Christof Šubik Einverständnis, Verfremdung und Produktivität Versuche über die Philosophie Bertold Brechts Klagenfurter Beiträge zur Philosophie und Kulturwissenschaft Klagenfurt 1998 Subik Christof: Einverständnis, Verfremdung und Produktivität: Versuche über d. Philosophie Bertold Brechts / Christof Subik. Wien: Verlag d. Verb. d. Wiss. Ges. Österreich, 1982. (Klagenfurter Beiträge zur Philosophie), Wien 1995, Passagen Verlag, ISBN 3-85369-509-4 Inhaltsverzeichnis Vorwort P.S. nach 16 Jahren Einleitung Ein Philosoph neuen Typs Zwischenbemerkung und Einteilung Versuch 1: Einverständnis Anmerkung A) Schwierigkeiten beim Ja-Sagen B) Nietzsche bei Brecht 1. Steinaffe verlässt seinen Lehrer 2. Aussparung (Reinhold Grimms Funde) 3. Lichtzwang (zum Geistergespräch unter neuen Aufklärern) 4. Zwischenbemerkung und Zusammenfassung C) Die kleinste Größe (der Lehre vom Einverständnis zweiter Teil) Versuch 2: Verfremdung A) Der Krieg der Wörter mit den Kehlkopfschreien B) Der einzige Zuschauer für meine Stücke C) Ein besseres Denken D) Das Theater des wissenschaftlichen Zeitalters 1. Unfreiwilliger Exkurs in die Brechtforschung 2. Lauter Synonyme? 3. Lehrstücktheorie, Idealismusverdacht und Utopismus Versuch 3: Produktivität Produktivität - eine übergreifende Kategorie A) Du-Ochs-Sätze und Du-Schwein-Sätze B) Sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen 1. Faschismuskritik 2. Kopflanger und Weißwäscher (TUI-Kritik) C) Interruptus und Schluss Literaturverzeichnis A) Verwendete Brechtausgaben B) Sekundärliteratur zum Thema Philosophie Brechts C) Sammelwerke D) Sonstige für diese Arbeit verwendete bzw. zitierte Literatur Vorwort Die vorliegende Arbeit reicht in ihren Wurzeln in die frühen Siebzigerjahre zurück. Entstanden ist diese grenzgängerische Arbeit zwischen Philosophie, Literaturwissenschaft und Ästhetik aus einer damals bereits langjährigen Faszination durch Brecht. Es gab da eine intensive Beschätigung mit seinem Werk (gemeinsame Lesungen, Einstudieren von BrechtLiedern) in einem Freundeskreis, in welchem Brecht eine, wenn nicht die literarische und theoretische Vatergestalt darstellte. Durch unzählige Gespräche leistete besonders mein Freund und Studienkollege Robert Schindel, Schriftsteller in Wien, für dieses Buch direkte Geburtshelferdienste; ich möchte ihm hier danken. Erst nach dem Studium der Malerei aus Bedürfnis nach mehr Theorie zur Philosophie gestoßen, ging es mir damals darum, am Beispiel Brechts die Notwendigkeit von Philosophie für die heutige künstlerische Produktion nachzuweisen. Ich versuchte, einige im Werk Brechts sich durchhaltende Kategorien systematisch zu fassen. Von da her nannte ich die erste Version dieser Arbeit "Einverständnis und Produktivität, Studien zur Philosophie Bertolt Brechts." Der Terminus Verfremdung galt damals und gilt weiterhin in der Brechtforschung als der zentrale Begriff von Brechts Theatertheorie, der weitgehend technisch-praktisch, operational (V-Effekt) verstanden und interpretiert wird. Ich ließ ihn damals im Titel aus, um mich von Beschreibungen bloß der Theatertheorie Brechts abzugrenzen. Inzwischen halte ich ihn für unerlässlich für einen Systematisierungsversuch von Brechts philosophischer Theorie, die in Einheit mit und nicht im Gegensatz zur Theatertheorie gefasst werden muss. Zugleich erscheint mir der bescheidenere Untertitel "Versuche" in seiner Anlehnung an Brecht passender, um so mehr als ich hier tatsächlich den Versuch einer prinzipiellen Neubestimmung von Brechts Rolle als Philosoph unternehme. Dieser Versuch, Brecht nicht in erster Linie als Stückeschreiber, der auch philosophiert, sondern als Philosophen, der zum Zwecke seiner Philosophie Stücke schreibt, vorzustellen, war in der Dissertation von 1973 bereits angelegt, aber durch eine Unsicherheit, mein Zurückweichen vor den anerkannten Positionen der Brechtforschung, nicht deutlich genug artikuliert worden. Auch ein zweites Zurückweichen soll erwähnt werden. Schon damals war mir vage die Möglichkeit eines engen, womöglich weitgehenden Zusammenhangs zwischen Brecht und Nietzsche aufgegangen, doch zweifelte ich an der Möglichkeit, sogenannte stichhaltige Nachweise dafür erbringen zu können. Bald nach Abschluss meiner Dissertation annoncierte der Suhrkamp-Verlag die Veröffentlichung des schließlich erst 1979 erschienenen Bandes "Brecht und Nietzsche" von Reinhold Grimm und ich machte mich, dadurch bestätigt, weiter auf die Suche, nicht nur nach Belegstellen in Brechts Werk, die seine Auseinandersetzung mit Nietzsches Werk dokumentieren, sondern nach inhaltlichen Übereinstimmungen. Aus dieser Beschäftigung kam ich schließlich zur Grundthese, auf der die Arbeit nun aufbaut: Nur durch die Darstellung Brechts als Philosoph eines neuen Typs, den ich im weiteren näher bezeichnen werde, erscheint es mir möglich, die Intentionen von Brechts Arbeit umfassend und in ihrer Widersprüchlichkeit in den Blick zu bekommen und ihr vielleicht gerecht zu werden. Fixiert auf die Literatur, vom Blick nur auf den Stückeschreiber und Dichter her, sind nach den Bemühungen um die Sichtung der Nachlassmassen keine wesentlichen umwälzenden Neuerungen im Brechtbild mehr zu erwarten. Es ist in der Brechtforschung Mode, fast jede neue Veröffentlichung mit dem Anspruch zu verbinden, dass hier eine Lücke geschlossen werde, gewissermaßen a priori einen Bedarf zu postulieren, der durchs jeweilige Buch endlich gedeckt werde. Ich nehme diese Arbeit davon aus. Ich verspreche auch nicht, wesentlich Neues zum Stand der Brechtforschung beizutragen, wenn darunter das Ausgraben unbekannten Materials aus dem Brechtarchiv oder aus biographischen Quellen verstanden wird. Ich verweise lieber mit Dankbarkeit auf die Anregungen, die ich für meine Arbeit den jüngsten literaturwissenschaftlichen Arbeiten der Brechtforschung entnehmen konnte. Neben dem schon erwähnten Sammelband von Reinhold Grimm sind hier die "Brecht Handbücher: Theater und Lyrik, Prosa, Schriften" von Jan Knopf zu erwähnen, sowie der "Brecht Kommentar zur erzählenden Prosa" von Klaus-Detlef Müller. Auf andere Veröffentlichungen seit 1973, die für meine Arbeit wichtig wurden, werde ich im Verlauf der Arbeit näher eingehen. Die oben genannten Bücher stehen für einen neuen Standard in der Brechtforschung, weil hier jeweils mit eben so viel Klugheit wie Fleiß Material zusammengetragen wurde, dessen gesammeltes Vorliegen nicht allein Arbeit spart, sondern auch vielen Spekulationen, wie sie in der frühen Brechtforschung gang und gäbe waren, den Boden entzieht. Allerdings soll auch gleich eingangs einer philosophischen Arbeit über Brecht für die Spekulation ein gutes Wort eingelegt werden. In Zeiten eines faktenwütigen Positivismus auch und grade auch von Seiten von Forschern, die sich einem wie immer ausdifferenzierten historischem Materialismus verpflichtet erklären, wird vieles zur "bloßen Spekulation" erklärt, was auf dem Weg des Zusammenzählens von 1 und 1 erschlossen wurde, nur weil keine Briefstelle oder kein Notizzettel den Befund erhärtet. Wenn ich dennoch die Publikation dieser Arbeit nicht für überflüssig halte (abgesehen davon, dass sie die Liste meiner Veröffentlichungen verlängert), so einmal, weil der (neue) Ausgangspunkt, Brecht als Philosophen zu behandeln, sich vielleicht auch jenseits der Brechtforschung fruchtbar auswirken könnte, zum anderen, um dem Geschwätz von einer "Brechtmüdigkeit", dem interessierten Verbreiten der Losung "Brecht ist tot" entgegenzutreten. Hinter diesen Losungen steht das Interesse jener (und ihrer Nachfahren), die in den Fünfzigerjahren im Westen Brechtboykotte organisierten und ihn schon zu Lebzeiten totschweigen wollten, stehen im Osten diejenigen, die Brecht damals als Formalisten kritisierten und das "Erbe der bürgerlichen Kultur" einfuhren und denen heute Brecht zu marxistisch ist. Lasst die Toten ihre Toten begraben. An Brecht gibt es immer noch mehr zu entdecken als zu begraben. Klagenfurt, Februar 1982 P.S. nach 16 Jahren Ach wär’ das schön, auf das rege Publikumsinteresse sich ausreden zu können, um zu begründen, warum