Autorin, Klasse Adresse Betreuende Lehrperson Sabrina Röllin, 4A Feldstrasse 7, 8856 Tuggen Regula Weber Autorin, Klasse Adresse Betreuende Lehrperson Sabrina Röllin, 4A Feldstrasse 7, 8856 Tuggen Regula Weber Inhaltsverzeichnis 1. Vorwort ........................................................................................................................................... 2 2. Einleitung ......................................................................................................................................... 3 3. Theorie............................................................................................................................................. 4 3.1. Mutismus ................................................................................................................................. 4 3.2. Ursachen des selektiven Mutismus ......................................................................................... 4 3.3. Betroffene des selektiven Mutismus....................................................................................... 5 3.4. Selektiver Mutismus im Zusammenhang mit anderen Entwicklungsauffälligkeiten .............. 7 3.4.1. 3.5. Selektiver Mutismus im Zusammenhang mit Spracherwerbsauffälligkeiten.................. 7 Diagnose des selektiven Mutismus ......................................................................................... 8 3.5.1. Diagnostische Kriterien.................................................................................................... 8 3.5.2. Diagnostische Erhebungen – Erfassung des selektiven Mutismus................................ 10 3.6. Therapie des selektiven Mutismus ........................................................................................ 11 3.6.1. Eingangsgespräch .......................................................................................................... 12 3.6.2. Aufbau eines kommunikativen Verhaltens ................................................................... 12 3.6.3. Aufbau der verbalen Kommunikation .............................................................................. 12 4. Praxis ............................................................................................................................................. 14 4.1. Mein Leben als Schweiger ..................................................................................................... 14 4.2. Fallstudie Robin ..................................................................................................................... 15 4.2.1. Ursache des selektiven Mutismus ................................................................................. 15 4.2.2. Betroffene des selektiven Mutismus ............................................................................. 15 4.2.3. Selektiver Mutismus im Zusammenhang mit anderen Entwicklungsauffälligkeiten .... 16 4.2.4. Diagnostische Kriterien.................................................................................................. 16 4.2.5. Diagnostische Erhebungen – Erfassung des selektiven Mutismus ................................ 17 4.2.6. Reflexion und Deutung dieser Ergebnisse ..................................................................... 18 5. Zusammenfassung und Reflexion der Arbeit ................................................................................ 19 6. Quellenverzeichnis ........................................................................................................................ 20 7. Eigenständigkeitserklärung ........................................................................................................... 20 8. Glossar ........................................................................................................................................... 21 9. Anhang........................................................................................................................................... 22 9.1. Originaltext von Robin ........................................................................................................... 22 9.2. Protokoll des Gespräches zwischen Robin und mir vom 9.8.2013 ....................................... 23 1 1. Vorwort Stellen Sie sich die folgende Situation vor: Sie befinden sich in einer für Sie bekannten, alltäglichen Situation und plötzlich passiert etwas Unerwartetes, etwas dass Sie so erschüttert, dass Sie trotz starkem Willen einfach kein Wort mehr herausbringen. Sie sind sprachlos. Diese Sprachlosigkeit ist aber nur von kurzer Dauer und Sie sind froh, gleich danach über diese seltsame und doch faszinierende Situation zu sprechen. Doch wie geht man damit um, wenn sich solche Situationen anhäufen und wenn dieses Gefängnis des Schweigens zum Alltag wird? Da ich mich sehr für alle Arten der Kommunikation interessiere, hat mich einer meiner Gedankengänge nach dem Einlesen in Paul Watzlawicks Buch ‚Man kann nicht nicht kommunizieren‘ auf Formen der Sprachstörungen gebracht. Durch Internetrecherchen bin ich auf das Phänomen des selektiven Mutismus gestossen, einer Form des Sprachdefizits, das vor allem im Vorschulalter auftritt. Was mich besonders am selekiven Mutismus interessiert, ist die Gefühlslage sowie der persönliche Umgang mit der Sprachstörung eines Betroffenen. Um diesem Bereich des Themas optimal nachzugehen, eignet sich eine Fallstudie. Theoretische Aspekte des selektiven Mutismus werden in meiner Arbeit nach Internetrecherchen und dem Lesen von Fachbüchern festgehalten. Im praktischen Teil der Arbeit wird die Fallstudie im Vordergrund stehen, begleitet von der Biografie eines Betroffenen. An dieser Stelle spreche ich gerne meinen Dank an Personen aus, die in dieser Arbeit mitgewirkt haben. So bedanke ich mich herzlichst bei Robin, der mir den praktischen Teil der Arbeit ermöglichte, meiner Betreuungsperson Regula Weber, die mir stets mit nützlichen Ratschlägen zur Seite stand sowie Frau Lisa Engelberger, die mir vor allem zu Beginn der Arbeit mit ihrem Wissen aus dem Beruf der Psychologin im KJPD Lachen und ihrem Engagement weiterhelfen konnte. 2 2. Einleitung Reden wollen, sollen, müssen, können oder nicht Gedanken rasen das Herz klopft lauter als der Verstand Worte schlagen Purzelbäume kreischen, lachen und verschwinden stehen Schlange um gedacht zu werden verlieren an Gewicht verschwimmende Konturen tauchen ab ins nichts die Stille wird unendlich laut sagt mehr als tausend Worte haucht sie über stumme Lippen der Atem stockt das Herz bleibt stehen bevor der Donner grollt das Unheil droht 1 Dieses Gedicht, geschrieben von einer selektiven Mutistin, zeigt eindrücklich die Gefühlswelt und die Denkweise der Betroffenen auf. Auf diese Aspekte will ich in der Arbeit weiter eingehen, sowie auf die Erlebnisse und Erfahrungen eines selektiven Mutisten. Eine Einführung in das Thema des selektiven Mutismus selbst erübrigt sich insofern, dass im ersten Teil der Arbeit die Definition, sowie die wichtigsten theoretischen Erkenntnisse aus verschiedenen Fachbüchern und Internetquellen wiedergegeben werden. Hierbei wurde darauf geachtet, möglichst den aktuellsten Wissensstand festzuhalten. Der theoretische Teil schneidet jeweils verschiedene Unterkapitel an, in denen versucht wurde die wichtigsten Aussagen dazu aufzuzeigen. Um den Inhalt des praktischen Teils aufzeigen zu können, sollte zuerst Robin vorgestellt werden. Robin ist ein junger Mann, der aus eigener Erfahrung vom selektiven Mutismus berichten kann. Er hat die Sprachstörung weitgehend überwunden und war bereit in meiner Arbeit mitzuwirken. Seine Geschichte wird in Kapitel 4.1 in biografischer Form aufgezeigt. Zur Entstehung dieses Textes weise ich gerne auf den Anhang hin, wo meine Informationsquellen angegeben werden. Das zweite Kapitel des praktischen Teils bildet den Rückschluss zum theoretischen Teil. So werden Robins Erfahrungen nach den Prinzipien der Fallstudie in die theoretischen Erkenntnisse aus Kapitel 3 eingeordnet. Gerne mache ich