hair Galt MacDermot / Gerome Ragni & James Rado Ich will es lang und liegend fliegend bürstenborstig, adlerhorstig ruppig, struppig, schuppig, zopfig eisenherzig, bubikopfig oder voll Konfetti kämmungslos verludert hemmungslos geölt, gepudert löwenmähnig strähnig wie Spaghetti! – Mein Haar. HAIR The American Tribal Love Rock-Musical Buch und Texte von Gerome Ragni & James Rado Dialoge bearbeitet von Frank Thannhäuser und Nico Rabenald Musik von Galt MacDermot Dialoge in deutscher, Songtexte in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln Premiere am 29. November 2014, 19.30 Uhr Staatstheater Darmstadt, Großes Haus Die Originalproduktion fand am 29. April 1968 am Biltmore Theatre New York unter der Leitung von Michael Butler statt. Claude & Berger An English synopsis is provided on page 30. Erster Akt 1968. In einer Lotterie der US-Armee werden Geburtsdaten gezogen, die festlegen, welche der jungen Männer zum Kriegsdienst in Vietnam eingezogen werden. Ronny stellt dieser Kriegsmaschinerie den Traum vom gerade anbrechenden Zeitalter des Wassermannes entgegen, das zu mehr Harmonie und Verständnis unter den Menschen führen wird. In einen Debütantenball bricht der hyperenergetische Berger herein und predigt ein lustbestimmtes Leben. Er war selbst in Vietnam, wurde aber wegen seiner Drogenexzesse und sexuellen Ausschweifungen aus der Armee entlassen. Hud rebelliert gegen die fortdauernde Sklavenrolle der Farbigen und schließt sich der Gruppe an. Mit dem filmbegeisterten Claude und der Aktivistin Sheila führt Berger eine spannungsgeladene Dreiecksbeziehung. Claude spielt sich auf und behauptet, er käme aus England. Im Zug des Strebens nach einem selbstbestimmten Leben entdeckt Woof gerade seine Sexualität jenseits konventioneller Pfade. Alle singen eine Hymne auf den Konsumverzicht. Sheila kämpft für die Rechte der Frauen, glaubt an die Kraft der Liebe, ruft dauernd zu Demos auf und geht den anderen damit auf die Nerven. Das Wesen aus der Kanalisation ist Jeanie. Dass sie den Vater ihres ungeborenen Kindes nicht kennt, macht ihr weniger zu schaffen als die Kälte, mit der Claude ihr begegnet. Der steht vor der schwersten Entscheidung seines Lebens. Seine absurd-spießigen Eltern überreichen ihm seinen Musterungsbescheid. Er weiß nicht, wie er sich verhalten soll: Ihn verbrennen oder seine „Pflicht“ tun? In einem Fernsehstudio gerät die Show außer Kontrolle. Eine bekannte Sexualforscherin solidarisiert sich mit den Hippies, die auf ihrem Recht auf Individualität beharren. 3 Die Dreiecksgeschichte zwischen Berger, Claude und Sheila eskaliert und entlädt sich in Gewalt. Claude provoziert Sheila weiter, indem er ihr in seinem neuen Filmskript lächerliche Worte in den Mund legt. Beim großen „Be-In“ verbrennen Männer ihre Musterungsbescheide. Claude tut es nicht. Zweiter Akt Der Hippie-„Tribe“ rebelliert gegen die altbackene Musik eines Entertainers. Als Claude von seiner Musterung kommt, wird der Ernst der Lage klar. Zur Entspannung der Situation setzt Berger auf Drogen und schickt Claude auf einen unvergesslichen Trip, der schließlich zu einem Alptraum wird. Szenen von Claudes Mittelklasse-Alltag verschwimmen mit Visionen seines bevorstehenden Kriegseinsatzes. Tief verunsichert versucht Claude, eine Entscheidung zu treffen: Trotz allem wird er dem Einberufungsbefehl folgen. Er verteilt Abschiedsgeschenke und verbringt mit seinen Freunden „die letzte Nacht der Welt“. Während der „Tribe“ alles besingt, was man in einem Bett tun kann, ist Claude bereits auf dem Weg in den Krieg. Seine dunklen Vorahnungen werden sich erfüllen. Inhalt 2 5 Die Songs Erster Akt AQUARIUS Wassermann-Sternzeichen DONNA Donna HASHISH Haschisch SODOMY Sodomie COLORED SPADE Nigger MANCHESTER, ENGLAND Manchester, England I’M BLACK Bin schwarz AIN’T GOT NO Ich hab‘ kein DEAD END Sackgasse I BELIEVE IN LOVE Ich glaube an die Liebe AIN’T GOT NO GRASS Ich hab‘ kein Gras AIR Luft INITIALS Initialen I GOT LIFE Ich