INITIATIVE KOMPAKT Das kleine 1 x 1 der Sozialen Marktwirtschaft Ein Schnupperkurs in Sachen Ökonomie WWW.INSM.DE 20090696_Umschlag.indd 1 16.04.2009 11:53:26 Uhr Inhalt Vorwort 2 Ich, du, er, sie, wir sind die Wirtschaft 4 Die Marktwirtschaft und die unsichtbare Hand 9 Angebot trifft Nachfrage: Wie Märkte (nicht) funktionieren 12 Ist Wirtschaft + Politik = Wirtschaftspolitik? 18 Geld regiert die Welt: Jedes Ding hat seinen Preis 26 Die Börse: Wo sich DAX und Schweinebäuche treffen 32 Die Wirtschaft: Über Gewinne und andere Vorurteile 36 www.globalisierung.insm.de – Freiheit statt Staatsgläubigkeit 42 Für Neugierige: Lesetipps, Internetadressen und Projekte 50 1 20090696_Inhalt.indd 1 16.04.2009 11:48:54 Uhr Vorwort Ökonomie? Kannitverstan! Vor zweihundert Jahren erzählte Johann Peter Hebel in seinen „Kalendergeschichten“ von der Reise eines armen deutschen Handwerksburschen aus Tuttlingen nach Amsterdam. Tief beeindruckt von der großen und reichen Handelsstadt erkundigt er sich bei einem Einheimischen danach, wem denn „dieses wunderschöne Haus“ gehöre. „Kannitverstan“, bekommt er zu hören. Dann fragt er einen Amsterdamer nach dem Besitzer des präch- tigen Schiffs im Hafen und erfährt: „Kannitverstan.“ „Wenn ich’s doch nur auch einmal so gut bekäme, wie dieser Herr Kannitverstan es hat“, denkt sich der Handwerksbursche und erblickt im gleichen Moment einen Leichenwagen, begleitet von einem langen Zug aus Verwandten und Bekannten des Verstorbenen. „Das muss wohl ein guter Freund von Euch gewesen sein“, sagt er zu einem der Trauernden und bekommt zur Antwort: „Kannitverstan.“ Da schießen dem Burschen die Tränen in die Augen. „Armer Kannitverstan, was hast du nun von allem deinem Reichtum?“, klagt er und geht zurück in seine Herberge. „Und wenn es ihm wieder einmal schwer fallen wollte“, so endet die Geschichte, „dass so viele Leute in der Welt so reich seien und er so arm, so dachte er nur an den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein großes Haus, an sein reiches Schiff und an sein enges Grab.“ Die Moral von der Geschicht’ ist, im besten Sinne, eine doppelte: Zum einen zeigt sie, dass Sprache und Worte weit weniger selbstverständlich sind, als wir gemeinhin annehmen. Die Amsterdamer verstehen den Handwerksburschen nicht, und der Handwerksbursche versteht die Amsterdamer falsch. Zum anderen lässt das traurige Ende des vermeintlichen Herrn Kan- 2 20090696_Inhalt.indd 2 16.04.2009 11:48:54 Uhr nitverstan den Burschen aus Tuttlingen sein eigenes Schicksal mit anderen Augen sehen. Er hat, dank Kannitverstan, etwas verstanden – und sei es nur, dass alles und jeder vergänglich ist. In der modernen Variante dieser Geschichte düsen Millionen junger und jung gebliebener Frauen und Männer aus Tuttlingen, Dresden oder Hamburg via Flugzeug oder Internet durch die globalisierte Welt, und auch sie kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wie schnell sich doch alles verändert! Noch ihre Elterngeneration schrieb eine einzige Bewerbung im Leben, die Zukunft war planbar und die Rente sicher, denn „made in Germany“ hielt das Wachstum auf Trab und die Konkurrenz in Grenzen. Heute kommen die T-Shirts aus China, die MP3-Player aus Japan, die Software aus Indien, die Äpfel aus Neuseeland, der DeutscheBank-Chef aus der Schweiz und der Pizza-Bäcker aus Wanne-Eickel. Es gibt keine DMark mehr, keine lebenslangen Jobs, keine Grenzen. Die einen machen Millionen, die anderen haben Ein-Euro-Jobs. Wer gestern noch ein Mannesmann war, arbeitet heute schon für Vodafone und morgen vielleicht für – wer weiß das schon? Das ist Marktwirtschaft, heißt es; die Fachleute aus Wirtschaft und Politik reden von Globalisierung und Gewinnmaximierung, von Investitionen und Produktivität, von Wettbewerb und Wachstumsraten, von Bemessungsgrenzen und Grenzsteuersätzen, von Inflation und Deflation, von Strukturwandel und Steuervergünstigungsabbaugesetzen. Kannitverstan? „Das kleine 1 x 1 der Sozialen Marktwirtschaft“ will das ändern. Es richtet sich an alle ökonomischen Laien, die gerne etwas mehr von dem verstehen möchten, was tagtäglich in der Wirtschaft passiert. Und weil die Menschen das meiste davon aus dem Fernsehen oder der Zeitung erfahren, macht sich auch diese Broschüre die Medien zunutze: Wo immer es geht, greifen wir für unsere Reise in die weite Welt der Ökonomie auf TV- und Presse-Berichte zurück – sie dienen uns als gemeinsame Diskussionsgrundlage. „Das kleine 1 x 1 der Sozialen Marktwirtschaft“ will und kann kein umfassendes Lexikon sein. Schon aus Platzgründen mussten wir viele Themen, die direkt oder indirekt mit der Wirtschaft zu tun haben, gänzlich aussparen. Das gilt zum Beispiel für den Umweltschutz, für die Bildung und den zunehmenden Einfluss der EU auf die nationale Wirtschaftspolitik. Andere Themen, wie die Börse, die internationalen Kapitalverflechtungen und das weite Feld der seit 2008 grassierenden Finanz- und Wirtschaftskrise, konnten wir lediglich anreißen. Auch hatten wir nicht die Absicht, ein Lehrbuch im Miniformat zu schreiben. Deshalb finden Sie auf den folgenden Seiten weder komplizierte Formeln noch langatmige Theorien und auch keine unverständlichen Statistiken. Ganz ohne Zahlen geht es allerdings auch nicht, doch keine Angst vor Kannitverstan: Wer das kleine 1 x 1 und das ABC beherrscht, der versteht auch diese Broschüre. 3 20090696_Inhalt.indd 3 16.04.2009 11:48:57 Uhr Ich, du, er, sie, wir sind die Wirtschaft Daniel Deutsch kann es einfach nicht lassen. Der gute Mann, dessen richtiger Name hier nichts zur Sache tut, ist Inhaber und Geschäftsführer einer kleinen Unternehmensberatung in Bayern und hat es sich offenbar zur Lebensaufgabe gemacht, Deutschland zu retten. Er verfolgt dieses hehre und ehrgeizige Ziel unter anderem dadurch, dass er mit wahrlich missionarischem Eifer Leserbriefe schreibt – lange, mit kräftigen Worten gespickte Abhandlungen, die er mal an diese, mal an jene Zeitung schickt und die sich hauptsächlich um eine Frage drehen: Warum gibt es in Deutschland so viele Arbeitslose? Die Sache ... Daniel Deutsch hat dazu eine gewagte These aufgestellt. „Kein Unternehmer auf der Welt hat den Wunsch, Arbeits- plätze zu schaffen“, behauptet er. Stattdessen würden die Chefinnen und Chefs lieber genau das tun, was schon jedem Wirtschaftsstudenten auf der Universität eingetrichtert werde und was auch der „gesunde Menschenverstand“ empfehle, nämlich „mit dem geringsten Aufwand den größten Gewinn zu erzielen“. Tja, Herr Deutsch, mit dem gesunden Menschenverstand ist das manchmal so eine Sache. Er ist, um es mit Albert Einstein zu sagen, „eine Sammlung von Vorurteilen, die man bis zum achtzehnten Lebensjahr erworben hat“. Und Sie, lieber Daniel Deutsch, sind einem davon aufgesessen. Denn „mit dem geringsten Aufwand den größten Gewinn zu erzielen“ – an dieser Aufgabe wäre wohl selbst Albert Einstein verzweifelt. 4 20090696_Inhalt.indd 4 16.04.2009 11:48:59 Uhr ... mit den Kartoffeln Das glauben Sie nicht? Gut, dann wollen wir Ihre Theorie einmal in der Praxis überprüfen. Stellen Sie sich vor, Herr Deutsch, Ihre Frau schickt Sie auf den Markt, um Kartoffeln zu holen. Und weil die Gattin um Ihre Vorliebe für alles Ökonomische weiß, präzisiert sie ihren Auftrag: „Hol’ für möglichst wenig Geld möglichst viele Kartoffeln!“ Was tun Sie jetzt, Herr Deutsch? Und wie würden Sie, liebe Leser, diese Aufgabe lösen? Denken Sie mal ein paar Sekunden darüber nach: Wie kauft man mit möglichst wenig Geld möglichst viele Kartoffeln? Und, alles klar? Richtig, dieser Auftrag ist reichlich absurd. Denn konsequent zu Ende gedacht würde er im Extremfall bedeuten, mit nichts („möglichst wenig Geld“) alles („möglichst viel Kartoffeln“) kaufen zu können. Diese Idee ist zwar aus verständlichen Gründen höchst beliebt und weit verbreitet, doch hat sie mit der ökonomischen Wirklichkeit genauso wenig zu tun wie die Zahl der Störche mit der Geburtenrate. In Wahrheit funktioniert der Kauf von Kartoffeln so, wie (fast) alles in der Wirtschaft – nach dem Ökonomischen Prinzip: Was ist das? Zur Ehrenrettung von Herrn Deutsch sei noch hinzugefügt, dass seine Idee, mit möglichst wenig Einsatz möglichst viel Gewinn herauszuholen, zumindest in der Theorie existiert. In der Praxis allerdings stößt diese Mini-Max-Methode schnell an ihre Grenzen. Denn wer so vorgeht, dem fehlt es entweder Das Ökonomische Prinzip Wir wissen zwar nicht, wer eigentlich dafür verantwortlich ist – der liebe Gott oder Mutter Natur? – fest steht jedoch: Fast alles, was den Menschen lieb und teuer ist, ist leider auch knapp. Ob Gold oder Geld, ob Arbeitsplätze oder Autos, ob Seide oder Saftpressen – die Bedürfnisse der Menschheit sind schier unbegrenzt, nicht aber ihre Mittel. Was also tun? Ganz einfach: Wir müssen die knappen Güter „bewirtschaften“, sprich: möglichst sinnvoll und effizient damit umgehen. Genau dieses Ziel verfolgt das Ökonomische Prinzip. Danach hat Daniel Deutsch zwei Möglichkeiten, den Auftrag seiner Frau zu erfüllen: • Das Minimalprinzip. Bei dieser Methode, auch Sparprinzip genannt, soll ein vorgegebenes Ziel mit minimalem Einsatz erreicht werden. Der Auftrag von Daniel Deutsch könnte also lauten: Kauf zwei Kilo Kartoffeln für möglichst wenig Geld. • Das Maximalprinzip. Hier ist es umgekehrt: Mit einem vorgegebenen Einsatz soll ein maximales Ziel erreicht werden. Daniel Deutsch könnte also losgehen, um für fünf Euro möglichst viele Kartoffeln zu kaufen. an klaren Vorgaben oder an klaren Zielen – und beides führt, auf Ökonomen-Deutsch, zu „ungeplantem Handeln“. Oder im Klartext: ins Chaos. Brutto oder netto? Und noch etwas müssen wir Herrn Deutsch zugutehalten: Die Wirtschaft(swissenschaft) ist heutzutage derart komplex, dass sich zuweilen selbst Fachleute in ihren Fangstricken verheddern. So blamierte sich einst der ehemalige FDP-Wirtschaftsminister Günter Rexrodt, als er nicht wusste, wie viele Nullen eine Billion hat (nämlich zwölf ). Unvergessen auch der Wahlkampf 2005, als die CDU-Kanzlerkandidatin Angela Merkel gleich mehrmals brutto und netto verwechselte und sich daraufhin vom politischen Gegner so manchen höhnischen Kommentar anhören musste. Dabei offenbarte die SPD selbst gravierende Wissenslücken: „Ich koste zwei Prozent mehr“, hieß es auf den Wahlkampfplakaten der Genossen mit Hinweis auf die geplante Mehrwertsteuererhöhung der Union. Richtig hätte es jedoch heißen müssen: „Ich koste zwei Prozentpunkte 5 20090696_Inhalt.indd 5 16.04.2009 11:49:02 Uhr www.wichtige-wirtschafts-wörter.de In den Wirtschaftsnachrichten tauchen immer wieder Begriffe auf, die zwar alle zu kennen meinen, die aber ein ums andere Mal für Verwirrung und Verwechslungen sorgen: Prozent/Prozentpunkte: Angenommen, ein Produkt kostete 100 Euro plus 16 Prozent Mehrwertsteuer, also insgesamt 116 Euro. Nun wurde die Mehrwertsteuer auf 19 Prozent erhöht (also um 3 Prozentpunkte), also steigt der Gesamtpreis auf 119 Euro. Die Differenz zwischen 116 und 119 Euro aber beträgt nicht 3 Prozent, sondern knapp 2,6 Prozent. Brutto/netto: Im Gegensatz zu brutto bezeichnet netto eine Residualgröße, also eine Art „Rest“: So ist der Nettolohn das, was vom Bruttolohn nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben übrig bleibt. Nominal/real: Nominal bedeutet in der Wirtschaft „zum Nennwert“. So ist zum Beispiel der Nominallohn nichts anderes als der Betrag, der auf dem Gehaltszettel steht (also „genannt“ wird). Der Reallohn gibt dagegen an, wie sich die tatsächliche („reale“) Kaufkraft des Nominallohns entwickelt hat – und wird berechnet, indem man die Nominallohnentwicklung um die Inflationsrate bereinigt. mehr“ – ein kleiner, aber feiner Unterschied (siehe Kasten oben). Natürlich kann man über solch vermeintliche Kleinigkeiten auch lächelnd hinwegsehen – zumal sie doch zeigen, dass auch „ganz oben“ nur mit Wasser gekocht wird. Doch Hand aufs Herz: Wenn schon die grundlegendsten Dinge wie Kraut und Rüben durcheinandergehen – wie soll dann erst das große Ganze aussehen? Es mag ja sein, dass die Beschäftigung mit Themen wie Wachs- tumsraten, Arbeitslosenquoten oder Steuersätzen den meisten Menschen nicht gerade Freudentränen in die Augen treibt, doch was, bitte, wäre denn die Alternative? Wichtige Entscheidungen ... Es gibt keine, denn die Wirtschaft geht uns alle an. Sie ist, wie es Walther Rathenau, Sohn des AEG-Gründers und in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts deutscher Außenminister, einmal ausdrückte, „unser Schicksal“. Ob Steuern/Abgaben: Steuern sind Geldleistungen an den Staat, für die dieser keine konkreten Gegenleistungen zu erbringen hat – die Kfz-Steuer etwa muss nicht für den Bau von Straßen eingesetzt werden. Abgaben wie Gebühren und Beiträge sind dagegen an Gegenleistungen geknüpft – wer Rentenbeiträge entrichtet, erwirbt damit auch einen Rentenanspruch. Strukturell/konjunkturell: Wenn zum Beispiel von der strukturellen Arbeitslosigkeit die Rede ist, dann ist damit jene Erwerbslosigkeit gemeint, die auf die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen zurückzuführen ist, also etwa auf die zu hohen Arbeitskosten oder die mangelnde Ausbildung. Konjunkturell bedingt ist Arbeitslosigkeit dagegen, wenn die Unternehmen zum Beispiel aufgrund schlecht ausgelasteter Kapazitäten Personal abbauen, das wieder eingestellt wird, sobald es wirtschaftlich wieder aufwärtsgeht. Effektiv/effizient: Effektiv bedeutet, dass etwas wirkt, dass eine Sache also einen Effekt hat; effizient bedeutet, dass eine Sache wirtschaftlich ist, dass sie sich also lohnt. So kann es zwar effektiv sein, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen – effizient aber ist es bestimmt nicht. als Unternehmer, als Freiberufler, als Angestellte, als Käufer, als Rentnerin, als Student, als Wähler, als Sparer oder als Arbeitsloser – alle Menschen treffen permanent ökonomische Entscheidungen. Meist betreffen sie „nur“ den heutigen Tag, oft genug aber stellen sie die Weichen für viele Jahre oder gar das ganze Leben: Welchen Beruf wähle ich? Wie sorge ich fürs Alter vor? Gehe ich zu Aldi oder in den Feinkostladen? Reicht mein Geld für eine größere Wohnung? Wollen wir ein zweites Kind? In welcher Stadt wollen wir wohnen? Soll ich in Aktien investieren oder in eine Lebensversicherung? Welcher Anbieter hat die günstigsten Handy-Tarife? Und so weiter und so weiter und so fort. Wirtschaftliche Überlegungen, das mag man gutheißen oder auch nicht, bestimmen unser Leben heutzutage mehr als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Eine der wichtigsten Entscheidungen aber scheint auf den ersten Blick nicht allzu viel mit Ökonomie zu tun zu haben: 6 20090696_Inhalt.indd 6 16.04.2009 11:49:04 Uhr Ich, du, er, sie, wir sind die Wirtschaft Welcher Partei gebe ich meine Stimme? Doch „gerade in Zeiten, in denen die Sozialordnung unseres Landes aufgrund des gewaltigen demografischen Wandels zunehmend belastet wird, ist die Wahrnehmung der politischen Verantwortung als Wähler wichtig“, warnt Rüdiger von Rosen. Der Wirtschaftsprofessor kritisiert seit Jahren, dass Deutschland die schulische Ausbildung in Sachen Wirtschaft geradezu sträflich vernachlässigt – ohne ökonomische Grundkenntnisse aber ist eine fundierte Auseinandersetzung mit den Strategien der Parteien unmöglich. ... fürs Portemonnaie Noch drastischer ausgedrückt: Wer sich im Zeitalter der Globalisierung und eines geradezu mörderischen Wettbewerbs nicht wenigstens mit den wichtigsten Spielregeln der Wirtschaftswelt auskennt, der darf sich kaum Hoffnungen machen, ein eigenverantwortliches Leben in Wohlstand zu führen. Dies gilt umso mehr, als die Zeiten einer quasi lebenslangen Rundumversorgung durch den Arbeitgeber und den Staat definitiv vorbei sind. Nein, wir wollen hier weder Panik noch Ängste schüren. Aber wir wollen und dürfen auch nichts beschönigen. Denn ganz egal, ob es nun um Arbeitsmarktpolitik, um Bil- dung, um die Finanzierung der Sozialsysteme, um Steuern, um die Europäische Union oder um Subventionen geht, nahezu alles hat einen mittelbaren oder unmittelbaren Einfluss auf das Leben und das Portemonnaie eines jeden Einzelnen. Ein Beispiel: Es vergeht kein einziges Jahr, in dem die Nachrichtensendungen nicht mindestens einmal über die Tarifverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften berichten. Was die „Tagesschau“ oder „N24“ dann vermelden, klingt irgendwie immer gleich, nämlich ungefähr so: „Im Tarifstreit der Metall- und Elektro-Industrie sind am Freitag die Verhandlungen ergebnislos vertagt worden. Der Verhandlungsführer der Arbeitgeber sagte, die völlig überzogene Forderung der IG Metall nach fünf Prozent mehr Lohn und Gehalt trage nicht dazu bei, Arbeitsplätze im Land zu halten. Dagegen verwies der Verhandlungsführer der Gewerkschaft auf die gute wirtschaftliche Entwicklung der Metallbranche sowie auf die allgemein schwache Konsumnachfrage. Nur wenn die Verbraucher wieder mehr Geld in der Tasche hätten, könne auch die Gesamtwirtschaft wieder wachsen.“ Und nun stellen Sie sich vor, Sie sitzen vor dem Fernseher und hören diese Meldung. Was denken Sie, welche der beiden Seiten hat recht? Klingen nicht beide Argumentationen irgendwie einleuchtend? Es stimmt doch, dass die Unternehmen aufgrund der hohen Arbeitskosten in Deutschland immer mehr Arbeitsplätze ins billigere Ausland verlagern; aber wahr ist doch auch, dass die Unternehmen seit Jahren einen Exportrekord nach dem anderen feiern, während die Nachfrage im Inland brachliegt und das gesamtwirtschaftliche Wachstum deshalb bei Weitem nicht ausreicht, um neue Arbeitsplätze zu schaffen – oder? Was ist das? Arbeitskosten Die Arbeitskosten setzen sich aus zwei Komponenten zusammen. Teil eins umfasst den Stundenlohn einschließlich der Zuschläge für Überstunden und Schichtzulagen. Ökonomen sprechen deshalb vom „Direktentgelt für tatsächlich geleistete Arbeit“. Entgegen der weit verbreiteten Meinung sind die Stundenlöhne in Deutschland aber nur ein Teil des Problems – Länder wie Dänemark, Norwegen und die Schweiz zahlen höhere. Dass Deutschland dennoch regelmäßig zu den Ländern mit den weltweit höchsten Arbeitskosten zählt, liegt vielmehr an den sogenannten Personalzusatzkosten. Diese zweite Komponente der Arbeitskosten besteht im Wesentlichen aus Sonderzahlungen wie dem 13. Monatsgehalt, dem Urlaubsgeld, dem Lohn für bezahlte Freizeit sowie aus den Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung, der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und anderen sozialen Extras wie der betrieblichen Altersversorgung. Dieser „zweite Lohn“ ist in Westdeutschland höher als in jedem anderen Industrieland der Welt. Wenn deutsche Unternehmen also ihre Produktion zum Beispiel nach Tschechien verlagern, dann unter anderem auch deshalb: Dort kostet eine Arbeiterstunde in der Industrie nicht einmal ein Sechstel dessen, was hierzulande fällig ist – Autos oder Maschinen bauen können die Tschechen aber genauso gut wie die Deutschen. 7 20090696_Inhalt.indd 7 16.04.2009 11:49:04 Uhr Des Tarifrätsels Lösung liegt nicht auf der Hand, sondern im Kopf: Denn wer entscheiden will oder muss, wie hoch die Lohnerhöhungen in einer Branche oder einem Unternehmen ausfallen dürfen, damit sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber „überleben“, der kann sich ja schlecht auf sein persönliches „Bauchgefühl“ verlassen – das schreit immer nach mehr, mehr, mehr. Stattdessen braucht man Fakten, Fakten, Fakten. In unserem Tarifbeispiel muss man eben wissen, was die Löhne mit den Preisen und der Beschäftigung zu tun haben. Man muss wissen, was passiert, wenn an dieser oder jener Stellschraube gedreht wird. Und vor allem muss man das große Ganze im Blick haben – nicht umsonst reden wir von Volks-Wirtschaft. Was ist das? Nun definiert der Begriff Volkswirtschaft zwar das WER und WO, nicht aber das WIE. Auch die frühere DDR und die UdSSR waren Volkswirtschaften, allerdings bestimmten dort allein die Planer der Volkswirtschaft Unter einer Volkswirtschaft versteht man einen Wirtschaftsraum (üblicherweise also ein Land), in dem alle Akteure (die Haushalte, die Unternehmen und der Staat) wirtschaftlich miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Und da heutzutage praktisch alle Länder mit anderen Staaten Handel treiben, spricht man auch von offenen Volkswirtschaften. Ohne den Außenhandel (Ausfuhren und Einfuhren) wäre eine Volkswirtschaft dagegen geschlossen – mit gewissen Einschränkungen traf dies früher auf kommunistische und sozialistische Staaten wie die DDR oder die UdSSR zu. Regierung, welche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, wer sie produziert und wer wie viel davon bekommt. Deshalb werden solche Wirtschaftssysteme Plan- oder Zentralverwaltungswirtschaft genannt. Die politisch-ideologische Idee dahinter ist, dass allein die Regierung alle volkswirtschaftlichen Aktivitäten so organisieren und steuern kann, dass es allen Beteiligten gut geht – gleich gut, um es im Kommunisten-Deutsch zu sagen. Tatsächlich aber führt die Zentralverwaltungswirtschaft dazu, dass es allen gleich schlecht geht – denn sie ist vor allem durch eines geprägt: den Mangel. 