an dieser Stelle auf das Glossar auf Seite 21 aufmerksam, welches das Verständnis einzelner Wörter erleichtern soll. 1 Kaya A. Vitan 3 3. Theorie 3.1. Mutismus Unter Mutismus versteht man eine seltene Störung der sprachlichen Kommunikation, die bewirkt, dass es Personen trotz abgeschlossener Sprachentwicklung und Sprachfähigkeit nicht mehr gelingt, sich verbal zu äussern. Die am häufigsten vorkommende Form des Mutismus wird selektiver Mutismus2 genannt. Das Schweigen des selektiven Mutisten ist abhängig von dessen subjektiv empfundenen Belastungsgrad, den eine Kommunikation mitbringen würde. So sind zum Beispiel Abhängigkeiten von Personen, Räumlichkeiten oder Örtlichkeiten, sowie dem Inhalt und der Art des Gesprächs beobachtbar.3 Der selektive Mutismus tritt meist im Vorschulalter auf und äussert sich im Ausbleiben einer erwarteten Äusserungsreaktion, also im misslingenden Wechsel im Turn-Taking-System eines Gesprächs oder einer Kommunikationssituation. Im häuslichen Umfeld oder unter Freunden spricht der selektive Mutist oft, in der Schule oder im Kindergarten schweigt er. Selektiver Mutismus wird als Störung sozialer Funktionen klassifiziert und ist eine Unterkategorie der Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit oder Jugend. Seit den 90ern wird über die Zuordnung des selektiven Mutismus zu sozialen Angststörungen diskutiert.4 Zu unterscheiden ist der selektive Mutismus vom totalen Mutismus, der sich durch das Schweigen gegenüber allen Personen definiert. Unter Umständen kann sich der selektive Mutismus in den totalen Mutismus weiterentwickeln, so Windmüller.5 3.2. Ursachen des selektiven Mutismus Die auslösende Ursache des Mutismus ist laut Prof. Dr. Gerda Khura und Dr. Berthold Neumann (1980) schwer zu eruieren, allerdings sei ein tiefgreifender tiefenpsychologischer Konflikt wahrscheinlich. Nicht selten seien auch andere Familienmitglieder oder Verwandte der Betroffenen durch eine besondere Wortkargheit und mangelnde Sprachbereitschaft aufgefallen. Häufig seien im Verlauf der Entwicklung der Kinder oder Jugendlichen bis zum Einsetzen des verbalen Rückzugs Hinweise auf eine verzögerte Sprachentwicklung oder auch Artikulationsstörung zu finden.6 Im klinischen Bereich ist man sich heute einig, dass der Entstehung von selektivem Mutismus ein multifaktorielles Bedingungsgefüge zu Grunde liegt. Hermann Schöler (2005) erläutert: 2 In dieser Arbeit wird der Begriff selektiver Mutismus verwendet, wobei zu beachten ist, dass dieser dem Begriff elektiver Mutismus gleichzusetzen ist. 3 Dobslaff, Otto. 2005. Mutismus in der Schule. Wissenschaftsverlag Volker Spiess GmbH. Berlin. (S. 19) 4 Schöler, Hermann. Welling, Alfons. 2007. Sonderpädagogik der Sprache. Handbuch der Sonderpädagogik. Hogrete Verlag GmbH & Co. KG. Göttingen. (S.357) 5 Windmüller, Christa. 2009. Mutismus – Ursachen und Behandlung. http://suite101.de/article/mutismusa56829 [06.12.2012] 6 Prof. Dr. Khura, Gerda. Dr. Neumann, Berthold. 1980. Handbuch der Sonderpädagogik. Pädagogik der Sprachbehinderten. Carl Marhold Verlagsverbund. Berlin. (S.614) 4 „Bestimmte Charakteristika einer Person im Sinne von Vulnerabilitäten oder Prädispositionen auf der biologischen und/oder psychologischen und/oder sozialen Ebene treffen auf aktuelle Stressfaktoren, für die die momentan vorhandenen Bewältigungsmöglichkeiten (scheinbar) nicht ausreichen. Die Ursache für Entwicklungsstörungen liegt demnach in der Interaktion zwischen den Vulnerabilitätsmerkmalen und den als stressreich erlebten, aktuellen Anforderungen.“7 Biologische Faktoren seien dabei zum Beispiel hereditäre Faktoren und unspezifische Risikofaktoren vor, während und nach der Geburt. Zu den psychischen Faktoren zählt Schöler unter anderem Persönlichkeitseigenschaften wie Schüchternheit und Ängstlichkeit, sowie systemisch-familiäre Komponenten wie Familienstrukturen mit wenig Aussenkontakten oder dem Bestehen von Familiengeheimnissen. Zum sozialen Bereich werden neuartige Situationen oder ein fehlendes Elternmodell, das den angemessenen Umgang mit fremden Situationen vorzeigen sollte, gezählt. Aktuelle Stressfaktoren können ebenfalls in den erwähnten Bereichen liegen, so zum Beispiel die körperliche Erkrankung des Kindes, psychische Traumatisierungen, Kindergarten- oder Schuleintritt oder sonstige einschneidende Lebensereignisse. 8 3.3. Betroffene des selektiven Mutismus Die Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin Hildegard Brand hat in ihrem Buch ‚Mutismusschweigende Kinder und Jugendliche im Gespräch‘ Angaben zur Entwicklung und Gesamtsituation der bei ihr, im Sprachheilzentrum, behandelten Kinder und Jugendlichen gemacht und diese mit Angaben in bereits vorhandener Literatur verglichen. Im folgenden Abschnitt werden Teile ihrer Erkenntnisse wiedergegeben. Geschlecht Von Hildegard Brands insgesamt 69 Patienten sind 70 % weiblich und 30 % männlich. Diese Ergebnisse sind der mittleren prozentualen Verteilung, wie sie Bahr 1998 nach grösseren Untersuchungen zusammenfasste, ähnlich: 62% weibliche und 38% männliche selektive Mutisten. Familiensituation Viele Autoren beschreiben familiäre oder eheliche Disharmonie als häufiges Merkmal. Zudem weisen Studien einiger Autoren hohe Prozentsätze einer auffälligen Mutter-Kind-Beziehung im Sinne von Überbehütung auf. Hildegard Brands Beobachtungen aus dem Sprachheilzentrum bestätigen diese Untersuchungen nicht, da sich 68% der Untersuchten als weitgehend intakte Familiengemeinschaft darstellen. Von 19% der Patienten sind die Eltern geschieden und andere 13 % sind problembelastet, teilweise durch Krankheit. Zu der Mutter-Kind-Beziehung sagt Brand, dass sie diese nicht quantifizierbar erfasst, aber sehr unterschiedlich erlebt hat. Wenn sie Ansätze von Überbehütung wahrgenommen hat, definiert sie diese eher als sekundäre Reaktion auf das Rückzugsverhalten des Kindes. 7 Schöler, Hermann. Welling, Alfons. 2007. Sonderpädagogik der Sprache. Handbuch der Sonderpädagogik. Hogrete Verlag GmbH & Co. KG. Göttingen. (S. 362) 8 Schöler, Hermann. Welling, Alfons. 2007. Sonderpädagogik der Sprache. Handbuch der Sonderpädagogik. Hogrete Verlag GmbH & Co. KG. Göttingen. (S. 363,364) 5 Hermann Schöler berichtet in seinem Buch Sonderpädagogik der Sprache, dass Familien selektiv mutistischer Kinder oft sozial isoliert leben und Familienangehörige als verschlossen, schüchtern, einsilbig und wenig mitteilsam charakterisiert werden. Zudem verweist er auf Untersuchungen, die eine hohe Rate psychiatrischer Auffälligkeiten, die von Stimmungsschwankungen bis zu Persönlichkeitsstörungen reichen, in der Elterngeneration erkannten. Schöler betont aber, dass die Aussagekraft jener Ergebnisse aufgrund einer fehlenden Kontrollgruppe schwächlich ist.9 Beginn des selektiven Schweigeverhaltens Bei 84% der im Sprachheilzentrum behandelten Patienten fiel der verbale Rückzug im Kindergartenalter auf, bei 13% mit Schulbeginn und bei 3% im Verlauf der Grundschuljahre. Aufnahmealter Alter bei der Aufnahme zur stationären Behandlung 6- 8 Jahre 9- 11 Jahre 12- 14 Jahre 15- 17 Jahre 10 Hildegard Brand betont, dass es in der stationären Einrichtung zur Behandlung selektiver Mutisten Begrenzungen des Aufnahmealters gibt. So ist das früheste Aufnahmealter normalerweise sieben Jahre, um eine zu frühe Trennung des Kindes von der Familie zu vermeiden. Sozial- und Kommunikationsverhalten zu Hause Bei 62% der Kinder und Jugendlichen wurde das Sozialverhalten am Aufnahmetag von den Eltern als eher unauffällig beschrieben, bei 13% als überangepasst und bei 25% als trotzig, aggressiv und durchsetzungsfähig.11 Als abschliessende Bemerkung zu den verschiedenen Ergebnissen der Untersuchungen fasst Hildegard Brand (2009) passend zusammen: 9 Schöler, Hermann. Welling, Alfons. 2007. Sonderpädagogik der Sprache. Handbuch der Sonderpädagogik. Hogrete Verlag GmbH & Co. KG. Göttingen. (S. 360) 10 Eigene Erhebung. [10.3.2013] 11 Brand, Hildegard. 