bin am Leben GOING DOWN Abwärts HAIR Haare MY CONVICTION Meine Überzeugung Das Zeitalter der Liebe bricht an Mit 16 noch Jungfrau! … und weitere Drogen Fellatio Cunnilingus Amen! Vereinigte Schimpfworte für Farbige Die Herkunft des weißen Mannes … bin weiß, bin braun, na und? Kein Geld, kein Stoff, kein Gott Alles, was verboten ist selbsterklärend Nichts zu rauchen Der Planet geht vor die Hunde USA, LSD, FBI … Ich hab‘ Glück, weil ich noch lebe Es geht bergab Die Flagge der Hippies Haare sind die Federn des Mannes EASY TO BE HARD Es ist leicht, hart zu sein DON’T PUT IT DOWN Lasst sie nicht fallen FRANK MILLS Frank Mills BE-IN ‚HARE KRISHNA‘ Hare-Krishna-Session WHERE DO I GO? Wo geh’ ich hin? Über die Herzlosigkeit der Weltverbesserer Das etwas andere Lied zum Fahnenappell Wie man eine verlorene Liebe besingt Friede, Freiheit, Blumen, wahres Glück Was soll bloß aus mir werden? Zweiter Akt ELECTRIC BLUES Elektrischer Blues OH GREAT GOD OF POWER Oh, großer Gott der Stärke BLACK BOYS Schwarze Jungs WHITE BOYS Weiße Jungs WALKING IN SPACE Gehen im Weltraum ABIE BABY Abie Baby THE WAR Der Krieg THREE-FIVE-ZERO-ZERO 3-5-0-0 WHAT A PIECE OF WORK IS MAN Was für eine Meisterwerk ist der Mensch Über die Hi-Fi-Aufrüstung Aquarius-Beschwörung Schokoladig süß! Milchweiß lecker! Schweben im Raum (dank LSD) Hommage an Abraham Lincoln Der Zweifel an den Weltreligionen Über die Brutalität des Krieges Edel sei der Mensch, hilfreich und gut – eigentlich GOOD MORNING STARSHINE Guten Morgen, Sternenlicht Wie lange schaut ihr Sterne uns noch zu? THE BED Das Bett Wozu ein Bett alles gut ist LET THE SUNSHINE IN Lass' den Sonnenschein herein Der Weg allen Fleisches & Requiem für Claude Song list 4 7 Ein neues Zeitalter Am 2. Februar 1962 standen der Mond, Venus, Merkur, Mars, Jupiter und Saturn im Sternzeichen des Wassermanns (Aquarius). Alle sieben Himmelskörper waren seit 2500 Jahren nicht in dieser Konstellation zusammengekommen. Viele Leute glaubten, damit breche ein neues Zeitalter an: Das Zeitalter des Wassermanns als ein Symbol für die Vereinigung der Kreativität des Menschen, ein Zeitalter der Gemeinschaftlichkeit. Als das Rockmusical „Hair“ herauskam, schrieb der Journalist John J. O’Connor im „Wall Street Journal“: „Egal wie auf den Inhalt des Stückes reagiert wird (…), ich vermute seine Form wird für die Geschichte des Amerikanischen Musicals wichtig sein.“ Und sie war wichtig – indem sie den Weg für das Konzept nicht linear erzählter Musicals ebnete, die die Erneuerung des Musicaltheaters in den 1970er Jahren dominierten: „Company“, „Follies“, „A Chorus Line“, „Working“ und andere. (…) Auch heute noch können manche Leute hinter dem äußeren Erscheinungsbild von Chaos und Willkür nicht die brillante Konstruktion des Stückes und seine raffinierte Metaphorik sehen. Johanna Berger und Ensemble In den späten 1960er Jahren beklagten sich die Künstler des Off-Broadway und des Off-Off-Broadway, dass das professionionelle Theater tot sei, oder schlimmer, dass es langweile. „Hair“ war die Revolution, auf die alle gewartet hatten. Mit einem kleinen Plot, einem einmaligen Schauplatz, reichlich vulgärer Sprache, eindeutig sexuellen Inhalten, Ritualen, Drogen, Songtexten, die sich nicht reimten, Musik, die nicht die Regeln befolgte und – zum ersten Mal auf der Broadwaybühne – dem Sound des wahren Rock n’ Roll, trat dieses Musical dem Broadway in den kollektiven Hintern. Nicht nur, dass sich viele Songtexte nicht reimten – viele Songs hatten kein richtiges Ende, sie wurden langsamer und hörten auf, so dass das Publikum nicht wusste, wann es applaudieren sollte. Andere Songs gingen direkt in die nächste Nummer über, so dass das Publikum keine Zeit zum 8 Applaudieren hatte. Die Show warf jede Konvention über den Haufen, die des Broadway, die des traditionellen Theaters im Allgemeinen und die des Amerikanischen Musicals im Besonderen. Und sie war brilliant. (…) Tom O’Horgan (der Regisseur der ersten On-Broadway-Produktion) sagte damals, er sähe in „Hair“ die sich nur einmal im Leben bietende Gelegenheit, eine Theaterform zu kreieren, „deren Haltung, Sprache, Kleidung, Tänze und sogar deren Titel exakt eine soziale Epoche widerspiegele, die dabei war zu explodieren.