Die aktuelle politische Lage in Nepal – Karl-Heinz Krämer – 25. August 2004 Die aktuelle politische Lage in Nepal Stand 25. August 2004 von Karl-Heinz Krämer, Südasien-Institut, Universität Heidelberg* Die politische Lage in Nepal ist nach wie vor von zwei Konflikten geprägt, die ursächlich miteinander in Zusammenhang stehen, dem maoistischen Aufstand und seiner staatlichen Begegnung einerseits sowie dem zunehmenden Scheitern der 1990 eingeleiteten Demokratisierung andererseits. Ursächlich für beide Konflikte sind das weitgehend nicht einmal versuchte Aufbrechen traditioneller Denk- und Handlungsweisen, die Nicht-Beteiligung großer Teile der Bevölkerung am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Prozess, die rücksichtslose Machtbesessenheit der den Staat auf zentraler Ebene beherrschenden Eliten, insbesondere des Königs und der Führer der politischen Parteien, die nur schwach ausgeprägte und in ihrem Auftreten zu wenig einige zivile Gesellschaft und die negative Einflussnahme auswärtiger Mächte, insbesondere der USA. Die weitverbreitete Korruption, vor allem die auf höchsten politischen Ebenen, fördert die negative Entwicklung weiterhin. Erst ganz zögerlich zeichnet sich nach mehr als zwei Jahren Bemühungen der Commission for the Investigation of Abuse of Authority (CIAA) in jüngster Zeit ein Vorgehen auch gegen führende Köpfe ab, ohne dass dies allerdings bisher Auswirkungen auf die leitende Stellung dieser Personen innerhalb ihrer politischen Parteien bewirkt hätte. Die Bevölkerung, besonders die ländliche, ist gefährdet und verunsichert. Immer wieder finden sich die Menschen zwischen den Konfliktparteien, werden von beiden Seiten unter Druck gesetzt und müssen dies oft mit ihrem Leben, ihrer Gesundheit oder dem Verlust von Hab und Gut bezahlen. Die Menschenrechtsorganisation Informal Sector Service Centre (INSEC) meldete Ende Juli 2004, dass die Zahl der im Zusammenhang mit dem maoistischen Konflikt getöteten Personen die 10.000er Grenze überschritten habe; fast zwei Drittel der Getöteten fielen Aktionen der Sicherheitskräfte zum Opfer. Es besteht weitgehender Konsens, dass eine militärische Lösung nicht möglich ist und dass eine Lösung des maoistischen Konflikts nicht gesondert von einer Rückkehr zu Demokratie und Legitimation des Staates erfolgen kann. Aber die politisch und militärisch Verantwortlichen (exekutive Gewalt und militärisches Kommando liegen letztlich in den Händen König Gyanendras) wollen dies nicht wahrhaben und sehen sich in dieser Auffassung von der US-amerikanischen Bush-Regierung, teilweise auch von der britischen Regierung, nachdrücklich bestärkt. Der Staat: Demokratie und Legitimation * Die vorliegende Studie wurde von einem unabhängigen Gutachter erstellt und entspricht nicht notwendigerweise der Meinung der Friedrich-Ebert-Stiftung. 1 Die aktuelle politische Lage in Nepal – Karl-Heinz Krämer – 25. August 2004 Die Euphorie über das 1990 eingeführte demokratische System machte schon zu Beginn der 1990er Jahre rasch einer großen Ernüchterung Platz. Den quasi über Nacht mit den Aufgaben einer demokratischen Repräsentation bedachten, überwiegend unerfahrenen Parteipolitikern wuchs die Aufgabe schon bald über den Kopf. Das für Nepals politische Kreise traditionell typische System einer korrupten Vettern- und Klientenwirtschaft wurde auch nach dem Systemwechsel von 1990 unverändert fortgesetzt. Verstärkt wurde dies durch das einseitige Geschichts- und Gesellschaftsbild, das allen Parteiführern in die Wiege gelegt worden war. Entsprechend dieser Tradition waren die Identifikationsmerkmale nepalischer Bürger die Nepali-Sprache, die hinduistische Religion (mit all ihren äußerlichen Aspekten), die Kleidung der den Staat dominierenden hochkastigen Elite, die Verherrlichung und Verklärung der wohlwollenden und stets nur um die nepalischen Bürger bedachten Monarchie, die gut 200 Jahre zuvor das Land in großer Weitsicht geeinigt hatte, die Verhaftung in den traditionellen Gesellschaftsvorstellungen der hochkastigen männlichen Hindugesellschaft. Wer nicht in dieses Bild passte oder sich ihm anpasste, galt als „nichtnepalisch“, als Außenseiter oder gar als Störenfried. Bereits in den frühen 1990er Jahren machte der Spruch die Runde, es habe sich eigentlich gar nicht so viel verändert am politischen System; es seien lediglich einige Führungspersonen ausgetauscht worden. Untermauert wurde dies durch die Tatsache, dass die Verfassung vom November 1990 weitgehend auf Schritte verzichtete, welche die traditionelle hierarchische Denkweise hätten in Frage stellen können, so z. B. die Abschaffung des Hindu-Staats, die Gleichberechtigung von Frauen in Verfassung und Staatsbürgerschaftsrecht, die Gestaltung der National Assembly (Oberhaus des Parlaments) als ein Organ, in welchem alle Gesellschaftsgruppen des Landes eine Vertretung und ein Mitspracherecht erhalten, oder die Erlaubnis eines an eigenen Werten und Interessen orientierten politischen Engagements der im Hindustaat benachteiligten oder ausgegrenzten Gruppen. Gleichzeitig erklärte sich die nie vom Volk gewählte Elite des Nepali Congress und der damals in der United Left Front (ULF) zusammengeschlossenen politischen Parteien, allesamt überwiegend männliche Brahmanen, zu „den Repräsentanten des Volkes“. Kritik an ihrem Konzept des neuen Systems wurde damals energisch zurückgewiesen, obgleich mehr als 90% der Volkseingaben zum Verfassungsentwurf gerade diese Schwachpunkte betrafen. Bishwanath Upadhyaya, Vorsitzender der Verfassungskommission und selbst