nach 16 Jahren das nahezu gleiche Buch noch einmal den Sprung in die Öffentlichkeit wagt; noch dazu nach solchen Jahren, in deren Mitte - 1989/90 - die Geschichte, wie Hegel 200 Jahre zuvor aus ähnlichem Anlass das nannte, einen Ruck gemacht hat - und wir dabei gewesen sind. Leider hat das Buch nicht so viele Leser gefunden, wie der Autor sich erhoffte - es erschien in nur geringer Auflage in der Schriftenreihe des Klagenfurter Instituts für Philosophie -, und innerhalb der Brechtforschung blies ihm der Wind ideologischer Koexistenz zwischen Frankfurt am Main und Berlin/Ost im Interesse der neuen Großen Frankfurter und Berliner Gesamtausgabe entgegen. Allein schon Brecht und Nietzsche in einem Atem zu nennen, löste "drüben" Irritationen aus, mehr noch die These von Nietzsche als lebenslangem Lehrer Brechts sowie seine Präsentation als marxistischer Häretiker mit, wenn man will, opportunistischen Stillhaltereflexen nach 1945. Und "hüben" ist Brecht nach der 68er Hausse in eine Baisse gerutscht, das war 1982 schon deutlich spürbar und auch ein marxistischer Häretiker noch war ein Marxist zu viel... Nur wenige Leser waren bereit, mein Buch wenigstens miss zu verstehen... Der Untergang des Kommunismus als staatlichem System in mehr oder weniger samtenen Revolutionen im strategischen Puffergebiet Ostmitteleuropas und wenig später im "Vaterland aller Werktätigen" Sowjetunion selber als Folge von Gorbatschows Glasnost und Perestroika hat auf paradoxe Weise die urmarxistische These vom Absterben des Staates durchgespielt, wenigstens ein paar Wochen lang; - das macht nicht nur etliche Auseinandersetzungen gegen die Vereinnahmung Brechts durch die DDR und ihre Ideologen in diesem Buch im Wortsinne gegenstandslos -, ein paar Polemiken hab ich den Lesern durch Streichung erspart, ein paar sind so in den Argumentationsgang verwoben, dass ich sie nostalgisch stehen gelassen hab’, sondern verlangte auch oder gerade in Bezug auf Brecht neue Fragestellungen: Was ist jetzt falsch von dem, was wir gesagt haben, einiges oder alles? ... Sind wir Übriggebliebene, herausgeschleudert aus dem lebendigen Fluss? Werden wir zurückbleiben, keinen mehr verstehend und von keinem verstanden? Müssen wir Glück haben?... (9/678 z.B.) aber z. B. auch die Frage nach den Beschädigungen der poetischen Substanz durch die Selbstverpflichtung zum politischen “Engagement". ...die Antworten habe ich jetzt nicht alle nachgeliefert. Ich habe das Buch im großen und ganzen als Dokument behandelt, dh. im Kern und in seiner Argumentation so gelassen wie es war, auch dort nur jener nötigen Lektorierung unterzogen, deren Fehlen den Rezensenten der Erstauflage ärgerlich aufgefallen war, wo sich meine eigenen Überzeugungen weiterentwickelt haben. Einerseits war es das neue Medium Internet, das mich zu diesem neuerlichen Kommunikationsversuch mit Lesern reizt, dann kam unerwarteter später Zuspruch von jenseits des großen Teichs, und bei erneuter Durchsicht die Einsicht, dass zumindest die didaktische Absicht, das Näherbringen eines weithin unbekannten Brecht in wie manche meinten, viel zu vielen Zitaten, "hält", und schließlich ist ein hundertster Geburtstag ein Anlass, seinen Kotau zu verrichten: Servus, Lakalles, Wir sind quitt, alter Bock. Raus aus dem Beinhaus! Einen heben! Ruhm ist nicht alles Man muss auch leben! (4/1453) Klagenfurt, im Februar 1998 Kritiken, Anregungen, Fragen an Christof Subik, Universität Klagenfurt Einleitung Ein Philosoph neuen Typs (Gebrauchsanweisung): "Was tun Sie", wurde Herr K. gefragt, "wenn Sie einen Menschen lieben?" "Ich mache einen Entwurf von ihm", sagte Herr K. "Und sorge, dass er ihm ähnlich wird." "Wer? Der Entwurf?" "Nein", sagte Herr K. "Der Mensch."(12/386. vgl. auch 12/468 und 20/168) These 1: Über Brecht bloß als Dichter und Stückeschreiber gibt es im wesentlichen nichts Neues mehr zu sagen. Sicher haben wir dadurch, dass endlich ein Großteil seiner Briefe zugänglich gemacht ist, über Brechts Beziehungen, literarische und theatralische Pläne und Vorhaben etc. noch mehr Details erfahren. Aber schon das [Arbeits]journal und die Tagebücher und Aufzeichnungen haben die Literaturwissenschaft nicht mehr sehr aufgeregt. Es wird jetzt in der Forschung solid gearbeitet und die Beschäftigung mit Brecht wird eine so nichtsnutzige wie verdienstvolle Kärrnerarbeit von fleißigen Ameisen, die sich an das Jahrhundertprojekt einer Kritischen Gesamtausgabe heranmachen, womöglich nach dem Vorbild einer Nationalausgabe wie der Weimarer- der anderen beiden deutschen Klassiker. These 2: Der Philosoph Brecht muss erst noch entdeckt werden. Dies wird hier als Grundthese aufgestellt und ich hoffe, sie im Verlauf der Arbeit begründen zu können, dass nämlich der eigentliche Impetus des Brechtschen Werks ein philosophischer ist und die Literatur bzw. das Theater Mittel des Philosophierens für Brecht darstellten und im ganzen genommen nicht Selbstzweck war. Man verstehe mich richtig: ich will nicht den Autor der theoretischen Schriften - die sich im übrigen ja zu einem Gutteil mit Theatertheorie, Literatur und Ästhetik beschäftigen - gegen den Stückeschreiber und Lyriker, Erzähler und Romancier ausspielen, aus Lust am Paradoxen und in der Absicht, durch Originalität aufzufallen. Ich schlage nur vor, die Aufmerksamkeit endlich einmal auf den Philosophen Brecht zu lenken und von da her eine neue Sichtweise auch für den Dichter und Stückeschreiber zu entwickeln, die auf vielleicht überraschende Art erlaubt, statt über Phasen und Brüche zu streiten, Brechts Werk in seiner Totalität vor Augen zu kriegen, (was nicht ausschließen soll, es als Steinbruch zu verwenden: jeder nehme sich was er braucht...) These 3: Brecht muss als Philosoph eines neuen Typs behandelt werden. Ich habe oben vorsichtig formuliert: dass Literatur- bzw. das Theater Mittel eines Philosophierens für Brecht darstellen, und es muss tatsächlich erst herausgefunden und präzisiert werden, von welcher Art des Philosophierens hier, d.h. bei Brecht, die Rede ist, denn es liegt auf der Hand, dass darunter etwas anderes verstanden werden muss als herkömmliche Schulphilosophie. Etwas so anderes, dass es der Brechtforschung lange nicht aufgefallen ist... Dass Brecht kein akademischer Philosoph, kein Systembauer, kein Erkenntnis- oder Wissenschaftstheoretiker war, bedarf keiner Erörterung. Dass er philosophische Interessen hatte, ist der Brechtforschung auch bisher nicht entgangen. (1) Als einer der ersten und (für mich) besonders fruchtbar hat sich Manfred Riedel in einem Aufsatz von 1971 darauf eingelassen, Brechts Verhältnis zur Philosophie näher zu untersuchen. (Vorher gab es die Kommentare von Walter Benjamin und einen Aufsatz von Ernst Bloch über Brecht: "Ein Leninist der Schaubühne", und natürlich wurde im Streit um den politischen Dichter Brecht schon hin und wieder Philosophisches behandelt (etwa von Hannah Arendt). Manfred Riedel hat in diesen Aufsatz (Brecht und die Philosophie) (2) auch versucht, den für Brecht spezifischen Begriff von Philosophie zu bestimmen. Er schrieb, "dass der dem Stückeschreiber Brecht eigene philosophische Gestus von einem Begriff von Philosophie getragen wird, der gegen dessen moderne Deformation gehalten das klassische Konzept des Weisen und der Weisheit zur Geltung bringt". Das ist eine diskutable These, die auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen sein wird. Riedel selbst vermeidet es, Brecht als Philosophen bis zu Ende ernst zu nehmen, indem er ihm "aus der Perspektive des Stückeschreibers gewonnene, originelle und treffende Einsichten" bescheinigt, ohne nach einem philosophischen Gesamtzusammenhang in Brechts Werk zu fragen. Dabei sieht er, "dass Brecht eine Problematik artikuliert hat, die heute im Zentrum philosophischer Auseinandersetzung steht" (Intellektuellenproblematik). Der Aufsatz ist auch, soweit ich sehe, für die philosophische Diskussion leider recht folgenlos geblieben. Manfred Riedel rehabilitierte inzwischen die praktische Philosophie (in umfangreichen Sammelbänden). Behalten wir jedoch seinen Vorschlag, Brechts