248 Seymour Martin Lipset am provokativsten ist das Konzept von „Staatlichkeit“ und die Regimetypologie samt den daraus sich ergebenden Folgen für die Transformationspfade. Literatur: Wolfgang Merkel, Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, Opladen 1999. Geoffry Pridham/Attila Agh (Hrsg.), Prospects for Democratic Consolidation in EastCentral Europe, Manchester 2002. Jan Zielonka/Alex Pravda (Hrsg.), Democratic Consolidation in Eastern Europe: International and Transnational Factors, Oxford 2001. Friedbert Rüb Seymour Martin Lipset, Political Man: The Social Basis of Politics, London 1960 (Neuausgabe, Baltimore 1981; DA, VA: Soziologie der Demokratie, Neuwied 1962). Seymour Martin Lipset (geb. 1922) gehört zu den bedeutendsten Sozialwissenschaftlern. Er erhielt in den USA wie weltweit zahlreiche Preise und Ehrendoktorhüte. Zudem stand er den wichtigsten sozialwissenschaftlichen Vereinigungen vor: der „International Society of Political Psychology“ (1979/1980), der „American Political Science Association“ (1981/1982), der „World Association for Public Opinion Research“ (1985/86) und der „American Sociological Association“ (1992/93). „Political Man“ erschien zuerst 1960. Lipset nannte als Ziel des Buches, das politische System der Demokratie zu begreifen. Dazu untersuchte er die sozialen Anforderungen an Demokratien und verschiedene Typen des politischen Konflikts innerhalb der USA und der anderen demokratischen Gesellschaften, Gründe für das Aufkommen antidemokratischer Tendenzen, die Ursachen für Partizipation in der Politik, die soziale Basis der Parteiunterstützung in den USA und anderen Ländern sowie die Bedingungen, die das politische Leben in den Gewerkschaften dominierten. Demokratietheoretisch nahm Lipset Bezug auf Karl Marx (u.a. → Marx 1869), Alexis de Tocqueville (→ Tocqueville 1835/40), Robert Michels (→ Michels 1911) und Max Weber (→ Weber 1922). Diese seien grundlegend Seymour Martin Lipset 249 für die moderne politische Soziologie. Der Autor betrachtete die Demokratie als Nebenprodukt der sozioökonomischen Entwicklung. Die Herausbildung von liberalen Demokratien korreliere mit dem Anstieg von Wohlstand und Modernität, gemessen am Industrie-, Bildungs- und Verstädterungsgrad. Lipsets Postulat von den sozialen Vorbedingungen der Demokratie wurde für die empirische Demokratieforschung prägend. Lipsets noch heute gültiger Grundtenor lautet: „Je wohlhabender ein Volk, desto größer die Aussicht, dass es eine Demokratie entfalten wird“ (S. 42). Dabei berücksichtigte er die politische Entwicklung seit dem Ersten Weltkrieg. Zur Begründung zog er Faktoren wie ein egalitäres Wertesystem, ein gutes durchschnittliches Bildungssystem und eine hohe Beteiligung an freiwilligen Vereinigungen zu Rate. Es bestehe nachweislich ein Zusammenhang zwischen dem Bildungsstand und den Einstellungen zur Demokratie. Die empirische Forschung hat diese These bestätigt. Auch sein Ergebnis, die Arbeiterschaft sei autoritärer eingestellt als die bürgerliche Schicht, hielt der empirischen Prüfung stand. Lipset begründete den Zusammenhang zwischen Bildungsstand und den Einstellungen zur Demokratie so: „Die Regeln der Demokratie verlangen ein hohes geistiges Niveau und ein hohes Maß an Selbstsicherheit. Je weniger gebildet und je unsicherer ein Mensch ist, desto eher wird er dazu neigen, die Politik zu simplifizieren, desto weniger wird er die Toleranz gegenüber anders Denkenden verstehen und desto schwerer wird er sich zur Bejahung einer gemäßigten Politik durchringen können“ (S. 112). Der politische Extremismus ist für Lipset der Gegenbegriff zur liberalen Demokratie. Er unterscheidet dabei nicht nur zwischen links und rechts (Ziele) und autoritär und demokratisch (Mittel), sondern auch zwischen einem pluralistischen und monistischen Überzeugungssystem (S. 131-189). Es gebe neben einem Extremismus der Rechten und Linken einen stark vernachlässigten Extremismus der Mitte. Mit „Mitte“ meint Lipset dabei nicht die politische „Mitte“, sondern die Mittelschicht. Die Anziehungskraft extremer Bewegungen sah Lipset auch als eine Reaktion von verschiedenen Auswirkungen der Industrialisierung in verschiedenen Stadien an. Lipset behauptete einen Zusammenhang zwischen der Ausrichtung des Extremismus und der sozialen Trägerschicht. So finde der Extremismus des Mittelstandes dort Anklang, wo Großkapitalismus und starke Arbeiterbewegungen prägend seien. Die Einführung einer dritten Art des Extremismus, die er durch einen gedanklichen Schluss von der Massenbasis auf den politischen Charakter einer Bewegung herleitet, wirkt nicht ganz nachvollziehbar. Die zugrunde liegende Ansicht, der Mittelstand habe die NSDAP überproportional ge- 250 