Brahmane, bezeichnete diese Kritik als unwichtig für eine demokratische Verfassung; Krishna Prasad Bhattarai, Premierminister der Übergangsregierung von 1990/91 erklärte vorgeschlagene Reservierungen für besonders benachteiligte Gruppen entsprechend indischem Vorbild als überflüssig, weil das neue politische System automatisch zu einer angemessen Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen führen würde. Genau das ist aber nicht der Fall gewesen, wie wir in den Folgejahren beobachten konnten. Die politischen Parteien hätten für eine solche Beteiligung sorgen müssen, aber alle Parteien scheiterten bereits an ihrer wenig demokratischen internen Struktur. So blieben die Parteieliten bis heute in erster Linie ein Klub männlicher Angehöriger der hohen Hindukasten, vor allem der Brahmanen. Dies hatte zur Folge, dass die notwendige Demokratisierung und Beteiligung einer breiten Volksbasis ausblieb. Kein Mitspracherecht am politischen Entscheidungsprozess bedeutete gleichzeitig einen Ausschluss wirtschaftlicher Beteiligung. Gerade die bedürftigsten Bevölkerungsgruppen hatten daher wenig von den immer größeren Summen an Entwicklungshilfegeldern, die nach 1990 nach Nepal flossen. 2 Die aktuelle politische Lage in Nepal – Karl-Heinz Krämer – 25. August 2004 Hier muss man beginnen, wenn man nach den Ursachen für das Scheitern der Demokratisierung und für das Entstehen des maoistischen Aufstands sucht. Letzterer mag initiiert und geführt sein von Personen, die auf Grund ihrer gesellschaftlichen Abstammung den gleichen Bevölkerungskreisen angehören wie die Eliten der parlamentarischen Parteien, aber sie verstanden es, sich den Unmut der ausgegrenzten Bevölkerungsmassen zu eigen zu machen, um ihre Ideologie sowie ihre Kritik am Zustand des heutigen politischen Systems deutlich zu machen. Man darf in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen, dass zumindest Teile der CPN (Maoist), einschließlich ihres Chefideologen Baburam Bhattarai, aus jener linken Parteigruppierung hervorgegangen sind, die bei den Wahlen von 1991 drittstärkste Kraft im Parlament geworden war. Baburam Bhattarai wollte mit seiner Gruppe auch an den Wahlen von 1994 teilnehmen. Erst als die Wahlkommission diese Gruppe ablehnte, ging er in den Untergrund, wo er sich mit der Gruppe um Pushpa Kamal Dahal, besser bekannt als Genosse Prachanda, zur CPN (Maoist) zusammenschloss. Das etablierte System lieferte also nicht nur einen ideologischen sondern auch einen rein praktischen Beweggrund für die Formierung dieser Partei. Der Ausbruch des bewaffneten Aufstands der Maoisten fiel zusammen mit dem rapiden Niedergang des politischen Systems. Die gesamte Phase zwischen den Wahlen von 1994 und denen von 1999, die geprägt war durch das Fehlen der parlamentarischen Mehrheit einer einzelnen Partei, zeichnete sich durch einen andauernden Machtkampf zwischen den Führern der diversen Parteien um Posten und Pfründe aus. Dies sorgte dafür, dass die CPN (Maoist) in den Anfangsjahren ihres Aufstands einen wachsenden ideologischen Zuspruch sowohl seitens der Masse der benachteiligten Bevölkerungsgruppen als auch seitens der nicht parteipolitisch organisierten und immer unzufriedener werdenden Intellektuellenkreise erhielt. Der endgültige Niedergang des demokratischen Systems wurde eingeläutet, als der Nepali Congress 1999 dank der Spaltung der CPN (UML) zwar wieder eine Alleinregierung bilden konnte, doch bedeutete dies angesichts der parteiinternen Machtkämpfe zwischen Girija Prasad Koirala, Krishna Prasad Bhattarai und Sher Bahadur Deuba in Wirklichkeit keine Veränderung gegenüber den Jahren zuvor. In diese Situation ereilte Nepal dann mit der Ermordung der gesamten engeren Familie König Birendras ein folgenschweres Schicksal. Der Ablauf der diesbezüglichen Ereignisse ist zwar nie genau geklärt worden, er wurde aber in den Medien, in Büchern und Artikeln ausführlich diskutiert. Fest steht, dass mit diesem Ereignis die Monarchie wieder stärker in das Blickfeld der nepalischen Politik gerückt ist. Vor 1990 hatte Birendra die undemokratische Politik seines Vaters Mahendra mehr oder weniger unverändert fortgesetzt, und er hatte auch in der Phase der Ausarbeitung der Verfassung von 1990 wiederholt versucht, Einfluss zu nehmen, aber nach der Verkündigung der Verfassung hatte er sich auffallend deutlich aus der direkten Politik zurückgezogen und die ihm zugewiesene Aufgabe eines konstitutionellen Monarchen weitgehend perfekt erfüllt. Dies bedeutete jedoch nicht, dass wirklich alle mit seinem Vorgehen einverstanden waren. Vor allem aus Kreisen der Armee, deren Oberster Kommandant er laut Verfassung immer noch war, wurde zunehmend sein Widerstand gegen eine Mobilmachung der Armee gegen die maoistischen Aufständischen kritisiert. Gyanendra, der nach dem Tod seines Bruders auf den Thron kam (wobei er laut Verfassung niemals zum König hätte ernannt werden dürfen, wenn Dipendra wirklich seinen Vater ermordet hat), erklärte von Anbeginn, er wolle ein aktiver Monarch sein, was schon als Widerspruch zur rein konstitutionellen Rolle der Monarchie auf der 3 Die aktuelle politische Lage in Nepal – Karl-Heinz Krämer – 25. August 2004 Grundlage der Verfassung von 1990 gesehen werden muss. Vollzogen hat er diesen Schritt formell mit seiner direkten Machtergreifung vom 4. Oktober 2002. Einsetzung einer Mehrparteienregierung unter Deuba In den knapp zwei Jahre seit seinem Putsch hat König Gyanendra bewiesen, dass er ebenso „unfähig“ (so das wörtliche Argument Gyanendras für die Absetzung Sher