8 20090696_Inhalt.indd 8 16.04.2009 11:49:05 Uhr Ich, du, er, sie, wir sind die Wirtschaft Die Volkswirtschaft Deutschlands dagegen ist, wie praktisch alle anderen auch, eine Marktwirtschaft. Selbst China, neben Kuba und Nordkorea eines der wenigen noch kommunistischen Länder, bekennt sich heute zumindest in Ansätzen zu marktwirtschaftlichen Prinzipien. Die Marktwirtschaft und die unsichtbare Hand Im Gegensatz zur Planwirtschaft, in der alle volkswirtschaftlichen Entscheidungen allein vom Staat getroffen werden, haben in einer Marktwirtschaft die Haushalte und die Unternehmen das Zepter in der Hand. Die Betriebe allein entscheiden, mit wie vielen Leuten sie welche Waren oder Dienstleistungen wie und wo produzieren und zu welchem Preis sie diese anbieten. Die Haushalte (Arbeitnehmer, Sparer, Verbraucher) wiederum entscheiden, wo und für wen sie arbeiten und wofür sie ihre Einkommen ausgeben. Der „Ort“, an dem sich Unternehmen und Haushalte treffen, ist der Markt. Besser gesagt: die Märkte, denn es gibt Warenmärkte, Dienstleistungsmärkte, Arbeitsmärkte, Kapitalmärkte und andere mehr. Und auf jedem einzelnen Markt geht es darum, Angebot und Nachfrage miteinander in Einklang zu bringen. Dies geschieht über den Wettbewerb, also letztlich über die Qualität und den Preis. Wenn wir von einer freien Marktwirtschaft reden, dann ist damit in der reinen Lehre eine Wirtschaft gemeint, in der sich der Staat praktisch aus allem heraushält. Tatsächlich aber spielt der Staat natürlich sehr wohl eine Rolle. Zum einen tritt er selbst als aktiver Marktteilnehmer auf, indem er zum Beispiel Arbeitsplätze bietet oder Straßen bauen lässt. Zum anderen und vor allem aber fungiert er als eine Art Schiedsrichter: Der Staat legt nämlich die Rahmenbedingungen fest, also jene Spielregeln, an die sich alle Marktteilnehmer halten müss(t)en. Dazu zählt selbstverständlich in erster Linie das Grundgesetz, aber auch Regelungen wie die Gewerbeordnung, das Eigentums- und Wettbewerbsrecht sowie die Sozialordnung. Staat und Markt Apropos sozial: In Deutschland reden wir nicht von einer freien Marktwirtschaft, sondern vielmehr von der „Sozialen Marktwirtschaft“. Auf einen Nenner gebracht ist damit gemeint, dass die größtmögliche Freiheit der Märkte mit einer sozialen Komponente verbunden wird. Das Grundgesetz formuliert das in Artikel 20 so: „Die Bun- desrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Im Unterschied zur reinen Marktwirtschaft greift der Staat in der Sozialen Marktwirtschaft deshalb in vielfältiger Form ins Wirtschaftsgeschehen ein. So erhebt er zum Beispiel Steuern und Abgaben, um das Geld dann unter anderem in Form von Sozialleistungen an die Haushalte bzw. in Form von Subventionen an die Unternehmen zurückzugeben – oder „umzuverteilen“, wie Ökonomen sagen. Mit dieser Umverteilung (auf deren Sinn oder Unsinn wir später noch ausführlich zu sprechen kommen) und mit seinen zahlreichen Gesetzen und Verordnungen will der Staat die in einer reinen Marktwirtschaft unweigerlich auftretenden Härten abmildern. Er versucht dies, indem er zum Beispiel dafür sorgt, dass das Existenzminimum eines jeden Einzelnen gesichert ist, dass jeder die Chance erhält, durch eigene Leistung am Wohlstand teilzuhaben und dass niemand seine Marktmacht missbraucht, sodass ein fairer Wettbewerb stattfindet. All diese Aufgaben muss der Staat allerdings nicht selbst erledigen, einige werden von anderen Institutionen übernommen. So kümmern sich zum Beispiel die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften in den Tarifverhand- lungen um die Lohnpolitik, und die Sozialversicherungen sind für die Bereiche Rente, Gesundheit und Arbeitslosigkeit zuständig. „Die Soziale Marktwirtschaft vollzieht sich nicht in Gesetzbüchern, sondern im Denken und Handeln der Menschen.“ Richard von Weizsäcker Nun wissen wir zwar, was eine Marktwirtschaft ist – wie aber kann solch ein System überhaupt funktionieren? Wie kann es sein, dass Millionen von Haushalten und Unternehmen individuelle, sprich egoistische Entscheidungen treffen und das Ganze trotzdem nicht im Chaos endet? Die bis heute gültige Antwort auf diese Frage stammt von Adam Smith. Der schottische Ökonom und Moralphilosoph lebte im 18. Jahrhundert und gilt als Vater der Marktwirtschaft. Als glühender Verfechter einer freien Wirtschaft und einer „natürlichen Ordnung der Gesellschaft“ hegte Smith nicht nur eine gehörige Portion Misstrauen gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber Leuten, „die so tun, als handelten sie aus reinem Edelmut 9 20090696_Inhalt.indd 9 16.04.2009 11:49:10 Uhr und nicht aus Eigennutz.“ Diese erfrischend ehrliche Grundhaltung des Schotten gipfelte in einem Satz, den noch heute jeder Wirtschaftsstudent im Schlaf herunterbeten kann: „Nicht vom Wohlwollen der Metzger, Bäcker und Brauer erwarten wir das, was wir zum Leben brauchen, sondern weil diese ihre eigenen Ziele verfolgen.“ Smith, der schon mit 27 Jahren zum Professor für Logik ernannt wurde, betonte ausdrücklich, dass die Menschen in aller Regel weder das Gemeinwohl im Auge haben noch wissen, ob und wie sie es fördern. Dass sie es de facto dennoch tun, erklärte er mit der „unsichtbaren Hand“, einer Art kapitalistischen Gemeinschaftswohlmaschine: Man kippt oben Eigeninteresse hinein – und schwups, kommt unten Gemeinwohl heraus. Grenzenlose Chancen Zugegeben, das klingt ziemlich verrückt. Aber prinzipiell stimmt es. Nehmen wir zum Beispiel einen der reichsten Männer der Welt, Bill Gates: Mit 20 Jahren brach er sein Studium in Harvard ab und gründete 1975 zusammen mit Paul Allen die Microsoft Corporation in Redmond, nahe Seattle. Im ersten Monat, so wird berichtet, teilten sich die beiden einen Verdienst von 1.516 Dollar – inzwischen beschäftigen sie knapp 60.000 Mitarbeiter und erwirtschaften einen Umsatz von fast 40 Milliarden Dollar. Wer quasi aus dem Nichts heraus 60.000 Arbeitsplätze geschaffen hat, der muss seinen Beitrag zum Gemeinwohl eigentlich nicht mehr unter Beweis stellen, Bill Gates aber tut es trotzdem. Zusammen mit seiner Frau gründete er die „Belinda and Bill Gates Foundation“, eine Stiftung, in die er mehr als 29 Milliarden Dollar seines Privatvermögens steckte und die sich unter anderem um Gesundheitsprojekte in Afrika und Asien kümmert. Im Jahr 2006 gesellte sich der US-Milliardär und FinanzGuru Warren Buffet hinzu und verdoppelte das Stiftungsvermögen. Mit insgesamt rund 60 Milliarden Dollar verfügt die nun größte private Charity-Organisation der Welt über ein fünfmal so hohes Kapital wie das Budget der Vereinten Nationen. Übrigens: Bill Gates will nach eigenen Angaben bis zu seinem Tod 90 bis 95 Prozent seines Gesamtvermögens spenden. Einen Egoisten, eine „Heuschrecke“ oder einen „Raubtier-Kapitalisten“ stellt man sich doch irgendwie anders vor – oder? Ja, ja, schon gut, wir ahnen, was die Markt-Kritiker sagen wollen: Natürlich sind Bill Gates und Warren Buffet absolute Ausnahmeerscheinungen. Wer 50 Milliarden Dollar auf dem Konto hat, der kann locker auch 99,9 Prozent davon verschenken und behält noch immer viel, viel mehr übrig (nämlich 50 Millionen Dollar), als ein Normalverdiener in einem ganzen Arbeitsleben verdienen könnte. Doch darum geht es gar nicht. Es geht, wie es so schön heißt, ums Prinzip, in diesem Fall also darum, dass in einer Marktwirtschaft grundsätzlich jeder die Chance hat, förmlich alles zu erreichen – und dies kann nun wirklich kein anderes Wirtschaftssystem für sich in Anspruch nehmen. Was der Einzelne aus dieser Chance macht, steht selbstverständlich auf einem ganz anderen Blatt. Ich, du, er, sie, wir sind die Wirtschaft – aber leider lässt „Der Mensch an sich ist nichts. Er ist nur eine grenzenlose Chance. Aber er ist der grenzenlos Verantwortliche für diese Chance.“ Albert Camus sich über die Wirtschaft nun mal schlecht reden, ohne Zahlen zu nennen. Bevor wir also auf den nächsten Seiten ans Eingemachte gehen, hier ein paar grundlegende Daten und Fakten über ich, du, er, sie, wir. Alle Angaben stammen aus dem Frühjahr 2009 und geben den jeweils neusten Stand wieder: In Deutschland leben rund 82,2 Millionen Menschen • Es gibt 39,1 Millionen Privathaushalte; davon sind – 37 Prozent Single-Haushalte – 25 Prozent Ehepaare ohne Kinder im Haushalt – 24 Prozent Ehepaare mit Kindern im Haushalt – 8 Prozent nichteheliche Lebensgemeinschaften – 6 Prozent Alleinerziehende • Es gibt 43,3 Millionen Erwerbspersonen, davon sind – 3,6 Millionen erwerbslos (internationale Definition) – 39,7 Millionen erwerbstätig, davon arbeiten – 68 Prozent als sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, davon – 67 Prozent im Dienstleistungssektor – 32 Prozent im Produzierenden Gewerbe – 1 Prozent in der Landwirtschaft 10 20090696_Inhalt.indd 10 16.04.2009 11:49:11 Uhr Ich, du, er, sie, wir sind die Wirtschaft 11 20090696_Inhalt.indd 11 16.04.2009 11:49:11 Uhr Angebot trifft Nachfrage: Wie Märkte (nicht) funktionieren Im August 2008 veröffentlichte die Hamburger Wochenzeitschrift „Die Zeit“ in ihrer Online-Ausgabe folgende Meldung (Auszüge): Weltbank-Studie: 1,4 Milliarden Menschen sind arm Noch immer lebt ein Viertel der Menschheit in Armut, schätzt die Weltbank. Während in Asien der Wohlstand wächst, hungern die Menschen in weiten Teilen Afrikas weiter. Trotz Fortschritten im Kampf gegen die globale Armut schätzt die Weltbank die Zahl der Armen rund um den Erdball auf 1,4 Milliarden und damit ein Viertel der Weltbevölkerung. Allerdings sei durch neue Daten über die Preisentwicklung die Armutsgrenze angehoben worden, heißt es in einer am Dienstagabend veröffentlichten Studie der Entwicklungshilfeorganisation. Danach gilt als arm, wer im Durchschnitt von weniger als 1,25 Dollar am Tag (rund 85 Cent) leben muss. Bisher war es ein Dollar. „Die Entwicklungsländer sind ärmer, als wir bisher angenommen haben“, heißt es in der Untersuchung. Dennoch komme der Kampf gegen die weltweite Armut voran. Die Zahl der Menschen, die von weniger als 1,25 Dollar am Tag leben müssen, habe sich zwischen 1981 und 2005 um 500 Millionen verringert. […] Die Fortschritte seien jedoch sehr ungleich verteilt. Die größten Erfolge habe es in Asien gegeben. Dort hätten 1981 noch 80 Prozent der Bevölkerung mit weniger als 1,25 Dollar am Tag auskommen müssen. 2005 seien es nur noch 18 Prozent gewesen. Allein in China hätten 600 Millionen Menschen den Sprung über die Armutsschwelle geschafft. Dagegen lebe in Afrika südlich der Sahara weiterhin etwa die Hälfte der Bevölkerung in extremer Armut. Im Juni 2008 veröffentlichte das Internetportal „T-Online“ folgende Meldung: „Die Unterschiede im Lebensstandard rund um die Welt sind erschütternd“, bestätigt der Harvard-Professor Nicholas Mehr als zehn Millionen Millionäre weltweit Die Zahl der Dollar-Millionäre ist weltweit drastisch gestiegen. Im vergangenen Jahr waren es mit 10,1 Millionen sechs Prozent mehr als im Vorjahr, wie aus einer veröffentlichten Studie der Consulting-Firma Capgemini und der Investmentbank Merrill Lynch hervorgeht. Der Kreis der besonders Wohlhabenden mit mehr als 30 Millionen Dollar Vermögen erweiterte sich noch schneller: um mehr als 8,8 Prozent auf 103.320 Menschen. […] Das durchschnittliche Vermögen der Reichen übersprang 2007 erstmals die Marke von vier Millionen US-Dollar. Zusammen verfügten sie über 40,7 Billionen Dollar (26,2 Billionen Euro) – ein Plus von 9,4 Prozent gegenüber 2006. […] Nach der Studie dürfte sich das Vermögen der Millionäre bis 2012 um jährlich 7,7 Prozent auf dann 59,1 Billionen US-Dollar erhöhen. Gregory Mankiw in seinem Standardwerk „Die Grundzüge der Volkswirtschaftslehre“ (das übrigens auch interessierten Nicht-Ökonomen empfohlen sei; siehe Literaturliste). Doch wie kann das sein? Wieso muss ein Viertel der Weltbevölkerung mit je 1,25 Dollar am Tag auskommen, während die 10 Millionen Millionäre (das sind 0,15 Prozent der Welt- bevölkerung) insgesamt mehr als 40 Billionen Dollar auf ihren Konten haben? Warum erwirtschaften die Menschen in Sierra Leone oder Malawi ein Bruttoinlandsprodukt von 12 20090696_Inhalt.indd 12 16.04.2009 11:49:14 Uhr rund 300 Dollar pro Kopf und Jahr, die Luxemburger aber mehr als 80.000 Dollar? standards sind fast gänzlich den Unterschieden in der Produktivität geschuldet. gen) ausgestattet sind bzw. das Land über mehr Wissen und Know-how verfügt als Land B. Lassen wir einmal alle soziologischen, kulturellen, religiösen und ideologischen Erklärungen beiseite und konzentrieren uns ganz auf das Ökonomische, dann ist die Antwort auf diese Fragen „überraschend einfach“, wie Ökonom Mankiw sagt: Die Unterschiede der Lebens- Wenn Ökonomen von unterschiedlichen Produktivitäten reden, dürfen wir das aber keinesfalls missverstehen. Eine höhere Arbeitsproduktivität in Land A bedeutet nicht, dass die Beschäftigten dort „fleißiger“ sind als die in Land B, sondern nur, dass die Arbeitsplätze in Land A mit einem leistungsfähigeren Kapitalstock (das sind Maschinen und Anla- Warum investieren? Was ist das? Produktivität „Er war heute wieder besonders produktiv“ – solche Aussagen hören wir zwar fast jeden Tag, doch mit der Produktivität im ökonomischen Sinne hat das nur wenig zu tun. Produktiv sein, darunter versteht der Volksmund meist, „besonders viel getan zu haben“ oder „besonders kreativ“ zu sein. Die Volkswirtschaftslehre aber definiert Produktivität so: Output Input Produktivität ist also das Verhältnis zwischen der produzierten Menge und den dafür eingesetzten Mitteln. Ökonomen kennen drei Produktivitäten: • Die Arbeitsproduktivität gibt an, welche Menge an Gütern und Dienstleistungen (Output) pro eingesetzte Arbeitsstunde (Input) produziert wird. • Die Kapitalproduktivität gibt an, welche Menge an Gütern und Dienstleistungen (Output) im Verhältnis zum eingesetzten Kapital (Input) erwirtschaftet wird. • Die Faktorproduktivität berücksichtigt beides, Arbeit und Kapital. Sie gibt also an, welche Menge an Gütern und Dienstleistungen (Output) im Verhältnis zur eingesetzten Arbeit und zum eingesetzten Kapital (Input) produziert wird. Das ist auch der Grund dafür, dass in den meisten modernen Volkswirtschaften die Arbeitsproduktivität langfristig steigt, während die Kapitalproduktivität stagniert oder sogar fällt. Wenn nun die Beschäftigten Was ist das? in Land A eine größere Gütermenge pro Zeiteinheit herstellen können als die Menschen in Land B, dann erzielen sie auch höhere Einkommen, sprich einen höheren Lebensstandard. Für die Wirtschaftspolitiker in Land B kann das also nur heißen: Sie müssen die Produktivität erhöhen, indem sie zum Beispiel für bessere Bildung und eine bessere Ausstattung mit Produktionsmitteln wie Anlagen und Maschinen sorgen. Kurzum: Land B muss seine Investitionen erhöhen. Investitionen „Ich hab’ heute in ein neues Fahrrad investiert“ – auch das ist ein Satz, den Bodo und Berta Bundesbürger so und so ähnlich tagtäglich sagen, der aber die wahre Bedeutung von Investitionen verkennt. Denn als Investition gelten nur Ausgaben, die darauf abzielen, zukünftig Erträge zu erwirtschaften. Der Kauf eines Fahrrads wäre also nur dann eine Investition, wenn man mit diesem Fahrrad Geld verdienen will – zum Beispiel als FahrradKurier. In einer Volkswirtschaft gibt es verschiedene Investitionen: Sachinvestitionen in Maschinen, Werkhallen oder die Infrastruktur sollen die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Werden lediglich alte durch neue Maschinen ersetzt, spricht man von Ersatzinvestitionen. Kommt zu den vorhandenen Maschinen noch eine weitere hinzu, wird also der Kapitalstock erweitert, so nennt man das Erweiterungsinvestitionen. Werden noch funktionstüchtige, aber technisch veraltete Anlagen gegen moderne ausgetauscht, dann sind das Rationalisierungsinvestitionen. Außerdem gibt es noch Finanzinvestitionen, zum Beispiel der Kauf von Aktien, sowie Bildungsinvestitionen, zum Beispiel in neue Hochschulen. Darüber hinaus unterscheidet man noch zwischen staatlichen und privaten (unternehmerischen) Investitionen. 13 20090696_Inhalt.indd 13 16.04.2009 11:49:14 Uhr , Hätten Sie s gewusst ??? • Im Mai 2006 ist die Verschuldung der öffentlichen Haushalte in Deutschland erstmals über die Marke von 1,5 Billionen Euro gestiegen. Bis zum Frühjahr 2009 kamen weitere 36 Milliarden Euro hinzu – ein Grund dafür waren die Konjunkturpakete, mit denen die Bundesregierung die Folgen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise abfedern will. • Statistisch gesehen belasten die Staatsschulden jeden einzelnen Bundesbürger mit fast 19.000 Euro. Um ein weiteres Ausufern der Staatsverschuldung zu verhindern, hat der Gesetzgeber eine „Schuldenbremse“ beschlossen: Demnach gilt ab 2016 (Bund) bzw. 2020 (Länder) ein sogenanntes Neuverschuldungsverbot. • Nach Angaben des Bundes der Steuerzahler wächst der öffentliche Schuldenberg in jeder einzelnen Sekunde um mehr als 4.400 Euro. Allein in der Zeit, die Sie für das Lesen dieses kleinen Kastens brauchen, steigt die Staatsverschuldung um mehr als 100.000 Euro. Um zu sehen, wie überlebenswichtig Investitionen für eine Volkswirtschaft sind, müssen wir aber nicht nach Afrika oder in all die anderen bettelarmen Staaten dieser Welt schauen, sondern können uns getrost an die eigene Nase fassen. Für das Jahr 2006 hatte die deutsche Bundesregierung zum wiederholten – und vorerst letzten – Mal in Folge einen verfassungswidrigen Haushalt aufgestellt. Dies ist nach Artikel 115 des Grundgesetzes immer dann der Fall, wenn der Staat in einem Jahr mehr neue Schulden macht, als er für neue Straßen, Forschungsprojekte, Universitäten und andere Investitionsprojekte ausgibt. Die Folgen der rasant steigenden Staatsverschuldung werden uns auf unserer Reise durch die Marktwirtschaft leider noch oft begleiten. An dieser Stelle aber geht es erst einmal „nur“ um die Auswirkungen der Verschuldung auf die Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft. Ein kurzer Rückblick: Jahrzehntelang war „made in Germany“ so etwas wie eine Garantie für Wachstum und Wohlstand. Deutsche Waren, insbesondere Maschinen, Anlagen und Autos, waren weltweit so begehrt, dass es sich die Volkswirtschaft Deutschland scheinbar locker leisten konnte, den Beschäftigten immer höhere Löhne zu zahlen und der Bevölkerung immer umfassendere Sozialleistungen zu gewähren. Wie wir bereits gesehen haben, h hat dies unter anderem dazu ggeführt, dass sich Deutschland sschon mehrmals mit dem unrrühmlichen Titel des „Arbeitskkosten-Weltmeisters“ schmüccken musste. Die hohen Löhne u und Gehälter waren so lange kkein Problem, wie Deutschland m mit einer entsprechend hohen P Produktivität dagegenhalten kkonnte. ausgelösten gewaltigen Globalisierungsschub. Auch wenn es das Phänomen der Globalisierung in Wahrheit schon früher gegeben hat – was sich seit dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Planwirtschaft in der Wirtschaftswelt abspielt, ist in der Tat einmalig. P Produktivitätsvorsprung verlorren gegangen ist, doch datieren w wir die „Wende“ der Einfachh heit halber auf die wohl größte (w (wirtschafts-)politische Zäsur nach dem Zweiten Weltkrieg: den Fall der Berliner Mauer, Nehmen wir nur das Beispiel der EU-Erweiterung um die osteuropäischen Staaten im Jahr 2005: Mit einem Schlag ist die europäische Staatengemeinschaft um 75 Millionen Menschen gewachsen – und diese 75 Millionen Menschen sind auch Konkurrenten. Deutsche Unternehmen (aber natürlich auch britische, französische, spanische und viele andere) bauen Produktions- also den Zusammenbruch des Ostblocks und den dadurch stätten in Polen, Ungarn oder Lettland. Dort werden mit IIm Nachhinein lässt sich kaum eexakt sagen, wann der deutsche , Hätten Sie s gewusst ??? Die Kennzeichnung „made in Germany“ wurde Ende des 19. Jahrhunderts in Großbritannien erfunden – und zwar aus einem ganz bestimmten Grund: Die Briten, aber auch andere europäische Industrienationen, wollten sich damit gegen „minderwertige Nachahmungsprodukte“ schützen, wie es im Handelsmarkengesetz von 1887 hieß. Die Kennzeichnung „made in Germany“ sollte es der britischen Bevölkerung leichter machen, die Waren des Gegners zu erkennen und zu boykottieren. Zwar wurde die Kennzeichnung auch nach dem Krieg beibehalten – allerdings entpuppte sie sich schnell als Eigentor: Weil nämlich die Qualität der Waren aus Deutschland in der Regel sehr gut war, entwickelte sich „made in Germany“ in kurzer Zeit zu einem weltweit anerkannten Qualitätssiegel. 14 20090696_Inhalt.indd 14 16.04.2009 11:49:14 Uhr Angebot trifft Nachfrage: Wie Märkte (nicht) funktionieren modernster Technik (wir erinnern uns: mit einem leistungsfähigen Kapitalstock) Autos, Maschinen, Handys und viele andere Produkte hergestellt, die sich durch zweierlei auszeichnen: Zum einen sind sie qualitativ genauso gut wie die in Deutschland hergestellten Waren – vor allem aber können sie aufgrund der wesentlich niedrigeren Löhne zu viel niedrigeren Kosten hergestellt werden. So muss ein Unternehmen für einen westdeutschen Arbeitnehmer rund 3.800 Euro im Monat aufbringen, Polen oder Tschechen erledigen den gleichen Job für 800 Euro. Teufelskreis Verschuldung Lange Rede, kurzer Sinn: Die Volkswirtschaft Deutschland kann ihre exorbitant hohen Löhne nicht mehr mit einer entsprechend hohen Produktivität erwirtschaften und müsste, um wieder konkurrenzfähig zu werden, dringend investieren – sehr dringend. Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer: Statt zum Beispiel in neue Technologien zu investieren, statt also Geld auszugeben, um künftig Erträge zu erzielen, hat Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Geld „verfrühstückt“, sprich für soziale Wohltaten ausgegeben. Zwischen 1960 und 2006 sind die Sozialausgaben je Einwohner von knapp 600 Euro pro Was ist das? BIP und BSP „Ja, ja, ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt“ – mit diesem Ohrwurm eroberte die Gruppe „Geier Sturzflug“ 1983 nicht nur Platz eins der deutschen Hitparade, der Song „Bruttosozialprodukt“ eroberte auch Platz eins in Österreich und der Schweiz und wurde zudem ins Französische, Englische und Niederländische übersetzt. Doch was ist eigentlich das Bruttosozialprodukt (BSP) und wie unterscheidet es sich vom Bruttoinlandsprodukt (BIP)? • Das Bruttoinlandsprodukt gibt den Marktwert aller Güter (wie Möbel oder Autos) und aller Dienstleistungen (wie einen Friseurbesuch oder eine Autoreparatur) an, die in einem Land in einem bestimmten Zeitabschnitt hergestellt werden. Wichtig ist dabei die Eingrenzung „in einem Land“: Denn arbeitet zum Beispiel ein Türke vorübergehend in Deutschland, zählt seine Leistung auch zum deutschen Bruttoinlandsprodukt; dagegen zählt das, was ein deutscher Staatsbürger mit seinem Betrieb in der Türkei herstellt, zum türkischen BIP. Das Bruttoinlandsprodukt ist also ein INLANDskonzept: Es misst die gesamte Produktion in einem Land, unabhängig davon, welche Staatsangehörigkeit die Produzenten haben. • Das Bruttosozialprodukt, heute Bruttonationaleinkommen genannt, erfasst grundsätzlich das Gleiche wie das BIP, allerdings mit einem Unterschied: Während das BIP auf das Inland abzielt, geht es beim BSP um die INLÄNDER: Es misst den Marktwert aller Waren und Dienstleistungen, die von Personen erbracht werden, die dauerhaft in einem Land leben. Wenn also ein türkischer Staatsbürger nur vorübergehend in Deutschland arbeitet, zählt seine Leistung nicht zum deutschen BSP, sondern zum türkischen. Und das, was ein deutscher Staatsbürger mit seinem Unternehmen in der Türkei herstellt, erhöht das deutsche BSP, nicht aber das türkische. Der Unterschied zwischen BIP und BSP in Zahlen: Im Jahr 2007 betrug das deutsche BIP 2.423,8 Milliarden Euro, das BSP war mit 2.446,4 Milliarden Euro um 22,6 Milliarden Euro oder 0,9 Prozent höher. Jahr auf 8.500 Euro gestiegen – ein Zuwachs von rund 1.300 Prozent. Machten die Sozialleistungen damals noch rund 21 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus, so sind es inzwischen schon über 30 Prozent, also fast ein Drittel all dessen, was jedes Jahr erwirtschaftet wird. Nun muss man eigentlich nicht Adam Riese heißen, um zu erkennen, dass das beim besten Willen nicht gutgehen konnte. Doch ob nun Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl oder Gerhard Schröder: Bis auf wenige Aus- nahmejahre haben alle bisherigen Bundeskanzler und ihre Ministerriegen stets wesentlich mehr Geld ausgegeben als sie an (Steuer-)Einnahmen verbuchen konnten. Allein seit der Wiedervereinigung haben sich die Bundesschulden mehr als verdreifacht. 15 20090696_Inhalt.indd 15 16.04.2009 11:49:15 Uhr Was ist das? Der Europäische Stabilitätspakt Im Jahr 1991 beschloss die Europäische Union im holländischen Maastricht die Einführung des Euro. Da die damals 15 Mitgliedsstaaten aber die Hoheit über ihren Staatshaushalt behalten haben und die Stabilität einer Währung nicht zuletzt von der Haushaltsdisziplin abhängt, müssen die einzelnen Staatshaushalte seitdem bestimmte Anforderungen erfüllen, die sogenannten Maastricht-Kriterien. Bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) darf danach • die Gesamtverschuldung maximal 60 Prozent betragen und • die jährliche Neuverschuldung maximal 3 Prozent ausmachen. Hier schließt sich also der Teufelskreis: Weil der Staat sich immer mehr verschuldet und das geliehene Geld noch nicht einmal investiert, sondern sprichwörtlich auf den Kopf gehauen hat, ist dem Wachstum förmlich der Boden unter den Füßen weggebrochen. Konnte die Bundesrepublik diese fatale Wirtschaftspolitik in den Jahren nach der Wiedervereinigung noch kaschieren – man nahm einfach noch mehr und noch mehr Kredite auf – setzte der Europäische Stabilitätspakt dem Treiben enge Grenzen. Wohin die angeblich so soziale Marktwirtschaft geführt hat, zeigt die Entwicklung der wichtigsten ökonomischen Kennziffern in den neunziger Jahren. Dieses Jahrzehnt, in dem praktisch die gesamte Wirtschaftswelt neu definiert worden ist, muss für Deutschland als verlorenes Jahrzehnt gelten. Denn: Die Wachstumsrate der deutschen Volkswirtschaft ist seit 1993 (davor gab es noch einen zweijährigen „Wiedervereinigungs-Boom“) in jedem einzelnen Jahr unter dem europäischen Durchschnitt geblieben. Gleich mehrmals landete Deutschland, immerhin die größte Volkswirtschaft Europas, sogar auf dem letzten Platz der damals 15 EU-Mitglieder. Die Einkommen je Einwohner sind von 1991 bis 2003 zwar um 41 Prozent auf umgerechnet 27.350 Dollar pro Jahr gestiegen. Doch was auf den ersten Blick noch recht passabel aussieht, entpuppt sich im internationalen Vergleich als äußerst dürftig: Erstens ist Deutschland mit diesem Einkommensniveau von Platz vier auf Platz acht in der EU-15 abgerutscht; zweitens haben selbst die einstigen europäischen „Armenhäuser“ Irland (153 Prozent), Griechenland (60 Prozent) und Portugal (57 Prozent) besser abgeschnitten; und drittens belegen die Deutschen mit ihrem Zuwachs von 41 Prozent ebenfalls den letzten Platz im EU-Ranking. Die Arbeitslosenquote lag im Jahr 2005 nach internationaler Definition bei 9,5 Prozent und damit deutlich über dem EU-Durchschnitt von 8,8 Prozent. Länder wie Luxemburg, Irland, die Niederlande und Österreich hatten sogar nur Quoten von höchstens 5 Prozent. Umgekehrt musste sich die Bundesrepublik zusammen mit Dänemark und Italien bei einem Plus von rund 3 Prozent mit dem niedrigsten Beschäftigungszuwachs seit 1990 zufriedengeben – Irland und Luxemburg dagegen konnten die Zahl der Arbeitsplätze jeweils um rund die Hälfte erhöhen. Und was lernen wir daraus? „Jeden Morgen erwacht in Afrika eine Gazelle. Sie weiß, dass sie schneller sein muss als der schnellste Löwe. Jeden Morgen erwacht in Afrika ein Löwe. Er weiß, dass er nicht langsamer sein darf als die langsamste Gazelle. Egal ob wir Gazelle sind oder Löwe – wir müssen rennen!“ Heinz Dürr Also renn’, Deutschland, renn’. Nur: wohin? Oder anders gefragt: Wenn die Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahrzehnte offensichtlich falsch war, wie sieht dann die richtige aus? Was müssen wir tun, damit die deutsche Volkswirtschaft wieder wächst, damit neue Arbeitsplätze entstehen und der Wohlstand steigt? Zugegeben, den meisten Bundesbürgern geht es nach wie vor vergleichsweise gut. Doch selbst die größten Optimisten müssen eingestehen: Es geht in geradezu atemberaubendem Tempo bergab. Hier nur drei Beispiele, die im wahrsten Sinne des Wortes zeigen, wie arm es um die Zukunft 16 20090696_Inhalt.indd 16 16.04.2009 11:49:16 Uhr Angebot trifft Nachfrage: Wie Märkte (nicht) funktionieren Deutschlands bestellt ist, wenn wir nicht grundlegend umsteuern: ▼ Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit hat sich die Zahl der Kinder, die auf Sozialhilfeniveau leben, von 2004 bis Mitte 2006 auf 2,5 Millionen verdoppelt. ▼ Nach dem jüngsten Armutsbericht der Bundesregierung ist die Zahl der Haushalte, die unterhalb der Armutsgrenze leben, von 12,2 Prozent im Jahr 1989 auf inzwischen 17,3 Prozent gestiegen. ▼ Nach den Ergebnissen der PISA-Studie hängen die Bildungschancen der jungen Generationen in keinem anderen Land so sehr von der sozialen Herkunft ab wie in Deutschland. Im beschämenden Klartext: Arbeiterkinder werden Arbeiter, Chefarztkinder werden Chefarzt. Wir haben nicht umsonst drei Beispiele gewählt, die direkt oder indirekt mit dem Nachwuchs zu tun haben. Denn so wie die fehlenden Investitionen dem Wachstum den Boden entziehen, krankt auch der deutsche Arbeitsmarkt an einer wegbrechenden Basis – und das gleich doppelt: Einerseits werden immer weniger Kinder geboren; andererseits hat die Gesellschaft offensichtlich enorme Probleme, die jüngeren Generationen adäquat auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. So schneiden deutsche Schüler bei internationalen Leistungsvergleichen wie dem PISA-Test erschreckend schlecht ab; und jedes Jahr bekommen Zehntausende von Jugendlichen keine Ausbildungsstelle, weil sie einfach nicht die nötigen schulischen und persönlichen Voraussetzungen für eine Ausbildung mitbringen. Im einstigen Land der Dichter und Denker sind die Defizite an Bildung, Leistungsbereitschaft und sozialer Kompetenz inzwischen so groß, dass sich Gesellschaft und Politik ernsthaft Sorgen machen müssen, ob sich die jungen Generationen auf den durch und durch von harten Konkurrenzkämpfen geprägten Märkten noch behaupten können. „Die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes beginnt nicht in der Fabrikhalle oder im Forschungslabor. Sie beginnt im Klassenzimmer.“ Henry Ford Also zurück auf die Schulbank. Thema heute: Wirtschaftspolitik. Daniel Deutsch, erklären Sie uns doch mal, was Wirtschaftspolitik überhaupt ist und welche Arten es gibt. „Die Unternehmen wollen mit dem geringsten Einsatz den größtmöglichen –“ ... Schluss! Aus! Ende! So wird das nichts. Also: Als Erstes brauchen wir einen Plan, eine Strategie. Wir müssen uns ein Ziel setzen und dann überlegen, wie wir es erreichen. Das Ziel ist wohl allen klar: Wir wollen, dass die Wirtschaft wieder nachhaltig wächst, dass also neue Arbeitsplätze geschaffen werden und möglichst viele Menschen am Wohlstand teilhaben können. Bleibt die Frage, wie wir das erreichen können. Hat jemand dazu irgendwelche Vorschläge? „Wir könnten die Löhne aller Beschäftigten verdoppeln. Dann können die Leute massenhaft Geld ausgeben, also steigt die Nachfrage, die Wirtschaft wächst wieder und die Unternehmen schaffen neue Arbeitsplätze.“ So, so – und wer bezahlt das alles? Wo soll denn zum Beispiel der Bäcker um die Ecke das Geld dafür hernehmen, seinen 17 20090696_Inhalt.indd 17 16.04.2009 11:49:16 Uhr Angestellten von heute auf morgen das doppelte Gehalt zu zahlen? Dieses Geld muss der Bäcker doch erst einmal verdienen – müsste er dann nicht auch die Preise für seine Brötchen und seinen Kuchen verdoppeln? „Tja … äh …“ Nun gut, wir ahnen schon – ganz so einfach ist die Sache mit der Wirtschaftspolitik nicht. Deshalb schlagen wir jetzt einmal das Lehrbuch auf und schauen nach, ob und mit welchen Maßnahmen der Staat die Konjunktur steuern kann. Und ob er das überhaupt soll. Ist Wirtschaft + Politik = Wirtschaftspolitik? Mal steigen die Preise, mal fallen sie; das eine Unternehmen muss alle seine Mitarbeiter entlassen, ein anderes sucht händeringend Facharbeiter; dem Häuslebauer sind die Zinsen zu hoch, dem Sparbuchbesitzer zu niedrig; der eine verdient Millionen, der andere muss mit einem Niedriglohn zurechtkommen – die Marktwirtschaft ist das perfekte Spiegelbild des richtigen Lebens: Der eine will dies, der andere das; mal regnet es, dann wieder scheint die Sonne. Doch so banal diese Erkenntnis auch sein mag, den meisten Menschen ist das ewige Auf und Ab ein Graus. Stattdessen wollen sie am liebsten heute schon wissen, was morgen passiert – sie sehnen sich nach Stabilität und Sicherheit. So gesehen ist staatliche Wirtschafts- oder Konjunkturpolitik im Grunde genommen nichts anderes als der Versuch, das Sicherheitsbedürfnis der Menschen zu befriedigen. Nun muss man kein Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften sein, um zu erkennen, dass dieser Versuch wahrlich einer Sisyphus-Aufgabe gleicht. Denn egal ob es um die Produktion geht, um die Beschäftigung, die Einkommen oder die Preise – in einer Marktwirtschaft ist alles einem permanenten Wandel unterworfen. Trotzdem (oder gerade deshalb?) geben sich die Regierungen auf der ganzen Welt alle erdenkliche Mühe, die an sich unausweichlichen Schwankungen im Konjunkturzyklus zu glätten. In Deutschland hat man dazu sogar eigens das „Stabilitätsund Wachstumsgesetz“ erfunden. Es beginnt mit einem recht unscheinbaren Satz: „Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten.“ Doch dieses „gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht“ ist nicht ohne – es hat (siehe Kasten unten) sogar etwas Magisches an sich. Das „Magische Viereck“ ist ein Paradebeispiel für das Grundproblem einer jeden Wirt- Was ist das? schaftspolitik: Welches Ziel sie auch immer verfolgt und welche Maßnahmen sie auch immer dafür einsetzt – da es die eierlegende Wollmilchsau nun einmal nicht gibt, hat alles immer zwei Seiten: Chance und Risiko, Gewinner und Verlierer, Pro und Contra. An- Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht Man nehme vier Zutaten: ein stabiles Preisniveau, eine hohe Beschäftigung, ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht sowie ein angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum – und fertig ist das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht. So jedenfalls stellte es sich die damalige Bundesregierung unter Kurt Georg Kiesinger vor, als sie im Jahr 1967 das „Stabilitäts- und Wachstumsgesetz“ aus der Taufe hob. Unter Ökonomen sind die vier in §1 formulierten wirtschaftspolitischen Ziele auch als „Magisches Viereck“ bekannt. Zu Recht, denn tatsächlich würde es schon an Zauberei grenzen, wenn alle vier Ziele gleichzeitig erreicht würden. Das kann schon deshalb nicht funktionieren, weil sie teilweise in Konkurrenz zueinander stehen. Solch ein Zielkonflikt ergibt sich zum Beispiel dann, wenn ein Staat versucht, gleichzeitig eine hohe Inflation (Ziel: Preisstabilität) und eine hohe Arbeitslosigkeit (Ziel: hohe Beschäftigung) zu bekämpfen. Stark vereinfacht dargestellt besteht das Dilemma in diesem Fall darin: Um den Preisanstieg zu bremsen, verkleinert die Europäische Zentralbank (das ist sozusagen die Bundesbank der EU) die Geldmenge. Sie tut das, indem sie die Zinsen erhöht, sodass die Verbraucher und die Unternehmen weniger Kredite aufnehmen. Dadurch haben die Menschen logischerweise weniger Geld, das sie ausgeben können. Das wiederum führt zu weniger Umsatz bei den Unternehmen und, im schlimmsten Falle, zu Entlassungen. Zumindest für eine gewisse Zeit wird also das Ziel Preisstabilität mit einer höheren Arbeitslosigkeit „erkauft“ – sprich das Ziel einer hohen Beschäftigung verfehlt. 18 20090696_Inhalt.indd 18 16.04.2009 11:49:18 Uhr Angebot trifft Nachfrage: Wie Märkte (nicht) funktionieren schauungsmaterial dafür liefert der Alltag zuhauf: Wir können nicht einerseits die Steuern massiv senken und andererseits die staatlichen Leistungen erhöhen. Wer niedrigere Sozialbeiträge fordert, kann nicht auf steigende Rentenzahlungen hoffen. Kürzere Arbeitszeiten und gleichzeitig mehr Lohn – wie soll das gehen? Geiz mag für die Verbraucher geil sein, für den kleinen Einzelhändler um die Ecke kann er das Aus bedeuten. Damit erst gar kein Missverständnis aufkommt: Die Tatsache, dass praktisch jede wirtschaftspolitische Maßnahme für den einen oder anderen auch unerwünschte Nebenwirkungen hat, darf keineswegs als Bankrotterklärung der Marktwirtschaft interpretiert werden. Nein, es ist sogar umgekehrt: Die Marktwirtschaft lebt geradezu davon! Gewinne hier, Verluste da; eine Firma bekommt den Auftrag, die andere geht leer aus; ein Land ist Wachstumsweltmeister, ein anderes hält die rote Laterne – die Marktwirtschaft ist wie die Fußballbundesliga oder „Deutschland sucht den Superstar“ oder das Leben überhaupt: Sie lebt vom Wettbewerb, denn sie ist Wettbewerb. Doch um zu gewinnen, muss man eine Niederlage riskieren. Wettbewerb ist nichts Verwerfliches, sondern geradezu natür- Was ist das? Ordnungspolitik „Ordnung ist das halbe Leben – woraus mag die andere Hälfte bestehen?“ Zumindest in Sachen Wirtschaftspolitik können wir diese eher rhetorische Frage von Heinrich Böll leicht beantworten: Die andere Hälfte, das sind all jene Maßnahmen, mit denen die Wirtschaftspolitik kurzfristig in den Verlauf des Geschehens eingreift. Zu dieser Ablauf- oder Prozesspolitik gehört zum Beispiel alles rund ums Geld, also etwa die Themen Steuern und Preise. Bei der Ordnungspolitik dagegen geht es um die langfristige Wirtschaftspolitik, also darum, eine dauerhafte marktwirtschaftliche Ordnung (auch Rahmenbedingungen genannt) zu organisieren und zu erhalten. Weil dies vor allem durch Gesetze geschieht, ist Ordnungspolitik eine Aufgabe der Legislative, in erster Linie also der Parlamente auf Bundesund Landesebene. Das Kernstück der Ordnungspolitik ist die Wettbewerbspolitik. Sie soll dafür sorgen, dass die marktwirtschaftlichen Prinzipien nicht ausgehebelt werden. Ordnungspolitik setzt auf den freien Wettbewerb und die „unsichtbare Hand“ des Marktes, um Wohlstand für alle zu schaffen. Ordnungspolitische Prinzipien • Der Staat hat den freien Wettbewerb der Individuen und Gruppen zu gewährleisten, indem er zum Beispiel Preisabsprachen oder Kartelle unterbindet (wenn Unternehmen mit dem Zweck kooperieren, den Wettbewerb zu verhindern oder zu beschränken). • Die staatliche Sozialpolitik hat dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe (Subsidiaritätsprinzip) zu entsprechen. Das heißt: Die Freiheit und Verantwortung des Einzelnen hat Vorrang vor dem staatlichen Handeln – auf Deutsch: Was der kleine oder große Mann selbst erledigen kann, daraus soll sich der Staat raushalten. • Subventionen, also staatliche (Finanz-)Hilfen, dürfen nur ausnahmsweise und vorübergehend gewährt werden; sie dienen als Anpassungshilfe, nicht aber zur Erhaltung von Wirtschaftsstrukturen oder -zweigen. Beispiele ordnungspolitischer Maßnahmen • Die Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes 1998, die das Monopol der Telekom im Festnetz abschaffte. • Die Novelle der Handwerksordnung 2004, die den Meisterzwang in vielen Handwerksbereichen abschaffte. • Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit der ehemaligen DDR im Jahr 1990. • Der Beitritt der Bundesrepublik zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahr 1957 und die Mitunterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) im Jahr 1986, die den europäischen Binnenmarkt schafften. • Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz) im Jahr 1957 und dessen Novellierung sowie die Einführung der Fusionskontrolle im Jahr 1973. • Die Errichtung einer politisch unabhängigen Notenbank (Deutsche Bundesbank) im Jahr 1957, die der Geldwertstabilität verpflichtet ist. 19 20090696_Inhalt.indd 19 16.04.2009 11:49:18 Uhr lich: Kleinkinder messen ihre Kräfte im Spiel, Hunde laufen um die Wette, Pflanzen wetteifern ums Sonnenlicht. Wettbewerb ist die Suche nach dem Besseren, nach Fortschritt und Erkenntnis – ohne dieses Streben säße der Mensch noch heute auf den Bäumen und würde die Erde noch immer für eine Scheibe halten. Doch so wie die Natur bestimmten Gesetzen unterliegt, so braucht auch die Marktwirtschaft Regeln. Damit sind wir bei einem Schlüsselbegriff der Wirtschaftspolitik angelangt: der Ordnungspolitik (siehe Kasten Seite 19). Politik und Ordnung Man kann es Ironie des Schicksals nennen oder einfach nur kurios – fest steht: Sowohl den Begriff als auch das Konzept der Ordnungspolitik gibt es nur in Deutschland. Und dennoch haben deutsche Bundesregierungen nichts so oft und so sträflich vernachlässigt wie die ordnungspolitischen Prinzipien. Wer wissen will, warum sich die größte Volkswirtschaft Europas heute in einem derart miserablen Zustand befindet, der braucht lediglich in die Archive der deutschen Gesetzgebung einzutauchen. Dort befindet sich das „Gruselkabinett der deutschen Ordnungspolitik“, wie die Tageszeitung „Die Welt“ die lange Liste der Verfehlungen einmal so treffend genannt hat. Praktisch in jeder Legislaturperiode haben Politiker und Funktionäre die grundlegenden Regeln der Marktwirtschaft missachtet – angeblich stets „zum Wohle der Bürger“, doch tatsächlich zu deren Schaden. Hier einige Beispiele: 1955 sorgte Agrarminister Heinrich Lübke (CDU) mit seinem „Landwirtschaftsgesetz“ dafür, dass fortan Produktionsmittel wie Dünger und Diesel sowie Endprodukte wie Milch und Eier subventioniert wurden. Im Jahr 1957 folgte die „Gemeinsame Agrarpolitik“ des EG-Vertrages; seither bestimmen Preiseingriffe, Ausgleichszahlungen, Stützungskäufe, Flächenstilllegungsprämien und Direktzahlungen das Geschehen auf den europäischen Agrarmärkten – alles Subventionen, die den Strukturwandel behindern, den Wettbewerb verzerren und zudem für überhöhte Lebensmittelpreise sorgen. 1967 initiierte Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) das „Stabilitäts- und Wachstumsgesetz“, mit dem der Staat praktisch verpflichtet wurde, bei einer schwachen privaten Nachfrage einzugreifen und z. B. Konjunkturprogramme aufzulegen. Es dauerte allerdings nicht lange, bis Schiller selbst einsah, dass das Konzept der Globalsteuerung mehr Probleme schafft als es löst. 1972 verschlimmbesserte Arbeits- und Sozialminister Walter Arendt (SPD) Adenauers dynamische Rente durch die Einführung einer flexiblen Altersgrenze. Binnen zehn Jahren sank dadurch das durchschnittliche Rentenalter um 2,5 Jahre – und bis heute werden ältere Arbeitnehmer auf Kosten der Sozialkassen aus dem Arbeitsmarkt gedrängt. 1985 sorgten Sozialpolitiker wie Norbert Blüm (CDU) dafür, dass das Arbeitslosengeld auf zwei Jahre verlängert wurde – eine Maßnahme, die Arbeitslosen lange Zeit den Anreiz nahm, sich einen neuen Arbeitsplatz zu suchen. 1991 erfand Heinrich Franke, Chef der Bundesanstalt für Arbeit, die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM). Wenn die Privatwirtschaft nicht genügend Jobs schaffe, müsse eben der Staat einspringen, so die Idee. Doch obwohl die Sinnlosigkeit von ABM längst bewiesen ist, werden sie auch heute noch praktiziert – auf Kosten der Beitragszahler. 