Timm Beichelt Einführung in die Kulturwissenschaft Vorlesung, Wintersemester 2010/11 Sitzung: 4.1.2012 – Kultur als Bedeutungsgewebe (Clifford Geertz) Veranstaltungsplan 19.10. Einführungssitzung 26.10. Was ist Wissenschaft: das Prinzip 21.12. der problemorientierten Wissensvermehrung Was ist Kultur: Struktur vs. 4.1. Substanz vs. Interpretation Was ist Kulturwissenschaft: 11.1. Standbeine, Standpunkte, Standorte 2.11. 9.11. 16.11. 23.11. 30.11. 7.12. Die anthropologischen Prämissen sozialen Handelns: homo oeconomicus, homo socialis, homo culturalis Grundpositionen I: interpretative Kulturtheorien Grundpositionen II: (neo)strukturalistische Kulturtheorien Übung I: Anwendungsbeispiele 14.12. 18.1. Symbol und symbolische Formen (Ernst Cassirer) Sinnhorizonte und soziale Wirklichkeit(en) (Alfred Schütz) Kultur als Bedeutungsgewebe (Clifford Geertz) Politische Kultur als Aggregat von Werten und Einstellungen (Gabriel Almond / Sidney Verba) Kulturwissenschaft als Sozialwissenschaft + Kulturgeschichte 25.1. Kulturwissenschaft als Linguistik + Literaturwissenschaft 01.02. Übung II: Anwendungsbeispiele 08.02 Kulturwissenschaft als Beruf? Heutige Vorlesung I. Essays II. Anthropologie als kulturwissenschaftliche Disziplin III. Heutiger Text: Clifford Geertz IV. „Piraten“ und symbolisches Handeln Essays – Formale Anforderungen - Essays als kleine Hausarbeiten: - Deckblatt, Inhaltsangabe, evtl. Fußnoten, Literaturliste. - Bitte nach Möglichkeit zusammenheften und vorher lochen. Ein Einheften in Ordner/Schnellhefter/ Schutzfolien ist nicht nötig. aus: Reader zur Vorlesung Essays – weitere Anforderungen - Verfasserperspektive: externalisiert, Ausrichtung auf (imaginierte) wissenschaftliche Fachöffentlichkeit - Zentral: wissenschaftlicher Bezug/Kontext. Am besten schon in der Einleitung den roten Faden anlegen - Quellenarbeit bzw. Literaturliste/Fußnoten. Kriterien: - i.d.R. gut: zusätzlicher wiss. Text wird einbezogen - i.d.R. schlecht: zu viele (nicht wissenschaftliche) Internetquellen - Zusammenfassender Abschnitt: - Wichtigste Aspekte des zusammengefassten Texts - Wichtigster Zusammenhang im Kontext - Meistens schlecht: „Meiner Meinung nach...“ Bewertungsschema Essays Struktur Allgem. Aspekte Sehr gut Ausdrucksweise Qualität der kritischen Diskussion Umgang mit Quellen (Zahl der Quellen, adäquate Verwendung) Klare Gliederung des Essays Die Einleitung führt in das Thema und die Fragestellung des Essays ein und gibt einen Ausblick auf den folgenden Text Überzeugende, eigenständige Argumentation / argumentativer roter Faden Formale Aspekte Qualität des Schlussteils (der Synthese, des Ausblicks…) Korrekte Rechtschreibung Zitate, Fußnoten und Bibliographie sind korrekt eingefügt Gestaltung des Deckblatts und des Inhaltsverzeichnisses Gut / OK Befriedigend: Deutliche Mängel Stark verbesserungswürdig Heutige Vorlesung I. Essays II. Anthropologie als kulturwissenschaftliche Disziplin III. Clifford Geertz IV. „Piraten“ und symbolisches Handeln Anthropologie I - Disziplinäre Bezeichnungen: Volkskunde, Ethnologie, Kulturanthropologie, Kultur- und Sozialanthropologie - Wichtige Etappen: – Ruth Benedict: Patterns of Culture. Kulturen als dauerhafte soziale Muster – Bronislaw Malinowski: Eine Wissenschaftliche Theorie der Kultur. Kultur als funktionales Instrumentarium – Margaret Mead : Sex and Temperament in Three Primitive Societies. Konstruiertheit und Konstruierbarkeit von Geschlechterrollen – Clifford Geertz, Dichte Beschreibung Kultur als Bedeutungsgewebe – George Marcus / Michael Fischer: Anthropology as Cultural Critique Anwendung anthropologischer Erkenntnisse auf “eigene” Gesellschaften Anthropologie II Ausgewählte Themengebiete der Anthropologie • • Kollektive Identität(en), Ethnizität, Grenzen Macht und Hierarchie innerhalb von Gruppen und Gesellschaften • Rituale und Strukturen • Verwandtschaft, Familie, Gruppenzugehörigkeit • Geschlechter(rollen) und ihre konstruktiven