Bahadur Deubas im Oktober 2002) ist wie die von ihm entmachteten, aber immerhin durch demokratische Wahlen an die Macht gekommenen Politiker. Die beiden ersten von Gyanendra eingesetzten Regierungen waren weder in der Lage, einen dauerhaften Friedensschluss mit den Maoisten herbeizuführen noch konnten sie den erklärten königlichen Willen zu einer Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse auch nur ansatzweise realisieren. Die königlichen Regierungen unter den Premierministern Lokendra Bahadur Chand (eingesetzt am 11.10.2002) und Surya Bahadur Thapa (eingesetzt am 04.06.2003) scheiterten zum einen an der grundsätzlichen Kooperationsverweigerung der politischen Parteien, zum anderen aber auch an ihrer mangelnden Befugnis. Sie waren lediglich Exekutivorgane des Königs ohne jegliche eigene Macht und Legitimation. Das Paradebeispiel hierfür ist der gescheiterte Friedensprozess von 2003: Der Chand-Regierung gelang es zwar, einen erneuten Dialog mit den Maoisten in Gang zu setzen, aber sobald es bei diesem Dialog um die zukünftige Stellung der Monarchie und um ihr Hauptmachtinstrument, die Armee, ging, war diese Regierung zum Scheitern verurteilt. Dies reflektierte wiederum nichts besser als die einige Zeit später von der Thapa-Regierung präsentierte Agenda, die einen nichtssagenden Katalog von Verfassungsänderungen beinhaltete und dabei konkrete Vorschläge zur Beseitigung der nepalischen Grundübel vermied. Mit dieser Agenda konnte der Friedensdialog erneut nur scheitern. Die Thapa Regierung hielt sich zwar noch bis Anfang Mai 2004, doch machten ihr in den letzten Monaten nicht nur die auf den Straßen demonstrierenden politischen Parteien (einschließlich der eigenen Rastriya Prajatantra Party) zu schaffen, sondern auch die Tatsache, dass sich immer größere Kreise der zivilen Gesellschaft diesen Demonstrationen anschlossen. Verstärkt wurde dies ferner durch internationalen Druck sowohl seitens der Menschenrechtsorganisationen als auch seitens der meisten Geberländer. Als Gyanendra dann am 2. Juni 2004 mit Sher Bahadur Deuba genau jene Person wieder zum Premierminister ernannte, die er am 2.10.2002 wegen „Unfähigkeit“ abgesetzt hatte, mutete dies wie eine Rücknahme seines damaligen Putsches an. Es entbrannte sogleich ein Streit über die Frage, ob dies eine Wiedereinsetzung Deubas oder lediglich eine weitere königliche Bestimmung eines Premierministers war, die sich in nichts von jenen seiner Vorgänger Lokendra Bahadur Chand und Surya Bahadur Thapa unterschied. Gyanendra selbst enthielt sich diesbezüglicher Stellungnahmen, doch ihm wohlgesonnene Journalisten unterließen keine Gelegenheit, zu untermauern, dass heute auch Deuba nur ein Premierminister aus Königs Gnaden ist. Gyanendra hatte versucht, die auf den Straßen demonstrierenden fünf Parteien (Nepali Congress, CPN-UML, People's Front Nepal, Nepal Workers' and Peasants' Party und die von Ananda Devi geführte Gruppe der Nepal Sadbhavana Party) bei der Auswahl des neuen Premierministers zu beteiligen, doch waren diese erneut nicht in der Lage, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten aus den eigenen Reihen 4 Die aktuelle politische Lage in Nepal – Karl-Heinz Krämer – 25. August 2004 zu einigen; wie so oft setzten sie persönliche Machtbestrebungen über das Wohl des zunehmend in seiner Existenz gefährdeten Landes. Nach der Ernennung Deubas zerbrach das Bündnis der fünf Parteien, als die CPN (UML) zu erkennen gab, dass sie an einer Regierungsbeteiligung interessiert war; die anderen vier Parteien setzten ihre Straßendemonstrationen fort, doch verloren diese deutlich an Vehemenz. Unabhängig davon, ob es sich um eine Wiedereinsetzung oder lediglich um eine Neuernennung Deubas handelt, die Leitung der Regierung ist wieder in den Händen jener Person, der sie 2002 auf verfassungswidrige Weise genommen wurde. Doch es wäre falsch hieraus eine Legitimation dieser neuen Regierung abzuleiten, da auch die Wahlperiode des 2002 aufgelösten Parlaments, welches Deuba damals seine Legitimation gegeben hatte, im Mai 2004 abgelaufen wäre. Eine solche Legitimation kann nur durch eine Rückübertragung der Souveränität vom König auf das Volk erreicht werden: Der König muss in seine konstitutionelle Rolle zurückkehren, es müssen Parlamentswahlen abgehalten werden und das so gewählte Parlament als Vertretung des Volkes muss dann eine neue Regierung legitimieren. Die jetzige Ernennung Deubas kann nur vage mit Artikel 127 der Verfassung begründet werden, da der König bei der Anwendung dieses exekutiv orientierten Artikels zur Beseitigung von Verfassungsproblemen an die Empfehlung des vom Volk legitimierten Premierministers gebunden ist; eben den aber hat Gyanendra im Oktober 2002 abgesetzt. Die Führer aller politischen Parteien lassen im Augenblick außer acht, dass keiner von ihnen legitimiert ist, für das Volk zu sprechen; eine solche Selbsteinschätzung, die bei allen Parteiführern vorherrscht, ist genauso anmaßend wie 1990, als sie erklärten, das Volk habe die Verfassung entworfen und verabschiedet; in Wirklichkeit handelte es sich auch damals lediglich um selbsternannte Volksvertreter bzw. Repräsentanten der Monarchie. So kann die heutige Regierung nur einen Auftrag haben: sie muss den ungesetzlichen Zustand so rasch wie möglich beenden, und als solche ist sie auf jeden Fall besser geeignet als ein Gremium königstreuer Politiker. Doch das Dilemma ist unübersehbar: Da Parlamentswahlen nur nach einer Beendigung des maoistischen Aufstands möglich sind und eine Beteiligung der Maoisten