1995 rief Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) die Pflegeversicherung ins Leben. Doch statt sie durch private Absicherung (Kapital) zu finanzieren, baute Blüm sie gegen alle ökonomische Vernunft in das ohnehin überforderte umlagefinanzierte Sozialsystem ein. Mit fatalen Folgen für die Arbeitskosten: Ohne Reformen werden die Pflege-Beiträge von heute 1,7 Prozent des Bruttolohns auf 6 Prozent im Jahr 2040 steigen. 2002 schwieg Verkehrsminister Manfred Stolpe (SPD) beharrlich zu den Zweckentfremdungen der Gelder aus dem Solidarpakt durch die ostdeutschen Ministerpräsidenten. Leidtragende sind die Steuerzahler, die die Milliarden-Lasten schultern. 2008/09 2008/2009 wurden für einige Branchen Mindestlöhne eingeführt. Diese staatlich festgelegten Löhne sind ein Eingriff in die Tarifautonomie. Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes garantiert nämlich die Koalitionsfreiheit, gibt also den Tarifparteien (das sind in der Regel die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften) das Recht, ihre Tarifverträge frei von staatlichen Eingriffen abzuschließen. 2009 wurde in der gesetzlichen Krankenversicherung der Gesundheitsfonds eingeführt. Seitdem gilt ein kasseneinheitlicher Beitragssatz von 15,5 Prozent – damit wird der Wettbewerb unter den Krankenkassen geschwächt. Zwar können die Beitragssätze durch Rückerstattungen und Zusatzbeiträge weiterhin variieren, weil diese beiden Instrumente aber stark beschränkt sind, ist 20 20090696_Inhalt.indd 20 16.04.2009 11:49:19 Uhr Angebot trifft Nachfrage: Wie Märkte (nicht) funktionieren die potenzielle Beitragsspanne wesentlich geringer als vorher: Konnten die Versicherten vor Einführung des Einheitssatzes durch einen Kassenwechsel bis zu 1.800 Euro jährlich einsparen, so sind es jetzt nur noch 1.000 Euro. Wie kann so etwas passieren? Wie kann es sein, dass Politiker aller Parteien einerseits lauthals das Loblied der Marktwirtschaft singen, andererseits aber immer und immer wieder Gesetze verabschieden und Maßnahmen ergreifen, die offenbar einzig und allein das Ziel haben, die Menschen vor genau dieser Marktwirtschaft „zu schützen“? Eine Antwort darauf ist die geradezu paranoide Angst der Deutschen vor vermeintlichen Ungerechtigkeiten und davor, als „Kleiner“ von den „Großen“ gefressen zu werden. „Wenn der Deutsche hinfällt, dann steht er nicht auf, sondern schaut, wer schadensersatzpflichtig ist.“ Kurt Tucholsky Ein Musterbeispiel für die Haltung, sich möglichst gegen alles und jeden abzusichern, ist die deutsche Interpretation der Freiheits- und Eigentumsrechte. In Großbritannien und den USA sind diese Rechte geradezu heilig, in Deutschland aber werden sie schon vom Grundgesetz drastisch eingeschränkt: In Artikel 14 Absatz 2 heißt es: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Zugegeben, dieses Gebot ist ohne Zweifel gut gemeint, doch von einer freiheitlichen Wirtschaftsverfassung zeugt es nun wirklich nicht. Man stelle sich nur einmal vor, Artikel 14 Absatz 2 würde, entsprechend abgewandelt, auch im Sport gelten: „Siege verpflichten. Ihr Erringen soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Was könnte das bedeuten? Hätte sich Michael Schumacher absichtlich von seinen Konkurrenten überholen lassen müssen? Oder hätte er seine Gagen mit dem Formel-1Publikum teilen sollen? Oder mit allen Autofahrern, allen Italienern, allen Deutschen? rung eine Klausel ein, nach der die älteren Generationen einen Teil der durch die demografische Entwicklung steigenden Lasten tragen sollen, die nächste Regierung (Schröder) schafft diese Klausel umgehend wieder ab – um sie dann zwei Jahre später unter anderem Namen (Nachhaltigkeitsfaktor) wieder aufleben zu lassen. ▲ Die Öko-Steuer soll angeblich den Energieverbrauch und damit die Umweltverschmutzung reduzieren, gleichzeitig werden die Einnahmen daraus aber zur Auffüllung der leeren Rentenkasse gebraucht. Mit anderen Worten: Wer jetzt weniger Auto fährt, gefährdet die Rente seiner Oma. ▲ Auch mit der Tabaksteuer verfolgt der Staat zwei widersprüchliche Ziele: Einerseits soll sie dem Finanzminister möglichst viel Geld zur Deckung des Staatshaushalts einbringen, andererseits sieht das Gesundheitsministerium darin eine sogenannte Lenkungssteuer, die den Tabakkonsum bremsen soll. Völlig absurd war dann die Erhöhung der Tabaksteuer im Jahr 2003: Die Mehreinnahmen von jährlich ca. 3 Milliarden Euro fließen in vollem Umfang an die Krankenkassen, um das Gesundheitssystem zu entlasten – im Klartext: Je mehr die Leute rauchen, desto besser ist das für die Krankenkassen. Wohin solche inhaltlichen Ungereimtheiten und Widersprüche in der Praxis führen, spüren wir alle Tag für Tag am eigenen Leib. In dem Wahn, es möglichst allen recht zu machen, verheddert sich die deutsche Wirtschaftspolitik seit Jahrzehnten in einem Gestrüpp aus Widersprüchen. Drei Beispiele: ▲ Die eine Regierung (Kohl) führt in die Rentenversiche- 21 20090696_Inhalt.indd 21 16.04.2009 11:49:19 Uhr Beispiele wie diese zeigen uns in aller Deutlichkeit, was ausländische Experten meinen, wenn sie sagen: Die meisten der deutschen Probleme sind hausgemacht, sprich selbstverschuldet. Und in der Tat: Auch andere Industrieländer haben mit der demografischen Entwicklung zu kämpfen, auch sie stehen im harten Gegenwind der Globalisierung – doch im Gegensatz zu Deutschland haben sie die Zeichen der Zeit erkannt und frühzeitig umgesteuert. Deutschland dagegen sucht erstens die Schuldigen und gründet zweitens eine Kommission. Oder einen Runden Tisch. Wahlweise auch ein Bündnis, einen Vermittlungsausschuss, eine Schlichterstelle oder irgendein anderes Gremium, in dem hoch bezahlte Experten eine Lösung ausbaldowern – die wird dann aber nicht eins zu eins umgesetzt, sondern in den Mühlen der Parteipolitik bis zur Unkenntlichkeit zermahlen. Von Ego und Ismus Doch Vorsicht! Wenn wir von Parteipolitik sprechen, dann meinen wir keineswegs nur die Parteien selber, sondern auch und vor allem jene gesellschaftlichen Gruppen, die sich von den jeweiligen Parteien vertreten fühlen. Es ist ein offenes Geheimnis: In Deutschland kann praktisch kein Gesetzentwurf, keine Reform und erst recht kein Vorschlag eines einzelnen Experten so umgesetzt werden wie geplant. Ob Steuerreform, Arbeitsmarktreform oder Gesundheitsreform: Immer fühlt sich irgendeine Gruppe benachteiligt, also werden die ursprünglichen Konzepte den unterschiedlichen Egoismen entsprechend angepasst – und zwar selbst dann, wenn dadurch nicht nur einzelne, sondern sogar alle verlieren. Ja, auch so etwas gibt es in einer Marktwirtschaft: Entscheidungen, bei denen alle verlieren. Zwar ist eine gesunde Portion Egoismus für eine funktionierende Marktwirtschaft nicht nur wünschenswert, sondern geradezu überlebenswichtig, doch Egoismus gepaart mit Unwissen kann ganz schön in die Hose gehen – wie die höchst interessante Geschichte zweier kleiner Gauner zeigt: Das Gefangenen-Dilemma Zwei Männer, nennen wir sie Ego und Ismus, werden von der Polizei gefangen genommen. Der Staatsanwalt wirft ihnen vor, gemeinsam mehrere Überfälle begangen zu haben. Da er jedoch keine Beweise hat und die beiden alles vehement abstreiten, bietet er ihnen unabhängig voneinander einen Handel an: „Wir haben genug Indizien in der Hand, um euch beide jeweils für zwei Jahre hinter Gitter zu bringen, falls ihr weiterhin schweigt. Wenn du aber deinen Kollegen verrätst und alles zugibst, dann lassen wir dich zur Belohnung frei und dein Kollege bekommt fünf Jahre Strafe.“ Und wenn beide die Überfälle zugeben, so der Staatsanwalt weiter, „dann können wir uns eine Menge Arbeit sparen und jeder bekommt eine mittelschwere Strafe von vier Jahren“. Ego und Ismus, die sich ja nicht miteinander beraten können, überlegen. Jeder von ihnen hat zwei Strategien: gestehen oder schweigen. Insgesamt stehen ihnen also vier Möglichkeiten zur Verfügung: Ego schweigt schweigt gesteht gesteht Ismus schweigt gesteht schweigt gesteht Strafe für Ego 2 Jahre 5 Jahre frei 4 Jahre Strafe für Ismus 2 Jahre frei 5 Jahre 4 Jahre Strafe insgesamt 4 Jahre 5 Jahre 5 Jahre 8 Jahre So weit, so schlecht – denn nun kommt das Dilemma: Keiner von beiden weiß, was der jeweils andere tun wird. Weil jedoch beide so glimpflich wie möglich davonkommen wollen, beginnt das große Rechnen. Für Ego ist die Sache schnell klar: „Wenn Ismus schweigt, muss ich gestehen, dann bin ich frei. Wenn er jedoch gesteht, muss ich ebenfalls gestehen, denn dann bekomme ich nur vier statt fünf Jahre. Also bin ich – egal was Ismus macht – am besten dran, wenn ich gestehe.“ Dummerweise ist aber auch Ismus nicht dumm – er kommt, ganz der Logik folgend, zu demselben Ergebnis wie Ego. Also kommt, was kommen musste: Am Ende gestehen beide und wandern für insgesamt acht Jahre hinter Gitter – die höchste aller möglichen Strafen. Hätten sie sich dagegen absprechen können, dann hätten beide geschwiegen und wären mit insgesamt 4 Jahren davongekommen – vorausgesetzt natürlich, beide hätten sich auch an die Absprache gehalten. 22 20090696_Inhalt.indd 22 16.04.2009 11:49:20 Uhr Angebot trifft Nachfrage: Wie Märkte (nicht) funktionieren Wir ahnen schon: Mit ein bisschen Phantasie lässt sich das Gefangenen-Dilemma auf unser Thema, die Wirtschaftspolitik, übertragen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Gesundheitsreform: Ego und Ismus heißen hier Unionsparteien und Sozialdemokraten – und weil beide Seiten der jeweils anderen nicht so recht über den Weg trauten, ist am Ende, trotz einiger Fortschritte, eine ziemlich schlechte Lösung herausgekommen: Statt das Gesundheitssystem effizienter zu machen, müssen die Versicherten nun höhere Beiträge und die Unternehmen höhere Arbeitskosten tragen; statt weniger Bürokratie gibt es mehr (allein der Gesetzentwurf ist mehr als 500 Seiten stark); und die einstige Idee von einem kostensparenden Wettbewerb ist sogar in ihr genaues Gegenteil verkehrt worden – alle Krankenkassen erheben seit Januar 2009 ein- und denselben Beitragssatz. Einmal mehr müssen wir uns fragen, wie so etwas passieren kann. Warum bringt Deutschland in schöner Regelmäßigkeit Reformen auf den Weg, die das Problem nicht beseitigen, sondern eher noch verschärfen? Und das, obwohl sich im Vorfeld doch eigentlich alle (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und die Bevölkerung) darüber einig waren, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Was ist das? Angebots- und Nachfragepolitik Ob in den alljährlichen Tarifverhandlungen oder in den öffentlichen Diskussionen über die Steuer-, Renten- oder Gesundheitsreform: Beim Streit um die richtige Wirtschaftspolitik kristallisieren sich fast immer zwei gänzlich gegensätzliche Argumentationslinien heraus: • Die Anhänger der Nachfragepolitik sind davon überzeugt, dass wirtschaftliche Probleme vor allem durch Schwankungen der Nachfrage verursacht werden – eine Theorie, die in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts von dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes entwickelt wurde und deshalb Keynesianismus genannt wird. Leidet eine Volkswirtschaft zum Beispiel unter einem schwachen Wirtschaftswachstum, plädieren die Keynesianer für eine Stärkung der Binnennachfrage durch den Staat. Er soll sich bei schwacher Konjunktur verschulden, also Kredite aufnehmen, und mit dem Geld dann die Nachfrage ankurbeln, indem er zum Beispiel mehr staatliche Aufträge vergibt. Läuft dann die Konjunktur wieder auf Hochtouren, kann der Staat seine Ausgaben reduzieren und die Schulden zurückzahlen. Diese „antizyklische“ Wirtschaftspolitik wurde insbesondere in den sechziger und siebziger Jahren auch in Deutschland praktiziert, einer Zeit, in der die Bundesrepublik nach dem Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre die ersten großen Konjunkturkrisen zu bewältigen hatte. Dass die Nachfragepolitik aber offenbar nicht der Weisheit letzter Schluss ist, liegt vor allem an einem Phänomen: Politiker tun sich zwar leicht, neue Kredite aufzunehmen und ihren Wählern damit möglichst viele Wünsche zu erfüllen – mit der Rückzahlung der Schulden dagegen haben die wenigsten etwas am Hut. Ein Beispiel: Allein von 1960 bis 1982 (dem Jahr des Regierungswechsels von Helmut Schmidt auf Helmut Kohl) verzehnfachte sich die Staatsverschuldung von 29 auf 311 Milliarden Euro. • Die Anhänger der Angebotspolitik dagegen sehen die Ursachen für eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vor allem darin, dass sich die marktwirtschaftlichen Kräfte und der Wettbewerb nicht ungehindert entfalten können. Statt mehr Staat fordern sie also mehr Markt, sprich mehr private und unternehmerische Eigeninitiative. Die Angebotspolitik zielt vor allem auf höhere Investitionen und plädiert deshalb für Maßnahmen wie eine Vereinfachung des Steuersystems, eine Senkung der Steuern und der Staatsquote (das sind die Staatsausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt) sowie für weniger Sozialleistungen, sprich mehr private Vorsorge. Auch die Angebotspolitik hat allerdings ihre Schattenseiten. Während staatliche Ausgabenprogramme schnell zu organisieren sind und deshalb beim Wähler (als Nachfrager) entsprechend gut ankommen, entfaltet sich der Segen von angebotsorientierten Maßnahmen nur langsam – im Zweifel kann also die Ernte erst dann eingefahren werden, wenn jene, die die Saat ausgelegt haben, gar nicht mehr im Amt sind. Zu den bekanntesten politischen Verfechtern der Angebotspolitik gehören der frühere US-Präsident Ronald Reagan und die Ex-Premierministerin des Vereinigten Königreichs, Margaret Thatcher. 23 20090696_Inhalt.indd 23 16.04.2009 11:49:20 Uhr politische Entscheidungen dieser Regierung sind deshalb politische Kompromisse, die weder der Nachfrage- noch der Angebotspolitik gerecht werden und deshalb, streng ökonomisch gesehen, ziemlich faul sind. Neben den bereits genannten Gründen (die Eigeninteressen der jeweiligen Gruppen) kommt hier ein weiteres Dilemma zum Vorschein: Nämlich die schwierige Entscheidung, welche wirtschaftspolitische Strategie eine Regierung/Gesellschaft verfolgen soll. Grundsätzlich gibt es heute in der Marktwirtschaft zwei unterschiedliche Denkschulen – die Angebotspolitik und die Nachfragepolitik (siehe Kasten Seite 23). Wie es die Parteien in Deutschland mit der Angebots- bzw. Nachfragepolitik halten, ist nicht ganz leicht zu beantworten. Nimmt man die Parteiund Grundsatzprogramme als Maßstab, ergibt sich noch ein relativ klares Bild: Danach vertritt die „Freie Demokratische Partei“ (FDP) noch am ehesten eine stringente angebotsorientierte Politik; die „Christlich Demokratische Union“ (CDU), die „Christlich Soziale Union“ (CSU) sowie die „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (SPD) praktizieren jeweils unterschiedliche Mischformen, wobei die beiden Unionsparteien eher der Angebotspolitik und die Sozialdemokraten eher der Nachfragepolitik zuneigen; „Bündnis90/Die Grünen“ haben mehr nachfrage- als angebotsorientierte Ansätze im Programm und vertreten eine Symbiose aus Ökologie und Ökonomie; „Die Linke“ gibt sich nachfrageorientiert, besteht aber immer noch aus vielen Kommunisten oder Sozialisten, also aus mehr oder weniger großen Skeptikern der Marktwirtschaft. Politischer Mischmasch Im politischen Alltag jedoch sind diese – ohnehin stark vereinfachten – Zuordnungen praktisch gar nichts mehr wert. Nur in 3 der 16 Bundesländer regiert derzeit (Frühjahr 2009) eine Partei allein, in allen anderen gibt es entweder große Koalitionen (aus CDU und SPD) oder kleine Koalitionen (CDU oder SPD mit einer oder mehreren anderen Parteien). In dieser Gemengelage haben die einzelnen Parteien praktisch keine Chance, „ihre“ Wirtschaftspolitik durchzusetzen. Diese Tatsache gilt erst recht für die derzeitige Bundesregierung: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) führt ein Kabinett an, das aus fünf Bundesministern von der CDU, zwei von der CSU und acht von der SPD besteht. Viele wirtschafts- Zum Glück gibt es die Wirtschaft aber auch ohne Politik. Statt um Angebots- und Nachfragepolitik kümmern wir uns jetzt um die Essenz: um Angebot und Nachfrage. Und die wollen bekanntlich ausgeglichen sein. Das wiederum geschieht vor allem über den Preis. Womit wir bei einem unheimlich spannenden Thema wären: Geld. „Im Deutschen reimt sich Geld auf Welt: Es ist kaum möglich, dass es einen vernünftigeren Reim gebe.“ Georg Christoph Lichtenberg 24 20090696_Inhalt.indd 24 16.04.2009 11:49:21 Uhr Angebot trifft Nachfrage: Wie Märkte (nicht) funktionieren 25 20090696_Inhalt.indd 25 16.04.2009 11:49:25 Uhr Geld regiert die Welt: Jedes Ding hat seinen Preis Ach ja, das liebe Geld! Erstaunlich viele (wenn nicht alle) Menschen haben ein recht sonderbares Verhältnis dazu. Für die einen ist Geld der Grund all ihres Strebens, sie messen ihren Erfolg, ihr Prestige, ja ihr Glück daran. Für die anderen ist es der Mangel an Geld, der sie umtreibt – und kurioserweise messen auch diese Menschen ihren Erfolg, ihr Prestige und ihr Glück daran. Kurzum: Egal, wer wir sind und wo wir leben, eines haben offenbar (fast) alle Menschen gemeinsam: zu wenig Geld. „Geld macht nicht glücklich. Aber wenn man unglücklich ist, ist es schöner, in einem Taxi zu weinen als in einer Straßenbahn.“ Marcel Reich-Ranicki Dass den Deutschen ein besonders schwieriges Verhältnis zum Geld nachgesagt wird, hat einen ganz eigenen Grund. Wie keine zweite Nation auf dieser Welt haben die Deutschen ihr Selbstwertgefühl als Volk bis vor wenigen Jahren mit ihrer Währung verbunden: Die D-Mark, das war für die Bundesbürger 50 Jahre lang nicht einfach nur ein Zahlungsmittel, sondern in erster Linie ein Symbol dafür, dass Deutschland seine dunkelste Zeit, das nationalsozialistische Regime, ein für alle Mal hinter sich gelassen und einen neuen Platz in der Weltgemeinschaft gefunden hat. Mögen die Franzosen auf ihre Kultur stolz sein, die Italiener auf ihren Fußball, die Briten auf ihr Königshaus und die Amerikaner auf ihre unbegrenzten Möglichkeiten – die Deutschen hatten (bis zur Einführung des Euro) ihre Mark, ein in Metall gegossenes und auf Papier gedrucktes Synonym für Stabilität, Sicherheit und den berühmten „Wohlstand für alle“. Das Pathos um das liebe Geld findet sich auch in der Sprache wieder. Während die pragmatischen Amerikaner Geld einfach „machen“ (to make 26 20090696_Inhalt.indd 26 16.04.2009 11:49:27 Uhr Der Lebenslauf des Euro 1995 beschließt der Europäische Rat den Namen der neuen Währung. 1996 werden die ersten Entwürfe der Geldscheine präsentiert. 1997 fällt die Entscheidung über die Gestaltung der MünzVorderseiten. 1998 legt der Europäische Rat in Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs der damals 15 EU-Mitglieder fest, welche Länder 1999 in die Währungsunion starten: Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal und Spanien. Nicht dabei sind vorerst Großbritannien, Dänemark und Schweden (diese Länder wollen – noch – nicht) sowie Griechenland, das als einziges Land die Maastricht-Kriterien nicht erfüllt. Im selben Jahr wird die Europäische Zentralbank (EZB) mit Sitz in Frankfurt am Main gegründet. 1999 wird der Euro als Buchgeld eingeführt und es beginnt die Produktion der Münzen und der Banknoten. 2001 wird der Euro zum „Kennenlernen“ u. a. an Banken, den Einzelhandel und die Industrie ausgegeben. Einzelne Länder beginnen aus dem gleichen Grund mit der Ausgabe sogenannter „Starterkits“. 2002 löst der Euro die bisherigen nationalen Währungen als alleiniges Zahlungsmittel ab. money) und die kühl-distanzierten Briten es ebenso einfach „ernten“ (to earn money), müssen es sich die Deutschen mühsam „verdienen“. Und so kann es eigentlich auch niemanden verwundern, dass es natürlich die Deutschen waren, die dem Euro schon kurz nach seiner Geburt ein hässliches Etikett angeklebt haben: Teuro. „Hat eigentlich schon jemand vorgeschlagen, den Euro mit dem Oscar auszuzeichnen?“, fragte das Magazin „Stern“ im März 2003 mit einer gehörigen Portion Zynismus. Immerhin sei es die „beste schauspielerische Leistung“, die eine Währung erbracht habe. „Ständig tut er so unschuldig und behauptet, dass mit ihm keineswegs alles teurer geworden sei. Eine glatte Lüge. […] Wo man auch hinschaut: überall saftige Preiserhöhungen.