2009. Mutismus – Schweigende Kinder und Jugendliche im Gespräch. Pabst Science Publishers. Lengerich. (S. 23-28) 6 „Die Gesamtheit der unterschiedlichen Erhebungen lässt bisher nur den einen sicheren Schluss zu: Jeder Schweiger hat seine eigene Vorgeschichte und sein individuelles Bedingungsgefüge, das seinen sprachlichen Rückzug möglich gemacht hat!“ 12 3.4. Selektiver Mutismus im Zusammenhang mit anderen Entwicklungsauffälligkeiten In Untersuchungen wird oftmals die Verbindung von selektivem Mutismus mit einer weiteren Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeit thematisiert. So erkannten Steinhausen und Juzi im Jahre 1996 bei 72% der mutistischen Kinder mindestens eine weitere Verhaltensauffälligkeit. Diese äusserten sich bei 40% der Fälle in Beziehungsstörungen, bei 30% in Trennungsängsten und Schlafstörungen, bei 21% in Essstörungen, bei 18% in motorischen Entwicklungsauffälligkeiten, bei 17% in Symptomen von Hyperaktivität und bei 9% der Betroffenen in Zwängen bzw. Zwangsgedanken. Ergebnisse aus anderen Untersuchungen werfen jedoch Skepsis auf. So erkannte Rösler im Jahre 1981 bei über 20% der Betroffenen Zwänge oder Zwangsgedanken und bei mehr als 30% der Fälle motorische Entwicklungsauffälligkeiten. Schöler und Welling erläutern die Adäquatheit von Skepsis gegenüber diesen Angaben folgendermassen: Die Angaben zu komorbiden Auffälligkeiten scheinen angesichts einiger methodischen Untersuchungsmängel wenig aussagekräftig. So würden in den einzelnen Untersuchungen verschiedenartige diagnostische Kriterien sowohl für den Mutismus selbst als auch für komorbide Auffälligkeiten gelten, oder eine Erklärung der verwendeten Kriterien falle aus.13 3.4.1. Selektiver Mutismus im Zusammenhang mit Spracherwerbsauffälligkeiten „Die Diagnose eines selektiven Mutismus kann nur unter der Voraussetzung gestellt werden, dass die Sprache für eine effektive Kommunikation ausreicht und es in Abhängigkeit vom sozialen Kontext einen deutlichen Unterschied im Sprachgebrauch gibt.“ (Dilling 1993)14 Hermann Schöler berichtet, dass der Fokus auf dem pragmatischen Gebrauch der Sprache und weniger auf der formalen Korrektheit des sprachlichen Ausdrucks liegen soll. Er betont jedoch, dass diese Sichtweise und das Herausheben des emotional-motivationalen Aspekts der Störung dazu verleiten, allfällige Spracherwerbsauffälligkeiten zu übersehen. Erkenntnisse mehrerer Autoren zeigen auf, dass eine formale Sprachentwicklungsdiagnostik selektiv mutistischer Kinder eine Seltenheit ist. Dies begründen sie unter anderem mit der Schwierigkeit, den Sprachentwicklungsstand schweigender Kinder angemessen zu beurteilen. Die Mutmaßung eines Zusammenhangs zwischen Spracherwerbsauffälligkeiten und selektivem Mutismus seien allerdings naheliegend. So könnte das Schweigen des 12 Brand, Hildegard. 2009. Mutismus – Schweigende Kinder und Jugendliche im Gespräch. Pabst Science Publishers. Lengerich. (S. 18) 13 Schöler, Hermann. Welling, Alfons. 2007. Sonderpädagogik der Sprache. Handbuch der Sonderpädagogik. Hogrete Verlag GmbH & Co. KG. Göttingen. (S. 360, 361) 14 Schöler, Hermann. Welling, Alfons. 2007. Sonderpädagogik der Sprache. Handbuch der Sonderpädagogik. Hogrete Verlag GmbH & Co. KG. Göttingen. (S. 361) 7 selektiven Mutisten als eine Art Strategie, die den Sprachentwicklungsrückstand vertuscht oder kommunikativen Misserfolgen vorzubeugt, gedeutet werden. Schöler ist ausserdem der Meinung, dass der Mangel an kommunikativer Sicherheit, resultierend aus Persönlichkeitsmerkmalen wie Schüchternheit oder Ängstlichkeit, wesentlich zum beharrlichen Schweigen beitragen könne. Durch den selektiven Mutismus bestehe ausserdem die Gefahr der Überforderung des Betroffenen, da dessen unklarer Sprachentwicklungsstand zu einer Überschätzung der Fähigkeiten führen kann. Des Weiteren könne sich der Mutist in einer Art Teufelskreis wiederfinden, da ihm durch seine begrenzten kommunikativen Anwendungen Möglichkeiten zur Erprobung sprachlicher Kompetenzen entgangen sind, was wiederum zur Aufrechterhaltung von Spracherwerbsauffälligkeiten führen könne. Schöler weist ausserdem auf den Aspekt der Migration hin, da sich nach einer aktuellen israelischen Studie eine erhöhte Prävalenz selekiver Mutisten unter Immigrationskindern zeige (2.2% bei einer Prävalenz von 0.76% in der Gesamtpopulation). Nach Kriterien des DSM-IV wird die Diagnose von selektivem Mutismus zwar unter der Bedingung von fehlenden Kenntnissen und/oder Unwohlsein in der Verkehrssprache ausgeschlossen, jedoch darf laut Schöler Migration durchaus als Risikofaktor angesehen werden. Diese These stützt er auf der Annahme, dass einerseits ganz klar die ausreichende Beherrschung der zweiten Sprache Schwierigkeiten bereiten kann und Migration andererseits eine neue Auseinandersetzung mit der persönlichen, sozialen und kulturellen Identität in und mit zwei Kulturen und Sprachen fordere. Dabei könne das selektive Schweigen des Kindes Anforderungen reduzieren, als Schutzterritorium dienen und die Nähe zu den Eltern sichern. Ob die Diagnose von selektivem Mutismus vor diesem Bedingungshintergrund nicht doch seine Berechtigung hat, fordert Schöler zur Diskussion auf.15 3.5. Diagnose des selektiven Mutismus 3.5.1. Diagnostische Kriterien In Nitza Katz-Bernsteins Buch über selektiven Mutismus bei Kindern wurden folgende diagnostische Kriterien von Sass et al. (1998, 155f) aufgelistet und teilweise zwecks des besseren Verständnisses von der Autorin kommentiert: A. Andauernde Unfähigkeit in bestimmten Situationen zu sprechen (in denen das Sprechen erwartet wird, z. B. in der Schule), wobei in anderen Situationen normale Sprechfähigkeit besteht. Der selektive Mutismus zeige sich normalerweise in der Übergangsphase von einem vertrauten Ort oder Personengruppe in ein neues soziales Umfeld. Schüchternheit und Schweigen sei die natürliche Reaktion eines Kindes in den ersten Monaten, bis sich das Schweigen langsam legen könne. B. Die Störung behindert die schulischen oder beruflichen Leistungen oder die soziale Kommunikation 15 Schöler, Hermann. Welling, Alfons. 2007. Sonderpädagogik der Sprache. Handbuch der Sonderpädagogik. Hogrete Verlag GmbH & Co. KG. Göttingen. (S. 361, 362) 8 In Katz-Bernsteines Kommentar zu diesem diagnostischen Kriterium erläutert sie, dass das Ausmass der Störung auf den ersten Blick selbst für die nächsten Angehörigen des Betroffenen nicht ersichtlich ist. Oft seien sich Eltern im Unklaren über das andersartige Verhalten ihres Kindes, reagieren dann erstaunt und geraten in Verlegenheit und Ratlosigkeit. C. Die Störung dauert mindestens einen Monat (und ist nicht auf den ersten Monat nach Schulbeginn beschränkt) D. Die Unfähigkeit zu sprechen ist nicht durch fehlende Kenntnisse der gesprochenen Sprache bedingt, die in der sozialen Situation benötigt werden oder dadurch, dass der Betroffene sich in dieser Sprache nicht wohlfühlt. Katz-Bernstein weist bezüglich dieses Kriteriums darauf hin, dass es in der Praxis schwierig ist, zwischen einem selektiven Mutismus als Resultat von sprachlichen Erschwerungen infolge einer Zweisprachigkeit und dem „reinen“ selektiven Mutismus zu unterscheiden. Schwierigkeiten in der Spracherwerbung und Sprachentwicklung seien häufig einflussreiche Risikofaktoren für die Entwicklung eines selektiven Mutismus. Katz-Bernstein interpretiert dieses Kriterium als eine Art Schutz vor dem „Missbrauch des Etiketts“. So sei es denkbar, dass Schweigen bei einer absoluten Nicht-Beherrschung der Sprache oder im Zusammenhang mit der Unfähigkeit der Verwendung des Sprachsystems, vom selektiven Mutismus zu unterscheiden ist, so wie es beim Schweigen infolge von peripherer oder zentralbedingter Hörbeeinträchigung der Fall sei. E. Die Störung kann nicht besser durch eine Kommunikationsstörung (z.B. Stottern) erklärt werden und tritt nicht ausschliesslich im Verlauf einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Störung auf.