im zukünftigen Parlament notwendig ist, wenn ein Frieden dauerhaft sein soll, hat ein offener und bedingungsloser Dialog mit den Maoisten absolute Priorität. Alle anderen Staatsaufgaben sind von der Deuba-Regierung lediglich im Rahmen des Notwendigen abzuwickeln. Ein erfolgversprechender Dialog mit den Maoisten kann nicht deren Annahme des Status Quo und ihre Eingliederung in das bestehende parteipolitische System zum Thema haben. Das Land bedarf grundlegender Veränderungen, wenn Konflikte wie der maoistische in Zukunft vermieden werden sollen. Eine bessere Allgemeinbildung und mehr oder weniger gut formulierte Grundrechte haben zu einem verbesserten Bewusstsein unter jenen Teilen der Bevölkerung geführt, die bisher nicht beteiligt sind. Seit 1990 hat es kaum Veränderungen in der Haltung und Denkweise der staatsdominierenden Elite gegeben. Hier muss ein Umdenken erfolgen und dieses muss seinen Niederschlag in der Verfassung und den nachgeordneten Gesetzen finden. Solche Veränderungen haben zu tun mit der Definition des Staates und seiner Bürger, mit der Beschränkung und Kontrolle der Macht, einschließlich der des Königs. Die Kontrolle und Befehlsgewalt über die Armee muss in den Händen einer demokratisch gewählten Regierung liegen, die ihrerseits wiederum vom Parlament kontrolliert wird. Die Strukturen und die Organisation der Parteien, aber auch die Organisation und der Arbeitsstil des Parlaments bedürfen einer wesentlich stärkeren Demokratisierung. Beispielsweise ist es ratsam, die Nationalversammlung, das 5 Die aktuelle politische Lage in Nepal – Karl-Heinz Krämer – 25. August 2004 Oberhaus des Parlaments, in ein Organ umzuwandeln, das allen Gesellschaftsgruppen eine Repräsentationsmöglichkeit bietet. Auch das Wahlsystem muss verändert werden; man kann es nicht als demokratisch bezeichnen, wenn eine Partei zwei Drittel der Parlamentssitze mit nur einem Drittel der abgegebenen Stimmen erlangt; dies ist keine repräsentative Demokratie, da zwei Drittel der Bevölkerung diese Partei ausdrücklich nicht an der Regierung sehen wollen. Der Ausschluss großer Teile der Gesellschaft ist wesentlicher Bestandteil der königlichen Politik gewesen seit Prithvinarayan Shah vor gut 250 Jahren das Land unter die Kontrolle seiner Familie gebracht hat. Wenn König Gyanendra, wie schon seine Vorgänger, heute davon spricht, die nepalische Monarchie habe sich immer für das „Volk“ eingesetzt, dann kann er mit diesem Begriff nicht die großen Gesellschaftsgruppen meinen, die bis heute bewusst nicht oder kaum beteiligt sind: Dalits, ethnische Gruppen, die Tarai Bevölkerung, die Frauen im allgemeinen. Diese Gruppen bedürfen einer besonderen Förderung und Begünstigung ebenso wie einige Regionen des Landes, die in der Vergangenheit vernachlässigt wurden. Die Sprachen und Kulturen der diversen ethnischen Gruppen müssen den gleichen Respekt und Wert erhalten wie die Nepali-Sprache und die Kultur der heute herrschenden Eliten. Letztere müssen in jeder Hinsicht aufgebrochen werden; Ethnizität, Geschlecht oder regionale Ursprünge dürfen nicht länger Voraussetzung sein, um Mitglied dieser Eliten zu werden. Leider war das langwierige Gerangel um eine Beteiligung anderer Parteien an der neuen Regierung sowie um ein sogenanntes gemeinsames Minimalprogramm alles andere als vielversprechend. Ging Deuba noch wenige Wochen vor seiner Wiedereinsetzung parallel zu den fünf Parteien auf die Straße und forderte unter anderem eine verfassunggebende Versammlung, (die wichtigste Forderung der Maoisten für eine friedliche Lösung des Konflikts), so will er heute davon nichts mehr wissen. Dabei ist auch festzuhalten, dass gerade er einen großen Anteil an der Eskalation des maoistischen Aufstands hatte. Er war im Januar 1996 der Premierminister, der den 40-Punkte-Forderungskatalog der Maoisten völlig ignorierte, was diese zur Ausrufung des „Volkskriegs“ gegen des Staat veranlasste. Deuba war 2001 erneut Premierminister, als der erste Dialog mit den Maoisten scheiterte, weil die Regierung nicht wirklich gesprächsbereit war; auf seine Veranlassung verhängte König Gyanendra im November 2001 den Ausnahmezustand und mobilisierte die Armee gegen die Maoisten; Deuba war der Premierminister, der den berüchtigten Terroist and Destructive Activities (Control and Punishment) Act (TADA) einführte, welcher bis heute die rechtliche Grundlage für die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitskräfte darstellt; er war der Premierminister, der den König Ende Mai 2002 bat, das Parlament aufzulösen, weil er die Fortdauer seiner Macht gefährdet sah. Im Juli 2002 löste er schließlich die gewählten lokalen Gremien auf und ersetzte sie durch Regierungsbeamte, anstatt ihre Amtszeit wegen der Nichtdurchführbarkeit von Wahlen zu verlängern; unausgesprochener Anlass für dieses Vorgehen war, dass die lokalen Gremien bei den Wahlen von 1997 mehrheitlich von der CPN (UML) gewonnen worden waren, bei den für November 2002 angesetzten Parlamentswahlen wollte Deuba aber auf lokaler Ebene eine mögliche Kontrolle durch die CPN (UML) verhindern. Deubas politische Vergangenheit als Premierminister ist also alles andere als von moralischen Idealen getragen gewesen. Doch auch die drei Parteien, die sich jetzt neben seinem Nepali Congress (Democratic) an der Regierung beteiligen (CPNUML, Rastriya Prajatantra Party und die von Badri Prasad Mandal geführte Gruppe der Nepal Sadbhavana Party), lassen erkennen, dass es ihnen weiterhin in erster 6 Die aktuelle politische Lage in Nepal – Karl-Heinz Krämer – 