Mutismus: Sprachlos vor Angst - urbia.de

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Manche Kinder sind zu Hause lebhaft und gesprächig, doch bei Fremden verstummen und
erstarren sie regelmäßig. Oft gelten sie dann einfach als extrem schüchtern. Doch hinter
ihrer Sprachlosigkeit kann eine Angststörung stehen: Mutismus. Erfahren Sie, wie er
diagnostiziert und behandelt werden kann.
von Sabine Ostmann
Befremdliches Verhalten
Pauline schweigt. Spricht man sie an, reagiert sie nicht.
Ob nun die Verkäuferin im Supermarkt ihr eine Scheibe
Wurst geben will, oder ob andere Kinder sie
zum Spielen einladen möchten: Pauline schaut weg,
bleibt stumm: Sie wirkt ängstlich und wie erstarrt. Doch
so verhält sie sich nicht immer: Zuhause dreht die
Vierjährige richtig auf. Sie lacht und tobt mit ihren
Brüdern, redet mitunter wie ein Wasserfall und liebt es,
im Mittelpunkt zu stehen „Manchmal ist das schon
Foto: ©mauritius images / Image Source
etwas anstrengend, wie uns Pauline zutextet“, meint ihr
Vater Hinnerk Briethner. „Umso befremdlicher ist ihr
Verhalten außerhalb der Familie, auch im Kindergarten. Es hilft auch nichts, sie zu ermuntern. Sie verfällt
einfach in hartnäckiges Schweigen.“
Lange Zeit glaubte die Familie, Pauline sei Fremden gegenüber einfach nur sehr schüchtern – so wie ihre
Mutter es früher als Kind war. Auch beim Kinderarzt hieß es zunächst: „Das wächst sich aus.“ Ein anderer
vermutete eine Form von Autismus hinter Paulines Schweigen. Erst vor kurzem, nach vielen Besuchen bei
Ärzten und Psychologen, hat Familie Briethner erfahren, dass ihre Tochter unter Mutismus leidet.
Mutismus: Verstummen aus Angst
Bei Mutismus – der Begriff kommt vom lateinischen „mutus“ für „stumm“ – handelt es sich um eine
angstbedingte Kommunikationsstörung, die vor allem im Kindesalter auftritt, bei Mädchen häufiger als bei
Jungen. Menschen, die unter totalem Mutismus leiden, sprechen überhaupt nicht, obgleich ihre
Sprachorgane völlig intakt sind. Häufiger ist der sogenannte selektive Mutismus. Die Betroffenen – wie
zum Beispiel Pauline – sprechen im vertrauten Kreis der Familie oder mit engen Freunden, verstummen
aber in Gegenwart anderer Menschen. Oft sind diese Kinder überaus ängstlich, launisch und klammern
30.01.2014 07:50
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sich an ihre Eltern. In bestimmten sozialen Situationen, sind sie so verängstigt, dass ihnen als einziger
Ausweg das Schweigen bleibt.
Nach Einschätzung der Mutismus Selbsthilfe Deutschland leiden in Deutschland 6.000 bis 10.000
Menschen an Mutismus – fast doppelt so viele wie an Autismus. Da die Krankheit oftmals nicht erkannt
und mit Autismus oder extremer Schüchternheit verwechselt wird, ist von einer hohen Dunkelziffer
auszugehen. „Schüchterne Kinder sind zwar oft sehr gehemmt, aber sie reagieren in der Regel, wenn sie
angesprochen werden und kommunizieren auch von sich aus, wenn sie sich sicher fühlen. Ein mutistisches
Kind hat dagegen keine Wahl. Seine Angst lässt es verstummen“, erläutert der Sprachtherapeut und
Heilpädagoge Dr. Boris Hartmann, Lehrbeauftragter der Universität Fribourg in der Schweiz.
Diagnose, Ursache, Therapie
Diagnose: Woran erkennt man Mutismus?