“ In diesem Zusammenhang gibt Nitza Katz-Bernstein Erklärungen zu einem Problem ab, welches stets zu beschäftigen scheint: Hinter Mutismus kann sich eine Sprachstörung verstecken. Bei ca. 50% der von ihr therapierten selektiven Mutisten wurde Stottern, Sprachentwicklungsstörungen sowie Dysarthroponie und Dyspraxie wahrgenommen. So scheint es fraglich, ob ein solcher Faktor, der als Ursache für Mutismus gilt, als Ausschlusskriterium verwendet werden darf. Einerseits, weil die daraus resultierenden Folgen bezüglich der Entwicklung gleich sind, unabhängig davon, ob ein „reiner“ selektiver Mutismus oder ein selektiver Mutismus als Reaktion auf ein sprachliches Unvermögen vorliegt. Andererseits ist die Feststellung jener Unterscheidung bevor das Kind mit fremden Personen spricht oft unmöglich. Für Katz-Bernstein ist eine solche Differenzierung also oft nicht sinnvoll, falls überhaupt durchführbar. In ihrem Kommentar geht die Autorin des Weiteren genauer auf das Stichwort ‚tiefgreifende Entwicklungsstörung‘ ein. Selektiver Mutismus sei eine der Störungen, die als posttraumatisches Syndrom bekannt wären. So könnte mutistisches Verhalten auf vergangene oder gegenwärtige Gewalterfahrungen oder auf Übergriffe sexueller Art hinweisen. In diesem Fall würden der Therapeutin spätestens im Verlauf der Therapie weitere, bekannte Merkmale auffallen. Auch im Fall von kindlicher Schizophrenie oder beim autistischen Syndrom würden Therapeuten weitere 9 Auffälligkeiten, die über das hartnäckige Schweigen und die dazugehörenden Verhaltensmerkmale hinausgehen, erkennen. Solche Merkmale oder Auffälligkeiten wären zum Beispiel Wahrnehmungs- und/oder Orientierungsstörungen, Absenzen, bizarres Verhalten, Ausbrüche und Tics. Katz-Bernstein gibt im Anschluss an diese Überlegungen die folgenden zwei Hinweise: 1. Die Störung ist im kindlichen Alter nicht hermetisch und ohne weiteres abgrenzbar von weiteren, umschriebenen Entwicklungsstörungen. 2. Nicht umsonst gilt die Störung aus psychiatrischer und psychologischer Sicht als durchaus ernst zu nehmende Auffälligkeit und möglicherweise als Störung mit gravierendem Hintergrund. In Anlehnung an MacCracken (1987) macht Katz-Bernstein die folgende, abschliessende Bemerkung bezüglich ihres Kommentars zum diagnostischen Kriterium: „Dennoch sei hier gewarnt vor einer schnellen Taxierung einer kindlichen Verhaltensauffälligkeit und damit verbundenen Beitrag zu seiner Fixierung. Kinder zeigen während ihrer Entwicklung als Reaktion auf Anforderungen, denen sie sich (unbewusst) nicht gewachsen fühlen, Verhaltensmerkmale, auch ausfallende und bizarre, denen mit guten (sonder-)pädagogischen bzw. therapeutischen Massnahmen und durch Unterstützung der elterlichen Kompetenzen erfolgreich begegnet werden kann.“ (Katz-Bernstein 2005)16 Zusammenfassung der Beobachtungskriterien - Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu sprechen Die schulischen/beruflichen Leistungen und die soziale Kommunikation wird beeinträchtigt Die Störung hält mindestens einen Monat an Es liegt keine Unkenntnis der gesprochenen Sprachen vor Es liegt keine Kommunikationsstörung und keine tiefgreifende Entwicklungsstörung vor17 3.5.2. Diagnostische Erhebungen – Erfassung des selektiven Mutismus Oft ist die Erzieherin in der Vorschuleinrichtung die Erste, die ein dauerhaftes Schweigen des Kindes wahrnehme, erläutert Katz-Bernstein. Im Alter von vier bis sechs Jahren handle es sich um Frühmutismus, welcher im Vergleich zum Spätmutismus, der im Alter von sechs bis acht Jahren auftrete, häufiger auftritt. Seltener seien es also Lehrer, denen auffällt, dass ein Kind über längere Zeit nicht spricht. Laut Katz-Bernstein gibt es viele Kinder, die an einem fremden Ort anfänglich ein beobachtendes, zurückhaltendes und/oder scheues Verhalten einnehmen. Dies erklärt sie wie folgt: 16 Katz-Bernstein, Nitza. 2011. Selektiver Mutismus bei Kindern. Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie. Ernst Reinhardt GmbH & Co. KG. Verlag. München. (S. 69) 17 Katz-Bernstein, Nitza. 2011. Selektiver Mutismus bei Kindern. Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie. Ernst Reinhardt GmbH & Co. KG. Verlag. München. (S. 67-70) 10 „Ein Kind, das sich in der vertrauten Familie bewegen kann, sprechen und kommunizieren lernt, muss zunächst Umgangsformen, Kommunikationsrituale und Regeln der Umwelt kennen lernen, um seinen Platz in der neuen Gruppe zu finden.“ (Katz-Bernstein 2005)18 Da Startschwierigkeiten in der Kommunikation ausserhalb des trauten Heims demnach nicht ungewöhnlich oder besorgniserregend seien, sollen die im Folgenden aufgelisteten typisch mutistischen Verhaltensweisen zur Feststellung eines selektiven Mutismus helfen. 1. Sie „Versteinern oder „frieren ein“ bei direkter Ansprache 2. Sie schweigen und haben ein allgemein gehemmtes, zurückgezogenes Verhalten. 3. Sie verhalten sich mehr oder minder normal, sprechen jedoch nicht. Die Lautsprache und das laute Sprechen werden gemieden, wobei die Kinder oft bereit sind, gestikulieren zu kommunizieren. 4. Das eher abwehrende, feindselige und aggressive Verhalten wird von einem hartnäckigen und „demonstrativ“ anmutenden Schweigen begleitet. Die Verhaltensweisen seien oft nicht strikt voneinander zu trennen, seien situativ oder temporär bedingt oder treten als Mischformen auf. Genügend Merkmale für die Feststellung eines selektiven Mutismus bei einem Kind seien laut Katz-Bernstein vorhanden, wenn das Kind länger als die ersten drei Monate in der neuen Umgebung kein Wort von sich gibt, die Stimme des Kindes der betreuenden Therapeutin fremd ist und das Kind eine der vier oben aufgeführten mutistischen Verhaltensweisen in Verbindung mit dem Schweigen aufzeigt.19 3.6. Therapie des selektiven Mutismus Nitza Katz-Bernstein klärt in ihrem Buch ‚selektiver Mutismus bei Kindern‘ über die therapeutische Haltung auf. So erklärt sie, dass die einzelnen Ansätze der Therapie viel mehr eine Bilanz aus Erfahrungen mit selektiven Mutisten aus dem therapeutischen und pädagogischen Bereich seien, als ein formalisiertes, auf jedes Kind übertragbares Konzept. Sie betont zudem, dass vorwiegend aus den zwei Fachschaften der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, sowie aus der sprachtherapeutischen/logopädischen Arbeit geschöpft wird und jene Grundsätze mit Erfahrungen aus dem schulischen Bereich ergänzt werden.20 Im Buch ‚Lehrbuch der Verhaltenstherapie – Störungen im Kindes- und Jugendalter‘ wurde die therapeutische Vorgehensweise von Nitza Katz-Bernstein (2005) sowie deren Grundsätze bezüglich des Umgangs mit dem betroffenen Kind aufgezeigt und zusammengefasst. Jene Informationen ergänze ich teilweise mit ausführlicheren Aussagen, wie ich sie im Originaltext von Nitza Katz-Bernstein vorliegen habe. 18 Katz-Bernstein, Nitza. 2011. Selektiver Mutismus bei Kindern. Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie. Ernst Reinhardt GmbH & Co. KG. Verlag. München. (S. 64) 19 Katz-Bernstein, Nitza. 2011. Selektiver Mutismus bei Kindern. Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie. Ernst Reinhardt GmbH & Co. KG. Verlag. München. (S. 64, 65) 20 Katz-Bernstein, Nitza. 2011. Selektiver Mutismus bei Kindern. Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie. Ernst Reinhardt GmbH & Co. KG. Verlag. München. (S. 86) 11 3.6.1. Eingangsgespräch Katz-Bernstein klärt mit der zu behandelnden Person zuerst den Therapieauftrag, was den ersten Unterschied zwischen einer normalen, alltäglichen Beziehung und dem professionellen therapeutischen Handeln bildet. Dabei gibt es Differenzierungen zwischen den Altersklassen, so dass ältere Kinder über die bewusste Wahlmöglichkeit verfügen während mit Jüngeren in Form eines ‚unterstellten Arbeitsbündnisses‘ gearbeitet wird, welches unter anderem mit den Eltern ausgemacht wird. 21 Diese direkte Abmachung mit dem Kind hat das Ziel, kein Gefühl des Kontrollverlustes seitens des Kindes aufkommen zu lassen. Betont wird, dass die Angst vor dem Sprechen respektiert wird und Ziele und Gründe der Therapie offengelegt werden. Zudem soll die Zuversicht des Kindes zur Fähigkeit des eigenständigen Sprechens gefördert werden. Eine allmähliche Trennung von Bezugspersonen wird gefordert und teilweise ein sogenannter ‚safe place‘, ein abgegrenzter Raum innerhalb des Therapieraums, welcher zwecks der Erweiterung der Therapie vom Kind besetzt werden darf, errichtet. 