25. August 2004 Linie um die Machtbeteiligung geht. Angesichts der mangelnden Legitimation der Regierung wäre ein Minimal-Ministerrat mit 6-7 Mitgliedern völlig ausreichend gewesen. Aber die sich über einen Monat hinziehenden Verhandlungen waren in erster Linie von Postenkämpfen geprägt, die sowohl zwischen als auch innerhalb der Parteien ausgefochten wurden, ein Bild, das für Nepals Parteien seit 1991, eigentlich schon seit 1951, prägend ist. Infolge der parteiinternen Kämpfe steht die Rastriya Prajatantra Party (RPP) jetzt vermutlich vor einer erneuten Spaltung, da die Gruppe des gerade gescheiterten Surya Bahadur Thapa eine erneute Beteiligung an der Regierung nicht durchsetzen konnte. Aber auch in der CPN (UML) und selbst in Deubas NC (D) gärt es. Um den diversen Ansprüchen auch nur annähernd gerecht zu werden, wurde die Zahl der Minister erneut auf 31 hochgeschraubt. 12 der Minister gehören dem NC (D) an, 11 der CPN (UML), 5 der RPP, einer der NSP; dazu gesellen sich zwei Vertraute des Königs. Drei der 31 Ministerratsmitglieder sind Frauen; sie bekleiden die Plätze 17, 26 und 31 in der ratsinternen Hierarchie, deren Bedeutung in Nepal stets aussagekräftig ist. Dass es sich bei einer dieser Frauen um die Schwiegermutter Premierminister Deubas handelt, verdient nur am Rande Erwähnung. Erstmals wurden auch zwei Dalits beteiligt und als Assistenzminister auf den Plätzen 29 und 30 eingeordnet. Schließlich fällt noch auf, dass „nur noch“ rund ein Drittel der Minister männliche Brahmanen (Bevölkerungsanteil ca. 6,5%) sind, doch war dies auch in der Vergangenheit schon ähnlich, wenn der Premierminister aus dem Kreis der Chhetri kam. Selbst das Anfang Juli verabschiedete Minimum Programme for Common Consensus (MPCC), das als Grundlagenpapier der Regierungsarbeit dienen soll, wird der genannten Hauptanforderung der Regierung in keiner Weise gerecht. Das Papier ist in einem Stil verfasst, der auf eine jahrelange Arbeit einer legitimierten Regierung ausgerichtet ist. Die wirklich wesentlichen Aufgaben der jetzigen Regierung, ein Friedensschluss mit den Maoisten, ein ernsthafter Dialog mit letzteren und die Einleitung umfangreicher politischer und sozialer Veränderungen, werden nicht oder nur sehr vage angesprochen, wie dies auch schon bei der sogenannten Regierungsagenda während der zweiten Verhandlungsrunde mit den Maoisten Mitte 2003 der Fall gewesen war. Der notwendige Wandel ist ohne grundlegende konstitutionelle und gesetzliche Veränderungen überhaupt nicht zu erreichen, doch wird die Forderung der Maoisten nach einer durch eine gewählte verfassunggebende Versammlung geschaffene neue Verfassung bereits jetzt abgelehnt. Wie soll bei einer solchen Grundhaltung überhaupt erst eine Vertrauensbasis für Gespräche geschaffen werden? Da wundert es wenig, dass der Vorsitzende der CPN (Maoist), Prachanda, die neue Regierung von Anfang an als nicht verhandlungsfähig abhakt. Rolle und Zukunft der Monarchie Es bleibt die Frage, ob König Gyanendra all dies vorausgesehen hat. Möglicherweise war es ein geschickter Schachzug im Interesse einer Stärkung der monarchischen Seite, wenn die politischen Parteien in dieser ohnehin schon düsteren Situation einmal mehr belegen, dass sie dem Land keine Zukunft bieten können. Lokendra Bahadur Chand hatte in seiner rund achtmonatigen Zeit als königlicher Premierminister, vermutlich auf Veranlassung von Gyanendra, sogenannte Work Performance Regulations verabschiedet, die eine aktive Teilnahme des Königs an den Kabinettsitzungen festlegten. Zwar hat der König sich jetzt zur Rücknahme dieser Regelung bereit erklärt, doch scheint dies seine aktive Haltung wenig zu beeinflussen. Bezeichnenderweise berichtete die regierungseigene Zeitung The Rising Nepal abweichend von der freien Presse nicht, dass der Premierminister jetzt 7 Die aktuelle politische Lage in Nepal – Karl-Heinz Krämer – 25. August 2004 einen 31-köpfigen Ministerrat gebildet habe, sondern es hieß wörtlich: „Seine Majestät erweitert den Ministerrat auf der Grundlage des Artikels 127 der Verfassung“. Hier wird klar: Alle Macht liegt beim König, wie es schon 1951-1990 (mit einer kleinen Unterbrechung 1959/60) der Fall war; die heutige Deuba-Regierung ist nur eine Regierung aus Königs Gnaden, egal wie die an ihr beteiligten Politiker dies interpretieren mögen. Die Haltung des Königs wird untermauert durch das Vorgehen und die Selbsteinschätzung seines stärksten Werkzeugs, der Armee. Seit der Verhängung des Ausnahmezustands und der Verabschiedung von TADA während der vorigen Deuba-Regierung in 2001/2 haben sich die Sicherheitskräfte durch eine besonders grobe Missachtung grundlegender Menschenrechte ausgezeichnet. Ihr Vorgehen ist oft noch schlimmer als das der zu Terroristen erklärten maoistischen Aufständischen. Amnesty International (AI) und andere Menschenrechtsorganisationen werfen beiden Konfliktgegnern grobe Menschenrechtsverletzungen vor. Bezeichnenderweise stehen gerade die Sicherheitskräfte, die doch eigentlich rechtsstaatliche Werte respektieren und sichern sollten, im Brennpunkt der Aktionen dieser Organisationen. Der Oberste Gerichtshof hat wiederholt Stellungnahmen der Armee im Zusammenhang mit solchen Fällen angefordert. Obgleich der Armeechef Pyar Jung Thapa die Kooperationsbereitschaft der Armee mit der Justiz erklärt hat, weigerte sich die Armee, den Aufforderungen des Obersten Gerichtshofs Folge zu leisten. Wörtlich erklärt sich die Armee des Königs, der ihr Oberbefehlshaber und somit politisch für alle ihre Vergehen verantwortlich