“ Was folgt, ist eine lange Inflations-Liste an Beweisen: Bienenhonig plus 39 Prozent, Eier plus 15 Prozent, Rasierklingen plus 14 Prozent, eine Stunde Autorepa- Was ist das? Inflation und Deflation Wir schreiben das Jahr 1921: Wer sich damals in Deutschland eine Tageszeitung kaufte, musste dafür 30 Pfennige auf den Tisch legen – kurze Zeit später, im November 1922, kostete die gleiche Zeitung 70 Millionen Mark. Und auch für alle anderen Waren schossen die Preise ins Unermessliche. Der Hintergrund für diese Hyperinflation waren übrigens die Schulden, die der Erste Weltkrieg hinterließ: Um sie zu finanzieren, warf die Reichsregierung der Weimarer Republik einfach ihre Geldpressen an und druckte schiere Unmengen an Geld. Und wie immer, wenn Angebot und Nachfrage nicht zueinanderpassen, regelte sich das Ganze über den Preis – in diesem Falle über eine „galoppierende“ Inflation. Heute geht es dagegen gemäßigter zu. Der deutsche „Preisindex für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte“, so die offizielle Bezeichnung für das bekannteste Inflationsmaß, weist schon seit mehr als zehn Jahren lediglich einen jährlichen Anstieg der Verbraucherpreise zwischen rund 0,5 und 2 Prozent aus. Die Ursachen für einen Preisanstieg reichen von Preissteigerungen im Ausland, die zum Beispiel über Importe von Öl ins Inland kommen (importierte Inflation) über Kostensteigerungen im Inland (wie höhere Löhne) bis hin zu einem Nachfrageboom (wenn also das Warenangebot kleiner ist als die Nachfrage). Deflation ist, vereinfacht gesagt, die Negation von Inflation: Alles wird immer billiger, das Preisniveau sinkt. Nun könnte man meinen, eine Deflation sei für die Verbraucher das Paradies – doch weit gefehlt. Deflation ist wie Hyperinflation ein Horrorszenario und kann die gesamte Weltwirtschaft ins Chaos stürzen. So geschehen 1930: Ein – zunächst nur leichter – Wachstumsrückgang der US-Wirtschaft ließ den spekulativ überbewerteten Aktienmarkt im Oktober 1929 zusammenbrechen. Von heute auf morgen wurden Gelder, die zuvor in andere Volkswirtschaften investiert worden waren, abgezogen. In Europa und anderswo brach die ohnehin schwache Wirtschaft zusammen – allein in Deutschland verloren mehr als sechs Millionen Menschen ihren Job. 27 20090696_Inhalt.indd 27 16.04.2009 11:49:30 Uhr ratur plus 13 Prozent, eine Kinokarte plus 8 Prozent – insgesamt, so zitierte der „Stern“ eine Studie des Instituts für Angewandte Verbraucherforschung, seien 46 von 100 ausgesuchten Waren und Dienstleistungen um mehr als fünf Prozent teurer geworden. „Gefühlte“ Inflation Zum Glück haben die SternRedakteure dann aber doch noch die Kurve gekriegt und jene gefragt, die sich von Berufs wegen mit Preisen beschäftigen: die Fachleute vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden. Und siehe da: „Unser Geld hat durch die Euro-Einführung nichts an Wert verloren“, behaupteten die Wiesbadener damals (wie auch heute) und legten ihrerseits Beweise vor. So sei der Verbraucherpreisindex, mit dem das Statistische Bundesamt jeden Monat die durchschnittliche Preisentwicklung von 750 Waren und Dienstleistungen nachzeichnet, im Jahr 2003 lediglich um 1,1 Prozent gestiegen – das sei immerhin die niedrigste Inflation seit vier Jahren. Also was denn nun? Wie kann so vieles so viel teurer werden, ohne dass die Lebenshaltung insgesamt teurer wird? Schuld daran ist die „gefühlte“ Inflation, also die subjektive Preiswahrnehmung der Menschen. Die Statistiker aus Wiesbaden erklären das so: Teurer geworden sind nach der Euro-Einführung vor allem kleinere Dienstleistungen wie der Besuch von Kino, Kneipe und Friseur; alles Leistungen, die wir traditionell bar bezahlen und deren Preisanstieg wir deshalb besonders stark wahrnehmen. Wie sehr allerdings die „gefühlte“ Inflation täuschen kann, zeigt die Tatsache, dass der Durchschnittsdeutsche gerade mal 3 Prozent seines Budgets für den Besuch von Restaurants, Cafés und Imbissbuden ausgibt und auch nur 1 Prozent seines verfügbaren Einkommens beim Friseur lässt. Ganz anders dagegen unsere Aufmerksamkeit für Preise wie die Miete: Weil sie automatisch vom Konto abgebucht wird, bekommen die wenigsten Menschen mit, dass dieser große Kostenblock (er macht 30 bis 35 Prozent eines durchschnittlichen Monatsbudgets aus) nach der Euro-Einführung kaum oder gar nicht teurer geworden ist. Der gleiche Effekt greift bei Dingen, die wir eher selten kaufen. Wer sich zum Beispiel einen Computer oder einen Fernseher zulegt, der tut dies höchstens ein paar Mal im Leben – auf jeden Fall zu selten, um sich der Tatsache bewusst zu werden, dass die Preise für langlebige Konsumgüter tendenziell eher fallen als steigen. „Geiz ist geil“, dieser Werbeslogan einer bundesweit agierenden Elektro-Kette ist längst zur Einkaufsmaxime der meisten Bundesbürger geworden. Ob im Internet, im Fernsehen oder in den Printmedien – überall wimmelt es geradezu vor Preisvergleichen, die den Leuten haarklein vorrechnen, wo und wie sie noch den einen oder anderen Cent sparen können. Die Schnäppchenjagd ist nicht nur zum Volkssport geworden, sie ist geradezu des Bürgers erste Pflicht – denn sonst, so glauben jedenfalls viele, werden sie doch nur wieder abgezockt. Wie wenig belastbar die Theorie von der „gefühlten“ Inflation ist, zeigt ein Kaufkraftvergleich. Diese recht einfache Methode zeigt, wie lange jemand arbeiten muss, um sich eine bestimmte Menge an Waren oder Dienstleistungen leisten zu können. Ein Beispiel: Im Jahr 1960 verdiente ein westdeutscher Arbeitnehmer umgerechnet 1,27 Euro netto pro Stunde. Weil ein Fernseher damals rund 450 Euro kostete, musste man also gut 350 Stunden arbeiten, um in die Röhre gucken zu können. Heute verdienen Arbeitnehmer ungefähr 13,55 Euro netto pro Stunde und ein Fernseher ist schon für gut 300 Euro zu haben – ist also schon in rund 22 Stunden verdient. Die folgenden Beispiele zeigen, dass es sich mit den meisten Gütern ganz ähnlich verhält: Die Kaufkraft der Lohnminute 1 kg Mischbrot 10 Eier 1 Damenkleid 1 l Normalbenzin 1 Kühlschrank 1 Paar Herrenschuhe 1 Monat Tageszeitung 200 kWh Haushaltsstrom 1960 Preis in Euro Arbeitszeit 0,41 20 Min. 1,07 51 Min. 33,64 1.588 Min. 0,31 14 Min. 198,89 9.390 Min. 15,65 739 Min. 2,13 101 Min. 12,86 607 Min. 2007 Preis in Euro Arbeitszeit 2,36 10 Min. 1,60 7 Min. 91,29 404 Min. 1,33 6 Min. 327,83 1.452 Min. 68,47 303 Min. 22,01 97 Min. 43,56 193 Min. Arbeitszeit: bei einer Nettolohn- und Gehaltssumme je geleistete Arbeitsstunde von 1,27 Euro im Jahr 1960 und 13,55 Euro im Jahr 2007; Ursprungsdaten: Statistisches Bundesamt, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 28 20090696_Inhalt.indd 28 16.04.2009 11:49:31 Uhr Geld regiert die Welt: Jedes Ding hat seinen Preis Eine kurze Geschichte über das Geld Es muss so 5.000 bis 6.000 Jahr her sein, da machten unsere Vorfahren einen riesigen Sprung. Zwar hatten sie noch keinen blassen Schimmer von Produktivität und solch modernen Sachen, dennoch brachten sie eines Tages deutlich mehr Fleisch, Felle und Früchte nach Hause, als die Sippe essen oder lagern konnte. Also kamen sie auf die Idee, ihre Überproduktion benachbarten Familien anzubieten. Weil es aber damals noch kein Geld gab, tauschten sie Trommeln gegen Töpfe, Eisendolche gegen Pelze, Esel gegen Ziegenböcke. Der Naturaltausch hatte allerdings auch so seine Tücken: Da waren nicht nur das Transportproblem (Esel können sehr störrisch sein!) sowie die Schwierigkeit, einen Tauschpartner zu finden, der genau das hatte, was man haben wollte und gleichzeitig auch genau das wollte, was man selbst anzubieten hatte; nein, das größte Kopfzerbrechen bereiteten Fragen wie diese: Wie viel Sack Gerste ist denn ein Esel wert? Und selbst wenn die Antwort gefunden war (sagen wir: 20 Sack Gerste sind 1 Esel), blieb immer noch ein Fragezeichen: Was, wenn der Eselbesitzer nur 5 Sack Gerste braucht? Es dauerte nicht lange, da hatten die Menschen eine rettende Idee: Sie benutzten Gebrauchs- und Schmuckgegenstände wie Beile, Ringe und Perlen als Zwischentauschmittel und hatten damit das Naturalgeld erfunden. Dessen großer Vorteil: Der Wert der Tauschgegenstände war allgemein bekannt und anerkannt, zudem waren sie meist leicht zu transportieren und zu teilen. Noch Anfang des 15. Jahrhunderts gab es eine englischisländische Marktordnung, wonach zum Beispiel 48 Ellen Tuch 120 Stockfische wert waren, während eine halbe Tonne Tran schon für 15 Stockfische zu haben war. Die bekannteste Form des Naturalgeldes ist übrigens noch heute ein gültiges Zahlungsmittel: Auf den melanesischen Inseln in der Südsee zahlen die Menschen mit „Diwarra“ oder „Tambu“ – und das sind nichts anderes als Kaurimuscheln. Irgendwann dann entdeckten die Menschen ihre Vorliebe für Gold, Silber und Kupfer – das Metallgeld war geboren. Um etwas zu bezahlen, wurden die Metalle abgewogen, ein Umstand, dem übrigens das britische Pfund seinen Namen verdankt. So ungefähr 650 Jahre vor Christus wurde das Metall dann in Formen gegossen und geprägt, es entstand das erste Münzgeld. Zunächst fertigte man ausschließlich Münzen, deren Metallwert dem aufgeprägten Wert entsprach (Kurantmünzen) – allerdings bereicherte sich so mancher Fürst dadurch, dass er Münzen in Umlauf brachte, bei denen der aufgeprägte Wert höher war als der tatsächliche. Später prägte man nur noch solche „unterwertigen“ Münzen, sie werden bis heute Scheidemünzen genannt (übrigens: auch im Euro ist lange nicht das drin, was draufsteht). Mit dem Münzgeld entstand auch das Gewerbe der Geldwechsler. Sie hatten die Aufgabe, die vielen unterschiedlichen Münzen voneinander zu unterscheiden und ihren Wert zu schätzen – ein Job, der übrigens viele von ihnen steinreich gemacht haben soll. Je nachdem, wie viel man zu bezahlen hatte, konnte der Transport des Münzgelds allerdings ganz schön in die Arme gehen. Was lag also näher, als eine Erfindung der Chinesen zu nutzen: das Papiergeld. Marco Polo, so wird berichtet, soll auf seinen Reisen im Jahr 1276 die kaiserlichen Banknoten entdeckt haben, manche Geschichtsbücher nennen auch den Schweden Johan Palmstruch als Erfinder des Papiergelds. Doch wie auch immer: Fest steht, Papiergeld braucht Vertrauen, nämlich darauf, dass es von jedermann zu jeder Zeit in Waren oder andere Vermögenswerte umgetauscht wird. Früher wurde dies dadurch gewährleistet, dass das Geld einer Nation vollständig durch Gold gedeckt war, heute haben wir es ausschließlich mit sogenannten „freien Währungen“ zu tun. Oder auch nicht, denn tatsächlich spielt Geld heutzutage keine große Rolle mehr. Zumindest nicht in Form von Bargeld: So gibt es in Deutschland derzeit nur ca. 204 Milliarden Euro, davon 200 Milliarden Euro als Banknoten und 4 Milliarden Euro als Münzen. Das Bargeld macht nur etwa 12 Prozent des gesamten Geldumlaufs aus – der große Rest befindet sich als Buchgeld auf den Konten und wird von Bankkonto zu Bankkonto weitergegeben, weshalb es auch Giralgeld heißt (vom italienischen giro = der Kreis). Buchgeld hat gegenüber allen früheren Geldformen entscheidende Vorteile: Es ermöglicht einfache und schnelle Zahlungen, ist leicht zu transportieren, haltbar – und: Es stinkt nicht. Diese Feststellung stammt angeblich von Kaiser Vespasian, der kurz nach Christi Geburt eine Steuer für Bedürfnisanstalten eingeführt hatte und deswegen von seinem Sohn Titus zur Rede gestellt worden war. Der Kaiser hielt seinem Sohn die ersten Steuereinnahmen unter die Nase und forderte ihn auf zu riechen – und tatsächlich: Pecunia non olet – Geld stinkt nicht. 29 20090696_Inhalt.indd 29 16.04.2009 11:49:31 Uhr Wer Preise miteinander vergleichen will, der darf aber nicht nur auf die Preisschilder schauen, sondern muss auch die Waren bzw. Dienstleistungen selber genau in Augenschein nehmen. Um unser Beispiel vom Fernseher noch einmal aufzugreifen: Zwar kostet eine Flimmerkiste heute im Durchschnitt genauso viel oder wenig wie vor 50 Jahren, die Qualität aber ist viel besser als damals: Aus den klobigen SchwarzWeiß-Geräten mit drei oder vier Bedienungsknöpfen sind Farbfernseher mit Fernbedienung und automatischem Sendersuchlauf sowie zahlreichen anderen Funktionen geworden. Oder nehmen wir das Auto: Wer sich einmal die Mühe macht, die Ausstattung eines Autos aus den sechziger Jahren mit der von heute zu vergleichen, wird in Sachen Qualität regelrechte Quantensprünge feststellen. Und trotzdem arbeitet der Durchschnittsdeutsche heute für einen 15.000-EuroWagen mit Airbag und ABS lediglich 1.115 Stunden, während die 2.000 Euro teure Standardversion des VW-Käfer im Jahr 1960 mit 1.600 Stunden Arbeit verdient werden musste. Ein Ding – viele Preise Der wohl größte Unterschied zwischen den Preisen von 1960 und heute aber betrifft ihre Anzahl: Für ein und dasselbe Produkt oder ein und dieselbe Dienstleistung gibt es heute nicht einen, nicht zwei, sondern viele verschiedene Preise. Wer zum Beispiel von Hamburg nach München fliegen will, der hat nicht nur die (Preis-)Auswahl zwischen verschiedenen Fluglinien, auch ein und dieselbe Fluggesellschaft bietet diesen Flug zu verschiedenen Preisen an. Je nachdem, wer (Vielflieger oder nicht) das Ticket wie (im Reisebüro oder im Internet) und wann (lange im Voraus oder Last Minute) kauft, kann es 19 Euro oder auch 450 Euro kosten. „Alles im Leben hat seinen Preis; auch die Dinge, von denen man sich einbildet, man kriegt sie geschenkt.“ Theodor Fontane Wie aber entstehen Preise überhaupt? Und welche Funktion haben sie in einer Marktwirtschaft? Die Grundregel für die Preisbildung ist relativ simpel, denn sie folgt dem Gesetz von Angebot und Nachfrage: Danach erhöhen Haushalte und Unternehmen mit steigenden Preisen ihr Angebot (die einen bieten ihre Arbeitskraft an, die anderen Waren und Dienstleistungen) und verringern ihre Nachfrage. Umgekehrt gilt, dass bei sinkenden Preisen das Angebot eingeschränkt und die Nachfrage ausgedehnt wird. So weit, so theoretisch. In der Praxis aber ist es keineswegs so, dass Angebot und Nachfrage immer zueinanderfinden, sprich ausgeglichen sind. In solchen Fällen bleibt ein Unternehmen auf seinen Produkten sitzen oder es kann nicht genug davon liefern. Soll der Tauschhandel doch noch zustande kommen, müssen Anbieter und Nachfrager ihre Preisvorstellungen korrigieren – je nach Lage der Dinge entweder nach oben oder nach unten. Der so entstehende Preis ist der Marktpreis. Viele Preise – ein Markt Dieser Markt- oder Preismechanismus kann allerdings nur funktionieren, wenn sich die Preise frei bilden können – das aber ist bei Weitem nicht immer der Fall. Wer einmal mit dem Herzen eines Schnäppchenjägers und der Sicht eines Ökonomen durch die große bunte Warenwelt geht, der kann sich manchmal nur die Augen reiben. In Großstädten wie Köln zum Beispiel kann man jeden beliebigen Supermarkt zu jeder beliebigen Jahreszeit betreten – ein Kilogramm Äpfel kostet immer und überall 1,99 Euro. Auch die für Autofahrer ärgerlichen Benzinpreiserhöhungen – im- mer pünktlichst zu Ferienbeginn – lassen schon mal Zweifel über die freie Preisbildung aufkommen. Ein Paradebeispiel für das Zustandekommen von Marktpreisen liefert die Telekommunikations-Branche. Nachdem im Jahr 1998 das Monopol der Deutschen Telekom endgültig gebrochen worden ist, dürfen auch andere Unternehmen sogenannte „Sprachdienste außerhalb geschlossener Benutzergruppen“ anbieten – und die neuen Anbieter schossen wie die berühmten Pilze aus dem Boden. Für den einstigen Monopolisten weht seitdem ein rauer Wind. In Großstädten wie Hamburg beherrscht die Konkurrenz inzwischen 60 Prozent des Marktes, bundesweit verliert die Telekom in manchen Monaten bis zu 100.000 Kunden. Die marktwirtschaftliche Folge: Im August 2006 kündigte die Telekom kräftige Preissenkungen an – die Verbraucher wird’s freuen. Geschichten wie diese zeigen, welche Funktionen der Preis in einer Marktwirtschaft im Idealfall erfüllt, nämlich diese: Information. Preise informieren uns darüber, ob ein Gut knapp ist oder nicht. Steigen zum Beispiel die Preise für heimisches Gemüse, dann spiegelt sich darin – wie im Jahr 30 20090696_Inhalt.indd 30 16.04.2009 11:49:32 Uhr Geld regiert die Welt: Jedes Ding hat seinen Preis 2006 – das Wetter wider: Die Rekordtemperaturen des Juli haben vielerorts die Felder ausgedörrt, die Bauern konnten entweder nur wenig oder sogar nichts ernten. Preise geben aber auch Auskunft über die soziale Wertschätzung einzelner Güter – zum Beispiel, wenn wir für Bio-Gemüse mehr zu zahlen bereit sind als für Gemüse aus konventionellem Anbau. Koordination. Preise koordinieren Angebot und Nachfrage. Da sich die Bedürfnisse ständig wandeln, ist diese Ausgleichsfunktion der Preise ein permanenter Prozess. Bringt ein Unternehmen zum Beispiel eine technische Innovation wie den Flachbildfernseher auf den Markt, wird zunächst die Nachfrage wesentlich höher sein als das Angebot – also sind Flachbildfernseher teuer. Weil die hohe Nachfrage jedoch nach und nach auch andere Hersteller zur Produktion von Flachbildschirmen animiert, steigt das Angebot – und die Preise fallen. „Mit scharfem Blick, nach Kennerweise seh’ ich zunächst mal nach dem Preise. Und bei genauerer Betrachtung steigt mit dem Preise auch die Achtung.“ Wilhelm Busch Lenkung. Preise lenken die Produktionsfaktoren (Arbeit und Kapital) in jene Bereiche, in denen die Nachfrage und die zu erzielenden Einkommen bzw. Gewinne am höchsten sind – und das ist immer dort der Fall, wo die Knappheit am größten ist. Preise setzen also Anreize: Gibt es beispielsweise in einer Volkswirtschaft zu wenige Ingenieure, dann können diese entsprechende Gehälter verlangen (auch der Lohn ist ein Preis). Das wiederum wird viele Abiturienten dazu veranlassen, ein Ingenieurstudium aufzunehmen. Die Folge: Ein 31 20090696_Inhalt.indd 31 16.04.2009 11:49:33 Uhr land auch beim besten Willen nicht mehr mithalten. Gnadenlose Auslese paar Jahre später gibt es dann „plötzlich“ zu viele Ingenieure – und deren Löhne werden tendenziell sinken. Auslese. Preise sind gnadenlos: Auf der einen Seite teilen sie das vorhandene Angebot jenen Nachfragern zu, deren Zahlungsbereitschaft am höchsten ist; ganz nach dem bekannten Ebay-Motto: drei, zwei, eins – meins. Auf der anderen Seite können nur jene Anbieter überleben, die ihre Waren und Dienste zumindest kostendeckend an den Mann bringen. Unternehmen, die das nicht schaffen, werden aus dem Markt gedrängt. Insbesondere die Auslesefunktion der Preise können und müssen wir seit einigen Jahren hautnah miterleben. Wer mag, sollte zum Beispiel einmal durch die Abteilungen des schwedischen Modehauses H&M (oder irgendeines ande- ren) gehen und sich die Etiketten in den Kleidungsstücken genauer anschauen. Fast auf jedem steht entweder „made in China“, „made in Bangladesh“ oder „made in Turkey“. Doch „made in Sweden“ oder gar „made in Germany“ – Fehlanzeige. Das mögen die Schweden verschmerzen (sie haben mehr als 1.200 Filialen in 22 Ländern), doch für die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie ist es alles andere als lustig. Im Jahr 1950 war die Branche einer der wichtigsten Industriezweige in Westdeutschland, rund 700.000 Menschen waren dort beschäftigt. Heute zählt die Branche bundesweit gerade einmal 135.000 Mitarbeiter, allein seit dem Jahr 2000 sind 50.000 Arbeitsplätze weggefallen. Und „schuld“ an allem sind – die Preise: Eine chinesische Näherin bekommt umgerechnet etwa 50 Cent die Stunde – da können Betriebe in Deutsch- Die Textilindustrie ist die Autoindustrie ist die Elektronikindustrie ist die Chemieindustrie – nahezu in jeder Branche sind die deutschen Unternehmen einem zunehmend härteren Konkurrenz- und Preisdruck ausgesetzt. Selbst Traditionsunternehmen sind nicht mehr davor gefeit, den Kampf um die Kunden zu verlieren und sang- und klanglos vom Markt geschluckt zu werden. Doch bevor wir uns im nächsten Kapitel ausführlich mit den Gründen und Hintergründen dieser Entwicklung beschäftigen, bevor wir uns also dem spannenden Thema Globalisierung widmen, wollen wir abschließend noch einen kurzen Blick auf einen ganz besonderen Markt werfen. Er (oder besser gesagt: sie) ist sozusagen die Mutter aller Märkte: die Börse. Die Börse: Wo sich DAX und Schweinebäuche treffen Vor rund 500 Jahren trafen sich in Brügge einige eifrige Männer regelmäßig zur Mittagszeit im Haus der Patrizierfamilie van der Beurse, um Münzen zu tauschen und Handel zu treiben. Das war die Geburtsstunde dessen, was wir heute die Börse nennen. Auf diesem Markt der Märkte wird beinahe alles gehandelt: Aktien, Anleihen, Fonds, Optionen und Devisen, aber auch Erdnussöl, Molybdänoxyd und Schweinebäuche. Die acht deutschen Börsen sitzen in Berlin, Bremen, Düsseldorf, Hamburg, Hannover, München, Stuttgart und Frankfurt/Main, dem wohl bekanntesten Börsenplatz. Was dort und auf dem internationalen Parkett geschieht, kennen die meisten Bundesbürger nur aus dem Fernsehen: Der DAX, so melden die Nachrichten zum Beispiel, habe „leichter geschlossen“, dagegen tendiere der Dow-Jones „freundlich“ und der Nikkei mache eine „Seitwärtsbewegung“. Und dann erzählt uns der beredte Börsen-Korrespondent noch irgendwas von institutionellen Anlegern, von Bullenmärkten, sinkenden Umlaufrenditen und bevorstehenden Zinsschritten der Fed. Fed? Nikkei? Bullenmarkt? „Wovon reden die bloß?