3.6.2. Aufbau eines kommunikativen Verhaltens „Ein jegliches Sprechen beginnt mit einer Registrierung und Anerkennung des Kommunikationspartners als solchem, mit einem Blickdialog und einer aufmerksamkeitssuchenden Geste. Diese Geste wird durch den Zuhörer registriert und mit einer – wenn auch minimalen – Geste, einer Bereitschaft zum Zuhören, beantwortet, bevor das erste Wort für eine Konversation, und sei sie völlig belanglos, fällt.“ (Katz-Bernstein 2005)22 Oft wirken Kinder, die von selektiven Mutismus betroffen sind, erstarrt. Sie senken den Blick oder wirken abgewandt. Die Registrierung des Gesprächspartners durch Gesten oder Blickkontakt, wie sie gewöhnlich einer Kommunikation zuvor geht, findet nicht statt. Ein sogenannter ‚asymmetrischer‘ oder ‚komplementärer‘ Kommunikationsablauf liegt vor, der nach Paul Watzlawicks Definition auf Unterschiedlichkeit in der Beziehung zwischen den Partnern zurückzuführen ist.23 Teil der Therapie ist es deshalb, Entwicklung von Blickkontakten, Austausch von Mimik und Gestik sowie interaktive Bewegungen zu fördern um eine Basis zum Aufbau einer Kommunikation zu schaffen. Zur Erleichterung des Lernens werden Hilfsmittel wie etwa Puppen verwendet. 3.6.3. Aufbau der verbalen Kommunikation Nach der Vorbereitung durch den Aufbau des kommunikativen Verhaltens wird der nächste Schritt die verbale Kommunikation sein. Dazu wird das Kind zunächst dazu gebracht, Lärm zu erzeugen, genauer gesagt, den Raum mit selbsterzeugten Geräuschen zu füllen. Dies wird zum Beispiel mit Musikinstrumenten durchgeführt. Vor allem bei kleineren Kindern sei die Begeisterung für Geräuschinstrumente gross genug, um sie zu kommunikativen Dialogen zu animieren. So gelingt es Katz-Bernstein zum Beispiel eine Form des Turn-Taking-systems zu üben, in dem das eine Kind auf das Glockenspiel des anderen Kindes mit seinem Glockenspiel 21 Katz-Bernstein, Nitza. 2011. Selektiver Mutismus bei Kindern. Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie. Ernst Reinhardt GmbH & Co. KG. Verlag. München (S. 97, 98) 22 Katz-Bernstein, Nitza. 2011. Selektiver Mutismus bei Kindern. Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie. Ernst Reinhardt GmbH & Co. KG. Verlag. München (S. 120) 23 Watzlawick, Paul. 2011. Man kann nicht nicht kommunizieren. Verlag Hans Huber. Bern. (S. 35) 12 reagiert. Auch bei älteren Kindern sei es möglich, dass sie bereit sind, sich als Lärm erzeugendes Wesen zu erfahren. Der erzeugte Lärm könne dabei zu mündlich erzeugten Lauten, Stimmäusserungen oder zum Sprechen führen. Katz-Bernstein spricht bei diesem Schritt von der Auflockerung einer Grenze und die Überschreitung derer auf eine spielerische Art.24 Bei kleineren Kindern seien die Ablenkung und das Experimentieren in kleinen Schritten entlang der Schweigegrenze erfolgreich. Durch die spielerische Ablenkung, wie sie mit einem spannenden Spiel oder dem Einbezug von vertrauten Freunden, mit denen bereits gesprochen wird, erreicht wird, könne es dazu kommen, dass der selektive Mutist sein Schweigen vergisst. Katz-Bernstein spricht von der ‚Gnade des jungen Alters‘, die in etwa bis zum neunten, höchstens zum zehnten Lebensjahr hinreiche. Später seien die soziale Selbstkontrolle und das Schweigen als Selbstbild dermassen ausgeprägt, dass sie sich nur mit bewussten Techniken überwinden lassen. Bei älteren Kindern wird zunächst eruiert, bei welchen Örtlichkeiten das Sprechen besonders schwerfällt und eine Rangliste aufgestellt. Ebenso wird auch eine Hierarchie der Personen und der Sprechweise vorgenommen. Katz-Bernstein (2005) erläutert: „Die Hierarchien des Schweigens ermöglichen schrittweise einen Abbau der Sprechgrenze. Der Aufbau der Hierarchien erfolgt selten regelmässig, es kann Widerstände und Stagnationen geben, aber auch rasante Sprünge. Deswegen sind die Erstellung der Listen an sich, die kognitive und emotionale Beschäftigung mit Orten und Menschen, die sprachlich gemieden werden, sowie die exemplarische, imaginative Vorwegnahme der Überwindung der Sprechgrenzen die eigentliche Verarbeitung der Sprechangst.“ 25 Eine weitere Möglichkeit für die Therapie des selektiven Mutisten ist die Arbeit mit dem Tonband. So werden Sprechproben von zu Hause zur Verfügung gestellt. Den Kindern scheine diese indirekte Art des Vorsprechens genügend Distanz zu verschaffen, um es zuzulassen. Die Therapeutin erhält so einen Einblick in die unbeschwerte, spontane Sprechweise des Kindes, welche ihr bisher meist fremd war. Das sogenannte Schattensprechen ist eine weitere beliebte Therapiemethode für selektive Mutisten. Hierbei wird die Stimme des Kindes durch weitere Stimmen oder Geräusche so kaschiert, dass das Kind sie nicht mehr als hervorgehoben erlebt. Solche Geräusche, die zum Mitsprechen oder Mitsingen animieren sind zum Beispiel Kindergeschichten oder Musik von der Kassette. 26 24 Katz-Bernstein, Nitza. 2011. Selektiver Mutismus bei Kindern. Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie. Ernst Reinhardt GmbH & Co. KG. Verlag. München (S. 154 – 157) 25 Katz-Bernstein, Nitza. 2011. Selektiver Mutismus bei Kindern. Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie. Ernst Reinhardt GmbH & Co. KG. Verlag. München (S. 169) 26 Prof. Dr. Margraf, Jürgen. Prof. Dr. Schneider, Silvia. 2009. Lehrbuch der Verhaltenstherapie: Band 3: Störungen im Kindes- und Jugendalter. Springer Medizinverlag. Heidelberg. (S. 567) 13 4. Praxis 4.1. Mein Leben als Schweiger Ich war 16 Jahre alt, als ich in Mamas Unterlagen Krankheitsberichte über mich fand und plötzlich wurde mir einiges klar. Für meine spezielle Charaktereigenschaft, für die ich meine Eigenheit bisher hielt, gibt es einen Namen: Selektiver Mutismus. Schon im Kleinkindalter war ich anders. Ich war ruhig und unauffällig und habe mich kaum zu Wort gemeldet. Meine Mutter war meine engste Bezugsperson. Mit ihr konnte ich problemlos sprechen. Meinem Vater gegenüber fiel mir das Sprechen jedoch viel schwerer. Besonders mein beharrliches Schweigen gegenüber meiner Grossmutter machte meine Eltern stutzig und liess sie schon bald therapeutische Hilfe für mich von einer Logopädin einholen. An diese Zeit erinnere ich mich jedoch nur schwammig. Von Erzählungen weiss ich, dass die Therapie regelmässig, aber im kleinen zeitlichen Rahmen von wenigen Monaten stattfand. Mir selbst tun sich nur vereinzelte Bilder auf, die ich aber nicht weiter einordnen kann. Ich weiss aber, dass es sich meist so ergeben hat, dass ich mich mit einer Person normal unterhalten konnte, aber allen anderen gegenüber geschwiegen habe. Aber irgendwie hat mich dies auch gar nicht weiter gestört, solange es eben funktionierte. In der Primarschule fiel mir das Sprechen auf einmal leichter. Ich hatte das Gefühl, dass mein Schweigen ein wenig abfiel. Ich habe zwei enge Freunde gefunden, mit denen ich ohne weiteres Sprechen konnte. Die Primarschule empfand ich also soweit als angenehm, auch wenn ich für Lehrer und Mitschüler immer noch als der grosse Schweiger galt, da ich mich stets ruhig verhielt und mich kaum aktiv am mündlichen Unterricht beteiligte. Dass ich anders wäre als die anderen, habe ich zu dieser Zeit nicht speziell wahrgenommen. So registrierte ich mein ruhiges Verhalten einfach als meine Charaktereigenschaft und nicht als weiterführende psychische Irregularität und ich fühlte mich auch nicht als Sonderling wahrgenommen oder behandelt. Doch dann kam die Oberstufe. Natürlich musste es so kommen, dass ich nicht mit meinen Freunden in die Klasse eingeteilt wurde. Ich kannte niemanden und habe kaum mehr gesprochen und wenn, dann nur einsilbige Antworten. So wurde ich zum Aussenseiter. Ich wurde ignoriert und nicht mehr als Klassenmitglied wahrgenommen. Durch diese soziale Isolation wurde mir bewusst, dass mit mir etwas nicht stimmte. Ich suchte die Schuld stets bei mir selbst und begann allmählich mich selbst zu hassen. Wegen dem ganzen Spott in der Schule begann ich dann auch den ganzen Rest zu