Mutismus ist ein anerkanntes Störungsbild mit gravierenden Konsequenzen für die
Persönlichkeitsentwicklung, das Sozialverhalten und das Selbstbewusstsein. Denn sie betrifft die gesamte
sprachliche, kognitive, soziale und emotionale Entwicklung eines Kindes. Spätestens im Jugendalter
werden die Betroffenen zu Außenseitern, sie bekommen zunehmende Probleme in der Schule, häufig treten
Depressionen und Selbstmordgedanken auf. „Je länger die Krankheit unentdeckt und unbehandelt bleibt,
desto schwieriger wird es, die Kinder von ihren Ängsten zu befreien. Eine frühe Diagnose und Therapie –
am besten bereits im Kindergartenalter – sind daher ungeheuer wichtig. Denn dann sind die
Heilungschancen sehr gut“, betont Dr. Hartmann. Da die Störung bei vielen Ärzten noch nicht bekannt ist,
empfiehlt der Mutismus-Experte Eltern, darauf zu achten, ob bei ihrem Kind folgende Auffälligkeiten
auftreten – und bei Verdacht einen Arzt, Psychologen oder Sprachtherapeuten zu konsultieren:
Verfällt Ihr Kind in bestimmten Situationen oder gegenüber bestimmten Personen immer in
Schweigen, obgleich es ganz normal sprechen kann?
Steht das Kind zuhause gerne im Mittelpunkt?
Redet es zu Hause besonders viel, verstummt aber plötzlich, wenn Fremde hinzukommen?
Hat ihr Kind Angst, sich körperlich zu erproben (zum Beispiel beim Klettern, Schwimmen oder
Fahrradfahren)?
Ursachen: Hemmungen liegen oft in der Familie
Zwar sind die Ursachen von Mutismus noch nicht ganz eindeutig geklärt, doch Experten gehen davon aus,
dass die Störung durch ausgeprägte soziale Ängste hervorgerufen wird. Neuere Untersuchungen belegen
dies: Sie zeigen, dass bei Mutisten das Angstzentrum im Gehirn überreagiert. „Das ist ähnlich wie bei
Menschen mit einer Sozialphobie“, erklärt Dr. Boris Hartmann. „Sie wissen zwar, dass ihnen andere nichts
anhaben können, reagieren aber dennoch mit deutlichen Angstsymptomen. Bei Menschen mit selektivem
Mutismus, werden solche Reaktionen eben durch Situationen ausgelöst, in denen sie mit nicht vertrauten
Menschen außerhalb des engeren Familienkreises sprechen müssen.“
Ein stressreiches Umfeld kann ein Risikofaktor für Mutismus sein. Auffällig ist auch, dass rund 20 Prozent
der betroffenen Kinder zweisprachig aufwachsen. Erziehungsfehler oder Traumata, zum Beispiel nach
sexuellem Missbrauch, scheiden nach neuen Erkenntnissen als Ursachen aus. Dagegen scheint die
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Kommunikationsangst genetisch bedingt zu sein. „Bei 95 Prozent aller mutistischen Kinder, die ich
behandelt habe, hat mindestens ein Elternteil angegeben, selbst sehr gehemmt zu sein oder zur
Selbstisolation zu neigen, bei etwa 75 Prozent waren Vater oder Mutter depressiv oder litten an einer
Angststörung.“
Therapie: In kleinen Schritten gegen die Angst
Mutismus muss kein Schicksal sein. Frühzeit behandelt ist die Angststörung in der Regel sehr gut
heilbar. Eine wirkungsvolle Therapie sollte an verschiedenen Hebeln ansetzen und immer die
individuelle Situation des Kindes berücksichtigen. Der wichtigste Ansatz ist meist eine
Sprachtherapie. Ziel ist es, die Kinder behutsam in Situationen zu bringen, in denen sie sprechen
müssen. Pauline, zum Beispiel, die gerade eine Therapie bei einer Logopädin macht, hat am Anfang
nur einzelne Silben geflüstert. Nach einigen Wochen hat sie der Therapeutin bereits eine kurze –
wenn auch leise – Antwort gegeben und sie dabei angesehen. Spricht das Kind schließlich frei in der
Therapie, werden schließlich Alltagssituationen eingeübt.