Philosophie als am klassischen Konzept des Weisen und der Weisheit orientiert anzusehen, weiter im Auge. Das wäre, auf obige These bezogen, allerdings ein negativer Bescheid: Wäre also Brecht ein Philosoph nicht neuen, sondern vielmehr (sehr) alten Typs, eines Typs, der nur ein Vergessenheit geraten und von Brecht wieder aufgegriffen worden ist? Zwischenfrage 1: Was ist ein Philosoph neuen Typs? In der berühmten 11. These ad Feuerbach (man traut sich kaum noch, sie zu zitieren) sagt Karl Marx: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kämmt drauf an sie zu verändern." (3) Ein gewisser Herr K. könnte nun fragen: "Wen? Die Welt?" und Herrn Marx antworten lassen: "Nein. Die Philosophen. Oder besser noch: Beide!" Die marxistische Tradition hat diese (wohl kaum zufällige) Doppeldeutigkeit überlesen, sich auf die Weltveränderung gestürzt und die Philosophen gelassen wie sie waren. So sehen sie denn auch aus heutzutage (Wer nicht glaubt, dass Marx beides gemeint hat, soll nur ruhig einmal die dritte These nachlesen). (4) Der Weise, der Denkende, Herr Keuner, der Philosoph aus dem Messingkauf, Azdak, Me-ti (um nur einige zu nennen von Brechts Figuren) sind entstanden zu einer Zeit, wo Brecht bereits zum Marxismus übergegangen war, sich selbst als Marxist verstand; sein "das klassische Konzept des Weisen und der Weisheit zur Geltung bringen" (5) konnte wohl nicht einfach nur eine Rückkehr zu den alten Weisen bedeuten (um Missverständnisse zu vermeiden: das hat Manfred Riedel nicht unterstellt; er weist im einzelnen auch auf die neuen Züge von Brechts Weisen hin). Die Unmöglichkeit dieser Rückkehr hat Brecht an sehr prominenter Stelle, will sagen in einem der berühmtesten Gedichte formuliert: Ich wäre gerne auch weise. In den alten Büchern steht, was weise ist: Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit Ohne Furcht verbringen Auch ohne Gewalt auskommen Böses mit Gutem vergelten Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen Gilt für weise. Alles das kann ich nicht: Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! (9/723) Es ist für Brecht keine Frage der persönlichen Entscheidung, die Haltung eines Weisen einzunehmen, sondern eine Frage des historischen Bewusstseins, der Einsicht, die ihn von finsteren Zeiten sprechen lässt, die es unmöglich machen, auf die Art weise zu sein, wie es "in den alten Büchern steht". Der Weise im klassischen Sinn mag Vorbild sein für einen Philosophen neuen Typs, aber nur bedingt, hegelisch gesprochen als "aufgehobener". Vielleicht hilft es, Brecht selbst zu Wort kommen zu lassen zur vorläufigen Beantwortung unserer Zwischenfrage (schließlich kann ja nicht alles schon in der Einleitung restlos geklärt werden): Über die Art des Philosophierens. Habe ich das Stückeschreiben und Stückeaufführen zu einer Gepflogenheit des Philosophierens gemacht (sic!), ohne mich zu kümmern, was andere darunter verstehen mögen, so muss ich jetzt auch dieses Philosophieren in eigener Weise bestimmen, denn in unserer Zeit und seit lange schon bedeutet Philosophie etwas ganz bestimmtes, was ich gar nicht im Auge habe. Von Natur habe ich keine Fähigkeit für die Metaphysik; was alles man sich denken kann und wie sich die Begriffe miteinander vertragen, das sind für mich spanische Dörfer. So halte ich mich vornehmlich an die im niederen Volk umlaufende Art des Philosophierens, an das, was die Leute meinen, wenn sie sagen: "Geh zu dem da um einen Rat, er ist ein Philosoph" oder: "Der da hat wie ein echter Philosoph gehandelt." Und ich möchte hier nur eine Unterscheidung machen. Wenn das Volk einem eine philosophische Haltung zuschreibt, so ist es fast immer eine Fähigkeit des Aushaltens von was. Im Faustkampf unterscheidet man Kämpfer, die gut im Nehmen, und Kämpfer, die gut im Geben sind, d.h. Kämpfer, die viel aushalten und Kämpfer, die gut zuschlagen, und das Volk versteht unter Philosophen in diesem Sinne die Nehmer; was von seiner Lage kommt. Ich aber will im folgenden unter Philosophieren die Kunst des Nehmens und Gebens im Kampf verstehen, sonst aber, wie gesagt, mit dem Volk in dem, was Philosophieren bedeuten soll, in übereinstimmung bleiben. (15/252) Worum es geht bei dem Versuch, Brecht als einen Philosophen neuen Typs zu beschreiben, wie ich es hier vorschlage, hat Brecht schon ganz gut ausgearbeitet hinterlassen, aber so recht ernst nehmen hat’s noch niemand wollen. (6) Die Herausgeber der Werkausgabe haben mit ihren Editionsprinzipien nicht zum wenigsten dazu beigetragen, den Blick auf den Theoretiker Brecht zu verstellen - so durch die oft willkürliche Aufteilung von Texten auf die von ihnen gewählten Bandtitel. Sie stellen diesen Text innerhalb der Schriften zum Theater unter die Kapitelüberschrift: "Der Philosoph im Theater". (15/252) Halten wir also fest: Für Brecht ist Stückeschreiben und Stückeaufführen eine Gepflogenheit des Philosophierens. Das ist etwas neues. Hegel etwa hielt das Denken für die wichtigste Gepflogenheit des Philosophierens. Und wie er ausdrücklich verlangt hat, müssen einen beim Denken Hören und Sehen vergehen - von Anschauung und Vorstellung muss zum Begriff weitergegangen werden - und dessen Tätigkeit ist das Denken. (Es ist mir zu mühsam, jetzt das diesbezügliche Zitat in der Nürnberger Propädeutik - oder war’s in einer Gymnasialrede nachzuschlagen, aber so ungefähr stimmt’s.) Und ich hoffe, man versteht, was ich meine: hier ist ein Unterschied. Theater zu verwenden fürs Philosophieren ist erst nötig oder möglich, wenn’s dabei um mehr als bloß ums Denken geht (Kopfschütteln und unwilliges Gemurmel der Hegelianer: Denken enthält doch beides: ich und eine Tätigkeit, es ist dieser spontane Akt etc. etc.) sagen wir neutraler, wenn es nicht nur ums Denken geht, sondern auch um etwas anderes. Ja, um was? Das kommt von so langen Zitaten. Unbemerkt tauchen da die Begriffe auf, aus denen schön langsam, Schritt für Schritt die Theorie doch erst gebastelt werden soll: Von philosophischer Haltung war die Rede. These 4: Der Philosoph neuen Typs ist als Verhaltenslehrer zu bestimmen. Es ist also einfach ein Interesse an dem Verhalten der Menschen, eine Beurteilung ihrer Künste, durch die sie ihr Leben machen, also ein durchaus praktisches und auf das Nützliche gerichtetes Interesse und nur, soweit die Begriffe der akademischen und gelehrten Philosophie Griffe sind, an denen sich die Dinge drehen lassen, Dinge und nicht wieder Begriffe, können sie in diese Philosophie der Straße kommen, die eine Philosophie der Fingerzeige ist. Und wenn das Nützliche etwas Prosaisches haben sollte, so müssen wir das Prosaische mit neuen Augen ansehen und lieber auf das Poetische verzichten, als es ihm erlassen, nützlich zu sein. (15/253) Soweit Brecht selber. Dies Selbstzeugnis sei hier erst nur zu Protokoll genommen, gegen die, die mir unterstellen könnten, ich unterstellte Brecht bloß ein philosophisches Interesse solcher Art, in erster Linie sei er nun einmal Stückeschreiber und Dichter. Dagegen hilft es allerdings nur wenig, oft genug ist ja schließlich Brecht unterstellt worden, quasi hinter seinem Rücken und gegen sein marxistisches Überich hätte sich das dichterische immer wieder durchgesetzt und den Sieg über die ideologischen Ansprüche davongetragen (vgl. Martin Esslin, an allen möglichen Orten (7). Esslins These hat einer entpolitisierten Brechtrezeption im Westen den Boden bereitet und hält sich, trotz mannigfacher Erwiderungen in der Brechtforschung hartnäckig vor allem in Unterrichtsmaterialien: so kann Brecht "gefahrlos" als "reiner Dichter" konsumiert werden und der Philosoph taucht gar nicht auf. Das Philosophieren geschieht also nicht nur in einer bestimmten Haltung (etwa der des klassischen Weisen, der sich heraushält), sondern wird definiert als Interesse (DazwischenSein) am Verhalten der Menschen, der Beurteilung ihrer Künste, durch sie ihr Leben machen (Was für ein weiter Kunstbegriff, en passant bemerkt!), ein praktisches und nützliches Interesse wird betont. Vom Verändern menschlichen (bzw. unmenschlichen) Verhaltens und der Herstellung der Bedingungen