hassen. Ich fühlte mich nicht geschätzt und rutschte in eine völlig depressive Haltung ab, die mich zweitweise sogar dazu brachte den Sinn meiner Geburt und meines Lebens anzuzweifeln. Irgendwann gelang ich dann an den Punkt, an dem ich mich mit der Isolation einfach abfand. Ich war dann nur noch heilfroh, als ich die Oberstufe endlich hinter mir lassen konnte. Zu Beginn meiner Lehre als Elektriker hatte immer noch Mühe, mich zu äussern und ich wurde von Arbeitskollegen als sehr schüchtern wahrgenommen. Zum Glück war ich bei der Arbeit meist mit denselben Mitarbeitern umgeben, was allmählich begann meine Zunge zu lockern. Mir schien es, als ob das Sprechen von Lehrjahr zu Lehrjahr immer besser funktionierte, bis ich dann im dritten praktisch problemfrei sprechen konnte. Nach dieser enormen Besserung zwang ich mich selbst in Situationen, die mich herausfordern. So leistete ich freiwillige Arbeit für das Jugendrotkreuz mit der Absicht, mit fremden Personen direkt konfrontiert zu werden. Heute, mit 20 Jahren, bin ich eigentlich geheilt. Manchmal habe ich sogar die Tendenz eher zu viel zu sprechen. Es gibt allerdings Fälle, in denen sich noch Spuren von früher bemerkbar machen. So umgehe ich wenn möglich das Telefonieren und bin lieber ruhig, wenn mir eine Gruppe von Unbekannten gegenüber steht. 14 4.2. Fallstudie Robin In diesem Abschnitt wird versucht Robins Erlebnisse soweit wie möglich in die theoretischen Grundlagen des selektiven Mutismus, mit denen ich mich im ersten Teil der Arbeit befasste, einzuordnen. Das Ziel ist es, Übereinstimmungen und Abweichungen hervorzuheben, um aufzuzeigen inwiefern Robin für einen selektiven Mutisten typisch ist. 4.2.1. Ursache des selektiven Mutismus - - Prof. Dr. Gera Khura und Dr. Berthold weisen bezüglich des familiären Umfelds des selektiven Mutisten auf häufige Wortkargheit oder mangelnde Sprachbereitschaft der Familienmitglieder oder Verwandten hin. Dies hat Robin nicht so erlebt und würde sein familiäres Umfeld als durchaus kommunikationsfreudig beschrieben. Des Weiteren seien bei betroffenen Kinder oder Jugendlichen häufig Anzeichen auf eine verzögerte Sprachentwicklung oder Artikulationsstörung zu finden. 27 Robin erlebte keine Sprachdefizite, die den selektiven Mutismus auslösten oder verstärkten. 4.2.2. Betroffene des selektiven Mutismus Familiensituation - - - - Laut Brand weisen Autoren oft auf familiäre oder eheliche Disharmonie im Umfeld des selektiven Mutisten hin. Robin hat dies nicht so erlebt und würde sein Familienleben als durchaus harmonisch bezeichnen. Des Weiteren sei eine auffällige Mutter-Kind-Beziehung im Sinne von Überbehütung typisch. Die Autorin des Buches „Mutismus - schweigende Kinder und Jugendliche im Gespräch“ Hildegard Brand weist diesbezüglich darauf hin, dass sie, wenn sie Überbehütung seitens der Mutter wahrgenommen hat, diese eher als sekundäre Reaktion auf das Verhalten des Kindes definiert. Diese auffällige Mutter-Kind-Beziehung hat Robin auch so beobachtet und teilt Hildegard Brands Meinung, so dass er auch das Gefühl hat, die vermehrte Aufmerksamkeit, die ihm seine Mutter schenkte, war deren Reaktion auf sein spezielles Verhalten. Schöler beschreibt Familien mutistischer Kinder als häufig sozial isoliert und Familienangehörige als verschlossen, schüchtern, einsilbig und wenig mitteilsam. Nach Robins Berichten trifft diese Charakterisierung nicht auf seine Familienmitglieder zu. In einer Untersuchung, auf die Schöler verweist, wird von einer hohen Rate an psychiatrischen Auffälligkeiten, die Stimmungsschwankungen bis hin zu Persönlichkeitsstörungen umfassen, in der Elterngeneration erkannten.28 27 Prof. Dr. Khura, Gerda. Dr. Neumann, Berthold. 1980. Handbuch der Sonderpädagogik. Pädagogik der Sprachbehinderten. Carl Marhold Verlagsverbund. Berlin. (S.614) 28 Schöler, Hermann. Welling, Alfons. 2007. Sonderpädagogik der Sprache. Handbuch der Sonderpädagogik. Hogrete Verlag GmbH & Co. KG. Göttingen. (S. 360) 15 Die einzige psychische Besonderheit die sich in seinem Familiären Umfeld wahrnehmen liess, war laut Robin eine Tendenz zu Autismus seitens seines Bruders. In der Elterngeneration waren keine Unregelmässigkeiten erkennbar. Beginn des selektiven Schweigeverhaltens - Wie bei 84% der im Sprachheilzentrum behandelten Patienten von Hildegard Brand, fiel bei Robin der verbale Rückzug im Kindergartenalter auf. Aufnahmealter - Robins Alter war bei der Aufnahme zur logopädischen Behandlung zwischen sechs und acht Jahren. Dies ist bei Brands behandelten selektiven Mutisten nur bei 14% der Fall. Sozial- und Kommunikationsverhalten zu Hause - Bei der Mehrheit (62%) der Kinder und Jugendlichen, die Brand untersuchte, war das Sozial– und Kommunikationsverhalten zu Hause eher unauffällig. Dies galt auch für Robin, er berichtet jedoch, dass er vergleichsmässig zu Hause oft gesprochen hat, sein Sprechverhalten jedoch auch dort keineswegs überangepasst war.29 4.2.3. Selektiver Mutismus im Zusammenhang mit anderen Entwicklungsauffälligkeiten - Zu den zahlreichen Entwicklungsauffälligkeiten, die vermehrt in Verknüpfung mit selektivem Mutismus geraten, gehören der prozentualen Häufigkeit nach von der höchsten Anzahl zur Tiefsten geordnet die Folgenden: Beziehungsstörungen, Trennungsängste, Schlafstörungen, Essstörungen, motorische Entwicklungsauffälligkeiten, Symptome von Hyperaktivität, Zwänge und Zwangsgedanken. Robin berichtet von Zwangsgedanken, die sich bei ihm im Drang nach Perfektionismus äusserten. Nach einer Studie von Steinhausen und Juzi sei diese Verhaltensauffälligkeit bei 9% der untersuchten selektiv mutistischen Kinder ebenfalls der Fall. 30 4.2.4. Diagnostische Kriterien A. Andauernde Unfähigkeit in bestimmten Situationen zu sprechen (in denen das Sprechen erwartet wird, z. B. in der Schule), wobei in anderen Situationen normale Sprechfähigkeit besteht. Dieses Kriterium trifft für Robins Fall zu. Ihm gelang es nicht, sich mit gewissen Personen oder in gewissen Umständen verbal zu äussern, wobei die abgeschlossene Sprachfähigkeit absolut vorhanden war und vor allem im familiären Umfeld ohne nennenswerte Verhinderungen angewendet wurde. 29 Brand, Hildegard. 2009. Mutismus – Schweigende Kinder und Jugendliche im Gespräch. Pabst Science Publishers. Lengerich. (S. 23-28) 30 Schöler, Hermann. Welling, Alfons. 2007. Sonderpädagogik der Sprache. Handbuch der Sonderpädagogik. Hogrete Verlag GmbH & Co. KG. Göttingen. (S. 360, 361) 16 B. Die Störung behindert die schulischen oder beruflichen Leistungen oder die soziale Kommunikation. In Robins Fall behinderte die Störung vor allem die soziale Kommunikation. Die schulische Leistung müsste man hierbei in mündlich und schriftlich unterteilen, von denen ausschliesslich die mündliche Leistung beeinträchtigt war. Da Robin später im Berufsleben den selektiven Mutismus laufend besser regulieren konnte, litten seine beruflichen Leistungen nicht. C. Die Störung dauert mindestens einen Monat (und ist nicht auf den ersten Monat nach Schulbeginn beschränkt). Dieses Kriterium erfüllt Robin durchaus, da der selektive Mutismus bei ihm im Laufe seiner Kindheit und Jugend stets vorhanden und zeitweise sehr ausgeprägt war. D. Die Unfähigkeit zu sprechen ist nicht durch fehlende Kenntnisse der gesprochenen Sprache bedingt, die in der sozialen Situation benötigt werden oder dadurch, dass der Betroffene sich in dieser Sprache nicht wohlfühlt. Nach Robins Berichten trifft dieses Kriterium zu. Er besass durchaus Kenntnisse der gesprochenen Sprache, fühlte sich wohl in ihr und wendete sie auch an. E. Die Störung kann nicht besser durch eine Kommunikationsstörung (z.B. Stottern) erklärt werden und tritt nicht ausschliesslich im Verlauf einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen Psychotischen Störung auf.“ Robin litt nicht an einer Kommunikationsstörung, die als Ursache für den selektiven Mutismus in Frage gekommen wäre. Auch von einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Störung blieb er verschont. Somit erfüllt Robin auch dieses diagnostische Kriterium. 