“, fragen sich wohl Millionen von Bundesbürgern. Und weil der eine oder andere es vielleicht genau wissen will, nimmt er die Zeitung zur Hand, schlägt den Börsenteil auf – und liest dann doch lieber den Sportteil. Denn wo für Profis ein kurzer Blick genügt, um festzustellen, ob gerade der pessimistische 32 20090696_Inhalt.indd 32 16.04.2009 11:49:34 Uhr Geld regiert die Welt: Jedes Ding hat seinen Preis Das kleine Börsen-Lexikon • Aktie. Die Aktie ist ein Anteilsschein an einer Aktiengesellschaft (AG). Ihr Nennwert gibt an, mit welchem Anteil sie am Grundkapital einer AG beteiligt ist – zum Beispiel 50 Euro. Diese 50 Euro sind jedoch nicht zu verwechseln mit dem Aktienkurs – der kann sowohl höher als auch niedriger liegen. Die meisten Aktien sind Stammaktien – hier haben die Aktionäre alle üblichen Rechte, vor allem also das Stimmrecht auf der Hauptversammlung und das Recht auf einen Dividendenanteil. Bei Vorzugsaktien entfällt das Stimmrecht, dafür gibt es meist eine höhere Dividende. Stückaktien sind Aktien ohne Nennwert; Inhaberaktien sind solche, die beim Verkauf ohne Formalitäten den Eigentümer wechseln können, während bei Namensaktien die persönlichen Daten des Aktionärs in ein Aktienregister eingetragen werden. • Anleihen. Das sind festverzinsliche Wertpapiere – der Käufer verleiht sein Geld, bekommt dafür einen festen jährlichen Zins und erhält am Ende der Laufzeit sein Kapital zurück. Bundesanleihen werden von der Bundesrepublik Deutschland als Staatsanleihen herausgegeben. Ihre Laufzeit beträgt in der Regel 10 bis 30 Jahre. Ein Kursrisiko, wie bei Aktien, hat der Käufer nur, wenn er sie zwischenzeitlich verkauft – auch Anleihen werden nämlich an der Börse gehandelt. Bundesobligationen unterscheiden sich von Bundesanleihen im Wesentlichen nur durch ihre kürzere Laufzeit von 5 Jahren. Nicht nur der Bund, auch Bundesländer, Städte oder Sonderinstitute wie die Deutsche Ausgleichsbank geben Anleihen heraus. Diese öffentlichen Anleihen unterscheiden sich von den Bundespapieren meist nur durch ihre Ausgabevolumina. • DAX. Der deutsche Leitindex wurde 1988 eingeführt und startete mit 1.000 Punkten. Die im DAX vertretenen 30 größten deutschen Aktiengesellschaften (auch Blue Chips genannt) sind nach ihrem Börsenwert gewichtet – die Spanne reicht derzeit von 0,11 Prozent (Infineon AG) über 4,71 Prozent (Daimler AG) bis 9,27 Prozent (Siemens AG). Weitere wichtige deutsche Indizes sind der MDAX (das M steht für Mid cap, also mittelgroße Aktienwerte), der SDAX (S wie small, also klein) sowie der TecDAX (Technologieunternehmen). • Investmentfonds. In einem Investmentfonds bündelt eine Fondsgesellschaft das Kapital der Anleger, um es in verschiedene Vermögenswerte (Aktien, Anleihen, Festgelder) zu investieren. Wer Fondsanteile kauft, hat also nicht eine Aktie oder eine Anleihe im Depot, sondern ist – je nach Fonds – an Dutzenden oder gar Hunderten Wertpapieren prozentual beteiligt und streut damit sein Anlagerisiko. • Kurszusätze. In vielen Tageszeitungen sind hinter den Aktienkursen verschiedene Kürzel angegeben, die wichtige Informationen liefern. B bedeutet Brief – zu diesem Kurs wurden zwar Aktien angeboten, gekauft hat jedoch niemand. G bedeutet Geld – es lagen zwar Kaufwünsche vor, verkauft hat jedoch zu diesem Kurs niemand. bB bedeutet bezahlt Brief – zwar wurden zu diesem Kurs einige Aktien verkauft, aber nicht alle Angebote fanden einen Abnehmer. bG bedeutet bezahlt Geld – wiederum wurden zwar Papiere verkauft, diesmal ging aber ein Teil der Käufer leer aus. T bedeutet Taxkurs – das ist ein vom Aktienmakler geschätzter Kurs, der zeigt, dass die Aktie an diesem Tag keinen Umsatz hatte; ex bedeutet ausschließlich – und weist darauf hin, dass es sich um den ersten Kurs nach der Hauptversammlung einer AG handelt; an diesem Tag wird der Kurs abzüglich der Dividende angegeben. • Rendite. Sie errechnet sich aus Dividende plus Kursanstieg bezogen auf das eingesetzte Kapital. Wer also eine Aktie für 100 Euro gekauft hat und dafür 2 Euro Dividende erhält, kommt bei einem Kursanstieg auf 105 Euro auf eine Jahresrendite von 7 Prozent. • Stoppmarken. Um Verluste zu begrenzen (oder auch Gewinne zu sichern) kann man Stoppmarken setzen. Dabei gibt man der Bank einen bestimmten Kurs an – sobald die Aktie unter diesen Kurs fällt, wird sie ohne Wenn und Aber verkauft. 33 20090696_Inhalt.indd 33 16.04.2009 11:49:36 Uhr Bär (er steht an der Börse für Kursrückgänge) oder der optimistische Bulle (er symbolisiert den Aufschwung) regiert, müssen Otto und Lieschen Normalbürger meistens passen: Sie können den Buchstabenund Zahlensalat im Börsenteil zwar lesen, aber nicht wirklich verstehen. Das ist schade, denn wie wir gleich sehen werden – sooo schwer ist es nun auch wieder nicht. Und es ist jammerschade, weil es zeigt, dass das Gros der Deutschen mit der Börse ausgerechnet jenen Teil der Wirtschaft völlig außer Acht lässt, der wie kaum ein anderer über ihre Zukunft entscheidet. Das ist keineswegs übertrieben: Denn jeder, wirklich jeder hat direkt oder indirekt etwas mit Aktien, Anleihen oder dem Ölpreis zu tun. Die einen, weil sie selbst, ihr Vater oder ihre Mutter bei einem Unternehmen arbeiten, das an der Börse notiert ist; die anderen, weil ihr Arbeitgeber der größte Zulieferer eines DAX-Unternehmens ist; wieder andere, weil sie selbst Aktien oder Fonds gekauft haben – und alle zusammen, weil der Wechselkurs des Euro für die heimische Wirtschaft von genauso essenzieller Bedeutung ist wie der Ölpreis; weil eine so sehr exportorientierte Volkswirtschaft wie Deutschland auf stabile Börsen (sprich eine stabile Wirtschaft) in ihren Abnehmerländern geradezu angewiesen ist. Und vor allem, weil die staatliche Rentenversicherung bekanntlich nur noch einen kleinen Div. 22.8. Schluss 21.8. Schluss Veränd. in % TagesEröff./Hoch/Tief 52-Wochen Hoch/Tief Adidas 0,33 37,66 37,40 +0,70 37,65/37,85/37,21 Allianz 2 130,10 131,24 -0,87 131,48/131,85/128,88 Teil dessen leisten wird, was die Rentnerinnen und Rentner von morgen zum Leben brauchen. Der weitaus größere Teil aber wird an der Börse verdient. Denn egal, bei welcher Gesellschaft der Einzelne für seine private Altersvorsorge einzahlt – Allianz, Hamburg-Mannheimer, Axa & Co. erwirtschaften die versprochenen Gewinnbeteiligungen fast ausschließlich an der Börse. Der inzwischen verstorbene Börsen-Altmeister André KGV 2006 Gesamtumsatz MarktKapital. ISIN 43,58/34,16 15 43532 6,85 DE0005003404 139,53/103,10 11 421179 51,51 DE0008404005 Erläuterungen am Beispiel der Adidas-Aktie Div. steht für Dividende. Die Angabe 0,33 bedeutet, dass Adidas im abgelaufenen Geschäftsjahr pro Aktie einen Gewinnanteil von 0,33 Euro ausgeschüttet hat. Gelegentlich gibt es auch Angaben wie „5 +2“, das heißt dann, für diese Aktie gab es 5 Euro Dividende plus einen Bonus von 2 Euro. 22.8. Schluss heißt, die Aktie wurde zum Börsenschluss am 22. August zu einem Kurs von 37,66 Euro notiert. 21.8. Schluss gibt, zum Vergleich, den Kurs vom Vortag an. Veränderung in % drückt den Unterschied zwischen diesen beiden Schlusskursen in Prozent aus, in diesem Fall plus 0,7 Prozent. Tages-Eröffnung/Hoch/Tief zeigt den Kursverlauf einer Aktie während eines Handelstages. Am 22. August betrug der Eröffnungskurs der Adidas-Aktie also 37,65 Euro, der höchste Kurs notierte bei 37,85 Euro, der niedrigste bei 37,21 Euro. 52 Wochen Hoch/Tief informiert über die Entwicklung der Aktie in den vergangenen 52 Wochen. Die Adidas-Aktie war in dieser Zeit höchstens 43,58 Euro und mindestens 34,16 Euro wert. Gewinn pro Aktie teilt. Bei einem niedrigen Kurs-Gewinn-Verhältnis gilt eine Aktie als günstig, bei einem hohen KGV als ungünstig, sprich zu teuer. Als Vergleichsmaßstäbe für das KGV gelten vor allem die KGVs vergleichbarer Unternehmen (gleiche Branche), historische Durchschnitts-KGVs (im deutschen Aktienmarkt ca. 15) sowie bei Wachstumswerten die erwartete Wachstumsrate. Der Gesamtumsatz ist die Summe aller Umsätze, die mit einer Aktie an allen deutschen Börsen einschließlich des elektronischen Handels (des sogenannten Xetra-Handels) an diesem Tag gemacht wurden, angegeben in tausend Euro. Die Marktkapitalisierung gibt den Börsenwert einer Aktiengesellschaft in Milliarden Euro an. Sie errechnet sich aus der Zahl der Aktien multipliziert mit dem aktuellen Kurs. ISIN steht für „International Securities Identifications Number“, eine Art Code, mit dem sich jedes Wertpapier eindeutig identifizieren lässt. KGV 2006 ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis für das Jahr 2006. Diese Kennzahl gibt an, in welchem Verhältnis der erwartete Gewinn einer Aktiengesellschaft zu ihrer aktuellen Börsenbewertung steht. Errechnet wird das KGV, indem man den aktuellen Kurs einer Aktie durch den für das nächste Jahr erwarteten 34 20090696_Inhalt.indd 34 16.04.2009 11:49:37 Uhr Geld regiert die Welt: Jedes Ding hat seinen Preis Kostolany erklärte das Ganze einmal so: „Mit der Wirtschaft und der Börse verhält es sich wie mit dem Mann und seinem Hund beim Spaziergang. Der Mann läuft langsam und gleichmäßig weiter. Der Hund läuft vor und zurück. Aber beide bewegen sich in die gleiche Richtung. Der Mann ist die Wirtschaft, der Hund die Börse.“ Egal ob Mann oder Frau – folgen wir einmal dem Hund und schauen, wie sich sein Vor und Zurück im Börsenteil einer Tageszeitung darstellt und was die Angaben bedeuten (siehe Kasten Seite 34): „Der Oktober ist einer der besonders gefährlichen Monate, um mit Wertpapieren zu spekulieren. Die anderen sind Juli, Januar, September, April, November, Mai, März, Juni, Dezember, August und Februar.“ Mark Twain Er hat ja so recht, dieser Mark Twain – das zumindest scheint das Gros der Deutschen zu denken. Nur jeder Achte besitzt Aktien oder Fonds, allein im zweiten Halbjahr 2007 haben sich fast 400.000 Bundesbürger von ihren Wertpapieren getrennt. Warum, darüber ist schon viel spekuliert worden. War es das Desaster mit der T-Aktie, die im Jahr 1996 fast zwei Millionen Bundesbürger zum Preis von 28,50 DM (14,57 Euro) zeichneten, und die dann binnen vier Jahren auf 104 Euro hochschoss – um schon im nächsten Jahr auf 15 Euro abzustürzen? Oder sind die Deutschen von Natur aus Aktienmuffel? Oder haben sie, wie eine Studie des Bundesverbandes Deutscher Investmentgesellschaften nahelegt, einfach zu wenig Ahnung? Es klingt unglaublich, aber tatsächlich weiß nicht einmal ein Drittel der Fondsbesitzer, was ein Fonds überhaupt ist. Wenn Sie nur die erste der folgenden Regeln beachten, kann Ihnen das schon nicht mehr passieren. 10 goldene Börsenregeln ▲ Kaufen Sie nie ein Wertpapier, das Sie nicht verstehen. ▲ Kaufen Sie nichts, ohne die Alternativen geprüft zu haben. ▲ Überprüfen Sie Ihre Informationen. ▲ Nutzen Sie das Internet – aber überprüfen Sie anonyme Hinweise. ▲ Spekulieren Sie nur mit Geld, das Sie langfristig nicht brauchen – und niemals auf Kredit. ▲ Keine Panik und nervöse Reaktionen – The trend ist your friend! ▲ Beobachten Sie die Aktien in Ihrem Portfolio. ▲ Laufen Sie nie einem heißen Tipp hinterher. ▲ Streuen Sie Werte und Branchen in Ihrem Depot, verzetteln Sie sich nicht mit vielen kleinen Positionen. ▲ Setzen Sie sich immer ein Limit – und setzen Sie Stopps. Quelle: Börse Düsseldorf 35 20090696_Inhalt.indd 35 16.04.2009 11:49:37 Uhr Die Wirtschaft: Über Gewinne und andere Vorurteile Nun haben wir schon so viel von der Wirtschaft gesprochen – doch wer ist eigentlich „die Wirtschaft“? Sicher: Ich, du, er, sie, wir alle sind die Wirtschaft, das stimmt schon. Doch Hand aufs Herz: Wenn die Nachrichten melden, „mit der deutschen Wirtschaft geht es wieder bergauf“ oder „die Wirtschaft fordert von der Bundesregierung eine Reform der Unternehmenssteuern“ – fühlen Sie sich dann angesprochen? Eben. Und genauso geht es den meisten Bundesbürgern. Würde man sie auf der Straße einfach mal auffordern, ein paar aktuelle Namen zu nennen, die ihnen im Zusammenhang mit „der Wirtschaft“ einfallen, die meisten würden wohl antworten: „Der von der Deutschen Bank, wie heißt er noch? Ach ja, Ackermann.“ Dem einen oder anderen Bahnpendler käme vielleicht auch der Name Mehdorn über die Lippen. Und wer einmal eine T-Aktie hatte, für den ist bestimmt Ron Sommer so ein Name aus der Wirtschaft, wer sie immer noch hält, kennt wohl eher dessen (inzwischen ebenfalls abgelösten) Nachfolger, KaiUwe Ricke. Und sonst? Wer fällt Ihnen noch ein? Wie heißt zum Beispiel der amtierende Bundeswirtschaftsminister? O.K., lassen wir das und fragen stattdessen nach Firmennamen. Welche deutschen Unternehmen kennen Sie? Deutsche Bank, Daimler, Siemens, Telekom, VW, BASF, Lufthansa, Allianz, Eon, Bayer, BMW, Henkel, Philips … Stopp! Philips ist ein niederländisches Unternehmen, aber ansonsten: alle Achtung! Kommt ja wie aus der Pistole geschossen. Eines fällt allerdings auf: Alle genannten 36 20090696_Inhalt.indd 36 16.04.2009 11:49:37 Uhr deutschen Unternehmen sind im DAX vertreten, gehören also zu den 30 größten deutschen Aktiengesellschaften. Na und, werden Sie vielleicht sagen, das sind doch deutsche Unternehmen. Stimmt. Aber selbst wenn wir alle 30 DAXKonzerne aufzählen, haben wir lediglich 0,00001 Prozent aller deutschen Unternehmen beisammen. Ja, Sie haben richtig gelesen: Null Komma null null null null eins Prozent! Sogar wenn wir alle anderen AGs und die Kommanditgesellschaften auf Aktien (KGaA) hinzuzählen, stellen die insgesamt knapp 7.200 Aktiengesellschaften lediglich 0,2 Prozent aller Unternehmen in Deutschland – „die Wirtschaft“ repräsentieren sie also nun wirklich nicht. Dieser Titel gebührt eindeutig dem Mittelstand. Das sind jene Betriebe, die weniger als 500 Mitarbeiter beschäftigen und maximal 50 Millionen Euro Jahresumsatz haben. Insgesamt stellt der Mittelstand in Deutschland nach den jüngsten Zahlen (2007): • 99,7 Prozent aller Unternehmen • 83,0 Prozent aller Auszubildenden • 70,6 Prozent aller Beschäftigten • 47,2 Prozent der gesamten Nettowertschöpfung • 38,3 Prozent aller Umsätze Warum aber viele Bundesbürger die wenigen großen DAXKonzerne fälschlicherweise mit „der Wirtschaft“ gleichsetzen, ist schnell erklärt: So wird es ihnen von vielen Medien suggeriert. Insbesondere die Boulevardpresse sowie die ähnlich bunten und vereinfachenden TV-Magazine lechzen geradezu nach schlagzeilenträchtigen Nachrichten und marktschreierischen Superlativen – und die liefern die international tätigen 30 DAX-Konzerne nun einmal eher als die „übrigen“ rund 3,5 Millionen Betriebe. Ein typisches Beispiel für die selektive Wahrnehmung „der Wirtschaft“ ist die Berichterstattung zum heiklen Thema Gewinne. Verfolgt man die Regenbogenpresse der vergangenen ein, zwei Jahre, dann könnte man fast den Eindruck gewinnen, die deutsche Wirtschaft bestehe ausschließlich aus „Managern ohne Moral“ und „Turbo-Kapitalisten“, die alle nur eines im Kopf hätten: sich selbst und die Aktionäre so reich wie möglich zu machen – koste es so viele Arbeitsplätze, wie es wolle. Den Hintergrund für solch populistische Vereinfachungen bilden Unternehmensmeldungen wie die von Josef Ackermann Anfang Mai 2006: Damals verkündete der Chef der Deutschen Bank, sein Haus habe gerade das erfolgreichste Quartal der Firmengeschichte absolviert – der Gewinn vor Steuern sei um sage und schreibe 46 Prozent gestiegen. Gleichzeitig hielt Ackermann aber an dem Plan fest, insgesamt 6.400 Mitarbeiter zu entlassen. Ähnliche Entwicklungen gab und gibt es beim Reifenhersteller Continental, bei Siemens, bei der Telekom – kurzum: bei vielen DAX-Unternehmen. Sie machen Gewinnsprünge von 20 Prozent und mehr, gleichzeitig aber werden Zigtausende Mitarbei- Deutsche Wirtschaft: Einzelunternehmen dominieren Einzelunternehmen Personengesellschaften wie Offene Handelsgesellschaften (OHG) und Kommanditgesellschaften (KG) Kapitalgesellschaften wie Aktiengesellschaften (AG) und Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH) Sonstige Rechtsformen Insgesamt Zahl der Unternehmen 2.253.131 407.412 573.985 232.597 3.467.125 Stand: 31.12.2007; Sonstige Rechtsformen: Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften, Betriebe gewerblicher Art von Körperschaften des öffentlichen Rechts; Quelle: Statistisches Bundesamt 37 20090696_Inhalt.indd 37 16.04.2009 11:49:40 Uhr ter entlassen oder müssen zumindest empfindliche finanzielle Einbußen hinnehmen. Wenn „der kleine Mann auf der Straße“ dann noch hört oder liest, dass so manches Unternehmen angeblich überhaupt keine Steuern mehr zahlt und so mancher Spitzenmanager in einem einzigen Jahr mehr Geld bekommt, als ein Durchschnittsverdiener in 200 oder 300 Jahren verdienen könnte, kocht nicht nur der Volkszorn so richtig hoch – auch die Vorurteile schießen ins Kraut. Was nun die Gewinne „der Wirtschaft“ angeht, so haben viele Bundesbürger geradezu abenteuerliche Vorstellungen. Als das Meinungsforschungsinstitut Emnid vor ein paar Jahren einmal fragte, wie viel Gewinn einem Unternehmen wohl von 100 Euro Umsatz übrig bleibt, antwortete fast jeder Zweite: mindestens 5 Euro. Jeder sechste Deutsche war sogar davon überzeugt, dass die Betriebe die Hälfte ihres Umsatzes als Gewinn einstreichen. Tatsächlich aber, das belegen die Zahlen der Deutschen Bundesbank vom Juni 2006, bleiben den Unternehmen von 100 Euro Umsatz im Durchschnitt nur 2,90 Euro Gewinn. Unternehmen, Unternehmer und die Steuern Anfang 2005 meldete die „Netzeitung“, die Steuereinnahmen in Deutschland seien deutlich gesunken. „Größere Unternehmen haben statt Steuern zu zahlen sogar Geld vom Staat zurückerstattet bekommen.“ Ökonomische Laien interpretieren solche Meldungen allerdings oft anders, als sie gemeint sind. Sie glauben doch tatsächlich, Unternehmer und Manager würden ihre (Millionen-)Gehälter einfach kleinrechnen (Stichwort: Steuerschlupflöcher) und so am Finanzamt vorbeischleusen. Der Grund für dieses Missverständnis ist ein einziger Buchstabe, nämlich der Unterschied zwischen Unternehmen und Unternehmer. • Unternehmen sind rechtlich, wirtschaftlich und finanziell selbstständige Wirtschaftseinheiten, die in zwei verschiedenen Rechtsformen geführt werden können: als Einzelunternehmen oder als Gesellschaftsunternehmen. Bei einem Einzelunternehmen sind Unternehmen und Unternehmer identisch, bei Gesellschaftsunternehmen unterscheidet man zwischen Personenunternehmen und Kapitalgesellschaften. Während Personenunternehmen wie Einzelunternehmen der Einkommenssteuer unterliegen, zahlen Kapitalgesellschaften Körperschaftssteuer. Wenn also die Aktiengesellschaft X angeblich keine Steuern mehr zahlt, dann ist damit ausschließlich die Körperschaftssteuer gemeint. Die Einkommen des Vorstandsvorsitzenden und der Manager aber unterliegen, wie die Löhne und Gehälter der Arbeitnehmer auch, der Einkommenssteuer. • Unternehmer sind nach amtlicher Lesart Selbstständige. Dazu zählen alle, die „einen Betrieb oder eine Arbeitsstätte gewerblicher oder landwirtschaftlicher Art wirtschaftlich und organisatorisch als Eigentümer oder Pächter leiten (einschließlich selbstständiger Handwerker) sowie alle freiberuflich Tätigen, Hausgewerbetreibende und Zwischenmeister“. Besonders wichtig ist dabei folgende Unterscheidung: Ein Unternehmer ist (Mit-)Eigentümer eines Unternehmens, er oder sie leitet also einen Betrieb eigenverantwortlich und übernimmt dabei ein persönliches Risiko. Dem Manager dagegen fehlt die typische Voraussetzung des klassischen Unternehmers: der Besitz, das Kapital. Ein Manager arbeitet also nicht „in seinem“ Betrieb, sondern „für einen“ Betrieb – und er zahlt, wie jeder Arbeitnehmer, Einkommenssteuer. „Das schlimmste Verbrechen gegen die arbeitende Bevölkerung ist es, keine Profite zu machen.“ Samuel Gompers Warum aber braucht eine Volkswirtschaft überhaupt Gewinne – und vor allem: hohe Gewinne? Warum muss das eine Unternehmen unbedingt eine höhere Rendite erzielen als das andere? Wäre es nicht einfacher und gerechter, wenn alle (Volkswirtschaften, Branchen, Unternehmen, Manager, Arbeitnehmer) zu gleichen Teilen profitieren würden? Eine rhetorische Gegenfrage: Wollen Sie immer das gleiche Gehalt bekommen, egal, welche Ausbildung Sie haben, welchen Beruf Sie ausüben, wie viel Sie arbeiten und wie gut Ihre Leistungen sind? Konkurrenz belebt das Geschäft, sagt der Volksmund, und in einer Marktwirtschaft gilt diese Regel allemal. Denn tatsächlich braucht der Markt das Konkurrenzprinzip so nötig wie der Ottomotor das Benzin, nur dass der Treibstoff des Marktes die Gewinne sind. Sie signalisieren: Hier lohnt es sich zu investieren! Hier ist Geld zu verdienen! Hier entstehen neue Arbeitsplätze! 38 20090696_Inhalt.indd 38 16.04.2009 11:49:41 Uhr Die Wirtschaft: Über Gewinne und andere Vorurteile Gewinn: Was vom Umsatz übrig bleibt Umsatz + Übrige Erträge = Gesamterträge – Materialaufwand – Personalaufwand – Abschreibungen – Zinsaufwendungen – Betriebssteuern – Übrige Aufwendungen = Jahresergebnis vor Gewinnsteuern – Steuern vom Einkommen und Ertrag = Jahresergebnis (Gewinn) in Euro 100,00 4,61 104,61 62,40 18,00 3,04 1,09 1,81 14,52 3,75 0,84 2,91 Stand: 2004; Umsatz: einschließlich Bestandsveränderungen; Übrige Erträge: zum Beispiel Zinserträge; Ursprungsdaten: Deutsche Bundesbank 2006 Das Konkurrenzprinzip funktioniert so: Angenommen, das Unternehmen X bringt ein innovatives Produkt auf den Markt, also etwas, was es bis dahin so nicht gegeben hat – wie zum Beispiel seinerzeit den Walkman. Weil es diese Innovation anfangs nur bei diesem Unternehmen gibt, kann es hohe Preise verlangen und macht auch entsprechend hohe Gewinne (der erste Walkman kam übrigens 1979 unter dem Namen TPS-L2 heraus, kostete 200 Dollar und wurde weltweit 330 Millionen Mal verkauft). Wow! sagt sich nun die Konkurrenz – und schwups, schon kommen die ersten Nachahmer aus ihren Startlöchern, um die erfolgreiche Idee zu kopieren oder zu imitieren. Aus marktwirtschaftlicher Sicht ist dabei Folgendes passiert: Durch die Innovation wurden Investitionsentschei- dungen ausgelöst – das knappe Kapital wurde quasi automatisch (wir erinnern uns: die „unsichtbare Hand“ des Marktes) in jene Bereiche gelenkt, die den größten Gewinn versprechen. Logisch, dass gleichzeitig Kapital aus weniger lukrativen Feldern abgezogen wird – denn für die Wirtschaft gilt genau dasselbe wie für jeden Einzelnen: Jeder Euro kann nur einmal ausgegeben werden. „Die Lust am Geldverdienen ist für die wirtschaftliche Entwicklung der Welt ebenso notwendig wie die Lust am Beischlaf für die Volksvermehrung.