für solche Veränderung ist vorläufig noch nicht die Rede: immerhin geht’s offensichtlich auch um Hinweise auf richtiges und falsches Verhalten in einer "Philosophie der Fingerzeige". Es geht auch ums Denken, um die Begriffe, aber mit der folgenschweren Einschränkung: soweit es (die Begriffe) Griffe sind, an denen sich die Dinge drehen und wenden lassen, wenn es Not tut, Dinge und nicht wieder Begriffe (solche plumpen Unterscheidungen, die außer acht lassen, dass ich, um von einem Ding zu reden, erst den Begriff des Dinges haben muss und so lange ich davon rede, nur den Begriff des Dinges verwende und nie das Ding selber, sind einem Philosophen so recht ein Greuel!) - aber Brecht will sie ja auch in eine Philosophie aufnehmen, die er selbst eine Philosophie der Straße nennt, die womöglich noch stolz darauf ist, solche feineren Distinktionen nicht zu kennen oder zu ignorieren. Brecht will kein Denken, das einem Hören und Sehen vergehen lässt - ein Beispiel (aus "Mutter Courage"): Der Feldprediger: "Gott hat mir die Gabe der Sprachgewalt verliehen. Ich predige, dass Ihnen Hören und Sehen vergeht." Mutter Courage: "Ich möcht gar nicht, dass mir Hören und Sehen vergeht. Was tu ich da?" (4/1406) Denken soll was mit Tun zu tun haben, es wird auf seine Brauchbarkeit, seine praktischen Folgen hin untersucht. Im Me-ti, Buch der Wendungen, dem, wenn man so will, philosophischen Hauptwerk von Brecht, wird der Zusammenhang mit der Praxis so definiert: "Denken ist etwas, was auf Schwierigkeiten folgt und dem Handeln vorausgeht." (12/443) Was Brecht hervorhebt, ist die organisierende Funktion, die dem Denken in der Praxis nicht von selbst zukommt, aber zukommen soll, wenn es fürs Handeln, für die Praxis von Belang sein soll. Eine Keunergeschichte fasst dies unter dem Titel "Organisation" zusammen: Herr K. sagte einmal: "Der Denkende benützt kein Licht zuviel, kein Stück Brot zuviel, keinen Gedanken zuviel! (12/375) Ein in solcher Art organisiertes Denken nennt Brecht an anderen Stellen auch "eingreifendes Denken". These 5: Der Philosoph neuen Typs ist ein eingreifend Denkender. In dieser Bestimmung ist die Differenz zum klassischen Weisen mit Händen zu greifen, um noch einmal mit Hegel zu reden, handelt es sich um die bestimmte Negation des alten Weisen. Statt "sich aus dem Streit der Welt halten" geht Brechts Begriff von Weisheit gerade darauf, eingreifend zu denken (es war ja schließlich kein Zufall, dass Brecht oben das Bild von Faustkämpfern für den Vergleich mit den Philosophen gewählt hat), d.h. aber auch nach einem jahrhundertelangen anderen Gebrauch des Denkens es nun so zu organisieren, dass es eingreifend wirksam werden kann. Zwischenfrage 2: Wie aber lässt sich der Zusammenhang von Denken und Handeln praktisch vermitteln? Die beiden letztgenannten Zitate sind nicht einfach Definitionen oder Feststellungen. Unschwer lässt sich ihr verborgener Postulatscharakter entziffern, ja ich konnte bei der Explikation nicht umhin, ihren Charakter als Sollensbestimmungen aufzudecken. Es sind bestenfalls vorweggenommene Resultate, Vorschläge für ein besseres Denken, denn auf Schritt und Tritt begegnet einem (besonders als Intellektuellem, d.h. unter seinesgleichen) ein Denken, welches, wenn es schon auf Schwierigkeiten folgt, noch lange nicht zum Handeln hinführt. These 6: Denken und Handeln werden durch Haltungen vermittelt. Der Satz scheint kryptisch. Die einfache These verbirgt metaphysische Spitzfindigkeiten. Die dunkle Behauptung bedarf einer Erläuterung: Alles, was ich mache, muss ich notgedrungen in einer gewissen Haltung tun. Sie muss mir nicht als Haltung bewusst sein, sie kann mir von Altvorderen überliefert, meiner Umgebung abgeschaut sein, sie kann so gründlich eingelernt worden sein, dass ich nichts mehr davon weiß, dass ich sie auswendig gelernt habe (z. B. die Körperhaltung), aber auf Haltungen kann man nicht verzichten. Es ist möglich, sie sich bewusst zu machen, und hier kommt das Denken ins Spiel, wenn man eine ungewohnte Haltung einnehmen will, muss man nachdenken und oft mühsam ihre Elemente ausfindig machen (Lernschritte isolieren), um sie sich anzueignen. Die alten indischen und chinesischen Philosophen hatten alle ihre strengen Rituale, in denen der Adept der Lehre zuerst Haltungen lernte (z. B. stundenlanges sich Nichtrühren: meditieren), bevor er für würdig befunden wurde, Inhalte der Lehre kennenzulernen. Tiefstes Misstrauen herrschte (übrigens zumindest bis Hegel) gegenüber Meinungen - also gegenüber isoliert von der dazugehörigen Haltung übermittelten Denkinhalten. Meinungen kann man leicht nachplappern, sie verpflichten zu nichts. Sie sind das bloß meinige, ohne allgemeinen Geltungsanspruch. Haltungen sind, wie ich anfangs zu zeigen versuchte, demgegenüber per se etwas allgemeines, zum Subjekt so selbstverständlich gehörig wie jenes "ich denke, dass alle Vorstellungen begleiten muss können", (8) oder vielleicht noch mehr, als bereits vor dem Ich vorhanden. Haltungen findet man auch bei solchen, bei denen es "bereits eine Unverschämtheit ist, wenn sie Ich sagen" (Adorno). (9) Aber ich greife vor. Adorno kommt später dran: im Kapitel TUI-Kritik. Haltungen entstehen nicht zufällig. Sie entstehen durch Gewohnheit und Lernprozesse, enthalten also eine Geschichte. Nur sehr einfache Haltungen (etwa Strammstehen) lassen sich anbefehlen oder abstellen (und selbst da muss exerziert werden). Hier hat vielleicht auch eine andere Keunergeschichte ihren Platz: Zu Herrn K. kam ein Philosophieprofessor und erzählte ihm von seiner Weisheit. Nach einer Weile sagte Herr K. zu ihm: "Du sitzt unbequem, du redet unbequem, du denkst unbequem." Der Philosophieprofessor wurde zornig und sagte: "Nicht über mich wollte ich etwas wissen, sondern über den Inhalt dessen, was ich sagte." "Es hat keinen Inhalt", sagte Herr K. "Ich sehe dich täppisch gehen und es ist kein Ziel, das du, während ich dich gehen sehe, erreichst. Du redest dunkel und es ist keine Helle, die du während des Redens schaffst. Sehend deine Haltung, interessiert mich dein Ziel nicht.". (12/375) Der Titel der Geschichte lautet, und das gibt wieder eine nähere Bestimmung des Philosophen neuen Typs: "Weise am Weisen ist die Haltung". Unter Philosophieren versteht Brecht also das Studieren, Beurteilen, Kritisieren und Verändern von Haltungen. Philosophie soll wieder Verhaltenslehre: Schule von Haltungen werden. Wie schon angedeutet, entstehen Haltungen oft als Gewohnheiten vor und unterhalb von rationalen Überlegungen, sie sind etwas materielles; körperliches (wie heißt es bei Nietzsche: der Leib ist eine große Vernunft!), an ihnen ist der Leib vorrangig beteiligt, ihre Veränderung bedarf nicht nur bewusster Einsicht, sondern praktischer Einübung. In der Kommunikation (im gesellschaftlichen Raum) erhalten sie ihre Konkretion und Verbindlichkeit. Um einen viel strapazierten Terminus von Habermas zu gebrauchen, bilden sie ein Grundmedium von Interaktion noch vor dem Sprechen (noch bevor einer das Maul auftut, wollte ich fast sagen). An ihnen erweist sich real, wie weit es her ist mit dem, was Hegel zur Voraussetzung seiner Philosophie machte, nämlich mit der Identität von Sein und Denken. An den Haltungen lässt sich konkret ablesen, wie weit sich bei einem der Kopf vom Leib getrennt hat, er auf dem Kopf steht oder auf den Füßen. (Es soll Leute geben, die es wundert, dass Leute, die auf dem Kopf stehen, leicht schwanken.) These 7: Der Philosoph neuen Typs greift ein in die Kämpfe der Klassen. Jetzt kommt die Gretchenfrage: Wie hältst du’s mit Brechts Marxismus? Ein bisher noch nicht erwähntes Hindernis, besser gesagt nur nebenbei erwähntes, aber nicht erörtertes Hindernis, Brecht als Philosophen deutlich vor Augen zu kriegen, stellt paradoxerweise sein Bekenntnis zum Marxismus dar. Da der Marxismus vorwiegend als Ideologie rezipiert wird und (leider) zumeist so auftritt, wird nach ideologischen Zuordnungsmustern verfahren. Wozu noch nach Brechts Philosophie lange fragen: er hat sich ja selbst nicht nur zum Marxismus, sondern sogar ausdrücklich zum Kommunismus bekannt (Lob des Kommunismus, Lob der Partei, Zeilen wie: - "und nur bei Karl Marx und Lenin stand, wie wir Arbeiter eine Zukunft haben", sogar Stalin wird gehuldigt: "Josef Stalin sprach von Hirse, /sprach von Dung und Dürrewind, /und des Sowjetvolkes großer Ernteleiter /nannt die Hirse ein verwildert Kind"; und Lenin - über ihn gibt’s etliche Gedichte - wird im Me-ti ausführlich und wortwörtlich zitiert). Für Literaturgrößen wie Torberg und Weigel (Hans bitt’ schön!) hörte sich da der Spaß auf. Brecht wurde in der BRD jahrelang, in Österreich fast jahrzehntelang boykottiert. In dieser Situation war es schon mutig, wenn jemand schüchtern zu behaupten wagte, dass Brecht doch auch ein großer Dichter sei, trotzdem. Auf der anderen Seite gab es die DDR-Forscher, die dem die These entgegenstellten: Brecht war ein großer Dichter, weil er Marxist war (sicher hat er lange gebraucht zu seiner Hinwendung zum Marxismus, bis er linksradikale und mechanisch-materialistische Eierschalen abgelegt hat, aber so zwischen 1934 und 1938 war’s dann so weit). Wo soll da Platz sein für die Frage nach der Philosophie von Brecht? Ich will hier nicht darüber rechten, ob Brecht zu einem Viertel, zur Hälfte oder fast ein ganzer Marxist war. Hier interessiert, was er damit und daraus machte. Auch den Streit um die jeweiligen Anteile verschiedener marxistischer Lehrer von Brecht (Karl Korsch, Fritz Sternberg, Asja Lacis, Sergej Tretjakow, Hanns Eisler etc.) will ich hier nicht wieder aufwärmen. Wichtig ist, dass Brecht, wie er einmal feststellte, auf "sozusagen kaltem Wege zu seiner marxistischen Einstellung gekommen ist." Argumente wirkten auf mich begeisternder als Appelle an mein Gefühlsleben, und Experimente beschwingten mich mehr als Erlebnisse. Dem Elend gegenüber reagierte ich als normaler Mensch mit Mitleid, aber wenn man mir sagte: Große Massen von Menschen hungern, dann fragte ich mich immerhin: Ist das nicht unvermeidlich? Über unvermeidliche Übel zu jammern schien mir nicht vernünftig. Bei dieser Einstellung war es klar, dass ich aufatmete, als mir Argumente dafür beigebracht wurden, dass dieses Hungern großer Menschenmassen vermeidlich ist, und als ich von Versuchen praktischer Art erfuhr, durch bestimmte Änderungen in der Art und Weise, wie die Menschheit das zum Leben Nötige beschafft, den Hunger aus der Welt zu schaffen, ich meine das große russische Beispiel. Ich begriff gern, dass es etwas Hinderliches, Unpraktisches in der Lebensweise der Völker gäbe, etwas Vermeidliches. (20/96) Der Marxismus hatte für Brecht nichts von einer Ersatzreligion im Stil der expressionistischen Oh-Mensch!-Dramatik, einer Heilslehre, sondern er zog ihn als mögliche Wissenschaft von gesellschaftlichen Zusammenhängen an. Aber in dem oben angedeuteten Sinn nennt Brecht im Me-ti Ka-meh (Karl Marx) und Mi-enleh (Lenin) die größten Verhaltenslehrer ihrer Zeit, obwohl man bei ihnen nur wenig Fingerzeige für das Verhalten des Einzelnen findet (12/547, 548, 562) Haltungen sind eben nichts bloß Individuelles - war er überzeugt - und gerade über die Haltungen von Massen bzw. Klassen von Menschen schienen sich mit den Methoden historischer Dialektik viel eher und viel genauer Erkenntnisse gewinnen zu lassen. (Man vergleiche etwa, was Marx über die Kapitalisten als Charaktermasken, als Funktionen des Kapitals im ersten Band seines Hauptwerkes ausfährt. (10) Brecht fasste also den Marxismus - die Lehren der Klassiker, wie er häufig umschreibend formuliert - operational auf. Er nahm den Vergleich mit der Naturwissenschaft, den Marx im Vorwort zum ersten Band verwendet, ziemlich wörtlich. (11) Er lernte bei ihnen (den Klassikern, wie er Marx, Engels und Lenin in Umfunktionierung des sonst Goethe und Schiller zugeschriebenen Terminus nennt) die Große Methode: die Dialektik. Wie die Methoden der Naturwissenschaften: Beobachtung und Experiment in die Natur einzugreifen ermöglichen, d.h. erlauben, Gesetzmäßigkeiten festzustellen und sie im Umgang mit der Natur nutzbar zu machen, so sollte die Dialektik als Methode ermöglichen, Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen durchsichtig zu machen, um es, das Zusammenleben zu verbessern. (vgl. 9/616: über induktive Liebe) These 8: Der Philosoph neuen Typs wendet die Große Methode an. Zuerst wollte ich lakonisch formulieren ... ist Dialektiker. Aber weil der gewöhnliche Gebrauch des Begriffs Dialektik ebenso viele Tücken hat wie die Sache selbst, die er bezeichnet, folge ich lieber Brecht und verwende die von Brecht eingeführte Umschreibung. Ganz glücklich bin ich mit dieser Formulierung aber auch nicht (weil nämlich "Dialektik anwenden" eine Trennung von Gegenstand und Methode suggeriert, die wiederum in die Irre führt). Aber für die Feststellung "Brecht ist Dialektiker" gilt ähnliches wie bereits in der letzten These zum Marxismus von Brecht bemerkt: entweder wird das Faktum nicht zur Kenntnis genommen (oder höchstens im Sinn von ‘na und?’) oder wiederum nur speziell auf die Theaterarbeit bezogen, ohne die sich für den Gesamtzusammenhang ergebenden Konsequenzen ins Auge zu fassen, die allerdings auf Brecht als Philosophen führen müssten. Jan Knopf hat in seinem "Kritischen Forschungsbericht, Fragwürdiges in der Brechtforschung" bereits darauf hingewiesen, dass viele Brechtforscher die Dialektik Brechts nur in der "Einheit von Theorie und Praxis" sahen, als eine zwischen den theoretischen Schriften und der praktischen Theaterarbeit. Dies, führt er aus "ist noch lange keine Dialektik, (sondern) ein weitverbreitetes Missverständnis, das besagt, wenn eine überzeugende Einheit (Identität) von Theorie und Praxis konstatierbar sei, sei Dialektik erfüllt." (12) Und nach einigem offensichtlich notwendigem Nachhilfeunterricht in Dialektik (aus Hegels Logik) fährt Knopf fort: "Wäre Brechts Theorie erst dann eine dialektische, wenn man sie mit der Theaterpraxis vermittelte und zeigte, dass sie ihr nicht widerspricht, dann wäre sie nicht dialektisch." Und dann wird’s boshaft (schon deshalb zitiere ich weiter): "Man wird auch in Zukunft Brechts Theorien ... untersuchen dürfen, ohne von Nicht-Dialektikern mangelnder Dialektik geziehen zu werden. Niemand schreibt vor, dass Brechts Werk grundsätzlich nur dialektisch untersucht werden dürfte; aber wenn sich die Brechtforschung immer wieder auf Dialektik beruft, sollte sie doch endlich ihre Grundlagen zur Kenntnis nehmen und die Schriften Hegels und Marx’ wenigstens in ihr Literaturverzeichnis aufnehmen." (13) Nach diesen vielleicht schon zu ausführlichen Präliminarien zurück zur Großen Methode. Ich habe diesen Sprachgebrauch Brechts einfach eine Umschreibung genannt, aber es ist natürlich mehr: zunächst einmal eine Verfremdung, ein V-Effekt, worüber ja noch ausführlich zu sprechen sein wird. Das heißt, der geläufige - ich will nicht sagen vertraute - Terminus wird umgangen, man kann dadurch einmal seine Verwendung als bloße Worthülse vermeiden, zugleich aber wird damit für die in ihrer heutigen Form relativ junge dialektische Methode (zur Zeit der Abfassung des Me-ti waren erst 100 Jahre seit Hegels und 50 Jahre seit Marxens Tod vergangen) gleichsam eine Tradition von Jahrtausenden in Anspruch genommen: Große Methode assoziiert die gleiche Selbstverständlichkeit wie der Begriff des TAO = Weg oder der große Weg in der chinesischen Philosophie. Die "Umschreibung" enthält ein Programm: nämlich den Werken Dauer zu verleihen aus der Überzeugung von ihrer Nützlichkeit. Am Vorbild, den Werken des chinesischen Philosophen Mo-ti, und ihrer oft verblüffenden Aktualität nach über 2000 Jahren, ließ sich gerade das lernen. Das ist, abgesehen von allem Artistischen, der wichtigste Zweck der Sinisierung, die Brecht hier vornimmt. Damit benützt Brecht eine andere Form der Autorisierung seiner eigenen Gedanken als die gängige des Zitierens bestimmter Stellen aus den Werken von Hegel und Marx, die einem oft die Lektüre marxistischer Schriften langweilig macht oder vergällt. Die Große Methode ist eine praktische Lehre der Bündnisse und der Auflösung der Bündnisse, der Ausnutzung der Veränderungen