31 4.2.5. Diagnostische Erhebungen – Erfassung des selektiven Mutismus - - Zu der Erfassung des selektiven Mutismus erklärt Nitza Katz-Bernstein, dass oft die Erzieherin in der Vorschuleinrichtung die Erste sei, die das dauerhafte Schweigen wahrnehme. In Robins Fall war es seine Familie, insbesondere seine Mutter, die sein spezielles Verhalten als Erste registrierte. Diese typisch mutistischen Verhaltensweisen sind in Nitza Katz-Bernsteins Buch ‚Selektiver Mutismus bei Kindern – Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie‘ wie folgt aufgelistet: 31 Katz-Bernstein. 2011. Selektiver Mutismus bei Kindern. Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie. Ernst Reinhardt GmbH & Co. KG. Verlag. München. (S. 67, 68) 17 1. Sie „Versteinern oder „frieren ein“ bei direkter Ansprache 2. Sie schweigen und haben ein allgemein gehemmtes, zurückgezogenes Verhalten. 3. Sie verhalten sich mehr oder minder normal, sprechen jedoch nicht. Die Lautsprache und das laute Sprechen werden gemieden, wobei die Kinder oft bereit sind, gestikulieren zu kommunizieren. 4. Das eher abwehrende, feindselige und aggressive Verhalten wird von einem hartnäckigen und „demonstrativ“ anmutenden Schweigen begleitet. 32 Robin berichtet, dass er früher, als der selektive Mutismus noch viel ausgeprägter war, am ehesten zu Verhaltenstyp 2 gehörte. An seinem Verhalten sind ihm zudem vor allem das strenge Vermeiden des Augenkontaktes und das Fixieren des Bodens aufgefallen. Heute erkennt er sich teilweise als Verhaltenstyp 3 und fügt hinzu, dass er es vermeidet laut zu sprechen und in undeutliches nuscheln verfällt. 4.2.6. Reflexion und Deutung dieser Ergebnisse Beim Betrachten der ‚Abweichungen‘, wie sie zum Beispiel beim Kapitel der Ursachen, angegeben sind, ist zu bemerken, dass das Wort Abweichung nicht ganz seine Richtigkeit hat. So fällt bei der Verbalisierung der Autoren auf, dass sie auf Wörter wie ‚oft‘ oder ‚häufig‘ zurückgreifen, die Platz für solche Ausnahmefälle, wie Robin einer zu sein scheint, lassen. Im Kapitel der Betroffenen des selektiven Mutismus und dem Zusammenhang mit anderen Entwicklungsauffälligkeiten gibt es keine Abweichungen oder Übereinstimmung, so zeigt sich dort lediglich, wie Robins Erlebnisse in die Prozentzahlen von Brands Studie einzuordnen sind, sowie den Bestand einer weiteren Entwicklungsauffälligkeit. Ganz klare Übereinstimmungen zeigen sich, wie zu erwarten war, bei den diagnostischen Kriterien. Falls dies nicht zutreffen würde, müsste man Robins Diagnose hinterfragen. So folgen lediglich ausführlichere Erklärungen, an Stelle von Gegenaussagen. Zusammengefasst scheint mir, was ich von vielen Autoren bereits gelesen habe besonders auffällig: Selektiver Mutismus ist ein Phänomen, das kaum aussagekräftige Einordnungen zulässt. So ist es für Autoren in den meisten Fällen unumgänglich in der Verbalisierung ihrer Aussagen auf Wörter wie ‚oft‘ oder ‚häufig‘, die Platz für Ausnahmen lassen, zurückzugreifen. Bei der Fallstudie wird wiederum deutlich, dass es dank solchen nicht präzisen und nicht allgemeingültigen Aussagen, keine richtigen Ausnahmen gibt, lediglich ‚untypische‘ selektive Mutisten. 32 Katz-Bernstein. 2011. Selektiver Mutismus bei Kindern. Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie. Ernst Reinhardt GmbH & Co. KG. Verlag. München. (S. 64, 65) 18 5. Zusammenfassung und Reflexion der Arbeit Die Arbeit besteht aus einem Theorieblock, einer Biografie eines selektiven Mutisten, sowie der Fallstudie, die wiederum die Brücke zwischen Theorie und Praxis bildet. Der Theorieteil gibt den aktuellen Wissensstand wieder, wobei zu sagen bleibt, dass dieser als Zusammenfassung gilt und somit weder neues Wissen vermittelt, noch irgendwelche Diskussionen oder Fragestellungen zum Thema erörtert wurden. Der praktische Teil dient einerseits mit dem biografischen Text dazu, die Geschichte und die Erfahrungen eines selektiven Mutisten aufzuzeigen und speziell noch auf seine Gefühlslage einzugehen. Andererseits wurden nach Prinzipien der Fallstudie, Übereinstimmungen und Abweichung von Robins Fall in Bezug auf die theoretischen Erkenntnisse erörtert. Dies hat den Zweck Theorie und Praxis zu verbinden und am direkten Bespiel an theoretische Aspekte anzuknüpfen. Nicht ausser Acht zu lassen ist dabei, dass ich mich lediglich auf die Aussagen Robins stützte und keine weiteren Personen seines Umfeldes befragte. Unbestreitbar ist zudem die Eigenheit der Fallstudie, die einzig Einblick in einen Fall gibt und somit nicht als repräsentative Studie dient. Wichtig zu betonen scheint mir, dass die Arbeit trotz ihrer Vielfalt keine neuen Einsichten in das Thema gibt und einzig als Modell der Veranschaulichung taugt. So ist denkbar, dass das Thema des selektiven Mutismus weiterhin beschäftigen wird, wenn zum Beispiel Diskussionen im fachtheoretischen Bereich erörtert werden oder Studien im grösseren Umfang neue Erkenntnisse einbringen sollen. 19 6. Quellenverzeichnis - Brand, Hildegard. 2009. Mutismus – Schweigende Kinder und Jugendliche im Gespräch. Pabst Science Publishers. Lengerich. - Dobslaff, Otto. 2005. Mutismus in der Schule. Wissenschaftsverlag Volker Spiess GmbH. Berlin. - Katz-Bernstein, Nitza. 2011. Selektiver Mutismus bei Kindern. Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie. Ernst Reinhardt GmbH & Co. KG. Verlag. München. - Prof. Dr. Khura, Gerda. Dr. Neumann, Berthold. 1980. Handbuch der Sonderpädagogik. Pädagogik der Sprachbehinderten. Carl Marhold Verlagsverbund. Berlin. - Prof. Dr. Margraf, Jürgen. Prof. Dr. Schneider, Silvia. 2009. Lehrbuch der Verhaltenstherapie: Band 3: Störungen im Kindes- und Jugendalter. Springer Medizinverlag. Heidelberg. - Schöler, Hermann. Welling, Alfons. 2007. Sonderpädagogik der Sprache. Handbuch der Sonderpädagogik. Hogrete Verlag GmbH & Co. KG. Göttingen. - Watzlawick, Paul. 2011. Man kann nicht nicht kommunizieren. Verlag Hans Huber. Bern. - Windmüller, Christa. 2009. Mutismus – Ursachen http://suite101.de/article/mutismus-a56829 [06.12.2012] und Behandlung. Fotograf des Titelbildes: Güloglu, Görkem. [7.10.2012] 7. Eigenständigkeitserklärung Ich erkläre hiermit, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und nur unter Benutzung der angegebenen Quellen verfasst habe und ich auf eine eventuelle Mithilfe Dritter in der Arbeit ausdrücklich hinweise. 20 8. Glossar Dysarthrophonie: Der Begriff Dysarthrophonie bezeichnet eine Kombination aus Störungen in den Bereichen Atmung, Phonation und Artikulation. Dyspraxie: Dyspraxie ist eine lebenslange Koordinations- und Entwicklungsstörung. Hereditär: Hereditär beschreibt das gehäufte Auftreten einer Krankheit oder eines Merkmals innerhalb einer blutsverwandten Familie. Prädisposition: Prädisposition ist der medizinische Fachausdruck für die ererbte, genetisch bedingte Anlage oder Empfänglichkeit für bestimmte Krankheiten oder Symptome. Prävelenz: Unter Prävalenz versteht man die (relative) Häufigkeit von Krankheitsfällen zu einem bestimmten Zeitpunkt. Tiefenpsychologie: Der Begriff Tiefenpsychologie fasst alle psychologischen und psychotherapeutischen Ansätze zusammen, die den unbewussten seelischen Vorgängen einen hohen Stellenwert für die Erklärung menschlichen Verhaltens und Erlebens beimessen. Turn-Taking-System: (dt: Sprecherwechsel) Der Sprecherwechsel ist ein gängiges Phänomen in Gesprächen, das dafür Sorge trägt, dass und wie mehrere Gesprächsbeiträge (turns) auf die Gesprächsteilnehmer verteilt werden. Vulnerabilität: Unter Vulnerabilität versteht man ‚Verwundbarkeit‘ oder ‚Verletzbarkeit‘. Vulnerable Personen werden besonders leicht emotional verwundet und entwickeln eher psychische Störungen. 