ist, als außerhalb von Recht und Gesetz stehend. Die Diskussion über die Rolle der Monarchie in der Geschichte des modernen Nepal ist in den letzten Jahren offener geworden. Viele Intellektuelle sehen die Haltung und Argumentation des Königs inzwischen durchaus kritisch, doch tun sich die meisten noch sehr schwer, dies auch mit letzter Konsequenz offen auszusprechen. Dies hängt sehr eng zusammen mit den Mythen, welche eine Elite königstreuer Historiker um diese Institution gerankt haben. Dieser verklärende Blick muss aufgehoben werden, wenn Nepals aktuelle Probleme gelöst werden sollen. Unter allen politischen Kräften, die dabei eine Rolle spielen, ist die Monarchie die mit Abstand konservativste. Alle nepalischen Könige bis zu Gyanendra behaupten bei jeder sich bietenden Gelegenheit, die nepalische Monarchie habe stets alles nur für das Wohl des Volkes getan. Tatsächlich haben viele Monarchen in der Geschichte zunächst an sich selbst gedacht; sie haben alles daran gesetzt, ihren Einfluss, ihre Macht und ihren Wohlstand zu vergrößern. Warum sollte die nepalische Monarchie hiervon eine Ausnahme bilden? Betrachtet man die nepalische Geschichte nicht aus der Perspektive der elitären Historiker oder der auf ihren Werken beruhenden Darstellung in den Schulbüchern sondern aus jener bisher kaum schriftlich niedergelegten Sicht der benachteiligten und nicht beteiligten Massen, dann wird klar, dass letzte nicht „das Volk“ sind, von dem die Könige und die Schulbücher sprechen. Im Gegenteil, sie sind die Opfer königlicher Politik seit die Shah-Familie von Gorkha vor gut 250 Jahren den Einigungsprozess des Landes einleitete – unabhängig davon, dass letzterer Prozess notwendig war, um die Unabhängigkeit Nepals bis heute zu sichern. Ein anderer Aspekt dieses nichtinklusiven Systems ist seine extreme Zentralisierung. Einige Gegenden des Landes (so das ferne und mittlere westliche Bergland, Teile des Tarai und die nördliche Hochgebirgsregion) sind extrem vernachlässigt worden. Einige intellektuelle Vordenker, wie z. B. Prakash A. Raj, führen die Nichtbeteiligung der Brahmanen und Chhetri des fernen und mittleren westlichen Berglands als 8 Die aktuelle politische Lage in Nepal – Karl-Heinz Krämer – 25. August 2004 Beweis an, um die Argumentation der Janajati-Organisationen der ethnischen Gruppen hinsichtlich derer Nichtbeteiligung zu widerlegen. In Wirklichkeit sind beide Aussagen richtig: Die ethnischen Gruppen werden aufgrund ihrer Ethnizität ausgeschlossen, die Hindukasten des fernwestlichen Nepal wegen ihres Wohngebietes. Anzumerken ist noch, dass in dieser Region Nepals kaum ethnische Gruppen ansässig sind. Der Umstand, dass größere Teile der Bevölkerung im modernen Nepal nicht beteiligt wurden, hat nur wenig mit religiösen oder kulturellen Verbundenheiten zu tun. Anstatt stolz darauf zu sein, Nachkommen der seit Jahrtausenden in Nepal ansässigen Khas und Magar zu sein, haben die elitären Kreise um die herrschende Shah-Familie es vorgezogen, ihre Abstammung von hochkastigen indischen Hindufamilien konstruieren zu lassen. Dies war Teil eines Missbrauchs der Religion und Kultur, der auch dazu genutzt wurde, ein äußerst stratifiziertes Gesellschaftssystem im Interesse der herrschenden Kreise unter der Shah-Dynstie zu installieren, welches Ausschüsse und Missgunst in die nepalische Gesellschaft getragen hat. Mit wachsender Bildung und Rechtsbewusstsein ist dieser Missstand zu einem wesentlichen Bestandteil des Widerstands der benachteiligen Massen nach 1990 geworden. Ein anderes Beispiel des Missbrauchs der Religion für machtpolitische Interessen ist die Definition des modernen nepalischen Staats als Hindustaat. Bezeichnenderweise griff die Monarchie erst nach dem Eindringen westlich-demokratischer Ideen auf diese Definition zurück. Die 1950er Jahre waren gekennzeichnet von einem Machtkampf zwischen der wiedererstarkenden traditionellen Institution der Monarchie und den jungen, aber schwachen politischen Parteien. Die Monarchie gewann schließlich die Oberhand und definierte Nepal in der Panchayat-Verfassung von 1962 erstmals als Hindustaat. Es ist einer der größten Mängel der Verfassung von 1990, dass man an diesem Begriff festgehalten hat. Die widersprüchlichen Argumente führender Politiker und auch einiger Intellektueller zeigen, dass sie diesen Begriff missverstehen oder zumindest so tun, als würden sie ihn missverstehen. Die religiöse Bindung des Königs an die hinduistische Religion ist in diesem Zusammenhang nachrangig. Entscheidend für eine Hindumonarchie sind die Definition der Macht des Königs sowie die gesellschaftspolitische Konzeption auf der Grundlage traditioneller hindupolitischer Schriften. Beides widerspricht den Vorstellungen eines konstitutionellen Monarchen westlich-demokratischen Musters. König Gyanendra verhält sich seit Oktober 2002 wie ein traditioneller Hindumonarch; das ist nur von Artikel 4 der Verfassung von 1990 gedeckt, steht aber in krassem Widerspruch zu allen anderen Artikeln. Nepal, ein gescheiterter Staat? Perspektiven einer Konfliktlösung Die jüngsten Entwicklungen machen wenig Hoffnung auf einen baldigen erneuten Dialog zwischen dem Staat und den Maoisten. Letztere bestreiten denn auch grundsätzlich entsprechende Aussagen und Spekulationen der Regierung, politischer Parteien und der Medien. Das derzeitige Vorgehen der Maoisten ist alles andere als gesprächsfördernd. Seit Monaten entführen sie landesweit Schüler, zum Teil auch Lehrer, um sie für ihre Sache zu drillen. Neuerdings haben sie auch den Medien