und der Abhängigkeit von den Veränderungen, der Bewerkstelligung der Veränderung und der Veränderung der Bewerksteller, der Trennung und Entstehung von Einheiten, der Unselbständigkeit der Gegensätze ohne einander, der Vereinbarkeit einander ausschließender Gegensätze. Die Große Methode ermäglicht, in den Dingen Prozesse zu erkennen und zu benutzen. Sie lehrt Fragen zu stellen, welche das Handeln ermöglichen. (12/475) Diese von Brecht nur versuchsweise angebotene Definition will nicht erschöpfend Dialektik definieren (und sie vermeidet Schematisierungen, wie sie die Engels’sche Zusammenfassung der Gesetze materialistischer Dialektik im "Anti-Dühring" bei seinen Nachfahren zur Folge hatte), sondern stellt bestimmte Grundzüge dialektischen Denkens so dar, dass darin zugleich die Geschichte der modernen Dialektik von Hegel bis Lenin zusammengefasst wird: er bringt sie auf den aktuellen Stand ihrer Entwicklung, und seine Definition ermöglicht, das eigene Verhalten zu dialektisieren. Mit einer solchen praktikablen Definition versucht Brecht zu verhindern, dass die Berufung auf die Dialektik bloß als Schibboleth verwendet wird, als Zauber- und Passwort zum beliebigen Gebrauch. Er wendet sich damit gegen solche Theoretiker, denen die Dialektik nur dazu taugt, nachträglich Erklärungen fürs Geschehene zu finden. Me-ti fragte: "Wird die Welt nicht schon dadurch verändert, dass sie erklärt wird?" Me-ti antwortete: "Nein. Die meisten Erklärungen stellen Rechtfertigungen dar."(12/549) Solche Dialektiktheoretiker hielt Brecht für ebenso unnütz und schädlich wie den Philosophieprofessor aus der schon weiter oben zitierten Keunergeschichte "Weise ist am Weisen die Haltung". Was dort allgemein festgestellt wird, gilt spezifischer noch für die Lehre der Klassiker. So findet sich in Me-ti ein Gegenstück zu dieser Keunergeschichte: Tu kam zu Me-ti und sagte: "Ich will am Kampf der Klassen teilnehmen. Lehre mich." Me-ti sagte: "Setz dich." tu setzte sich und fragte: "Wie soll ich kämpfen?" Me-ti lachte und sagte: "Sitzt du gut?" "Ich weiß nicht", sagte Tu erstaunt, "wie soll ich anders sitzen?" Me-ti erklärte es ihm. "Aber", sagte Tu ungeduldig, "ich bin nicht gekommen, sitzen zu lernen." "Ich weiß, du willst kämpfen lernen", sagte Me-ti geduldig, "aber dazu musst du gut sitzen, da wir jetzt eben sitzen und sitzend lernen wollen." Tu sagte: "Wenn man immer danach strebt, die bequemste Lage einzunehmen und aus dem Bestehenden das Beste herauszuholen, kurz, wenn man nach Genuss strebt, wie soll man da kämpfen?" Me-ti sagte: "Wenn man nicht nach Genuss strebt, nicht das Beste aus dem Bestehenden herausholen will und nicht die beste Lage einnehmen will, warum sollte man da kämpfen?"(12/576) Der Schüler kommt mit dem abstrakten Entschluss, kämpfen lernen zu wollen, zu Me-ti. Der Lehrer unterweist ihn indirekt. Er stellt nicht den Willen des Schülers in Frage, aber er zeigt ihm, dass es nicht allein darauf ankommt. Er lehrt ihn zuerst Geduld, dann, dass der Wille zu kämpfen ein Ziel braucht - kein hochgeistiges, sondern ein scheinbar ganz privates, egoistisches, das allein imstande ist, dem überindividuellen als Grundlage zu dienen. Der philosophische "Witz der Sache" ist, dass die traditionell epikureische Haltung (nach Genuss streben), die einst das Sich-Zurückziehen des Individuums aus den Angelegenheiten der Polis begründete, nun gewendet wird zur Voraussetzung fürs Eingreifen in die Kämpfe der Klassen. Dem Genießen, den niedrigen Genüssen hat schon der junge Brecht ausgiebig das Wort geredet, gegen alle Morallehrer, die von den Trieben loskommen wollen, - oder es zumindest von den anderen fordern: Nicht so faul, sonst gibt es nicht Genuss! Was man will, sagt Baal, ist, was man muss. Wenn ihr Kot macht, ist’s, sagt Baal, gebt acht Besser noch, als wenn ihr gar nichts macht. (14) Im "Choral vom Manne Baal", in dem das nach Genuss streben noch lange nicht mit dem Kampf der Klassen in Zusammenhang gebracht wird, spricht sich in der zweiten Zeile in nuce der gleiche Gedanke aus: Genießen wollen ist was ganz Egoistisches, es ist das, was den Willen zum Willen macht, weil man es tun muss. These 9: Der Philosoph neuen Typs hat eine niedrige Gesinnung - die Gesinnung der Niedrigen. Verjagt mit gutem Grund Ich bin aufgewachsen als Sohn Wohlhabender Leute. Meine Eltern haben mir Einen Kragen umgebunden und mich erzogen In den Gewohnheiten des Bedientwerdens Und unterrichtet in der Kunst des Befehlens. Aber Als ich erwachsen war und um mich sah Gefielen mit die Leute meiner Klasse nicht Nicht das Befehlen und nicht das Bedientwerden Und ich verließ meine Klasse und gesellte mich Zu den geringen Leuten. So Haben sie einen Verräter aufgezogen, ihn unterrichtet In ihren Diensten, und er Verrät sie dem Feind. (...) Sie haben mich verwarnt und mir weggenommen Was ich durch meine Arbeit verdiente. Und als ich mich nicht besserte Haben sie Jagd auf mich gemacht, aber Da waren Nur noch Schriften in meinem Haus, die ihre Anschläge Gegen das Volk aufdeckten. So Haben sie einen Steckbrief hinter mir hergesandt Der mich niedriger Gesinnung beschuldigt, das ist Die Gesinnung der Niedrigen (9/721) Brecht hat es immer abgelehnt, den Streit zwischen Idealismus und Materialismus als eine nur erkenntnistheoretische Frage zu behandeln, es war für ihn eine Klassenfrage: BEI DEN HOCHGESTELLTEN gilt das Reden vom Essen als niedrig. Das kommt: sie haben schon gegessen... (9/633) In den Flüchtlingsgesprächen machte er sich über die Tendenz lustig, den Materialismus als Idee zu behandeln und von den materiellen Genüssen abzutrennen: Die Deutschen haben eine schwache Begabung für den Materialismus. Wo sie ihn haben, machen sie sofort eine Idee draus. Ein Materialist ist dann einer, der glaubt, dass die Ideen von den materiellen Zu- ständen kommen und nicht umgekehrt, und weiter kommt die Materie nicht mehr vor. Man könnt glauben, es sind nur zwei Sorten von Leuten in Deutschland, Pfaffen und Pfaffengegner. Die Vertreter des Diesseits, hagere und bleiche Gestalten, die alle philosophischen Systeme kennen; die Vertreter des Jenseits, korpulente Herren, die alle Weinsorten kennen. (14/1393f.) Ich komme, je mehr die Thesen den "Philosophen eines neuen Typs" einzukreisen versuchen, immer mehr in Gefahr, nur mehr Brecht selbst zu Wort kommen zu lassen, und damit den Eindruck zu erwecken, ihn für das einzige Exemplar dieser Spezies zu halten. Diesen Eindruck möchte ich aber vermeiden, wohl aber das Exemplarische an Brecht dabei herausarbeiten, so etwa in die Richtung von "Schaffen wir zwei, drei, viele Brechts, will sagen, Philosophen neuen Typs", eingreifend Denkende, Verhaltenslehrer, Anwender der Großen Methode, die auch nach Genuss streben und ihrem Materialismus in ihrer Sinnlichkeit eine solide Basis geben. Materialist zu sein heißt so: die Welt von unten betrachten, aus der plebejischen Perspektive - und das wiederum hat mit Dialektik zu tun, wie schon Nietzsche bemerkt hat: Die Dialektik ist plebejisch ihrer Herkunft nach: der Fanatismus Platos der einer poetischen Natur für ihr Gegenstück. Zugleich merkt er als agonale Natur, dass hier ein Mittel zum Siege gegeben ist gegen alle Mitkämpfer, und dass die Fähigkeit selten ist. An der gleichen Stelle sagte Nietzsche über Sokrates, dass dieser im Verkehr mit Vornehmen immer merkt, "dass sie nicht sagen können warum (es gehört zur Vornehmheit, dass die Tugend ohne Warum? geübt wird -)." (15) Zur plebejischen Perspektive gehört also das Fragen nach Gründen: "Prüfe die Rechnung, du musst sie bezahlen. Lege den Finger auf jeden Posten, frage, wie kommt er hierher?"