“ Eugen Schmalenbach Jetzt haben wir zwar mit dem Vorurteil exorbitanter Gewinne aufgeräumt, was aber ist dran an der Behauptung, die Unternehmen würden ihre Strategie der „Gewinnmaximierung“ auf Kosten angeblich gesunder Arbeitsplätze durchsetzen? Konkret gefragt: Warum will die Deutsche Bank 6.400 Mitarbeiter entlassen, wenn sie doch ihren Gewinn kräftig steigern konnte? Und warum will die Telekom sogar 32.000 Beschäftigte vor die Tür setzen? Die Antwort auf diese durchaus berechtigte Frage ist alles andere als einfach. Bleiben wir einmal bei der Telekom, dann zählen zu den Gründen für den geplanten Jobabbau einerseits die bekannten Fakten – also die scharfe Konkurrenz durch neue Anbieter mit der Folge sinkender Preise, Umsätze und Gewinne. Auf der anderen Seite aber sind gerade Global Player wie die Telekom auch einem Wettbewerbsdruck ausgesetzt, der weniger von außen als vielmehr von innen kommt: durch Finanzinvestoren. Was diese, von manchen als „Heuschrecken“ abgekanzelten Investoren bewirken können, beschrieb „Der Spiegel“ im August 2006 so: „… der Telekom-Chef hat in den Reihen der Kontrolleure [gemeint ist der Aufsichtsrat] neuerdings einen mächtigen Gegenspieler: den Finanzinvestor Blackstone. Das auf Firmenübernahmen und anschließende Zerlegung spezialisierte Unternehmen war im April bei der Telekom eingestiegen. […] Für einen Preis von 14 Euro je Aktie kaufte Blackstone 4,5 Prozent der Telekom-Anteile – und sitzt nach dem gewaltigen Kursrutsch nun auf Verlusten von inzwischen rund 500 Millionen Euro. Das ist für das erfolgsverwöhnte US-Unternehmen nicht nur äußerst peinlich. Es könnte, befürchtet man in Bonn [dem Hauptsitz der Telekom], auch dazu führen, dass der von Blackstone in den Telekom-Aufsichtsrat entsandte Lawrence Guffey auf deutlich weitreichendere Änderungen pocht, als Ricke sie bisher plant – und dafür bei anderen Kontrolleuren auch Unterstützung findet.“ Das große Fressen Was auch immer „deutlich weitreichendere Änderungen“ konkret bedeuten mögen, eines zeigt das Telekom-Beispiel sonnenklar: Es gibt keine „deutschen“ Konzerne mehr, sondern allenfalls noch Konzerne in Deutschland. Und es ist auch (fast) egal, wie groß oder wie traditionell ein Unternehmen ist – im Zeitalter der Globalisierung gibt es immer noch einen größeren Fisch, der sich den kleineren gerne einverleibt. Die Liste der prominenten Gefressenen jedenfalls wird von 39 20090696_Inhalt.indd 39 16.04.2009 11:49:41 Uhr Jahr zu Jahr länger: Der Industrieriese Mannesmann, bis zum Jahr 2000 ein DAX-Schwergewicht, wurde vom britischen Mobilfunkanbieter Vodafone übernommen; der seit Anfang 2009 insolvente Modellbahnhersteller Märklin gehörte zuvor ebenfalls einem britischen Finanzinvestor; Apollinaris ist vom US-Konzern Coca-Cola geschluckt worden und die Hypo-Vereinsbank gehört der italienischen Unicredito. Ausverkauf Deutschland? Doch das war erst der Anfang. „Es rollt ein Tsunami auf uns zu“, warnt Kai Lucks. Der Übernahmeexperte von der Siemens AG prophezeit Deutschland eine regelrechte Übernahme- und Fusionswelle, bei der die Käufer aus Ländern kommen werden, von denen die meisten Deutschen bislang wohl kaum gedacht hätten, dass sie einmal eine ernsthafte Konkurrenz darstellen könnten: Brasilien, Russland, Indien und China – die sogenannten BRIC-Länder. Vor allem im Reich der Mitte gibt es inzwischen viele große Staatsunternehmen und zunehmend auch schlagkräftige Privatunternehmen, die sich erst zusammenschließen, um dann ihre Fühler nach internationa- len Konkurrenten auszustrecken. Fusions-Experte Lucks: „Die chinesische Führung hat in ihren Zwei-, Drei- und Fünfjahresplänen Deutschland als Zielland genannt.“ Und was heißt das für die Unternehmen in Deutschland, insbesondere die Global Player? Sagen wir es ohne Umschweife: Entweder sie passen sich dem internationalen Markt an – oder sie werden angepasst. Und das schließt durchaus die Möglichkeit ein, von einem ausländischen Konkurrenten oder Finanzinvestor übernommen zu werden, ein Risiko, dem sich selbst so potente Un- ternehmen wie etwa die Deutsche Bank stellen müssen. Wenn wir dieses Szenario ernst nehmen, und das sollten wir, dann erscheinen die Diskussionen um Gewinnmaximierung und Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland in einem anderen Licht. Die Manager großer Konzerne peilen zweistellige Renditen nicht deshalb an, um sich selbst die Taschen vollzustopfen (obwohl es auch solche schwarzen Schafe gibt), sondern um ihre Unternehmen so weit zu „mästen“, dass sich potenzielle Aufkäufer die Zähne an ihnen ausbeißen. Gelingt das den Unterneh- 40 20090696_Inhalt.indd 40 16.04.2009 11:49:41 Uhr Die Wirtschaft: Über Gewinne und andere Vorurteile Nettoumsatzrenditen: Deutschland unter ferner liefen Jahresüberschuss 2007 nach Steuern in Prozent des Umsatzes Russland 15,4 Indien 11,5 Brasilien 11,4 Schweiz 10,9 Norwegen 9,9 Vereinigtes Königreich standsvorsitzender so unglaublich viel Geld verdienen und gleichzeitig Zigtausende seiner Mitarbeiter vor die Tür setzen? Oder müsste der Staat als Gesetzgeber dem nicht einen Riegel vorschieben und die 9,1 Spanien 8,6 Dänemark 8,4 Belgien 8,4 Schweden 7,9 Portugal 7,8 China 7,7 Finnland 7,5 Kanada 7,2 Österreich 6,6 Italien 6,6 Niederlande 6,5 Frankreich 6,1 Griechenland 6,0 USA 5,8 Deutschland Japan für einen Bruchteil der deutschen Kosten zu haben ist. So bitter das für die betroffenen Mitarbeiter in Deutschland auch ist, aus volkswirtschaftlicher Sicht ist dieser Weg immer noch der bessere. Denn: 5,0 […] „Zum Beispiel Adidas, das Musterexemplar eines globalen Unternehmens: Herzogenaurach, wo die Marke einst erfunden wurde, ist zwar immer noch Stammsitz des Konzerns und wird es nach Ansicht des Vorstandschefs Herbert Hainer auch bleiben. Aber der weltweite Einkauf wird in Hongkong erledigt, das Marketing in Amsterdam, der Großteil der Produktionsentwicklung im amerikanischen Portland und das Design unter anderem in Tokio und New York. Hergestellt werden die Schuhe und Trikots zu 95 Prozent in Asien. […] Dennoch zeigt Adidas, dass Global Player mit Sitz in Deutschland auch hierzulande neue Jobs schaffen können, wenn sie erfolgreich sind. In den vergangenen zehn Jahren hat der Sportartikelhersteller die Zahl seiner Beschäftigten in Deutschland von 1200 auf 2580 mehr als verdoppelt. In diesem Jahr sollen nochmals 150 Stellen, vor allem im Marketing und Vertrieb, dazukommen.“ 3,6 Jahresüberschuss: Konzerne der gewerblichen Wirtschaft ohne Banken und Versicherungen; Ursprungsdaten: Osiris-Datenbank (Bureau van Dijk) men nicht, werden sie an den Finanzmärkten abgestraft: Der Aktienkurs sinkt und mit ihm der Übernahmepreis für potenzielle Aufkäufer. Wie nötig eine Gewinn-Mastkur ist, zeigt ein internationaler Vergleich der Nettoumsatzrenditen, also des Gewinns nach Steuern in Prozent des Umsatzes: Danach erwirtschaften die Konzerne in Deutschland die zweitniedrigsten Gewinne von 22 großen Industrienationen. Arbeitsplatzverlagerungen ins Ausland dienen (auch, aber nicht nur) dem gleichen Zweck: Gewinne machen, also auch Kosten senken, um im harten Wettbewerb zu bestehen. Da die Arbeitskosten in Deutschland aber bekanntlich zu den höchsten der Welt zählen, bleibt vielen Unternehmen nur eine Alternative: Entweder sie machen weiter wie bisher und gehen sehenden Auges unter, oder sie verlagern zumindest die besonders arbeits- und damit kostenintensiven Produktionsbereiche in Länder wie Tschechien, Rumänien oder Ungarn, wo eine Arbeitsstunde Jobverlagerungen ins Ausland schaffen und sichern auch Arbeitsplätze in Deutschland – wie obenstehende Geschichte aus dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ (Ausgabe 17/2005) belegt. Ach ja, und dann sind da noch die Millionen-Gehälter der Manager. Knapp 12 Millionen Euro, so stand es überall zu lesen, soll zum Beispiel Josef Ackermann bekommen. Zwölf Millionen in einem einzigen Jahr – dafür müsste ein Durchschnittsverdiener mit 13 Monatsgehältern von rund 2.700 Euro brutto 340 Jahre arbeiten. Darf das sein? Darf ein Vor- Manager-Gehälter auf, sagen wir, 2 Millionen Euro pro Jahr begrenzen? Beantworten wir die letzte Frage einmal mit Ja. Und dann? Wenn wir die Manager-Gehälter deckeln, was machen wir dann zum Beispiel mit … … Michael Schumacher? Der Formel-1-Rekordweltmeister verdiente angeblich (offizielle Angaben gibt es keine) zwischen 50 und 100 Millionen Euro – pro Saison. … Michael Ballack? Der Kapitän der Fußballnationalmannschaft verdiente in seiner Bayern-Zeit angeblich 6,5 Millio- 41 20090696_Inhalt.indd 41 16.04.2009 11:49:44 Uhr nen Euro im Jahr. Und bei seinem neuen Club, dem FC Chelsea, sollen es 200.000 Euro sein – pro Woche. … dem 41-jährigen Krankenpfleger aus Nordrhein-Westfalen? Er hat im Oktober 2006 den größten Lotto-Jackpot aller Zeiten geknackt und 37,6 Millionen Euro gewonnen. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Selbstverständlich darf und muss eine demokratische und pluralistische Gesellschaft darüber diskutieren, wie sie ihren erwirtschafteten Wohlstand verteilt. Aber die Gesellschaft muss sich auch entscheiden, was sie will: Marktwirtschaft oder Sozialismus? Und wenn sie sich, wie Deutschland, für die Marktwirtschaft entschieden hat, dann gelten auch deren Regeln. Im Klartext: Ob Josef Ackermann 12 oder 2 Millionen Euro bekommt, entscheidet einzig und allein der Aufsichtsrat der Deutschen Bank. Denn laut Gesetz ist der Aufsichtsrat die Kontrollinstanz einer Kapitalgesellschaft – er überwacht die Geschäftsführung, bestellt die Vorstandsmitglieder und bestimmt deren Gehalt. Und nicht zu vergessen: Der Aufsichtsrat wird von der Hauptversammlung gewählt – dort kann jeder einzelne Aktionär seine Stimme erheben. Und noch ein Letztes muss zum Thema Millionen-Gehälter und Spitzenverdiener gesagt werden: Es mag ja sein, dass bei dem einen oder anderen Maß und Ziel verloren gegangen sind; und es mag auch sein, dass die (übrigens vom Gesetzgeber selbst eingerichteten) sogenannten Steuerschlupflöcher zuweilen recht schamlos ausgenutzt werden. Wahr ist aber auch: Das Gros der Topverdiener in Deutschland zahlt brav und ehrlich seine Einkommenssteuern – und das nicht zu knapp: Fakt ist, dass im Jahr 2004 nach Angaben des Bundesfinanzministeriums die 5 Prozent der Steuerpflichtigen mit den höchsten Einkommen für mehr als 40 Prozent der gesamten Einnahmen aus der Einkommenssteuer sorgten. Auf der anderen Seite trugen die 50 Prozent der Steuerpflichtigen mit den niedrigsten Einkommen lediglich etwas mehr als 8 Prozent zum Steueraufkommen bei. „Es ist nichts falsch daran, dass Menschen Reichtümer besitzen, falsch wird es, wenn Reichtümer Menschen besitzen.“ Billy Graham www.globalisierung.insm.de – Freiheit statt Staatsgläubigkeit „Kapitalismus? Find ich scheiße.“ Mit diesen brachialen Worten reagierte ein junger Mann aus Bayern im August 2006 auf die Titelgeschichte des „Spiegel“ über die „Generation Praktikum“. Darin ging es um Berufseinsteiger, die einfach keinen festen Job mehr finden können – und das, obwohl sie so gut ausgebildet, mobil und flexibel sind wie keine Generation vor ihnen. „Stattdessen“, so das Nachrichtenmagazin, „hangeln sich heute immer mehr Berufsanfänger als Praktikanten, Mehrfachjobber oder Honorarkräfte durch die neue Arbeitswelt, mit befristeten Verträgen oder ganz ohne, mit schlechter oder gar keiner Bezahlung […]“. „Wir sind die Generation des Nichts“, schreibt der junge Mann aus Bayern in seinem Leserbrief weiter. „Für viele geht es nur noch ums momentane Überleben. Und das nutzen die Unternehmen gnadenlos aus.“ Andere Leser und Leserinnen pflichten ihm bei und schreiben vom „Grundübel der Ausbeutung“ und von den „Schattenseiten der Globalisierung“. Globalisierung. Kaum ein anderes Wort aus der Wirtschaft verunsichert die Menschen heute so sehr wie dieses. Viele verbinden damit ausschließlich Negatives: permanente Angst um den eigenen Arbeitsplatz, zunehmenden Leistungsdruck, finanzielle Existenznöte und eine Gesellschaft, in der das Soziale auf dem Altar der Ökonomie geopfert wird. Das Phantom Globalisierung erschreckt aber keineswegs nur die „kleinen Leute“, auch prominente Wissenschaftler kommen zuweilen ins Grübeln. „Der Markt erdrückt den sozialen Ausgleich und vielerorts die Justiz. Das ‚Recht des Stärkeren‘ obsiegt. Damit gerät die freiheitliche Marktwirtschaft in eine Glaubwürdigkeitskrise“, schreibt zum Beispiel Ernst Ulrich von Weizsäcker, Neffe des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und Dekan an der University of California, in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Verzagte Deutsche Ohne Frage: Viele der Ängste und Sorgen sind nachvollziehbar. Wer trotz guter Ausbildung und trotz viel persönlichen Engagements im Extremfall von Hartz IV und einem Ein-Euro-Job leben muss, der hat wahrlich Grund genug, an der Marktwirtschaft und der Globalisierung zu zweifeln. Fatal aber wird es 42 20090696_Inhalt.indd 42 16.04.2009 11:49:44 Uhr Die Wirtschaft: Über Gewinne und andere Vorurteile immer dann, wenn die berechtigten Sorgen der konkret Betroffenen in kollektive Angst umschlagen und selbst jene Menschen in Weltuntergangsstimmung versetzen, die objektiv betrachtet gar keinen Anlass dazu haben. Und das ist – auch das gehört zu einer fairen Diskussion über Globalisierung und Marktwirtschaft – immer noch die große Mehrheit: Nach einer Studie der Europäischen Union sind in Deutschland zum Beispiel nur 6 Prozent der Bevölkerung von „dauerhafter Armut“ betroffen, das heißt, sie mussten oder müssen mindestens drei Jahre lang mit einem Jahreseinkommen von weniger als 10.000 Euro auskommen – besser schneiden von den 15 „alten“ EU-Staaten nur noch die Niederlande ab. Warum aber sind dann gerade die Deutschen so verzagt? Laut der Online-Umfrage „Perspektive Deutschland“, an der sich im Jahr 2004 mehr als eine halbe Million Bundesbürger beteiligte, glauben gerade einmal 28 Prozent der Bevölkerung, dass man in fünf bis zehn Jahren noch gut in Deutschland leben kann. Sechs von zehn Bürgern fürchten einen finanziellen Abstieg, vier von zehn machen sich ernsthafte Sorgen um ihren Job – in anderen Umfragen sind es sogar doppelt so viele. Und meist heißt der Grund für all diese Ängste: Globalisierung. „Furcht besiegt mehr Menschen als irgendetwas anderes auf der Welt.“ Ralph Waldo Emerson Nun wollen wir es uns nicht allzu einfach machen und die Verantwortung für die kollektive Depression in Deutschland pauschal den Politikern, den Machern aus der Wirtschaft oder den Medien in die Schuhe schieben. Trotzdem muss die Frage erlaubt sein, warum ausgerechnet jene, die doch eigentlich das große Ganze im Blick haben sollten, immer wieder Sätze wie diesen sagen: „Die Globalisierung ist nicht aufzuhalten.“ Mit Verlaub, aber was für ein Quatsch! Wer so etwas behauptet, unterstellt, dass die Globalisierung etwas Gottgegebenes ist – eine Entwicklung, der die Menschen so hilflos ausgesetzt sind wie einer Naturkatastrophe. In Wahrheit aber gibt es keine einzige Facette der Globalisierung, die nicht einzig und allein von Menschenhand gemacht ist. Ich, du, er, sie, wir alle machen die Globalisierung – wer denn auch sonst? 43 20090696_Inhalt.indd 43 16.04.2009 11:49:44 Uhr Sozialdumping und Jobverlagerungen? „Selbst schuld!“ Im September 2006 stellte „Die Zeit“ eine These auf: „Ob Niedriglöhne, Stellenabbau oder Umweltzerstörung: Was uns als Bürger empört, fördern wir als Kunden.“ […] „Der Mensch ist schlecht. Ein Homo oeconomicus. Und noch viel Schlimmeres. Wir wissen von unseren Vergehen. Vor allem in dem Bereich, in dem wir täglich wählen: dem des Konsums. […] Wir buchen Flüge zu Preisen, von denen wir wissen, dass sie auf Niedriglöhnen und Stellenabbau beruhen. Wir kaufen ein in Supermärkten, deren Preise angemessene Gewinne für die Produzenten ausschließen – ebenso wie eine umwelt- und tiergerechte Produktion. Wir haben gelesen, dass den Angestellten hinter der Kasse landesübliche Rechte vorenthalten werden. Wir wissen, dass Hosen und Pullover, Computer und DVD-Player, die wir zu Spottpreisen kaufen, nicht in Deutschland, sondern im Ausland gefertigt werden, in sogenannten Niedriglohnländern. Sozialdumping, Stellenabbau, Verlagerungen der Produktion ins Ausland – als Kunde fördern wir alles, was uns als Bürger empört. Wir tun genau das, was wir Politikern und Managern vorwerfen. Wie die Manager an der Spitze der Konzerne treiben wir Globalisierung und Deregulierung voran. Die Manager schauen auf jeden Cent und nehmen nur das Billigste? Genau das tun wir, als fortwährend rechnende und vergleichende Kunden, als knallharte Manager unserer Lebenshaltung. Wir drücken die Preise, bis als Produktionsstandort unserer Waren nur noch Fernost infrage kommt. Wir sind die globalen Heuschrecken. Volk und Elite sind sich einig in ihrem radikalen Ökonomismus. Und wie die Elite sind wir teils getrieben, teils Treibende. […] Wir schimpfen über die Schließung deutscher Standorte und kaufen am selben Tag eine Hose für 30 Euro, die in Bangladesch genäht wurde. […] Als Bürger sind wir Sozialisten – Verfechter der alten sozialen Errungenschaften. Als Kunden sind wir Neoliberale. Marktradikale. Uns ist recht, was billig ist.“ Bleibt die Frage, wie wir das, was wir Globalisierung nennen, gestalten wollen. Wer sich jetzt der Hoffnung hingibt, auf diese Frage eine allgemeingültige Antwort zu bekommen, den müssen wir enttäuschen: Nicht dass es keine Antworten gäbe, weit gefehlt. Es gibt vielmehr Milliarden Antworten, nämlich genau so viele, wie es Menschen auf der Welt gibt! Denn genau das ist die Crux an der Globalisierung und an der Marktwirtschaft und an der Demokratie: Jeder ist seines Glückes Schmied. The sky is the limit – alles ist möglich. Vorbild Irland Zugegeben, Karrieren wie die von William Wrigley Jr. oder Bill Gates sind eher Einzelfälle. Das heißt aber keineswegs, dass Globalisierung und Marktwirtschaft nur für Einzelne von Vorteil sind. Ganz im Gegenteil: Wenn ich, du, er, sie, wir alle mitmachen, dann Wie man aus 32 Dollar 23 Milliarden Dollar macht Im Jahr 1891 zieht es einen gewissen William Wrigley Jr. von Philadelphia an den Lake Michigan. Gerade einmal 29 Jahre alt und mit 32 Dollar in der Tasche, will er in Chicago sein Glück als Handelsvertreter versuchen und gründet die Wrigley Jr. Company. Seife – William Wrigley Jr. produziert und verkauft Seife, wie sein Vater. Doch weil der Junior fremd ist in Chicago und weil aller Anfang bekanntlich schwer ist, legt er in jede Lieferung, die seine Firma verlässt, zwei Päckchen Backpulver. Es dauert nicht lange, da interessieren sich die Leute mehr für das kleine Werbegeschenk als für die Seife. Also lässt Wrigley Seife Seife sein und verkauft fortan lieber Backpulver – natürlich nicht, ohne jede seiner Lieferungen mit einer kleinen Gratisbeigabe zu versüßen. Diesmal ist es eine Kugel Kaugummi. Der Rest von diesem wahr gewordenen Märchen ist schnell erzählt: Von wegen Backpulver – die Leute reißen sich nur noch um das Kaugummi. Also widmet Wrigley seine Firma ein zweites Mal um und bringt nur zwei Jahre nach seiner Ankunft in Chicago das mittlerweile weltberühmte „Wrigley’s Spearmint“ auf den Markt. Auch heute noch sitzt ein gewisser William Wrigley Jr., Urenkel des gleichnamigen Gründers, im Aufsichtsrat der Firma. Sie ist im Oktober 2008 von der Mars Incorporated übernommen worden. Kaufpreis: 23 Milliarden Dollar. 44 20090696_Inhalt.indd 44 16.04.2009 11:49:47 Uhr Die Wirtschaft: Über Gewinne und andere Vorurteile profitieren auch alle (na ja, jedenfalls fast alle) davon. Ein Paradebeispiel dafür ist Irland: Noch zu Beginn der neunziger Jahre zählte die grüne Insel zu den Armenhäusern Europas. Irland galt als rückständig, der Staat war hoch verschuldet, die Arbeitslosenquote und die Armutsquote waren zweistellig und immer mehr junge Leute kehrten ihrem Land den Rücken und wanderten aus. Heute ist das irische Bruttoinlandsprodukt je Einwohner höher als das in Deutschland, die Wirtschaft wächst seit Jahren um durchschnittlich real 6 Prozent, die Arbeitslosenquote sowie die Armutsquote liegen deutlich unter 5 Prozent und es zieht immer mehr qualifizierte Arbeitskräfte und Investoren auf die Insel. Möglich war dieser Umschwung, weil es die Iren verstanden haben, die Chancen der Globalisierung zu nutzen. Statt pauschal auf die „Heuschrecken“ zu schimpfen, ließen die Iren ausländische Investoren ins Land. Und statt weiterhin auf Pump zu leben, schlossen Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften ein Abkommen: Einerseits wurden die staatlichen Ausgaben gekürzt und die Gewerkschaften verpflichteten sich zu Lohnzurückhaltung; andererseits senkte der Staat die Steuern und Abgaben, sodass die Nettoeinkommen trotz staatlicher Globalisierung – Milliarden neuer Konkurrenten Kennen Sie Chongqing? Die Stadt am Yangtze ist eine von derzeit insgesamt 52 chinesischen Millionenstädten und zählt nach der Zusammenlegung mit umliegenden Regionen und Kleinstädten mehr als 30 Millionen Einwohner. Und jedes Jahr kommen 200.000 weitere hinzu, um an dem schier unaufhaltsamen Aufstieg der Metropole im Süden Chinas teilzuhaben. Denn in Chongqing, so heißt es, hat die Privatwirtschaft den staatlich gelenkten Sektor längst überholt. Die Stadt investiert gewaltige Summen in die Bildung und die Wissenschaft, die Absolventen der Wirtschaftsuniversität haben beste Aussichten auf eine steile Karriere, die medizinische Hochschule leistet Pionierarbeit in der Krebsforschung und Yin Mingshan, Nummer eins unter den chinesischen Motorrad- und Automobilherstellern, hat vor kurzem einen umweltfreundlichen Kleinwagen auf den Markt gebracht, der sogar in den USA verkauft werden soll. Chongqing, die „Stadt der Wissenschaft“, ist ein Paradebeispiel für den Aufstieg Chinas zur größten Wirtschaftsnation der Welt. Heute erwirtschaften die 1,3 Milliarden Chinesen ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von umgerechnet 9,4 Billionen Dollar und liegen damit noch knapp hinter Westeuropa (11,8 Billionen Dollar) und den USA (12,3 Billionen Dollar). Bis zum Jahr 2050 werden die Chinesen ihr BIP fast verfünffacht haben – damit wird ihre Wirtschaftskraft fast genauso stark sein wie die der USA und Westeuropas zusammen. Nicht weniger ambitioniert ist das zweite Milliardenvolk, die Inder. Bis zum Jahr 2050 wird die Zahl der Einwohner von heute gut 1 Milliarde auf dann 1,6 Milliarden steigen; und das indische BIP wird sich im gleichen Zeitraum von heute 3,6 Billionen Dollar auf fast 28 Billionen Dollar verachtfachen. Damit werden die Inder Westeuropa abhängen und fast auf Augenhöhe mit den US-Amerikanern sein. Ausgabenkürzungen und schmaler Lohnzuwächse stiegen. Was Irland kann, sollte Deutschland eigentlich auch können – kann es aber offenbar nicht. Denn egal, welche Kriterien wir heranziehen – ob Wirtschaftswachstum, Erwerbstätigenquote, Einkommenszuwachs oder Bildungsniveau – bei internationalen Vergleichen landet die größte Volkswirtschaft Europas schon seit Jahren regelmäßig auf hinteren Plätzen. Nachzügler Deutschland Was ist der Grund für diese Rückständigkeit? Lassen wir einmal die konkreten Einzelursachen beiseite und konzentrieren uns mehr auf das Allgemeine, auf das „typisch Deutsche“, dann ist das Kernproblem schnell gefunden: Die Deutschen, so scheint es, haben eine besonders ausgeprägte Angst vor Veränderungen; stattdessen leben und lieben sie den Konsens, das Alles-bleibt-wie-es-ist. Wie stark dieses stoische Beharren ausgeprägt ist, zeigte im Jahr 2004 eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa: Danach würde ein Fünftel der Bundesbürger (12 Prozent im Osten und doppelt so viele im Westen) sogar am liebsten die Mauer wieder aufbauen. Die Deutschen: Wo andere Chancen sehen, wittern sie nur Risiken. 