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Zukunftsvisionen:
Die Suche nach dem Ich – Gehirn und Bewusstsein
Gespräch mit Wolf Singer
Autor:
Andreas Geyer
Eine der interessantesten Fragen der zeitgenössischen Diskussion ist jene nach dem Wesen
des menschlichen Bewusstseins. Traditionell hatte man die Erforschung dessen, was wir
Bewusstsein nennen, den Geisteswissenschaften überlassen; die Naturwissenschaften waren
kaum in nennenswerter Weise beteiligt. Die Geisteswissenschaftler wurden nicht müde, ihren
exklusiven Anspruch auf die Bearbeitung dieses Terrains zu verteidigen. Das Bewusstsein –
so die Begründung – könne keinesfalls auf körperliche bzw. physikalische Vorgänge reduziert
werden. Es sei – so der Philosophen-Jargon – einer völlig anderen ontologischen Kategorie
zuzuordnen und mit naturwissenschaftlichen Begriffen nicht zu fassen. In der Tat lieferten die
Anfänge der Hirnforschung keine ermutigenden Ergebnisse. Zwar konnte man Hirnleistungen
wie Reizverarbeitung, Speicherung, Wahrnehmung etc. auf neuronale Ereignisse im Gehirn
zurückführen; wo allerdings im Gewirr der Neuronen und Synapsen das Bewusstsein seinen
Platz haben sollte, blieb völlig rätselhaft.
Einführung
Der Hirnforscher Wolf Singer – heute einer der weltweit renommiertesten Vertreter seines
Fachs – wollte trotz dieser wenig aussichtsreichen Ausgangslage vor dem Problem des
menschlichen Bewusstseins nicht kapitulieren. Von Anfang an war es sein Ziel zu zeigen,
dass Bewusstsein als Phänomen verstanden werden kann, das sehr wohl auf der Basis von
Hirnfunktionen entsteht und entsprechend beschreibbar ist.
Singers Argumentation beginnt mit folgender Frage: Worin liegt der elementare Unterschied
zwischen der materiellen Architektur des Gehirns (der “Hardware” sozusagen) von
ichbewussten Menschen und von Tieren, denen wir kein Bewusstsein zusprechen?
Zur stammesgeschichtlichen Entwicklung bei Mensch und Tier
Die hoch differenzierten Gehirne von Menschen unterscheiden sich von den weniger
komplexen Tiergehirnen in einem einzigen Punkt: Im Lauf der Evolution erfolgte beim
Menschengehirn eine dramatische Zunahme der Großhirnrinde. Es liegt daher nahe
anzunehmen, dass die Vergrößerung der Großhirnrinde für die Entstehung von Bewusstsein
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eine wichtige Rolle gespielt hat. Wenn man die Verschaltung der menschlichen Großhirnrinde
näher untersucht, stellt sich heraus, dass die im Lauf der Evolution beim Menschen
hinzugekommenen Großhirnareale über eine interessante Besonderheit verfügen: Die neu
hinzugekommenen Areale sind mit den älteren – auch bei Tieren vorhandenen – Arealen in
gleicher Weise verschaltet, wie die älteren Areale mit den Sinnesorganen. Das bedeutet, dass
die neu hinzugekommenen Areale sich offenbar mit den Ergebnissen der Operationen von
älteren Arealen befassen und damit so etwas wie die Funktion eines “inneren Auges”
wahrnehmen. Die hirninternen Prozesse, die zur Wahrnehmung der Außenwelt befähigen,
werden auf diese Weise Gegenstand kognitiver Prozesse, die ihrerseits Gegenstand weiterer
kognitiver Prozesse werden können. Wolf Singer vermutet, dass es die Iteration prinzipiell
gleichartiger Prozesse ist, die auf diese Weise zu immer komplexeren kognitiven Leistungen
führt.
Weitere Voraussetzungen zur Entstehung des Bewusstseins
Zur Entstehung eines Ich-Bewusstseins und der Erfahrung von Individualität muss nach
Singer allerdings ein wesentlicher Punkt hinzukommen: der Dialog mit anderen Gehirnen. Da
auch die kognitiven Strukturen höherer Ordnung Zugang zu motorischen Effektorsystemen
haben, können sich Gehirne durch Aktionen des Körpers, dem sie zugehören, untereinander
austauschen. Sie können dem anderen Gehirn Auskunft über ihre Wahrnehmungen und
Beurteilungen geben. Singer sieht in dieser Fähigkeit zur Kommunikation einen weiteren
Schlüssel für das Problem des Bewusstseins: “Bewusstsein in dem Sinne, in dem wir
Menschen es verstehen (...), wäre somit ein Phänomen, das nicht mehr als emergente Qualität
eines einzelnen Gehirns anzusehen ist, sondern als Phänomen, das Eigenschaften hat, die nur
durch die Wechselwirkung mit anderen Gehirnen entstehen können.”