“ (…) Dramaturgie des Trips „Hair“ kritisiert und karikiert Rassismus, Diskriminierung, Krieg, Gewalt, sexuelle Unterdrückung und andere soziale Übel. Es ist ein wirklich psychodelisches Musical, vielleicht das einzige, das je auf dem Broadway herausgekommen ist. Die Show besteht aus einem Trommelfeuer der Bilder, die sehr surrealistisch und überwältigend sind, schnell und wütend über das Publikum hereinbrechen und nicht immer logisch sind – aber wenn man ihre Teile zusammenfügt, ergeben diese Bilder ein wundervolles, einheitliches und sofort verständliches Ganzes. Generation Hippie Nach dem Zweiten Weltkrieg machte Amerika eine seltsame Zeit durch. (…) Wie schon zu anderen Zeiten sozialer Umbrüche (wie zur Jahrhundertwende oder während der Großen Depression) gab es eine Kluft zwischen den Forderungen nach Konformität und Konservativität im Gegensatz zu dem instinktiven menschlichen Bedürfnis, sich frei äußern zu dürfen – was der Geschmack von Freiheit noch schlimmer machte, den Frauen erfahren hatten, als ihre Männer und Freunde im Krieg gewesen waren. Es gab auch eine neue sexuelle Freiheit, die an Amerikas Tür klopfte, dank der Erfindung der Anti-Baby-Pille. Die Kinder, die in den geburtenstarken Jahrgängen der Fifties aufwuchsen, hatten alle Konsumgüter, die sie sich wünschen konnten, fanden aber wenig, um sich seelisch zu nähren. (…) Es wurden so viele Kinder wie nie zuvor aufs College geschickt, wo sie 9 lernten, alles zu hinterfragen und sich ihre eigene Meinung über die Welt zu bilden. (…) Diese Kinder verließen das College mit unbegrenzten und wie sich herausstellte für sie zu vielen Möglichkeiten. Zusätzlich nahm die Menschenrechtsbewegung der Farbigen Fahrt auf, und all die desillusionierten Kinder fanden ein starkes, praktikables Modell für ihren sozialen Protest. Das neue Körperbewusstsein Der Grund, weswegen die Macher von „Hair“ ihrem Musical diesen Titel gaben war, dass lange Haare die Flagge der Hippies waren, die „FreakFlagge“ wie sie es nannten, ihr Symbol nicht nur für Rebellion, sondern auch für neue Möglichkeiten, ein Symbol der Zurückweisung von Diskriminierung und restriktiven Geschlechterrollen (eine Philosophie, die im Song „My Conviction“ zelebriert wird). Langes Haar symbolisierte Gleichheit zwischen Mann und Frau. Zusätzlich zu ihrem langen Haar machten die Hippies mit ihrer Kleidung Statements. (…) Hinzukam, dass Nacktheit einen großen Teil der Hippie-Kultur darstellte – als Ablehnung der sexuellen Repressionen ihrer Eltern und gleichzeitig als Bekenntnis zu Natur, Spiritualität, Ehrlichkeit, Offenheit und Freiheit. Der nackte Körper war schön, etwas, das es zu feiern und wertzuschätzen, nicht zu verachten und zu verstecken galt. Scott Miller 11 In diesen Hosen kommst du mir nicht aus dem Haus. Und gib meine Goldkette her. Was soll das? Was willst du mit deinem Leben anfangen? Was soll aus dir werden außer gammelig? Was habt ihr eigentlich, ihr 1968er, was euch so verdammt überheblich macht? Mütter und Väter zu Claude Ein böses Stück Interview zur Neuinszenierung mit dem Regisseur Sam Brown Was sagt uns „Hair“ heute? „Hair“ ist ein Stück seiner Zeit. Ich könnte mir nicht vorstellen, es in einer anderen Zeit spielen zu lassen. Und ich mag es, – anders als manche deutschen Regisseure – dass ich im Theater in eine andere, vergangene Welt eintauchen kann. „Hair“ ist eine grandiose Metapher auf die Verhältnisse unserer Erde, die die 1960er Jahre spiegelt, aber heute noch gilt. Was machte „Hair“ damals so wichtig? Vielleicht die irrsinnige politische Brisanz. Es wurden Prozesse gegen das Stück geführt, es gab Zeiten, in denen man Angst haben musste, auch als Zuschauer eingesperrt zu