Elemente Fremde, nahe und „eigene“ Gesellschaften und Kulturen (Kulturelle) „Praktiken“ als kleinster gemeinsamer Nenner Deutung und Interpretation als konstitutiver Bestandteil anthropologischer Analyse „Erklärend-verstehende Soziologie“ Situation Soziales Handeln Akteur „subjektiver Sinn“ Deutendes Verstehen „Ablauf“ Externe Effekte „Wirkungen“ Ursächliches Erklären Quelle: Esser, Hartmut, 31999: Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt: Campus, S. 6. „Anthropologischer Ausschnitt“ Situation Soziales Handeln Akteur „subjektiver Sinn“ Deutendes Verstehen „Ablauf“ Externe Effekte „Wirkungen“ Ursächliches Erklären Quelle: Esser, Hartmut, 31999: Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt: Campus, S. 6. Heutige Vorlesung I. Essays II. Anthropologie als kulturwissenschaftliche Disziplin III. Clifford Geertz IV. „Piraten“ und symbolisches Handeln Clifford Geertz • geb. 1926, US-amerikanischer Ethnologe, wichtigster Vertreter der interpretativen Ethnologie. Werke: • „The Religion of Java“ (1960) • „Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme“ (1973, deutsch 2002) • • Beobachtungsobjekt: dechiffrierbare kulturelle Praktiken durch Rituale, Gesten, Begriffe Kultur als • „selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe“; ständige Wandlungs- und Umdeutungsprozesse • „Codes“ und symbolischer Gehalt • „Text“ Geertz: Ritual und sozialer Wandel „Die These dieses Beitrags ist es, dass einer der Hauptgründe für die Unfähigkeit der funktionalistischen Theorie, dem Wandel Rechnung zu tragen, darin liegt, dass sie die gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse nicht gleichwertig behandelt. Fast immer wird eine der beiden Seiten ignoriert und zum bloßen Reflex, zum ‚Spiegelbild‘ der anderen degradiert. Entweder sieht man die ganze Kultur als Derivat der Formen der Sozialorganisation (…) oder man sieht die Formen der sozialen Organisation als behavioristische Verkörperung von kulturellen Mustern. (…) Unter diesen Umständen sind die dynamischen Elemente des sozialen Wandels, die daraus entstehen, dass kulturelle Muster nicht völlig mit den Formen der sozialen Organisation übereinstimmen, kaum formulierbar.“ Geertz, Clifford, 41995: Ritual und sozialer Wandel: ein javanisches Beispiel. In: Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt: Suhrkamp, S. 97-98. Geertz: Balinesischer Hahnenkampf „Eine Behandlung des Themas in dieser Weise verlangt nach einer neuen Metaphorik zur Beschreibung der eigenen Tätigkeit. Die Untersuchung der Kulturformen findet ihre Parallelen nicht mehr im Sezieren eines Organismus, im Diagnostizieren eines Symptoms, in der Dechiffrierung eines Codes oder im Anordnen eines Systems (…), sondern gleicht eher dem Durchdringen eines literarischen Textes. Betrachtet man den Hahnenkampf oder jede andere kollektiv getragene symbolische Struktur als ein Mittel, ‚etwas von etwas auszusagen‘, so sieht man sich nicht einem Problem der gesellschaftlichen Mechanik, sondern der gesellschaftlichen Semantik gegenüber.“ Geertz, Clifford, 41995: „Deep Play“: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf. In: Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt: Suhrkamp, S. 253. Nun zu: Dichte Beschreibung Situation: • Französische Besatzungsmacht in Nord-Marokko kann ‚primitives‘ Handelspakt-System nicht abschaffen • Konflikt eines angesiedelten Juden (Cohen) mit einem Berber-Stamm • Franzosen wollten Cohen nicht beschützen • Cohen holt sich ‚nach alter Sitte‘ sein Eigentum zurück (= er verbündet sich + die Berber leisten Schadenersatz) • Franzosen glauben, Cohen würde für Berber spionieren und stecken ihn ins Gefängnis • Nach der Freilassung: Französischer Oberkommandant („Colonel“) äußert, die ganze Angelegenheit sei nicht seine Sache. Geertz, Clifford, 41995: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie der Kultur. In: Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt: Suhrkamp, S. 