(9/463) Ebenso das Bestehen auf menschlichem Genuss (was auch das Tierische im Menschen nicht ausschließen darf): Freunde, wenn ihr euch mir verschreibt Und das könnte sich lohnen Wisst, dass ihr dann nicht geduldet bleibt Mehr in den höheren Regionen! Denn die Götter von Ruf und Stand Haben auf alle Fälle Mich kleinen dicken endgültig verbannt In die Schweineställe Wer meiner Weine gedenkend schmatzt Wer zum Bett ein Polster fordert Wer an bestimmten Stellen sich kratzt Wird aus der Stube der Guten beordert. Wen ein gelungener Hintern entzückt Was sind dem die frühesten Metten? Wer sich so tief zum Irdischen bückt Der ist schon nicht mehr zu retten. Schon ein Lächeln kann missliebig sein Ein Gelächter ist immer verdächtig! Wer nicht nach Sternen langt, ist ein Schwein Wer da lacht, der ist niederträchtig. Ich bin der Gott der Niedrigkeit Der Gaumen und der Hoden Denn das Glück liegt nun einmal, tut mich leid, Ziemlich niedrig am Boden. (16/639) (...) Ich bin der Glücksgott, Sammelnd um mich Ketzer Auf Glück bedacht in diesem Jammertal. Ein Agitator, Schmutzaufwirbler, Hetzer Und hiemit - macht die Tür zu - illegal. (10/894) Das sind zwar unsystematische Vorwegnahmen und nur so in den Raum gestellte Zitate aus den Liedern des Glücksgotts aber sie sollen fürs erste reichen. These 10: Der Philosoph neuen Typs übt "fröhliche Kritik". Der Titel "Die frühliche Kritik" findet sich als Untertitel in der Vierten Nacht des Messingkaufs, der im Stil der "Discorsi" des Galilei abgefassten vollständigsten Darstellung von Brechts Theatertheorie, vollständig in dem Sinn, dass in diesen Fragment gebliebenen Streitgesprächen die Frage nach der Theatertheorie, nach dem Theater eines wissenschaftlichen Zeitalters, hinausgetrieben werden zu versuchsweisen Definition dessen, was ich hier den Philosophen neuen Typs nenne; zur Bestimmung dessen, was Philosophie als aufgehobene sein kann, wie die Einheit von Theorie und Praxis sich innerhalb der Theorie auswirkt. (Das Kleine Organon von 1948, in der Form dem Neuen Organon des Francis Bacon verpflichtet, ist einerseits eine Zusammenfassung des Messingkaufs, aber wie im einzelnen zu zeigen wäre, auch eine Beschränkung seiner Thematik.) Die "Fröhliche Kritik" - hier wird der Anklang an Nietzsches Fröhliche Wissenschaft (la gaya scienzia) unüberhörbar (16) - ist bei Brecht der Titel, unter dem eine mögliche Synthese von Wissenschaft und Kunst, Denken und Emotion vorstellbar wird, in der die alten Gegensätze zwischen Traum und Wirklichkeit, Ahnen und Wissen ihre starre Gegensätzlichkeit verlieren und als Momente menschlicher Praxis - eines das andere kritisierend und damit befördernd vereinbar geworden sind. Wenn ich in dieser These von fröhlicher Kritik spreche, möchte ich für einen Moment die beiden Begriffe auseinanderreißen und getrennt betrachten. Sie passen nämlich genauso wenig fugenlos zusammen wie in Nietzsches Zusammenstellung mit der Wissenschaft. Kritik ist in unserem Alltagsverstand - man sehe sich nur Kritiker von Beruf an - keine fröhliche Angelegenheit, zumindest verbinden sich ebenso wie mit der Wissenschaft ernsthafte Ansprüche und Anliegen. Das Epiteton "fröhlich" soll also nicht verwechselt werden mit einer Milderung, bzw. mit einer weniger ernsthaften Kritik. (Wie schon Ziffel sagt: "Eine gute Sache können’s immer auch lustig ausdrücken", worauf Kalle antwortet, dass einmal einer bei der Feuerbestattung gesagt hat: "Die Bourgeoisie hat nichts zu verlieren außer ihr Geld!" 14/1442) Zu den Aufgaben des Philosophen neuen Typs gehört (schon seit Marx) die radikale Kritik des Bestehenden, insbesondere aber auch die Kritik an jenen Nachfolgern der alten Philosophen, die sich entweder noch immer als "reine Geister" gebärden, oder ganz offen und zynisch ihren Intellekt vermieten. Es handelt sich um radikale Ideologiekritik, oder wie Brecht einmal formuliert, Ideologie-Zertrümmerung. Dafür hat Brecht einen eigenen Ausdruck geprägt: er nennt die Intellektuellen unserer Zeit TUIs - Tellekt-Uell-Ins. Die Inversion des Wortes Intellektueller weist auf ihre Verrücktheit in der Zeit der Waren und Märkte, wo sie als Kopflanger (im Gegensatz zu Handlanger), Vermieter ihres Intellekts auftreten. Ihr Hauptmerkmal - und damit Gegensatz zum Philosophen neuen Typs - ist die Grundform ihres Verhaltens - das "folgenlose Denken". In der Auseinandersetzung mit dem Faschismus, in der Untersuchung der Ursachen seines Sieges, im Eingreifen in den Kampf gegen ihn, werden die Fragen gestellt nach der Verantwortlichkeit der Intellektuellen, die entweder mitmachen (als Gleichgeschaltete) oder zwar gegen die Barbarei des Faschismus auftreten, diese Herrschaft "der allerverlumptesten, korruptesten TUIs" (12/591) aber nicht als Konsequenz der Eigentumsverhältnisse begreifen; und zwar, weil sie immer noch an zerschlissenen idealistischen Vorstellungen von der Herrschaft des Geistes hängen und vorsätzlich die Augen davor schließen, wie sehr sie als parasitäre Komplizen der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse tätig sind. Zwischenfrage 3: Aber was ist jetzt mit der Kunst? Bis jetzt wurde der Philosoph eines neuen Typs beschrieben in einer Art, wie es auch irgendwo auf Brecht passt. Das ist nichts prinzipiell Neues: das ist der Philosoph auf dem Theater, wie er im Messingkauf vorkommt. Dass Brecht sich für Philosophie interessierte, wissen wir schon: aber was ist mit seiner Kunst? Er hat in Wirklichkeit keine philosophischen Bücher geschrieben wie Bloch oder Adorno etc. (oder nur nebenbei, die meisten blieben in der Schublade), einiges Theoretisches, um sein Theater zu erklären, aber hauptsächlich durch Stücke, Lyrik, Prosa, kurz: er war Dichter und Stückeschreiber und kein Philosoph. Die hier vorgebrachte These ist doch überhaupt nur haltbar, so lang man absieht von dem, was sowohl quantitativ wie qualitativ den Hauptteil seines Werkes ausmacht. Soll hier nur die Theorie gelten? Oder sind seine Stücke nur die zufällige Form einer davon ablösbaren Philosophie, der das eigentliche Interesse von Brecht gegolten haben soll? So viele Fragen. These 11: Der Philosoph neuen Typs ist ein eingreifend Handelnder Ich habe schon ausgeführt, dass ich den Typus, den ich hier vorstelle, nicht auf Brecht eingeschränkt wissen möchte, sonst hätte ich nur geschrieben: Der Philosoph neuen Typs ist ein Künstler. Aber, wenn vieles anders wird, die alte Philosophie der nur Betrachtenden nichts mehr taugt, müssen eben die Philosophen auch anders aussehen. Noch immer sind sie mit Denken beschäftigt, aber wenn unter Denken jetzt etwas anderes verstanden wird ("Das Denken scheint mir jetzt einfach eine Art Verhalten, und zwar ein gesellschaftliches Verhalten. An ihm nimmt der ganze Körper mit seinen Sinnen teil" 16/639), eine bestimmte Art von Verhalten, die auf ein Handeln bezogen ist, müssen die Philosophen auch noch mehr oder anderes tun als nur denken. Das muss nicht Kunstmachen sein, obwohl gerade DichterPhilosophen oder Künstler - Philosophen schon eine gewisse Tradition haben - denken wir an Renaissancemenschen wie Leonardo oder an Mathematiker und Philosophen wie Descartes und Pascal, oder etwa an Voltaire und seinem Candide, oder an des Enzyklopädisten Diderot Dialogromane. Und natürlich gehört dazu Nietzsche, damit wir endlich auch auf ihn zu sprechen kommen, den Altphilologen, der zur Philosophie wechselte und schließlich seine Philosophie nur mehr dichten konnte: im Zarathustra. Dies alles waren Philosophen und als Philosophen waren sie auch mit anderem beschäftigt als mit dem reinen Denken. Und endlich kommen wir zu "den Klassikern" Brechts, zu Karl Marx und Friedrich Engels, der eine Journalist, weil niemand seine nationalökonomischen Studien finanzierte, der andere ein Fabrikantensohn und Teilhaber einer Fabrik, der als Kapitalist seine eigene sozialistische Publizistik und seinen Freund unterstützte; zuletzt W. I. Lenin, Revolutionär, Politiker, Organisator und Staatsmann, und Mao Tsetung, der Autor von "Über den Widerspruch" und "Über den langwierigen Krieg", Guerilleraführer, Organisator einer Bauernarmee und Staatsmann: für sie gilt besonders dies, dass sie eingreifend Handelnde waren und dies als Philosophen. Nicht nur, wie Adorno behauptet, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt war (was sollte der sein: das Jüngste Gericht als proletarische Weltrevolution und das in einem Augenblick?), erhält Philosophie sich am Leben, (17) sondern in anderer Form - bzw. in verschiedenen anderen Formen, eben als aufgehobene existiert sie weiter. Zu