Unser Bewusstsein – Ein Produkt der biologischen und kulturellen Evolution
Das Bewusstsein – so lässt sich folgern – ist ein Produkt der biologischen und kulturellen
Evolution gleichermaßen. Eine allein neurobiologisch ausgerichtete Hirnforschung ist deshalb
mit dem Phänomen des Bewusstseins genauso überfordert wie eine Geisteswissenschaft, die
naturwissenschaftliche Forschungen nicht zur Kenntnis nimmt. Singer plädiert dafür, die
Grenzen der bisherigen einseitigen Beschreibungssysteme zu überschreiten und beide
Beschreibungssysteme ineinander überzuführen. In diesem Sinne appelliert er – nicht ohne
mahnenden Unterton – an die Geisteswissenschaften: “Anzeichen dafür, dass die Neuro- und
Kognitionswissenschaften in traditionell von Geisteswissenschaften verwaltete Gebiete
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eindringen, mehren sich. Da, wer sich anschickt, Grenzen zu überschreiten, in den neuen
Territorien gemeinhin zunächst zu dilettieren pflegt, sollte Sorge getragen werden, die
Neuankömmlinge dennoch wohlwollend aufzunehmen und die Gastgeschenke anzunehmen.”
Neue Forschungsergebnisse zum “Sitz des Bewusstseins” im Gehirn
In den vergangenen Jahren hat Wolf Singer zu drängenden Fragen der Hirn- und
Bewusstseinsforschung überraschende Erklärungsmodelle angeboten. Aufsehen erregte z.B.
sein Vorschlag zur Lösung des so genannten Bindungsproblems. Ausgangspunkt ist die
Frage, auf welche Weise das Gehirn die Vielfalt der Sinneseindrücke zu einer konstanten
zusammenhängenden Wahrnehmung vereint. Die traditionelle – und intuitiv unmittelbar
einleuchtende – Lösung besteht in der Annahme eines Zentrums im Gehirn, das die Signale
aus den Sinnesorganen vergleicht, deutet und darauf basierend Handlungen veranlasst. Ein
solches Konvergenzzentrum (das auf den Philosophen René Descartes (1596-1650)
zurückgeht) wäre dann auch als der Sitz des Bewusstseins zu interpretieren.
Vor dem Hintergrund der neueren experimentellen Forschung erscheint dieses Konzept
allerdings nicht mehr haltbar: Im Gehirn des Menschen befassen sich z.B. allein 30
verschiedene, zum Teil räumlich weit voneinander entfernte Areale mit der Verarbeitung
visueller Informationen; es existiert offensichtlich kein Zentrum, das die Ergebnisse
miteinander vergleicht und koordiniert. Das heißt, dass auch der Sitz des Bewusstseins nicht
in der vermuteten Weise lokalisiert werden kann. Ganz offensichtlich ist diese, nicht auf ein
Zentrum hin orientierte Organisation des Gehirns aber dennoch in der Lage,
zusammenhängende Repräsentationen aufzubauen und davon ausgehend Entscheidungen zu
treffen. Die grundlegende Frage ist, wie die Signale aus zahlreichen verschiedenen
Hirnarealen gebunden, d.h. als zusammengehörig gekennzeichnet werden können.
Die klassische Lösung des Bindungsproblems, die viele Hirnforscher auch heute noch
bevorzugen, besteht in der Annahme hoch spezialisierter Bindungsneuronen. Problematisch
wird diese Annahme dadurch, dass es für jedes erkennbare Objekt ein eigenes
Bindungsneuron geben müsste: für das Erkennen eines roten Balls ebenso wie für das
Erkennen unserer Großmutter. (Aus diesem Grund werden solche Neuronen von den
Kritikern dieses Konzeptes zuweilen ironisch “Großmutter-Zellen” genannt.) Sollte diese
Annahme zutreffen, müssten im Gehirn riesige, aus Bindungsneuronen bestehende Areale
lokalisierbar sein. Solche Areale konnten bislang jedoch nicht gefunden werden.
Wolf Singer schlägt eine andere, verblüffend einfache Lösung des Bindungsproblems vor. Im
Experiment konnte er Hinweise darauf finden, dass weit voneinander entfernte Gruppen von
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Nervenzellen, die Reize vom selben Objekt erhalten, im gleichen Takt feuern. Die synchrone
Entladung der Zellen wäre demnach die Signatur für die Zusammengehörigkeit. Auch auf
jeder höheren Verarbeitungsebene in der Gehirnrinde kann diese Signatur erhalten bleiben.