werden. Der durch die Autoren so vorgesehene Auftritt von Polizisten am Ende des ersten Aktes spielt mit dieser Angst. In London musste erst die Theaterzensur des Lord Chamberlain‘s Office abgeschafft werden, damit das Stück erscheinen konnte – ein gewaltiger Umbruch. Das Stück kommt im bunten Gewand der Hippies daher, aber darunter ist es ein böses Antikriegsdrama. Es steht die ganze Zeit Claudes Einzug nach Vietnam im Raum, sein Gang in den sicheren Tod. Amerika hat seine Todeskandidaten mit Hilfe eines Roulettes öffentlich ausgelost, das hatte etwas von einem zynischen Spiel – so beginnen wir den Abend. „Hair“ traute sich auszusprechen, was politisch brisant war: Der „weiße Mann“ schickt den „schwarzen Mann“ in den Krieg gegen den „gelben Mann“ um ein Land zu verteidigen, dass er dem „roten Mann“ geraubt hat. Es ist auch ein Stück über Rassismus gegen Schwarze, der ganze erste Akt handelt davon. Die Gleichbehandlungsdebatte, die die schwarze Menschenrechtsbewegung damals führte, wird heute von Schwulen und Lesben oder Transsexuellen geführt. 13 Wer sind für Sie die Hippies? Die Hippies kamen aus dem bourgeoisen Milieu. Wir zeigen ihre Herkunft am Anfang des Stückes mit einer sehr bürgerlichen Szene. Aus den noch in der Mode der 50er Jahre steckenden Kids baut sich dann der „Tribe“ auf, der sich nach und nach die Zeichen seines Widerstandes und seine neue Kleidung sucht … … und auch das Haus in Beschlag nimmt, das ein zentrales Bühnenelement dieser Inszenierung ist. Ja, es ist am Anfang ganz unberührt und wird dann nach und nach bevölkert, in Beschlag genommen oder instrumentalisiert. Das Haus steht aber auch für das Symbol des American Dream, dem Zeichen der Wohlstandsgesellschaft, aus der die Gesellschaft kommt, die reich genug ist, in den Krieg zu ziehen aber auch, im Falle der Hippies, sich gehen zu lassen, zu „gammeln“. Welche Funktion hat der Auftritt von Claude Bukowski? Claude begeistert sich für den Film. Er läuft mit einer Kamera herum und schreibt eine Filmszene für Sheila, die er mit ihr ausprobiert. Mit seinem Auftritt verdichtet sich der Eindruck, dass die ganze Welt von „Hair“ vielleicht auch in einem TV-Studio spielen könnte. Amerika befand sich ja damals in der Phase, in der jeder Haushalt ein Fernsehgerät bekommen sollte. Dieser Eindruck wird dadurch unterstützt, dass die Figuren, man denke nur an den ersten comedianhaften Auftritt von Berger, den Anschein erwecken, als spielten sie eine Rolle. Die Inszenierung der Uraufführung experimentierte auch mit neuen Theatermitteln. Hat das in Ihrer Inszenierung eine Bedeutung? Ja, unsere theatralen Mittel orientieren sich an der Uraufführung. Dort wurde mit der offenen, nichts verdeckenden Bühne mit ihren sichtbaren Umbauten, bei denen man die Techniker sehen sollte, auch eine politische Nachricht verbunden, nämlich kein illustratives, sondern ein realistisches Interview 12 14 15 und ehrliches Theater zu machen. Auch bei uns gibt es keine bemalten Kulissen, und, obwohl zahlreiche neue Schauplätze auftauchen, keinen Vorhang. Man zeigt, dass man im Theater ist, dass einem die Mittel bewusst sind. Es gab Leute, die hatten diese Form des Theaters noch nie gesehen. Und die Darsteller? Wir haben einen wunderbaren Cast von 20 jungen Leuten – ganz ähnlich wie bei der Uraufführung. Ein älterer Mann übernimmt die Rollen der gesetzteren Herren im Stück. Sie haben den letzten Song „Hippie-Life“ gestrichen. Warum? Zum einen, weil es kein besseres Finale als „Let the Sunshine In“ gibt. Zum anderen aber auch, weil es damit nichts mehr nach Claudes Tod geben kann – nichts inszeniert Versöhnliches oder dergleichen. „Hair“ gehört zu den ganz wenigen Musicals, die tragisch und ohne jede Erlösung enden. Das verstößt absolut gegen die Konventionen und hat mit dem Stachel dieses Stückes zu tun. Wie würden die Figuren nach Claudes Tod weiter leben? Wahrscheinlich würde nur Shila ihr Leben ändern. Sie ist anders als die anderen, weil sie