offen den Kampf angesagt: Ein Journalist wurde ermordet, mehreren anderen wurde die Ermordung angekündigt. Am 18. August riefen sie eine unbefristete Blockade des Kathmandutals aus. In den ersten Tagen hatten sie wegen des massiven Sicherheitsaufgebots der Armee damit allerdings wenig Erfolg. Bomben, die im Soaltee-Hotel explodierten, und massive Drohungen erzwangen jedoch die 9 Die aktuelle politische Lage in Nepal – Karl-Heinz Krämer – 25. August 2004 Schließung wichtiger Industrieunternehmen. Außerdem ist zu befürchten, dass die Konzentration der Armeekräfte auf die Zugänge des Kathmandutals den ländlichen Raum wieder verwundbarer für maoistische Attacken macht. Nach nur sechs mehr oder weniger erfolglosen Tagen setzten die Maoisten die Blockade für einen Monat aus. Dies gibt aber auch Spekulationen Raum, die sich um geheime Vorgespräche zwischen der Regierung und den Maoisten ranken; in diesem Fall könnte die Aktion lediglich einer letzten Stärkung der maoistischen Verhandlungsposition gedient haben. Auffällig war, dass die westlichen Medien die maoistische Blockade des Kathmandutals überbewertet haben. Die Armee hatte in den letzten Monaten wiederholt Schwerpunktaktionen in einigen westnepalischen Distrikten durchgeführt. Nachdem sie diese Distrikte als von den Maoisten befreit erklärt und sich wieder von dort zurückgezogen hatte, kehrten die Maoisten innerhalb weniger Tage zurück. Die Militärmaßnahmen waren also mehr oder weniger wirkungslos. Außerdem unterscheidet sich die Armee hinsichtlich der Missachtung der Menschenrechte kaum von den Maoisten. Die Tatsache, dass zwei Drittel der inzwischen mehr als 10.000 Opfer des maoistischen Aufstandes auf das Konto der Sicherheitskräfte gehen, spricht eine deutliche Sprache. Besonders negativ fällt die Armee seit Monaten durch willkürliche Verhaftungen auf. Sehr viele der auf diese Weise Verhafteten verschwinden spurlos; die Armee bestreitet hinterher meist die Verhaftung oder widersetzt sich jeglichen Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs, diese Vorgänge aufzuklären; mit anderen Worten, die Armee sieht sich außerhalb von Recht und Ordnung. Die politische Verantwortung hierfür hat letztlich der Oberkommandant der Armee zu tragen, König Gyanendra. Das Verhalten des Königs ist insgesamt wenig förderlich für eine Beilegung des Konflikts. Zum einen setzt er weiterhin mit Nachdruck auf eine militärische Lösung, worin er sich außenpolitisch von den USA unterstützt sieht. Letztere sehen nicht oder wollen nicht sehen, dass es dabei nicht mehr um eine Entscheidung zwischen einem demokratischen System westlichen Musters oder einem sozialistischen System unter Führung der Maoisten geht; die Alternative zur letzteren Option lautet schon länger: Rückkehr zu einem vom König beherrschten System mit allenfalls basisdemokratischen Institutionen. Das hatte Nepal ja schon einmal, zu Beginn der 1960er Jahre eingeführt von Gyanendras Vater Mahendra. Bereits dieses Panchayat-System (1962-90) hatte die Entwicklung des Landes maßgeblich verhindert. Markant ist in diesem Zusammenhang auch, wie Gyanendra jede sich bietende Gelegenheit nutzt, seinen Sohn, Kronprinz Paras, politisch aufzuwerten. Obgleich das Amt des Kronprinzen mit keinerlei politischer Funktion versehen ist, wurde er kürzlich zu einem mehrtägigen Staatsbesuch nach China geschickt. Die regierungseigenen Medien feierten diese Reise wie einst königliche Auslandsbesuche in der Panchayat-Ära. Dieser Thronfolger, der schon durch Eskapaden verschiedenster Art und unklare Verwicklung in Verkehrsunfällen aufgefallen war, bietet keine Perspektive für die Zukunft der nepalischen Monarchie. Die Regierung hat in den letzten Wochen wiederholt erklärt, man befinde sich im Kontakt zu den Maoisten. Auch die Führung des nicht an der Regierung beteiligten Nepali Congress behauptet von sich, mit den Maoisten in Kontakt zu sein. Ein erneuter Dialog befinde sich in Vorbereitung. Dabei macht die Regierung schon im Ansatz den gleichen Fehler, der letztlich zum Scheitern der beiden vorhergehenden Dialogversuche führte: der Staat ist nicht zu einem völlig offenen und bedingungslosen Dialog bereit. Hier wird meines Erachtens das Problem deutlich, dass auch diese Regierung eine solche von Königs Gnaden ist. Die Grundforderungen der Maoisten drehen sich immer wieder um eine 10 Die aktuelle politische Lage in Nepal – Karl-Heinz Krämer – 25. August 2004 verfassunggebende Versammlung. Es darf als sicher gelten, dass eine von einer solchen Versammlung ausgearbeitete Verfassung die königliche Machtstellung weiter beschneiden würde. König Gyanendra aber will seine Macht im Vergleich zur Verfassung von 1990 nicht eingeschränkt sondern erweitert sehen. Folglich dürfen Verfassungsänderungen oder gar eine neue Verfassung nur unter direkter Einflussnahme und Kontrolle der Monarchie vorgenommen werden. Damit aber sind Gespräche mit den Maoisten erneut zum Scheitern verurteilt. Eine Alternativlösung wäre eine neutrale Vermittlung im Konflikt. Eine solche ist wiederholt von den Vereinten Nationen angeboten worden. Die Maoisten haben bereits angedeutet, eine solche Vermittlerrolle der UNO zu akzeptieren. Innerhalb des Lagers der politischen Parteien ist eine Vermittlung der UNO umstritten, seitens der Regierung und auch seitens der Palastkreise wird sie abgelehnt. Anlass zu dieser Haltung dürfte wiederum eine befürchtete Gefährdung der königlichen Stellung oder Veränderungen hinsichtlich der Elitenbildung und der Beteiligung sein. Vermutlich würden auch die USA