Einer der Vorteile dieses Modells liegt darin, dass dieselben Neuronen zu verschiedenen
Zeitpunkten an verschiedenen Ensembles beteiligt sein können. Ein solcher hoch dynamischer
Bindungsmechanismus könnte neben den erwähnten selbstreflexiven Verschaltungen der
Großhirnrinde eine weitere Erklärung für die komplexen Hirnleistungen des Menschen bieten.
Ein Zentrum für das Bewusstsein ist nicht strikt lokalisierbar
Alle Forschungsergebnisse Singers deuten darauf hin, dass es keine höchste Instanz im
Gehirn gibt: Das Bewusstsein ist nicht im Sinne des Descartesschen Modells lokalisierbar.
Das selbstorganisatorische Zusammenspiel verschiedener Areale des Gehirns, die sich eines
gemeinsamen Codes bedienen, liefert die Randbedingungen für die Entstehung des
Bewusstseins. Keinesfalls kann das Bewusstsein auf die Funktionen eines einzelnen Gehirns
reduziert werden: Es entsteht erst vor dem Hintergrund einer gemeinsamen kulturellen
Tradition im intersubjektiven Diskurs.
Unser Bewusstsein im ständigen Einfluss von Gehirn und Umwelt
Singer betont immer wieder die elementare Wichtigkeit der Wechselwirkungen zwischen
Gehirn und Umwelt. Im Lichte seiner Forschungen erweist sich auch die alte Frage, was in
der menschlichen Entwicklung von den Genen determiniert ist und was als Reaktion auf
Umweltreize entsteht, als falsch gestellt: Die Verschaltung der Hirnzellen entsteht von
Anfang an im intensiven Dialog zwischen den Genen und der Umwelt.
Darüber hinaus versucht Singer, die Erkenntnisse der Hirnforschung auch für andere Bereiche
fruchtbar zu machen. So hält er es für denkbar, die raffinierten Verschaltungsmechanismen
und Entscheidungsstrategien des Gehirns als Vorbild für die effektive Organisation sozialer
Systeme zu nehmen: Entscheidungssysteme in Politik und Wirtschaft sind meist hierarchisch
organisiert; sie ähneln Descartes’ Modell eines Konvergenzzentrums. Wenn die Probleme
einen bestimmten Komplexitätsgrad überschreiten, erweisen sich solche hierarchische
Strukturen als wenig flexibel und schnell überfordert: “Man sollte also prüfen, ob es nicht
vorteilhaft wäre, von der Natur zu lernen und die Entscheidungssysteme in Politik und
Wirtschaft an neuronalen Entscheidungsarchitekturen zu orientieren. Die Erwartung ist, dass
solcherart parallelisierte Entscheidungssysteme wesentlich schneller und effektiver arbeiten
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können als die hierarchischen und dass sie das in komplexen Systemen immer akuter
werdende Problem der relativen Inkompetenz von Entscheidungsträgern mildern helfen.”
Die Zitate stammen aus dem Vortrag “Bewusstsein, etwas ‘Neues, bis dahin Unerhörtes’”
(gehalten am 14. Dezember 1996 in Berlin, Manuskript, S. 6, 8) und aus dem Aufsatz “Der
Beobachter im Gehirn” (veröffentlicht in: “Der Mensch und sein Gehirn. Die Folgen der
Evolution”. Hg. v. H. Meier und Detlef Ploog. München: Piper 1997, S. 64).
Vita Prof. Dr. Wolf Singer
1943 in München geboren. Studium der Medizin in München und Paris.
1968 Promotion in München als Schüler von Otto Creutzfeld. Anschließend
wissenschaftlicher Assistent am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München und
Forschungsaufenthalt an der Universtity of Sussex/England im Department von Stuart
Sutherland.
1975 Habilitation für das Fach Physiologie an der TU München.
1981 Berufung zum Wissenschaftlichen Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft und Direktor
am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt.
1992 Mitglied der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften.
1993 Gründungsmitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
1996 Korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
29.11.98 Hessischer Kulturpreis, Sparte Wissenschaft
Forschungsgebiete: Neurobiologische Grundlagen der Wahrnehmung, strukturelle und
funktionelle Organisation der Großhirnrinde, erfahrungsabhängige Entwicklungsprozesse,
Mechanismen neuronaler Plastizität bei Lernvorgängen. Zahlreiche Buchbeiträge und über
200 wissenschaftliche Publikationen.
Artikel abgedruckt in Schulfun/Schulfernsehen April 1999
© Bayerischer Rundfunk, 1999
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