Seymour Martin Lipset wählt, die dem Forschungsstand der Entstehungszeit des Buches entsprach, ist inzwischen empirisch widerlegt (Falter 1991). In seinen Ausführungen zum Wahlverhalten hob Lipset hervor, dass demokratische Gesellschaften mit einem ganz unterschiedlichen Maß an Partizipation existieren können. Eine hohe Wahlbeteiligung könne sogar ein Krisensymptom für Demokratien darstellen. Die meisten Wähler stünden in den stabilen Demokratien normalerweise der Politik ohnehin gleichgültig gegenüber. Lipset analysiert anschließend die amerikanische Gesellschaft – mit besonderem Blick auf die Rolle der Intellektuellen. In einem gedanklichen Sprung geht er US-amerikanischen Eigenheiten im Vergleich zu europäischen Industriegesellschaften sowie zu Kanada und Japan nach. Diese führt er wesentlich auf religiöse Ursprünge zurück. Die Lösung des Rätsels, wieso sich in den USA keine sozialistische Bewegung etablieren konnte, hat Lipset Zeit seines wissenschaftlichen Lebens beschäftigt (Lipset 1997). „Political Man“ zeichnet sich weniger durch eine klare Struktur als durch Einfallsreichtum aus. Lipset rückt unterschiedliche Gesellschaften durch Vergleiche und kenntnisreiche Beschreibungen in ein neues Licht. Er nahm viele wichtige Erkenntnisse vorweg, beispielsweise die Tatsache, dass politische Orientierungen als intervenierende Variable zwischen ökonomischer Entwicklung und Modernisierung zu berücksichtigen seien. Was Lipset für die westlichen Demokratien festgestellt hat, gilt auch für die jungen Demokratien der Gegenwart. Die sozioökonomische und politische Entwicklung sind interdependent (Marks/Diamond 1992). Indikatoren des Wohlstands tragen entscheidend dazu bei, dass sich die demokratischen Grundsätze im Bewusstsein der Bevölkerung verankern können. Mit dieser Erkenntnis legte Lipset den Grundstein für die modernisierungstheoretischen Ansätze in der vergleichenden empirischen Demokratieforschung. Literatur: Ulrich von Alemann, Lipset, Soziologie der Demokratie, in: Sven Papcke/Georg W. Oesterdiekhoff (Hrsg.), Schlüsselwerke der Soziologie, Wiesbaden 2001, S. 272276. Jürgen W. Falter, Hitlers Wähler, München 1991. Eckhard Jesse, Seymour Martin Lipset, in: Gisela Riescher, (Hrsg.), Politische Theorie der Gegenwart in Einzeldarstellungen. Von Adorno bis Young, Stuttgart 2004, S. 289-292. Seymour M. Lipset, American Exceptionalism. A Double-Edged Sword, New York/ London 1997. Seymour M. Lipset/Stein Rokkan 251 Seymour M. Lipset, The Social Requisites of Democracy Revisited, in: American Sociological Review 59 (1994), S. 1-22. Gary Marks/Larry Diamond (Hrsg.), Reexamining Democracy. Essays in Honor of Seymour Martin Lipset, Newbury Park u.a. 1992. Florian Hartleb Seymour M. Lipset/Stein Rokkan (Hrsg.), Party Systems and Voter Alignments: Cross-National Perspectives, New York/London 1967. Der Amerikaner Seymour Martin Lipset (geb. 1922) ist als einer der produktivsten und einflussreichsten politischen Soziologen des letzten Jahrhunderts. In seinem umfangreichen Oeuvre mit so grundlegenden Titeln wie „Political Man“ (→ Lipset 1960) beschäftigte er sich mit Bedingungen und Funktionsvoraussetzungen der modernen repräsentativen Demokratie. Der Norweger Stein Rokkan (1921-1979) war eine der maßgeblichen Gründerpersönlichkeiten der europäischen Politikwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Neben vielfältigen wissenschaftsorganisatorischen Aktivitäten entfaltete er eine reichhaltige Publikationstätigkeit, bei der es ihm um nichts weniger ging als das monumentale Projekt eines umfassenden, sozialhistorisch und systemvergleichend fundierten Modells der grundlegenden sozialen Spannungslinien der westeuropäischen Gesellschaften und ihrer Übersetzung in die demokratisch eingehegte Form des Konfliktaustrags durch kompetitive Parteiensysteme und Wahlen im Zuge der Entstehung der modernen Nationalstaaten (Flora 1999). „Party Systems and Voter Alignments” gehört in diesen thematischen Zusammenhang. Vor allem wegen des von den Herausgebern verfassten Einleitungskapitels „Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments: An Introduction“ avancierte es zu einem der Schlüsselwerke der Politikwissenschaft. Die anderen Kapitel beinhalten empirische Auseinandersetzungen mit den in der Einleitung formulierten Überlegungen für ausgewählte Länder. Dies waren die anglo-amerikanischen Länder sowie zwei skandinavische und zwei kontinentaleuropäische Demokratien, darunter die Bundesrepublik Deutschland (analysiert von Juan Linz), Spanien als früher demokratisches, 1967 aber autoritäres politisches System sowie eine Reihe von neuen, teilweise demokratischen Nationen wie Japan, Brasilien und die westafrikanischen Staaten.