45 20090696_Inhalt.indd 45 16.04.2009 11:49:48 Uhr „Wer jedes Risiko ausschalten will, der zerstört auch alle Chancen.“ Hans-Olaf Henkel Wie wäre es denn, wenn wir stattdessen mal etwas Neues wagen würden? Wir könnten uns zur Abwechslung einmal dazu durchringen, das Konzept der Marktwirtschaft auch wirklich umzusetzen – und nicht immer nur eine abgespeckte Variante davon. Mehr Marktwirtschaft, das hieße vor allem: weniger Staat. Doch warum eigentlich? Warum soll sich der Staat soweit es geht zurückziehen und dem Markt Platz machen? Die Antwort lautet: 8. Juli 2008, 7 Uhr 57. Das nämlich war nach Berechnungen des Bundes der Steuerzahler exakt der Zeitpunkt, bis zu dem alle Deutschen ihr gesamtes Einkommen, das sie bis dahin in diesem Jahr erwirtschaftet hatten, in Form von Steuern und Sozialabgaben an die Staatskassen abführten. Von den 366 Tagen des Jahres 2008 arbeiteten wir also 190 Tage ausschließlich für den Staat – und nur 176 Tage fürs eigene Portemonnaie. Oder anders gerechnet: Von jedem einzelnen Euro Verdienst geht mehr als die Hälfte an den Staat. Keine Frage, ohne Staat geht es auch nicht. Wir, die Gesellschaft, brauchen die Polizei, die Bundeswehr, Ämter und Behörden, die Justiz, Universitäten, Straßen und dergleichen mehr. Das alles kostet Geld. Was aber ist mit jenen Abermilliarden Euro, die der Staat und die Sozialkassen jedes Jahr von den Bundesbürgern und den Unternehmen einsammeln, nur um sie dann – im Namen der Gerechtigkeit – über Subventionen und Sozialleistungen wieder an die Bürger und Betriebe zurückzugeben? Ist diese Umverteilung, wie Ökonomen das Ganze nennen, überhaupt noch sinnvoll? Machen wir die Probe aufs Exempel: Das deutsche Sozialbudget hat sich seit 1960 von damals rund 33 Milliarden Euro auf mittlerweile fast 700 Milliarden Euro erhöht. Dieses , Hätten Sie s gewusst Geld fließt in die Renten-, Kranken-, Pflege-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung, es wird ausgegeben für Beamtenpensionen, Altershilfen für Landwirte, die Entgeltfortzahlung bei Krankheit, Kindergeld, Erziehungsgeld, soziale Entschädigungen, Wohngeld, Jugendhilfe und Sozialhilfe. „Ich weiß, der Staat kann einem nichts geben, was er einem nicht vorher genommen hat. Das ist nur recht und … nein, also billig ist es nicht.“ Karl Farkas Jahr für Jahr gibt Deutschland mehr und mehr Geld dafür ??? Die Sozialausgaben pro Einwohner sind in Deutschland von 588 Euro im Jahr 1960 auf 8.500 Euro im Jahr 2006 gestiegen. Damit erhöhte sich die Sozialquote (Sozialausgaben in Prozent des Bruttoinlandsprodukts) von 21,1 auf 30,3 Prozent. Die Sozialausgaben des Jahres 2006 stammten aus folgenden Quellen: 27,1 Prozent von den privaten Haushalten 26,2 Prozent von den Unternehmen 24,8 Prozent vom Bund 10,5 Prozent von den Ländern 9,5 Prozent von den Gemeinden 1,4 Prozent von privaten Organisationen 0,4 Prozent von den Sozialversicherungen aus, die Risiken des Lebens abzusichern und abzufedern. Mit Erfolg? Mitnichten! Die Rentenversicherungen hangeln sich von Monat zu Monat; die Pflegeversicherung ist ein finanzielles Desaster; das deutsche Gesundheitssystem verschlingt Milliarden, gilt aber nach internationalen Maßstäben als ineffizient; die Arbeitslosigkeit ist trotz ABM, Frühverrentung und all der anderen Programme gestiegen und gestiegen; und die Förderung der Familie über Kinderund Erziehungsgeld hat alles Mögliche bewirkt – nur nicht den dringend benötigten Anstieg der Geburtenrate und der Frauenerwerbstätigkeit. Was für die Bürger die Sozialleistungen sind, sind für die Unternehmen die Subventionen. Und auch für diesen Bereich gilt: Gut gemeint, aber meistens schlecht gemacht. Es ist nun einmal unsinnig, nicht konkurrenzfähige Unternehmen oder sogar ganze Branchen mit viel Geld künstlich am Leben zu erhalten. Das verzögert nicht nur den notwendigen Strukturwandel (darunter versteht man zum Beispiel den Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsoder Wissensgesellschaft), es führt auch zu solch absurden Ergebnissen wie dem, dass wettbewerbsfähige Unternehmen von subventionierten verdrängt werden. 46 20090696_Inhalt.indd 46 16.04.2009 11:49:48 Uhr Die Wirtschaft: Über Gewinne und andere Vorurteile Welch groteske Ausmaße die deutsche Subventionspolitik zuweilen annimmt, zeigt ein Beispiel aus Brandenburg. Dort hat die Landesregierung im Jahr 2006 die Kampagne „Brandenburg soll rauchfrei werden“ gestartet – und gleichzeitig subventioniert sie die Ansiedlung einer neuen Zigarettenfabrik mit insgesamt 13 Millionen Euro aus Steuergeldern. Dazu die Landesministerin für Gesundheit im ARD-Magazin „Kontraste“: „Es ist nicht die tollste Lösung. Aber wir haben eine Förderrichtlinie, die eine Gleichbehandlung erfordert und deshalb sind die Kriterien Arbeits- plätze schaffen und so höher zu bewerten im Moment als die gesundheitsschädigende Wirkung der Produkte, die dort hergestellt werden.“ den?“ Diese Worte stammen, man glaubt es kaum, von der damaligen Drogenbeauftragten der Bundesregierung im Bundesgesundheitsministerium. Nicht minder abstrus ist die Begründung, warum sich auch der Bund mit 3,25 Millionen Euro an den brandenburgischen Subventionen beteiligt: „Wenn wir das jetzt sehen, dass dort wie gesagt Arbeitsplätze geschaffen werden, Raucher weiter den Tabak, die Zigaretten dort konsumieren, dann muss man sich die Frage stellen: Würden die wirklich alle aufhören, wenn wir jetzt dort nicht subventionieren wür- „Alle menschlichen Einrichtungen sind unvollkommen – am allermeisten staatliche.“ Otto von Bismarck Wenn man vom Staat redet, sind die Bürokraten nicht weit. Nein, keine Sorge, wir wollen jetzt nicht die Abschaffung des Beamtentums fordern (obwohl es zumindest in einigen Bereichen gute Gründe dafür gibt); wir wollen auch nicht darauf herumreiten, dass die Bediensteten von Bund, Ländern und Gemeinden Jahr für Jahr etliche Milliarden an Steuergeldern regelrecht zum Fenster hinauswerfen (zum Beispiel jene 35 Millionen Euro für den Ausbau des Flughafens Schwerin-Parchim, der im Jahr 2004 ganze 4.671 Fluggäste zählte); müßig auch darüber zu diskutieren, warum die neue Bundesregierung drei Staatssekretäre mehr braucht als die alte (nach Berechnungen des Steuerzahlerbundes kostet jeder Staatssekretär den Steuerzahler 47 20090696_Inhalt.indd 47 16.04.2009 11:49:49 Uhr eine halbe Million Euro pro Jahr) – nein, lassen wir das und lesen stattdessen einen süffisanten Artikel aus dem „Spiegel“ (Ausgabe 18/2006). Darin geht es, am Beispiel der Mehrwertsteuererhöhung, um die Frage, wie viel Staat wir eigentlich brauchen. Und vor allem: welchen? Natürlich könnte man sich über solche Eskapaden förmlich totlachen – wenn, ja wenn es nicht so ernst wäre. Und nicht so teuer. Und nicht so widersinnig. Denn, man kann es nicht oft genug wiederholen: Das alles geschieht „unter dem Gesichtspunkt der sozialen Balance“, wie es der Bundesfinanzminister formulierte. Freiheit gewinnt Doch ist es nicht genau umgekehrt? Ist nicht die soziale Balance in Deutschland gerade deshalb aus den Fugen geraten, WEIL wir – der Staat, die Gesellschaft – krampfhaft versuchen, die Schicksale von mehr als 80 Millionen Menschen in ein einziges, nämlich das vom Staat vorgegebene Korsett zu zwängen? Und muss dieses Einheits-Korsett nicht zwangsläufig so geschneidert sein, dass es letztlich keinem passt? Übrigens: Man ist weder Moralapostel noch Neoliberaler oder gar ein Gegner des Staates, wenn man die wahnwitzige staatliche Umverteilung an den Pranger stellt. „Im steten Bemühen, das Steuerrecht möglichst exakt der Lebenswirklichkeit anzupassen, haben sich die Spitzenbeamten des Bundesfinanzministeriums gründlich in die Pferdematerie eingearbeitet. Es geht um die Frage, welches Tier bei einem Kauf mit dem normalen Mehrwertsteuersatz zu belegen ist und welches mit dem ermäßigten Satz. […] Klar ist: Pferd ist nicht gleich Pferd. Während für „Hengste, Wallache, Stuten, Fohlen“ grundsätzlich der ermäßigte Steuersatz gelte, sei auf „Przewalski-Pferde, Tarpane (Mongolei) sowie Zebras und Zebroide“ der volle Satz anzuwenden. „Kreuzungen zwischen Eselhengst und Pferdestute (Maultier) sowie zwischen Pferdehengst und Eselstute (Maulesel) werden steuerlich gefördert, der einfache Esel hingegen nicht – jedenfalls nicht zu Lebzeiten. Geschlachtet und zum Verzehr bestimmt, erfreut auch er sich der steuerlichen Begünstigung. […] Auch die Verarbeitung von Lebensmitteln ist für die Steuerbehörde von allergrößter Bedeutung. Solange Gewürze wie „Spargelmehl, Knoblauchschrot und Majoran (gerebelt oder gemahlen)“ sauber voneinander getrennt sind, Denn es sind schließlich wir, die Steuerzahler, die dafür aufkommen müssen, dass es sich einzelne Unternehmen oder ganze Wirtschaftszweige in der aus Subventionen gestrickten Hängematte nur allzu bequem machen. Und unser aller Geld ist es auch, mit dem es sich zum Beispiel jene junge Frau gutgehen lässt, die seit Jahren jeden Job ablehnt und in einem RTL-Magazin auch noch damit prahlte, sie mache halt „einen auf Hartz IV“, arbeite „noch ’n bisschen schwarz“ und verbringe ansonsten etliche Monate im Jahr an der Südküste der Türkei – wo sie sich, jung und hübsch wie sie ist, ebenfalls auf Kosten anderer Leute durchs Leben schmarotzt. Ich, du, er, sie, wir alle verstoßen gegen die Regeln der Wirtschaft, wenn wir diese Art „Fürsorge“ auch noch finanzieren. Mit sozialer und freier Marktwirtschaft jedenfalls hat das nichts zu tun. Wer einen Sozialstaat will, der muss sich auch sozial verhalten. Und wer frei sein will, der darf sich seine Freiheit nicht durch die Unfreiheit anderer erkaufen. ist alles in Ordnung. Der Staat gewährt einen Steuernachlass. Doch wehe, es handelt sich um „zusammengesetzte Würzmittel“ oder gar „getrocknete Erzeugnisse für Zwecke der Medizin“. Dann schlägt der Fiskus mit dem vollen Satz zu. […] Ziermais wird vom Staat gefördert, Zuckermais nicht. Pilze und Trüffel werden subventioniert, sofern sie nicht in Essig eingelegt wurden. Die Umsatzsteuer auf Leitungswasser ist ermäßigt, nicht aber die Steuer auf Abwasser. […] Malbücher für Kinder? Werden gefördert – aber nur, wenn auszuschließen ist, dass „auf mehr als der Hälfte der Seiten“ eine Bastelschere zum Einsatz kommen soll. Beinprothesen? Die Grundausstattung wird subventioniert, die Ersatzteilbeschaffung hingegen nicht. […] „Ein Irrsinn“, schlussfolgert denn auch FDP-Politiker Wissing. Die Beamten des Finanzministeriums hingegen scheint das Kompendium des Mehrwertsteuerwahns mit einigem Stolz zu erfüllen. „Der Gesetzgeber“, heißt es in ihrem Schreiben, habe „ein Gesamtkonzept für alle Bereiche des täglichen Lebens entwickelt“. 48 20090696_Inhalt.indd 48 16.04.2009 11:49:50 Uhr Die Wirtschaft: Über Gewinne und andere Vorurteile Hätten Sie's gewusst ??? Hier einige Superlative aus der Wirtschaft; die Angaben geben den jeweils jüngsten Stand sowie in Klammern das dazugehörende Land wieder: Kriterium Höchster Wert Niedrigster Wert • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • 14,5 Billionen (USA) 70.145 (Luxemburg) 22,2 (Aserbaidschan) 4.089 (Island) 31.339 (Katar) 67.713 (Luxemburg) 56,0 (Myanmar) 88,8 (Äquatorialguinea) 84,6 (Luxemburg) 184,2 (Simbabwe) 819.800.000 (China) 75.421.600 (China) 82,0 (Simbabwe) 2,4 Billionen (USA) 2,7 Billionen (USA) 90,6 (Äquatorialguinea) 78,8 Billionen (USA) 192,2 (Libanon) 66.690 (Japan) 1,2 Billionen (Deutschland) 2,1 Billionen (USA) 9,6 Billionen (USA) 1,3 Billionen (China) 112 Millionen (Kiribati) 103 (Kongo) –5,0 (Simbabwe) 24 (Eitrea) 18 (Äthiopien) 51 (Burundi) 0,2 (Katar) 8,0 (Myanmar) 8,2 (Äquatorialguinea) –0,5 (Garbun) 10.000 (Palau) 440 (Palau) 0,9 (Usbekistan) 57,0 Millionen (Gambia) 67,8 Millionen (Gambia) 8,3 (Afghanistan) 666,4 Millionen (Estland) 4,4 (Estland) 75 (Nigeria) 50.000 (Nauru) 6,0 Millionen (Nauru) 202 Millionen (Malta) 30,8 Millionen (Eritrea) BIP in $ BIP je Einwohner in $ Wirtschaftswachstum in % Agrarproduktion je Einwohner in $ Industrieproduktion je Einwohner in $ Dienstleistungen je Einwohner in $ BIP-Anteil der Landwirtschaft in % BIP-Anteil der Industrie in % BIP-Anteil der Dienstleistungen in % Inflationsrate in % Arbeitskräfte absolut Arbeitslosigkeit absolut Arbeitslosigkeit in % Staatshaushalt, Einnahmen in $ Staatshaushalt, Ausgaben in $ Staatsausgaben in % des BIP Staatsverschuldung in $ Staatsverschuldung % des BIP Staatsverschuldung je Einwohner in $ Exporte in $ Importe in $ Außenverschuldung in $ Gold und Währungsreserven in $ Quelle: www.welt-in-zahlen.de „Lasst uns mehr Freiheit wagen“, forderte im November 2005 auch Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen – außer vielleicht das: „Die Freiheit ist ein wundersames Tier Und manche Menschen haben Angst vor ihr Doch hinter Gitterstäben geht sie ein Denn nur in Freiheit kann die Freiheit Freiheit sein.“ Georg Danzer 49 20090696_Inhalt.indd 49 16.04.2009 11:49:50 Uhr Für Neugierige: Lesetipps, Internetadressen und Projekte Die folgenden Empfehlungen an Büchern, Artikeln und Internetadressen richten sich an Interessierte mit unterschiedlichem Vorwissen – vor allem aber an Lernende und Lehrende. Bücher und Artikel Beck, Hanno: „Der Alltags-Ökonom – Warum Warteschlangen effizient sind. Und wie man das Beste aus seinem Leben macht“, F.A.Z.-Institut für Management-, Markt- und Medieninformationen GmbH, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-89981-032-5 Der Spiegel: „Kapitalismus total global“, zehnteilige Serie, beginnend in der Ausgabe 17/2005 Die Zeit: „Wie werden wir die nächsten hundert Jahre überleben? Zehn deutsche Wissenschaftler antworten“, unter www.zeit.de/ online/2006/34/bildergalerie-ueberleben Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Hrsg.): „Soziale Marktwirtschaft – Elemente einer erfolgreichen Wirtschaftsordnung“, Deutscher Instituts-Verlag GmbH, Köln 1997, ISBN 3-602-14436-4 Jeske, Jürgen / Barbier, Hans D.: „So nutzt man den Wirtschaftsteil einer Tageszeitung“, Societäts-Verlag, Frankfurt 2000, ISBN 3-7973-0744-6 Lekachman, Robert / van Loon, Boris: „Kapitalismus für Anfänger“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1982, ISBN 3-499-17540-1 Mankiw, Nicholas Gregory: „Grundzüge der Volkswirtschaftslehre“, Schäffer-Poeschel Verlag, Stuttgart 2004; ISBN 3-7910-1853-1 von Rosen, Rüdiger: „Was geht uns das Thema Wirtschaft eigentlich an?“ Essay unter www.bpb.de/Themen/Wirtschaft/ Wirtschaftsordnung (Bundeszentrale für politische Bildung) Internetadressen www.bpb.de (Bundeszentrale für politische Bildung): Unter der Rubrik Themen/Wirtschaft finden sich zahlreiche Schwerpunktthemen, Dossiers, Aufsätze, Zahlen und Fakten sowie Unterrichtsmaterial für Lehrer. www.netschool.de: Die virtuelle Schule vermittelt das Thema Wirtschaft mit einem ganzheitlichen pädagogischen Ansatz für alle Altersstufen und Bildungsgänge. Außerdem können dort Unternehmen ihre Informationen zu Stellenangeboten, Praktika, Workshops usw. anbieten. www.welt-in-zahlen.de: Ein Muss für alle, die umfangreiche Informationen aller Art (Wirtschaft, Politik, Geografie, Geschichte) über praktisch jedes Land der Welt suchen. www.wigy.de (Wirtschaft & Gymnasium): In dem eingetragenen Verein engagieren sich mehr als 400 Schulen und Unternehmen für die ökonomische Bildung an allgemeinbildenden Schulen. In dem Internetauftritt finden sich u. a. ein Wirtschaftslexikon sowie aktuelle Meldungen und Artikel aus dem „Handelsblatt“, aufbereitet für den Wirtschaftsunterricht. www.wirtschaftundschule.de: Die Website ist ein Angebot der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) und vertritt partei- und branchenübergreifend die ordnungspolitischen Grundgedanken der Sozialen Marktwirtschaft. http://titan.bsz-bw.de/bibscout (Bibliotheksservice-Zentrum Baden-Württemberg): Unter der Rubrik Wirtschaftswissenschaften finden sich ca. 200.000 Bücher zum Thema Wirtschaft. Projekte www.juniorprojekt.de: Das vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) initiierte Projekt wendet sich an Schülerinnen und Schüler ab der 9. Klasse. Jeweils 10 bis 15 Schüler gründen für eine bestimmte Zeit ein Unternehmen, bei dem sie alle Funktionen bis hin zum Vorstandsvorsitzenden selbst besetzen und so an unternehmerisches Denken und Handeln herangeführt werden. Der Wettbewerb findet seit 1994 jährlich statt, er startet in den Bundesländern, geht dann als Bundeswettbewerb weiter und endet schließlich auf internationaler Ebene. Auf der JuniorHomepage finden sich auch die Links zu den Partnerprojekten „fit für die Wirtschaft“ (ein modulares Unterrichtskonzept für Schülerinnen und Schüler der 8. und 9. Klasse) und „Go! to school“ (hier bekommen Schüler die Chance, Selbstständigkeit als Berufsperspektive zu entdecken). www.destatis.de (Statistisches Bundesamt Deutschland): Wer Zahlen und Fakten über die deutsche Wirtschaft sucht – hier findet sich praktisch alles. 50 20090696_Inhalt.indd 50 16.04.2009 11:49:51 Uhr Stichwortverzeichnis Die angegebenen Seitenzahlen beziehen sich jeweils auf die Textstellen, wo das Stichwort ausführlich behandelt wird. Aktie 33 Angebotspolitik 23 Anleihen 33 Arbeitskosten 7 Börse 32 Bruttoinlandsprodukt/Bruttosozialprodukt 15 Deflation 27 Deutscher Aktienindex (DAX) 33 Euro 27 Europäischer Stabilitätspakt 16 Geld 26 Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht 18 Gewinne 38 Globalisierung 42 Inflation 27 Investitionen 13 Kaufkraft 28 Konkurrenzprinzip 38 Marktwirtschaft 9 Mittelstand 37 Nachfragepolitik 23 Ökonomisches Prinzip 5 Ordnungspolitik 19 Personalzusatzkosten 7 Preise 30 Produktivität 13 Sozialausgaben 46 Steuern 46 Subventionen 46 Umverteilung 46 Unternehmen 38 Unternehmer/Manager 38 Verschuldung 15 Volkswirtschaft 8 Wirtschaftspolitik 18 51 20090696_Inhalt.indd 51 16.04.2009 11:49:51 Uhr 3., überarbeitete Auflage © 2009 Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) Gustav-Heinemann-Ufer 84-88 50968 Köln [email protected] www.insm.de Erschienen im Deutschen Instituts-Verlag GmbH Text und Redaktion: Andreas Wodok ISBN 978-3-602-14752-6 Postfach 51 06 70, 50942 Köln Telefon: 0221 4981-452 Fax: 0221 4981-445 [email protected] www.divkoeln.de Gestaltung und Produktion: edition agrippa, Köln · Berlin Fotos: DDP, MEV, project photos Illustrationen: Dirk Meissner, Ulf K Druck: Warlich Druck Meckenheim GmbH 20090696_Inhalt.indd 52 16.04.2009 11:49:51 Uhr Die mit Förderung der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) entstandene Broschüre „Das kleine 1 x 1 der Marktwirtschaft“ richtet sich an Leser, die mit dem Thema Wirtschaft bisher noch wenig vertraut sind. Auf unterhaltsame und allgemeinverständliche Weise wird erklärt, wie die Soziale Marktwirtschaft funktioniert und wie Wettbewerb zum Nutzen aller wirkt. Das Heft thematisiert anschaulich und kompakt die aktuellen Probleme in unserem Wirtschafts- und Sozialsystem und zeigt auf, was mehr Wachstum und Beschäftigung entgegensteht. Behandelt werden auch Arbeitsplatzverlagerungen ins Ausland und die in der Öffentlichkeit oft umstrittenen Gewinne der Unternehmen. Aktien und Börse sind Thema eines Erklärstücks. Zum Schluss widmet der Autor auch der Globalisierung ein Kapitel. Es soll Mut machen, sich auf die neuen Herausforderungen einzulassen: Denn die grenzüberschreitende Freiheit eröffnet neue wirtschaftliche Chancen – vor allem für jene Menschen, die die Zukunft mit Eigeninitiative und dem Glauben an die eigene Leistung optimistisch angehen. Die INSM wendet sich auch im Internet mit wirtschaftsbezogenen Bildungs- und Informationsangeboten an die Öffentlichkeit. www.insm.de www.wohlstandsbilanz-deutschland.de www.wirtschaftundschule.de ISBN 978-3-602-14752-6 20090696_Umschlag.indd 4 16.04.2009 11:53:06 Uhr