die einzige ist, die eine Entwicklung durchmacht. Mein Eindruck ist, dass Berger sich für Claudes Tod verantwortlich fühlt, weil er seinen Freund mit seinem demütigenden Verhalten dazu gebracht hat, seinem Einberufungsbefehl nachzukommen. Was ist eigentlich der Zusammenhang zwischen „Hair“ und Darmstadt? Ohne Darmstadt gäbe es „Hair“ wahrscheinlich nicht. Ich habe herausgefunden, dass die Firma Merck bereits 1912 LSD herstellen konnte (lacht). Die Fragen stellte Joscha Schaback Jane-Lynn Steinbrunn, Rupert Markthaler, Nedime Ince Manuel Dengler, Rupert Markthaler und Ensemble Martina Lechner, Nedime Ince, Amani Robinson, Jane-Lynn Steinbrunn und Ensemble Julian Culemann und Ensemble 18 Todeslotterie Am 1. Dezember 1969 führte die U.S.-Armee eine Lotterie durch. Durch diese Lotterie wurde die Reihenfolge des Einzugs zum Militärdienst im Vietnam-Krieg für Männer der Jahrgänge 1944 bis 1950 festgelegt. Die einzelnen Tage des Jahreskalenders (inklusive des 29. Februars) wurden auf 366 Zettel geschrieben. Diese Zettel wurden in Kapseln verschlossen, in eine Lostrommel gegeben und schließlich von einem unabhängigen Beauftragten mit verbundenen Augen gezogen. Das erste Datum, das gezogen wurde, war der 14. September. Alle Registrierten mit diesem Geburtsdatum erhielten die Nummer „1“. Die zweite Nummer, die gezogen wurde, war der 24. April und dann immer so weiter. Alle Männer im entsprechenden Alter mit dem gleichen Geburtsdatum wurden gleichzeitig einberufen. Weitere Lotterien zum Militärdienst in Vietnam wurden 1970 für alle 1951 Geborenen sowie von 1971 bis 1975 für die Jahrgänge 1952 bis 1956 durchgeführt. Die erste Lotterie im Jahr 1969 löste eine Welle des aktiven Widerstands gegen den Militärdienst aus. Diese so genannten „Drückeberger“ waren meist gesunde, gut ausgebildete junge Männer. Sie nahmen oftmals harte rechtstaatliche Konsequenzen wie langjährige Haftstrafen in Kauf. Zum Zeichen ihrer Ablehnung erschienen sie nicht zur Musterung oder verbrannten ihren Einberufungsbefehl. Sam Brown Rot, Gelb, Schwarz und Weiss: Macht euch gegenseitig heiss! Der „Tribe“ 20 Vom Hairwuchs Am 17. Oktober 1967 feierte „Hair“ in seiner allerersten Version am OffBroadway Premiere: Im 300 Plätze fassenden Shakespeare Public Theatre New York begann die erste Serie, die auf nur sechs Wochen Spieldauer angelegt war. Ab 1964 hatten die beiden New Yorker Künstler James Rado (1932*) und Gerome Ragni (1935-91) an dem Stück geschrieben. Beide verdienten ihr Geld zu diesem Zeitpunkt vor allem durch die Schauspielerei. Beide hatten Broadway-Erfahrung, aber auch eine direkte Verbindung zum Off-Broadway, der New Yorker freien Theaterszene, deren Spielorte geografisch nicht am Broadway lagen und deren Produktionen künstlerisch experimenteller und weniger auf Profit ausgerichtet waren. Das New Yorker Off-Theater, das heute mit berühmt gewordenen Gruppen wie dem Living Theatre oder dem La MaMa Experimental Theatre Club in Verbindung gebracht wird, sollte dem Theater weltweit wesentliche Impulse versetzen. Mitte der 1960er Jahre waren diese aber im Mainstream-Broadway-Theater noch nicht angekommen. In den kleinen Bühnen oder zu Bühnen umgestalteten Lofts, Garagen oder Kinos herrschte oft eine unhierarchische Produktionsform, man arbeitete in der Gruppe an einem Stück und brachte es in Gemeinschaftsleistung auf die Bühne. Im Probenprozess wurden experimentelle Theaterformen eingesetzt und viel improvisiert. In seinen Stücken riss das Off-Theater der 1960 Jahre die vierte Wand ein, trat in direkte Kommunikation mit dem Publikum und traute sich den offenen Protest an den politischen Verhältnissen. Rado und Ragni wollten „Hair“ zwar mit ihren Erkenntnissen und Erfahrungen des freien Theaters kreieren, aber es war ihr ausgemachtes Ziel, beim Zielpublikum nicht in der „Szene“ stehen zu bleiben, in der die Hippie-Kultur ohnehin stärker zu Hause war, sondern damit an ein größeres Theater am Broadway zu gelangen. Rado