nicht mitspielen, da sie die nepalischen Maoisten als internationale Terroristen eingestuft haben. So befindet sich Nepal in einem großen Dilemma. Das 1990 eingeführte demokratische System ist in dieser Form gescheitert: Die Monarchie hat ihre konstitutionelle Rolle verlassen und die Macht an sich gerissen; die politischen Parteien haben sich nicht demokratisch weiterentwickelt und ihre Machtstellung missbraucht; die vom Volk gewählten Parlamente haben die dringend notwendigen gesetzlichen Reformen nicht in Gang setzen können; die zahlreichen Regierungen sind allesamt an persönlichen Machtinteressen und Korruption gescheitert; die Opposition hat inner- wie außerparlamentarisch (Extrembeispiel Maoisten) die demokratischen Spielregeln missachtet und in vielerlei Hinsicht die Verfassung gebrochen; die lokale Ebene hat zwar 1999 durch den Local Development Act eine Aufwertung erfahren, doch ist es nach Einführung dieses Gesetzes nicht mehr zu lokalen Wahlen gekommen (fällig im Juli 2002); die weitgehend überlastete und ihrerseits extrem einseitig dominierte judikative Schiene hat teilweise politisch beeinflusste, widersprüchliche Entscheidungen getroffen und kaum zu einem Aufbrechen der traditionellen Strukturen und zu einer allgemeinen Beteiligung der Menschen beigetragen. In diesem Sinne könnte man von einem Scheitern des Staates sprechen, doch würde man dabei verkennen, dass die zu Beginn der 1990er Jahre erfolgte Demokratisierung auch positive Auswirkungen gehabt hat. Hier ist zunächst der Bereich der Grundrechte zu nennen, die von der Verfassung weitgehend vorbildlich definiert und garantiert werden. Dies war die Voraussetzung dafür, dass viele Menschen und benachteiligte Gruppen im Laufe der Jahre größere Rechte erkämpfen konnten. Viele nationale und internationale Menschrechtsorganisationen können in ihrer wertvollen Arbeit auf diesen Grundrechtskatalog der Verfassung zurückgreifen, auch wenn sie nach wie vor einen sehr schweren Stand sowohl gegenüber der Regierung als auch gegenüber den Maoisten haben. Eine positive Entwicklung verzeichnet auch der Medienbereich, was zum Teil mit der Garantie der Presse- und Meinungsfreiheit zusammenhängt. Die Journalisten scheuen sich heute weder vor staatlichen noch maoistischen Drohungen und Repressalien, was Hoffnung gibt für die weitere Entwicklung und Einflussnahme der zivilen Gesellschaft in Nepal. Schließlich sei auch noch das Erziehungswesen genannt, das gerade in den letzten Jahren immer wieder in die maoistische Kritik geraten ist. Strukturell sind derartige Kritiken zum Teil sicherlich begründet, aber die Art und Weise, wie die Maoisten sie vortragen, nämlich in Form dauernder Schulstreiks und damit in Form 11 Die aktuelle politische Lage in Nepal – Karl-Heinz Krämer – 25. August 2004 eines völligen Bildungsentzugs der Jugendlichen, kann keine Lösung sein. Außerdem werden bei all diesen Protesten positive Entwicklungen im Bildungswesen übersehen, die beispielsweise in den Lerninhalten allmählich erkennbar werden. Die bessere und breitere Volksbildung ist der Rückhalt des wachsenden Widerstands gegen das traditionelle Establishment. So möchte ich Nepal trotz aller Misere noch nicht als einen gescheiterten Staat bezeichnen. Seitens der staatstragenden Kräfte (Regierung, politische Parteien, Monarchie und Armee, Opposition einschließlich Maoisten, Judikative) überwiegen in zunehmendem Maße negative Aspekte, aber immer noch könnten kleine Haltungsänderungen dieser Kräfte die weitere Entwicklung wieder zum Positiven wenden. Man sollte auch hier die Hoffnung nicht aufgeben. Eine Vermittlung der Vereinten Nationen würde eine solche Entwicklung auf jeden Fall beschleunigen und fördern. Noch größer aber ist meine Hoffnung auf den Bereich der zivilen Gesellschaft. Die nichtstaatlichen Medien sind, wie schon erwähnt, auf dem richtigen Weg, wenngleich es immer noch einige Zeitungen gibt, die mit ihrer kritiklosen und idealisierenden Annahme des Status Quo diesen Prozess auszubremsen versuchen. Eine sehr positive Arbeit leistet auch bereits eine Reihe von NGOs, die sich für die Menschenrechte oder die Rechte benachteiligter Gruppen einsetzen; sehr oft kommen sie aus deren eigenen Reihen. Mit ihrem friedvollen Vorgehen weisen sie den einzig richtigen Weg für die Entwicklung der nepalischen Gesellschaft. Etwas mehr Öffentlichkeitsarbeit wäre noch von den akademischen Kreisen zu wünschen, doch hat sich auch hier schon vieles verändert. Es ist viel darüber diskutiert worden, ob es unter den gegebenen Umständen sinnvoll ist, die auswärtige Hilfe für das Land fortzusetzen. Nepal bedarf dieser Hilfe, und es wäre äußerst negativ, wenn sich die Geberländer jetzt in diesem kritischen Stadium zurückziehen würden. Sie würden damit nicht nur ihre bisherigen Hilfsleistungen ad absurdum führen sondern sie würden insbesondere die Masse der hilfsbedürftigen Menschen in Nepal, die keine Mitschuld am Versagen der politischen Eliten tragen sondern die größten Opfer des ganzen Konflikts sind, am meisten treffen. Sinnvoll ist es daher, wenn die Zusage und Vergabe von Hilfsleistungen genutzt wird, um Druck auf die politisch Verantwortlichen auszuüben. Dies ist, wenn es beispielsweise in der Form des Vorgehens der meisten europäischen Länder auf dem letzten Nepal Development Forum vom Mai 2004 geschieht, keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes, sondern es ist praktizierte Entwicklungshilfe, die letztlich der Entwicklung und Förderung der hilfsbedürftigen Massen an der Basis des Landes dient. 12