21 9. Anhang 9.1. Originaltext von Robin Der Mutismus hat sich schon ziemlich früh gezeigt. Ich habe als kleines Kind schon kaum gesprochen und wenn dann nur mit meinen Eltern. Und wirklich nur mit meinen Eltern. Als meine Grossmutter ab und zu vorbei kam, habe ich nie etwas zu ihr gesagt. Erst einige Jahre später gings dann allmählich. Ich kam dann zu einer Logopädin, kann mich aber nicht genau erinnern wann das war, ob schon im Kindergarten oder später in der Primarschule. Allgemein kann ich mich ziemlich schlecht an meine Kindheit erinnern. Es hat sich irgendwie meistens so ergeben, dass ich mich mit einer Person normal unterhalten konnte, aber allen anderen gegenüber geschwiegen habe. Und irgendwie hat mich das auch nicht gross gestört, solange es funktioniert hat. In Gruppen hatte ich da schon grössere Mühen. Als ich in die Primarschule kam ging es schon besser. Ich fand auch da Freunde mit denen ich reden konnte, aber eigentlich nicht mehr als zwei Stück. Es hat sich eigentlich so gehalten, dass ich mich auf eine Person fixiert habe und sonst keine „echten“ Freunde hatte. In der Primarschule klappte das irgendwie und war für mich eigentlich kein besonders schlimmes Kapitel. Ich war nicht wirklich auffällig auch wenn ich gegenüber Lehrern und anderen Mitschüler immer noch der grosse Schweiger war. Richtig schlimm war es erst als ich in die Oberstufe kam. Da ich ja immer nur wenige Freunde hatte, war die Chance auch gering wieder mit jemanden von ihnen in die gleiche Schule/Klasse zu kommen. Ich habe niemanden gekannt und eigentlich kaum noch gesprochen. Und wenn dann nur mit wenigen Worten wenn ich etwas gefragt wurde. Deswegen wurde ich als Sonderling wahrgenommen und auch so behandelt. Was alles natürlich nur noch schlimmer machte. Ich wurde mir bewusst dass mit mir etwas nicht stimmt, etwas was ich während der Primarschule eigentlich nicht bemerkt habe. Ich habe angefangen mich zu hassen, durch den Spott den ich in der Schule einstecken musste, begann ich auch den ganzen Rest zu hassen. Es gab oft Momente an denen ich einfach nicht mehr leben wollte, ich hinterfragt habe wieso ich überhaupt lebe und es besser gewesen wäre wenn ich gar nie geboren worden wäre. Ich habe diese Zeit in Isolation verbracht und mich irgendwann damit abgefunden. Ich war dann einfach nur froh, dass ich aus der Schule kam. Danach habe ich die Lehre als Elektriker begonnen. Auch da hatte ich anfangs sehr grosse Mühen. Mit der Zeit ging es immer besser, da man immer lange Zeit mit den gleichen Leuten auf einer Baustelle arbeitet. Ich wurde von Lehrjahr zu Lehrjahr lockerer und habe mich immer mehr geöffnet. Im dritten war es quasi schon weg und wenn dann nur in wenigen Ausnahmen vorhanden. Jetzt ist es sogar so, dass ich eher zu viel rede. Aber telefonieren hasse ich immer noch. Oder auch wenn ich gleich in einer Gruppe von unbekannten Personen bin wird’s mir schnell unangenehm und mir fällt das Sprechen schwer. Das war zum Beispiel letzte Woche der Fall während der praktischen LAP. 33 33 Robin. [23.05.2013] 22 9.2. Protokoll des Gespräches zwischen Robin und mir vom 9.8.2013 Als erstes spreche ich Robin auf die Zeit im Kindergarten und bei der Logopädin an. Dazu sagt er mir, dass er sich an den Kindergarten praktisch gar nicht erinnere und ihm zu der Zeit, in der er von einer Logopädin behandelt wurde, nur noch einzelne Bilder an Räumlichkeiten im Kopf geblieben sind. Er erinnert sich, regelmässig in Behandlung gewesen zu sein und ordnet die Zeitspanne in ‚wenige Monate‘ ein. An die Therapieform erinnert sich Robin nicht. Als nächstes will ich auf die Zeit vor der Primarschule eingehen, von der ich weiss, dass es ihm vor allem in Gruppen schwerfiel, sich zu äussern. Robin berichtet zu diesem Thema, dass sich diese Scheu in der Umgebung von mehreren Leuten zu sprechen bis heute anhält. Zum Stichwort der Primarschule bestätigt Robin nochmal, dass er das Gefühl hat, dass der selektive Mutismus in der Primarschule nachliess. Er erzählt weiter, dass es wahrscheinlich Lehrern und Mitschülern doch aufgefallen ist. So hat er sich am mündlichen Unterricht kaum beteiligt. Seines Wissens nach wurden die Lehrer im Vorfeld von seiner Mutter über die Ursache seines kommunikativen Rückzugs informiert. Zum Thema der Selbstwahrnehmung spreche ich Robin darauf an, ob er sein Verhalten als ernstzunehmende Störung wahrgenommen hat, oder er es einfach als seine ‚Art‘ einordnete. Dazu berichtet er, dass er sein Verhalten einfach als Ausdruck seiner Charakterzüge empfand. Auf meine Anfrage fügt er hinzu, dass er auch nicht das Gefühl hatte, dass seine Mitschüler seinem Verhalten einen anderen Stellenwert als seine zurückhaltende Art zuteilten. Als nächstes kommen wir auf die Zeit in der Oberstufe zu sprechen, von der er in seinem Text berichtete, sich als Sonderling wahrgenommen und behandelt gefühlt zu haben. Dazu ergänzt er, dass er in dieser Zeit eigentlich gar nicht gesprochen hat, später von den Mitschülern ignoriert wurde und sie ihn nicht mehr als vollwertiges Klassenmitglied behandelten. Er erwähnt des Weiteren, dass seine Freunde in anderen Klassen waren, so dass er nur die Pausen mit ihnen verbringen konnte. Zum Verhalten der Lehrer weist Robin darauf hin, sich nicht besonders unterstützt gefühlt zu haben. Ich spreche Robin als nächstes auf die Veränderung seiner Haltung zu sich selbst an, wie er sie in seinem Text schon beschrieb. Er sagt daraufhin, dass er sich damals die Schuld laufend selbst zuschob und so in eine depressive Haltung abrutschte. Zu seinem Sprechverhalten zu Hause berichtet Robin, mit seiner Familie problemlos kommuniziert zu haben und er ergänzt, dass es ihm allgemein leicht fiel mit Menschen zu sprechen, die er bereits kannte. Die Kommunikation mit fremden Leuten empfand er als schwierig, so wie das Telefonieren, wobei die Abneigung zum Telefon bis heute anhält. Zu seiner Lehrzeit, von der ich aus seinem Text schon weiss, dass sich dort sein Sprechverhalten enorm verbesserte, erzählt Robin, dass der in den ersten beiden Lehrjahren doch noch unter dem selektiven Mutismus litt, sich die Situation aber dann lockerte. Er begründet diese Verbesserung mit der Tatsache, dass er immer mit den gleichen Leuten umgeben war und er das Arbeitsklima als viel angenehmer erlebte, als in der Oberstufe. In der Berufsschule, so berichtet er, habe er immer noch meist geschwiegen. Interessant ist zudem, dass er sich, nachdem der selektive Mutismus bei der Arbeit komplett überwunden war, bewusst selbst in solche Situationen zwang. So leistete er für ca. ein Jahr freiwillige Arbeit für das Jugendrotkreuz mit der Absicht unter fremden Leuten zu sein. Diese selbsterzwungene Konfrontationstherapie brachte ihn dazu, immerhin in gemässigtem Rahmen zu sprechen. Er beschreibt diese Erfahrung als Schritt in die richtige Richtung. 23 Als nächstes stelle ich Robin die Frage, von der ich denke, dass sie automatisch einmal in den Köpfen der Leute auftaucht, die sich mit dem Thema des selektiven Mutismus befassen, nämlich der Frage, ob der selektive Mutist nicht sprechen will oder kann. Wie erwartet kann auch Robin diese schwierige, fast schon philosophische Frage nicht direkt beantworten. Er berichtet davon, dass der selektive Mutist etwas sagen will, er aber blockiert wird, so dass das Sprechen im Denken stecken bleibt. Die Antwort wäre bereit aber sie könne nicht heraus. Ich frage Robin als nächstes, ob er Kontakt mit anderen Mutisten habe und nach dem Mutistenforum, welches der Usprung unserer Kontaktaufnahme war. Robin erzählt keine selektiven Mutisten zu kennen und sich vor einigen Jahren im Mutistenforum eingeschrieben zu haben. Dort habe er manchmal die seltenen Beiträge anderer selektiven Mutisten gelesen. Daraufhin frage ich ihn, ob er das Bedürfnis verspürte sich mit anderen Leuten über sein Erlebtes auszutauschen. Er erzählt, dass er dieses Bedürfnis hatte, sich aber nicht zum Beispiel an seine Mutter wendete, sondern in Brieffreundschaften seine Empfindungen verarbeitete. Als letztes spreche ich Robin darauf an, wie er jetzt den Umgang mit mir empfand, da ich eigentlich auch relativ fremd bin. Er berichtet, dass es ihm leicht fiel, da wir zuvor schon Kontakt hatten, wenn auch nur in schriftlicher Form. Falls der Kontakt im vorherein nicht gewesen wäre, wäre es ihm deutlich schwerer gefallen mit mir zu sprechen. Dies hänge aber auch sehr von seinem Gegenüber ab. „Eben selektiv halt“. 24