und Ragni hielten sich selbst nicht für Hippies und um die Hippie-Kultur in sich aufzunehmen, verbrachten die beiden Autoren Wochen im East Village zur Recherche. Für die Komposition des ersten Rockmusicals entschieden sie, einen Outsider zu nehmen, der möglichst wenig mit der gut geschmierten Maschine 21 des Musicalbetriebs zu tun hatte. Sie fanden ihren Musiker in Galt MacDermot, der bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt keine Berührung mit dem Theater hatte und sich eher als Weltmusiker denn als Rock n‘ Roller verstand. In wenigen Wochen vertonte MacDermot die Texte der Autoren. Die erste Version des Musicals verkaufte sich gut, so dass die Produktion in eine nun 700 Plätze fassende Location umzog. Am 2. Dezember 1967 kam die Wiederaufnahme im Go-Go/Disco Club The Cheetah heraus. Die Vorstellung musste bereits um 18.30 Uhr beginnen und ohne Pause durchlaufen, damit die Disko nach dem Umbau pünktlich um 22.00 Uhr ihre Türen für das Tanzpublikum öffnen konnte. Nach weiteren sechs Wochen wäre die Show sozusagen um Haaresbreite verschwunden, wenn es nicht einen jungen Produzenten, Michael Butler, gegeben hätte, der die kommenden Monate von Theater zu Theater zog, um „Hair“ an den Broadway zu bringen. Doch zunächst fand sich kein Haus, das die Show übernehmen wollte. Den Managern war „Hair“ zu unkonventionell und „dreckig“. Erst David Cogan wagte es, das Stück in seinem Biltmore Theatre herauszubringen, allerdings in überarbeiteter Gestalt. Das Team wechselte viele Darsteller aus, Dermot schrieb 13 neue Songs, so dass die Musiknummern von 20 auf 33 anwuchsen. Außerdem wurde eine neue Choreografin, Julie Arenal, und der damals ebenso aus der freien Szene bekannte Regisseur Tom O’Horgan für die Neuauflage der Inszenierung engagiert. In dieser neuen Form kam am 29. April 1968 die Broadway-Premiere heraus, die bis heute urheberrechtlich verbindlich ist. „Hair“ entwickelte sich zum Kultmusical und zog ein in diesen Zeiten lang ersehntes junges (und schwarzes) Publikum an, das dem Broadway vorher fern geblieben war. Nicht nur die Themen des Musicals gaben dem Broadway neue Bedeutung, auch die Inszenierung fesselte. O’Horgan ließ bereits im Einlass seinen „Tribe“ auftreten, die Hippie-Darsteller mischten sich mit dem Publikum, lösten bereits zu Beginn die vierte Wand auf und luden ihr Publikum zum bevorstehenden Theater-Trip ein. Es war unklar, wann das Stück wirklich begann. Bis heute berichten Darsteller, die an der Produktion beteiligt gewesen waren, über das besondere Flair der Aufführungen. 22 23 O’Horgan hatte es mit vielen Improvisationen und Vertrauens- und Sensibilisierungs-Übungen geschafft, aus seiner Truppe einen „Tribe“ zu machen. Es heißt, dass die Darsteller ihre Rollen nicht spielten, sondern lebten. Viele fühlten sich wie wahre Hippies. Die Show stieß vor allem bei älterem Publikum auf Widerstand und in den Anfangsmonaten verließen immer wieder Leute den Saal. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr das Finale des ersten Aktes, bei dem sich die Darsteller beim „Be-In“ auszogen, während langsam das Licht erlosch. Als die Show im Londoner West End spielte, bürgerte sich ein, dass das Publikum zum Schluss auf die Bühne sprang und mit den Darstellern tanzte. „Hair“ kam hier am 27. September 1968 heraus. Am 24. Oktober 1968 erfolgte die deutsche Erstaufführung in München: Das Theater in der Briennerstraße hatte sich den Hit gesichert. „Hair“ führte an mehreren Orten in Amerika und auch in Deutschland zu Diskussionen darüber, ob ein Stück, dass auf seine letztlich verständnisvolle Weise mit den Themen Sexualität, Drogen und Widerstand gegen die Staatsgewalt umgeht, nicht zensiert werden müsse. In Amerika erreichten Klagen den Obersten Gerichtshof, wo sich aber die Seite der Künstler durchsetzen konnte. In Deutschland und England war „Hair“ zusammen mit „Jesus Christ Superstar“ das erfolgreichste Musical seiner Zeit. Verbreitet war eine deutschsprachige Version unter dem Titel „Haare“. 