1-43. Geertz: Systematische Begriffe a) b) c) d) e) „Dünne Beschreibung“ „Dichte Beschreibung“ Beobachten und interpretieren Grenzen des ethnographischen Ansatzes Potenzial des ethnographischen Ansatzes a) „dünne Beschreibung“ • • • • • Beobachtung von Verhalten, Transkription von Texten, Niederschrift von Genealogien, Protokolle von Aussagen von Informanten, Herstellung von logischen Beziehungen zwischen Tatsachen. Ethnographisches Handwerkszeug b) „dichte Beschreibung“ in Zitaten • „Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen“ (15), insbesondere: „Unterscheidung (...) ungleicher Interprationsrahmen [einer] Situation“ (15) • Kultur als interpretierbares öffentliches Dokument (16) • sich in den anderen „finden“ (20) • "Erweiterung des menschlichen Diskursuniversums" (20) • Kriterium für gute Ethnographie: inwieweit ihre „wissenschaftliche Imagination uns mit dem Leben von Fremden in Berührung zu verbringen mag“ • „Erforschung der informellen Logik des menschlichen Lebens“ (25) • „herausfinden, worum es eigentlich geht“ (26) • Bogen eines sozialen Diskurses nachzeichnen (28) b) „dichte Beschreibung“ in Anwendung Unterschiedliche Interpretationsrahmen: • Berber und eingesessene Bevölkerung insgesamt: Bereitschaft, problematische Konflikte innerhalb des althergebrachten Aushandlungssystems („Ar“) zu lösen • Franzosen: gehen von Überlegenheit moderner Handelsbeziehungen aus, müssen daher die Rationalität/ Funktionalität althergebrachter Praktiken der Berber leugnen/ ablehnen • Cohen: lotet die Gültigkeit der Referenzcodes gegeneinander aus Situation verweist auf: • • • Kollektive Identität(en) und/oder Ethnizität Macht und Hierarchie innerhalb von Gruppen und Gesellschaften Rituale und Strukturen c) Beobachten und Interpretieren • Beobachtungen erster, zweiter und dritter Ordnung (22-23) • Drei in der Praxis nicht trennbare Schritte: „beobachten, festhalten, analysieren“ • Vorgeschlagene alternative Herangehensweise (29-30): (a) Vermutungen über Bedeutungen anstellen (b) Bewertung der Vermutungen, (c) aus den „besseren“ Vermutungen erklärende Schlüsse ziehen die sich auf den/einen begrenzten Gegenstand beziehen • Merkmale der ethnographischen Beschreibung (30): (a) sie ist deutend (b) die Deutung bezieht sich auf den Ablauf eines sozialen Diskurses (c) Deuten heißt, einen sozialen Diskurs dem vergänglichen Augenblick zu entreißen d) Grenzen der ethnographischen Methode • Mikroskopische Perspektive; „ethnographische Miniaturen“, die für sich selbst und i.d.R. nicht für etwas anderes stehen (30) • „Hauptaufgabe“ besteht nicht in der Festschreibung abstrakter Regelmäßigkeiten, sondern in der Ermöglichung dichter Beschreibung (37) • „Untersuchung von Kultur ist ihrem Wesen nach unvollständig“ (41) • Hohe Anfechtbarkeit der Ergebnisse • Spannungsverhältnis zwischen zwei Ansprüchen blockiert „reine“, d.h. von konkreten Situationen unabhängige Kulturtheorie (35): a. Mikroskopisch ein fremdes Universum symbolischen Handelns durchdringen b. Theoriefortschritt durch über das Deuten eines vergänglichen Augenblicks hinausreichende Abstraktion e) Potenzial der ethnographischen Methode Erkenntnisfortschritt durch zwei Operationen (39-40) – Deutung von Handlungen / Ausdeutung von Diskursen bzw. Bedeutungsmustern – Entwicklung eines analytischen Begriffssystems, das „typische“ Eigenschaften von Bedeutungsstrukturen von untypischen trennen kann Es entsteht ein analytischer Text, der die untersuchte Kultur dicht beschreibt „Je tiefer die Untersuchung von Kultur geht, desto unvollständiger wird sie“ (41) Geertz: „Dilemma“. Reckwitz: kulturtheoretische Sackgasse Essay nächste Woche Geertz, Clifford, 1995: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur. In: Clifford Geertz (Hrsg.): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt: Suhrkamp, S. 7-43. Alternative 1: Fassen Sie den Text zusammen und diskutieren Sie ihn kritisch. ...vielen Dank für die Aufmerksamkeit !!