Neben der Sprachtherapie ist oft auch eine Psychotherapie erforderlich, um gemeinsam die Ängste
des Kindes anzugehen, sowie begleitende spiel-, musik- oder ergotherapeutische Maßnahmen.
Hilfreich kann auch eine Verhaltenstherapie sein. Wie bei der Desensibilisierung bei einer Allergie,
wird das Kind Schritt für Schritt in Situationen gebracht, die ihm Angst machen, damit es diese
Ängste mit der Zeit bewältigen kann. Sprachtherapie und psychotherapeutische Behandlungen
werden nach ärztlicher Verordnung von den Krankenkassen übernommen. Bei älteren Kindern oder
Jugendlichen können auch Angst reduzierende Antidepressiva helfen.
Eltern: Nicht Sprachrohr, sondern Sprachtrainer
Besonders wichtig ist es, die Eltern in die Behandlung einzubeziehen; mitunter ist auch eine
Familientherapie erforderlich. Auch im Interesse der Behandlung des Kindes, ist eine enge
Zusammenarbeit zwischen Therapeuten und Eltern dringend nötig. „Viele Mütter und Väter neigen
dazu, ihr Kind zu schützen und außerhalb der Familie für es zu sprechen. Doch so verharren die
Kinder in ihrer Sprachlosigkeit“, erläutert Mutismus-Experte Dr. Hartmann. „Eltern sollten nicht das
Sprachrohr, sie müssen Sprachtrainer ihrer Kinder sein – und das müssen sie auch erst lernen.“ Das
bedeutet: Rausgehen aus der Schonhandlung – wenn das Kind ein Eis möchte, muss es selbst eines
bestellen. Auch gegenüber den Geschwistern sollte es nicht bevorzugt werden: Es sollte ebenso wie
die anderen im Haushalt mithelfen und auch nicht mehr Aufmerksamkeit bekommen. Also keine
Sonderbehandlung, aber auch kein übermäßiger Druck zum Sprechen, schließlich ist es für das Kind
sehr schwierig, seine Ängste und das jahrelange Schweigen zu überwinden. Wenn es ein paar Worte
spricht, verdient das natürlich ein Lob, aber auch dabei sollten Eltern nicht zu enthusiastisch
werden. Schließlich soll das Sprechen irgendwann zur Normalität werden – bis dahin braucht es
einfach eine Menge Geduld.
Service
Zum Weiterlesen
Reiner Bahr: Wenn Kinder schweigen – Redehemmungen verstehen und behandeln. Ein
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Praxisbuch. Patmos Verlag 2012, 14,90 Euro.
Ornella Garbani Ballnik: Unser Kind spricht nicht: Ratgeber für Eltern schweigender
Kinder. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 19,95 Euro.
Boris Hartmann und Michael Lange: Mutismus im Kindes-, Jugend- und
Erwachsenenalter. Schulz-Kirchner Verlag 2013, 8,99 Euro
Nitza Katz-Bernstein: Selektiver Mutismus bei Kindern: Erscheinungsbilder, Diagnostik,
Therapie. Rheinhardt Verlag 2011, 24,90 Euro
Mutismus.de – Fachzeitschrift für Mutismus-Therapie, Mutismus-Forschung und
Selbsthilfe. Erhältlich über www.mutismus-abmedia-online.de
Weiterführende Links:
www.mutismus.de – Website der Mutismus Selbsthilfe in Deutschland e.V. mit
umfangreichen Informations- und Beratungsangebot
www.boris-hartmann.de – Website des Kölner Sprachtherapeuten und MutismusExperten Dr. Boris Hartmann mit umfassen Informationen zum Thema.
www.mutismus.net – Beratung für Eltern selektiv mustistischer Kinder
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