1969 brachte die Band „The Fifth Dimension“ einen Millionenseller mit dem Medley aus den „Hair“-Songs „Aquarius“ und „Let the Sunshine In“ heraus. Der US-Charts-Erfolg trug wesentlich zum Bekanntwerden des Musicals bei. 1979 erschien Miloš Formans berühmter Musicalfilm „Hair“ mit Treat Williams als George Berger. Der Film hat gegenüber dem Musical eine weniger offene und assoziative Dramaturgie, sondern eine vergleichsweise klare Geschichte, die deutlich von der Bühnenfassung abweicht. Der Film endet damit, dass Berger und seine Gang zu Claude reisen, um ihn im militärischen Ausbildungscamp zu besuchen. Durch eine Verwechslung wird Berger eingezogen und stirbt in Vietnam. Joscha Schaback Richard Wiedl Marion Wulf, Victor Hugo Barreto, Lisa Huk, Michael B. Sattler, Martina Lechner 24 Ich weiß nicht, was Rock'n'Roll wirklich ist und mir ist es auch egal. Das wichtigste ist, dass keine zwei Songs in „Hair“ gleich sind. Ich fühle mich nicht wie ein Rock n‘ Roll-Komponist. Ich habe in Afrika studiert, also halte ich mich für einen afrikanischen Komponisten und für einen karibischen Komponisten. Aber ich wüsste nicht, wie ich meinen Stil beschreiben sollte und Kategorien interessieren mich nicht. Galt MacDermot Rupert Markthaler und Ensemble Victor Hugo Barreto, Martina Lechner, Julian Culemann, Fabian Klatt, Marina Petkov 28 1968 Das, was von 68 bleibt, sind weniger sichere Antworten als Fragen, die sich heute immer wieder von Neuem stellen – ob es sich um die Dritte Welt, die Schwarzenfrage in den USA, die Zukunft des Bildungswesens in Europa oder die Notwendigkeit des zivilen Ungehorsams handelt (…). Was ebenso bleibt, und das ist vielleicht das Positivste, ist die Erinnerung an dieses unglaubliche Vertrauen, diesen Mut, sich zu erheben, der alles möglich machte. Nach den Augustaufständen in Chicago wurden Jerry Rubin und Abbie Hoffman, die Anführer der Hippie-Bewegung, vor die Kommission für antiamerikanische Aktivitäten zitiert. Rubin erschien mit einer Black-Panther-Mütze, indianischer Kriegsbemalung und einer gefüllten, mexikanischen Patronentasche um den nackten Oberkörper; Hoffman trug eine richterliche Robe. Als man ihm befahl, sie abzulegen, kam darunter die nächste Provokation zum Vorschein: Ein Polizeihemd. (…) Gerade diese zweifelhafte Energie trägt die Musik jener Zeit in sich. „When you got nothing / You got nothing to loose“, singt Dylan – und Janis Joplin, quasi als direkte Antwort darauf: „Freedom is just another word for nothing else to loose.“ Diese Parolen sind meilenweit weg von ideologischen Vorgaben – und doch am ehesten das, was diese Epoche für mich noch heute ausmacht. Und ich liebe diese ansteckende Begeisterung, diesen müßigen, lyrischen Schwung und diese Hoffnung am Rand des Selbstmords, die nur eins vom Leben erwartete: das Leben selbst. Julian Culemann Act One 31 The Year 1968. During a draft-lottery, birthdates are drawn from a lottery wheel. Whose birthdate comes up will have to go to war in Vietnam. Ronny rebells against these preparations for war by evoking the utopia of a peaceful age of Aquarius which has just begun. A trifle makes Sheila's, Claude's and Berger's relationship erupt in violence. Claude provokes Sheila even further by giving her ridiculous text-lines in his latest film-script. At the „Be-in“ many of the young men burn their draft-cards in protest. Claude doesn't. Hyperenergetic Berger breaks into a debutant's ball and calls for sexual freedom. He has just returned from Vietnam, having been expelled from the Army for taking too many drugs and being pansexual. That's when Hud rebells against the ongoing racist discrimination on the basis of skincolor. He joins the „tribe“. Act Two Claude (a wannabe film-maker), the activist Sheila and Berger engage in a hysteric menage a trois. Claude boastfully pretends to have English roots (opposed to having a Polish background as one of his