Die Architektur des Gehirns

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FREIRAUM
LUTZ JÄNCKE, HIRNFORSCHER
FOTO: Gaëtan Bally
INTERVIEW: Rebekka Haefeli
Die Architektur
des Gehirns
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Raum und Wohnen 9/13
Ich staune den ganzen Tag über mich und über die anderen. Für mich sind die
Menschen und ihr interessantes Verhalten, das durch das Gehirn kontrolliert wird,
unglaublich faszinierend. Die Architektur des Gehirns, die äussere Struktur und
die Form, aber auch die Mikrostruktur bis hin zu den Zellen, ist inzwischen gut
erforscht, aber noch nicht gänzlich verstanden. Es gibt noch vieles zu entdecken,
denn mit Hilfe von modernen Verfahren können wir heute Gehirnaktivitäten unter
bestimmten Einflüssen genau messen und darstellen. So hat man herausgefunden,
dass unser Gehirn sehr plastisch ist. Gelegentlich kann man den Eindruck gewinnen,
dass unser Gehirn formbar wie Knetmasse ist, denn es ist in der Lage, sich ständig
zu verändern. Daraus leiten wir grosse Erwartungen etwa für die Therapie bei
neurologischen Erkrankungen ab. Spannend ist, dass wir die Anatomie des Gehirns
mittlerweile am lebenden Objekt analysieren können. Früher, als ich selber noch im
Studium steckte, war dies nur post mortem möglich. Wir haben Gehirne Verstorbener seziert. Die moderne Technik hat uns neue Dimensionen der Hirnforschung
eröffnet. Als ich zum ersten Mal ein Bild meiner eigenen Gehirnaktivitäten auf einem
Bildschirm sah, bekam ich eine Gänsehaut.
Grundsätzlich glaube ich, dass wir alle viel mehr lernen können, als wir bislang vermuten, vor allem im Alter. Das grosse Schreckgespenst des Alters ist die Demenz.
Dabei erkrankt tatsächlich nur ein relativ kleiner Teil der Bevölkerung daran. Viele
Leute unterschätzen ihr Potenzial und wären überrascht, was ein 50-jähriges oder
älteres Gehirn in der Lage ist zu lernen. Das Problem ist, dass man im Alter eher
dazu neigt, sich zurückzulehnen, das zu machen, was man gut kann, automatisierte
Prozesse abzurufen und sich nicht mehr so anzustrengen oder etwas Neues in
Angriff zu nehmen. Das Hirn wird damit weniger stimuliert, und mit der Zeit kann es
sein, dass man eine Reihe von Fertigkeiten verliert. In Studien mit Probanden sind
wir laufend daran, unsere Theorien wissenschaftlich zu untermauern. An einer dieser
Untersuchungen nehmen 200 Rentnerinnen und Rentner teil. Die einen absolvieren
kognitive Trainings, die zweiten lernen ein Musikinstrument, die dritten lassen sich
als Anfänger ins Golfspiel einführen. Wir wollen wissen, wie sich das Gehirn im Laufe
dieser Trainings verändert. Und die Antwort ist: Dramatisch! Uns geht es darum
zu zeigen, dass auch im Alter alltägliche Verhaltensanpassungen sichtbare anatomische Veränderungen im Gehirn hervorrufen. Dieses Wissen könnte die Basis für
eine neue Generation von weisen, interessanten, erfahrenen, attraktiven älteren
Menschen mit einem neuen Selbstbewusstsein sein.
In unserer Gesellschaft spricht man viel zu oft vom Vergessen. Meine Meinung ist,
dass das Vergessen wichtiger als das Behalten ist. Die Menge an Informationen, die
in jeder Sekunde auf uns einprasselt, ist viel zu gross, als dass wir alles behalten
könnten. Unser Gehirn ist ein Filter ohne Ende, wir müssen uns aufs Wesentliche
konzentrieren. Es herrscht ein ewiger Kampf zwischen den verschiedenen Informationen um den knappen Platz im Gedächtnis. An die früheste Kindheit bis ins
Alter von 4 oder 5 Jahren erinnert man sich nicht; man spricht dabei von infantiler Amnesie. Woran man sich danach erinnert, ist von verschiedenen Faktoren
abhängig. Sicher ist, dass Emotionen einen Verstärkungseffekt haben, daher sind
den meisten noch Einzelheiten aus der post-pubertären Phase im Alter zwischen
ungefähr 20 und 25 Jahren präsent. Diese Zeit ist in vielen Biographien geprägt
von Liebe, Drama oder Eheschliessung. Allerdings sind wir Menschen auch Weltmeister im Interpretieren. Unser Gedächtnis ist kein unerschöpflicher, objektiver
Speicher, sondern eine Auswahl von subjektiv rekonstruierten Erinnerungen. Das
führt dann hin und wieder zu Stress in Familien: Einer erzählt eine Geschichte von
früher, und alle andern schütteln den Kopf.
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