mothers later says). With everybody striving for sexual autonomy, Woof discovers unexpected aspects of himself. They sing a hymn against consumerism. An activist for women's liberation, a true romantic and present on each and every demonstration – all that is Sheila. Whereas the creature climbing out of the sewer is Jeanie. She doesn't seem to mind that she does not know who is the father of her unborn child. But she does mind that Claude blows her off. He is facing one difficult decision in his life: should he – as many others do – burn his draft-card or should he follow the „call of duty“? A TV-show is getting out of control. Margaret Mead, a famous cultural anthropologist shows her sympathy with the hippies. They insinst on their right to be different. Members of the „tribe“ rebell against an old style entertainer. Claude returns from the physical examination. It is now clear that he will be drafted and sent to war. To losen the tension, Berger distributes drugs and sends Claude on a very special trip. Scenes of Claude's middle-class life clash with visions of him fighting in Vietnam. The trip turns into a complete nightmare. Claude tries to take a decision. Eventually, he will accept to be sent to Vietnam. He gives farewell-presents to his friends and spends one last night with them. While the tribe praises everything that can be done in a bed, Claude is already on the way to war. His presentiment will become real. Synopsis 30 32 Galt MacDermot / Gerome Ragni & James Rado Hair Originalbesetzung der Produktion von 2014: Musikalische Leitung Christoph Wohlleben Regie Sam Brown Bühne und Kostüme Annemarie Woods Choreografie Ashley Page Mitglieder des Staatsorchesters Darmstadt und Gäste Mit Berger Rupert Markthaler Sheila Nedime Ince Claude Julian Culemann Woof Manuel Dengler Hud Victor Hugo Barreto Jeannie Lisa Huk Crissy Martina Lechner Ein Mann Richard Wiedl Dionne Jane-Lynn Steinbrunn Ronny Elizabeth King Emeretta Amani Robinson Steve Michael B. Sattler Tribe Christopher Basile (Dance-Captain), Johanna Berger, Giulia Fabris, Gerrit Hericks, Fabian Klatt, Peter Knauder, Nicole Ollio, Marina Petkov, Marion Wulf Text und Bildnachweise Die Zusammenfassung der Handlung auf Seite 3 und ihre Übersetzung ins Englische auf Seite 28ff versah Berthold Schneider. Der Text auf den Seiten 7ff „Ein neues Zeitalter“ ist Scott Millers „Rebels with Applause: Broadway's Ground-Breaking Musicals“ ausschnitthaft entnommen. (Übersetzung: Joscha Schaback). Die Zitate auf der Umschlagseite sowie auf den Seiten 10 und 19 entstammen dem Textbuch des Gallissas-Verlages, in dem auch die deutschen Übersetzungen der (in Darmstadt auf Englisch gesungenen) Liedtexte abgedruckt sind. Das Interview auf den Seiten 12ff führte Joscha Schaback. Der Text auf Seite 18 stammt von Sam Brown. „1968“ ist ein Ausschnitt aus Marc Weitzmanns Artikel „Das Jahr, in dem Coca Cola den Kalten Krieg gewann“ aus dem Buch „1968. Ein Jahr, das die Welt bewegt. Magnum Photos“. Alle weiteren Textbeiträge sind von Joscha Schaback. „Vom Hairwuchs“ auf den Seiten 20ff basiert auf Informationen u. a. aus dem Artikel „HAIR and Its Imitators“ aus Elizabeth L. Wollmans Buch: „The Theater Will Rock: A History of the Rock Musical, from HAIR to HEDWIG“ sowie auf dem Artikel von James Rado auf der offiziellen Website des Musicals unter www.hairthemusical.com. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden gebeten, sich zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung zu melden. || Probenfotos: Sandra Then IMPRESSUM Spielzeit 2014|15, Programmheft Nr. 19 Herausgeber: Staatstheater Darmstadt Georg-Büchner-Platz 1, 64283 Darmstadt, Telefon 06 15 1 . 28 11-1 www.staatstheater-darmstadt.de Intendant: Karsten Wiegand Geschäftsführender Direktor: Jürgen Pelz Redaktion: Joscha Schaback Fotos: Sandra Then Gestalterisches Konzept: sweetwater | holst, Darmstadt Ausführung: Benjamin Franzki Herstellung: Drach Print Media, Darmstadt