den Formen des Weiterlebens von Philosophie gehören aber auch jene, in denen die Philosophie bescheiden wird, den Absolutheitsanspruch der idealistischen Systembauer als Mythos verwirft und neuerdings sich verdingt: statt als ancilla der Religion (wie so lange Zeit in der abendländischen Tradition) nun als Magd bei den Einzelwissenschaften, und nicht mehr sein will als eine Art Methodologie der Wissenschaft in verschiedenen Ausprägungen. Davon will ich hier vorerst absehen. Ich habe Beispiele von Philosophen neuen Typs genannt, bei denen besonders deutlich wird, dass ihr Denken hauptsächlich darauf gerichtet ist, in die Wirklichkeit einzugreifen - und die Frage ist, ob ein Künstler in diesem Sinne eingreifend genannt werden kann. In den Tagebuchaufzeichnungen Walter Benjamins über Gespräche mit Brecht im Jahre 1934 findet sich darüber eine bezeichnende Stelle: Brecht, im Lauf des gestrigen Gespräches: "Ich denke oft an ein Tribunal, vor dem ich vernommen werden würde. Wie ist das? Ist es Ihnen eigentlich ernst? Ich müsste dann anerkennen: ganz ernst ist es mir nicht. Ich denke ja auch zuviel an Artistisches, an das, was dem Theater zugute kommt, als dass es mir ganz ernst sein könnte. Aber wenn ich diese wichtige Frage verneint habe, so werde ich noch eine wichtigere Behauptung anschließen: dass mein Verhalten nämlich erlaubt ist." Erläutert wird dieser Zweifel durch die fiktive Vorstellung: "Konfuzius habe eine Tragödie oder Lenin habe einen Roman geschrieben. Man würde das als unstatthaft empfinden, als ein ihrer nicht würdiges Verhalten." (18) Ich werde auf dieses Gespräch noch zurückkommen, hier scheint mir nur wichtig festzuhalten, dass Brecht Zweifel daran hatte, ob das Produzieren von Kunst als eingreifendes Handeln sui generis gelten dürfe, dass er aber sein Verhalten: nämlich Kunst zu machen, für "erlaubt" hielt. Im Messingkauf hat Brecht, in einer über Franz Mehring vermittelten Definition in Anlehnung an Kant "Kunst als ein eigenes und ursprüngliches Vermögen der Menschheit" bezeichnet, "welches weder verhüllte Moral, noch verschönertes Wissen allein ist, sondern eine selbständige, die verschiedenen Disziplinen widerspruchsvoll repräsentierende Disziplin."(16/645) Man könnte auch anders formulieren, nämlich dass für Brecht Kunst eine "anthropologische Konstante" darstellt: Die Menschen können gar nicht anders, sie müssen Kunst ebenso produzieren wie die Lebensmittel, d.h. im Zusammenhang mit der Produktion und Reproduktion der Gattung findet immer auch Kunstproduktion statt. Diese Haltung, die an der Notwendigkeit von Kunst nicht zweifelt, hat Brecht schon früh eingenommen. Die nachhegelsche Diskussion über das "Ende der Kunst" war für Brecht eine Frage ihrer jeweiligen Form, ihr Fortbestehen stand für ihn außer Zweifel: Die Liebe, der Krieg, die Kunst usw. sind Faktoren menschlichen Verkehrs und als solche von anderen Faktoren der jeweiligen Gesellschaftsordnung abhängig. Diese Praktiken sind voneinander wesentlich sehr verschieden und verschieden ist die Art ihrer Abhängigkeit. (16/645) Und in einer Vorrede zu Mann ist Mann entgegnet Brecht Befürchtungen der Leute von links: Das Proletariat steht auf dem schreckenseinflößenden Standpunkt, Kunst sei schädlich, da sie die Massen vom Kampf ablenke. Aber sie hat die Bourgeoisie von deren Kampf auch nicht abgelenkt, keine Minute. Das ist geradezu ein Vorwurf, den man ihr als Proletarier machen kann. Sie hat die Bourgeoisie mitunter hingelenkt zu diesem Kampf. Es ist verständlich, aber nicht angenehm, dass das Proletariat jetzt der Kunst den Befehl zu erteilen wünscht, die Masse auf ihren Kampf hinzulenken. (19) Ausgehend von den Veränderungen des Philosophierens, wenn es als eingreifendes Denken und Verhalten verstanden wird, sind wir zur Kunst als einer Form menschlicher Praxis zurückgekehrt, die sich damit ebenso verändert: "Kunst ist nichts Individuelles, Kunst ist, sowohl was ihre Entstehung, als auch, was ihre Wirkung betrifft, etwas Kollektivistisches. Das Schlimmste, was durch eine solche Ansicht passieren könnte, wäre höchstens: dass ein ganzer Haufen bisher Kunst genannten Krempels von jetzt ab nicht mehr Kunst genannt würde. (15/65) So der junge Brecht, in seiner damals betont schnoddrigen, provozierenden Art. Weiser und zugleich umfassender formuliert den gleichen Sachverhalt ein Gedicht aus dem "Messingkauf": Über die kritische Haltung Die kritische Haltung Gilt vielen als nicht fruchtbar. Das kommt, weil sie im Staat Mit ihrer Kritik nichts erreichen können. Aber was da eine unfruchtbare Haltung ist Ist nur eine schwache Haltung. Durch bewaffnete Kritik Können Staaten zerschmettert werden. Die Regulierung eines Flusses Die Veredelung eines Obstbaumes Die Erziehung eines Menschen Der Umbau eines Staates Das sind Beispiele fruchtbarer Kritik Und es sind auch Beispiele von Kunst. (9/773) Zwischenbemerkung und Einteilung Ich hoffe, der Schluss der Einleitung wird nicht als Rückzug gedeutet, als Zurücknahme der vorneweg aufgestellten Behauptung, Brecht müsse als Philosoph verstanden werden; ich halte weiter dafür, dass dies die Voraussetzung bildet, ihn auch als Stückeschreiber und Dichter adäquat zu rezipieren. Wenn ich die Originalität meiner These in Anführungszeichen gesetzt habe, so auch deshalb, weil ich glaube, dass die besten Beiträge der Brechtforschung der letzen Jahre wenigstens implizit in die Richtung tendieren, die ich in meiner These nur zusammengefasst habe. So weist schon Reiner Steinweg darauf hin, dass "zu fordern wäre eine Darstellung, die die Dialektik bei Brecht als dialektisches Werden seiner Methode beschriebe und dabei selbst dialektisch vorginge, den dialektischen Zusammenhang zwischen dem Subjekt Brecht und seinem Objekt der jeweiligen historischen Gesellschaftswirklichkeit beschriebe, im Hinblick, auf die er eine äußerung zur Dialektik notiert hat und durch die allein sie ihre politische Relevanz und eigentliche ‘Bedeutung’ erhält." (20) Diesem anspruchsvollen Programm wird meine Arbeit sicher nicht gerecht, auch wenn ich das hier formulierte Programm weitgehend unterschreiben kann. Auch Heinz Brüggemanns "Literarische Technik und soziale Revolution", Versuche über das Verhältnis von Kunstproduktion, Marxismus und literarischer Tradition in den theoretischen Schriften Bertolt Brechts (21) thematisiert (wie gesagt, implizit) die Frage nach dem Philosophen Brecht, wenn auch in zweierlei Hinsicht eingeschränkt: einerseits in der ästhetischen, literaturtheoretischen Fragestellung, andererseits in der spezifisch auf den Marxismus Brechts, seine Stellung und Rolle innerhalb der marxistischen Diskussion allein ausgerichteten Untersuchung. Wenn Herbert Claas seine Studie: "Die politische Ästhetik Bertolt Brechts vom Baal zum Cäsar" (22) nennt, wird Brecht bereits als Philosoph angesprochen (Ästhetik als eine philosophische Disziplin). Claas lässt sich auf diese Streitfrage allerdings gar nicht ein: er bestimmt Brecht als literarischen Produzenten (wohl in Anlehnung an Benjamins Aufsatz "Der Autor als Produzent"). In der Definition von Politischer Ästhetik ganz am Anfang der Arbeit wird die Verschränkung von theoretischer und ästhetischer Produktion (auf die ich ja mit meiner These hinzuweisen versuche) in Erinnerung an Hegel als Grundbedingung ("der Gedanke und die Reflexion [habe] die schöne Kunst überflügelt") konstatiert: Tatsächlich ist der ästhetische Produktionsvorgang ohne theoretische Legitimation nicht mehr anzutreffen. Spätestens mit der bürgerlichen Aufklärung und Romantik haben wir es in der Literatur mit dem poeta doctus zu tun, dem Poeten, der als Wissenschaftler die Herkunft seiner Arbeitsmittel und die Beschaffenheit seines Arbeitsgegenstandes überprüft, mithin auch seine Imagination... "Nur wenige Autoren reflektieren die politische Bedeutung ihrer Produktion ähnlich kritisch wie Brecht und bezogen sie mit seiner Konsequenz in den historischen Prozess und seine möglichen Zwecke ein." (23) Dieser "theoretischen Legitimation" der künstlerischen Produktion Brechts geht auch Karl Heinz Ludwig in seinem Brechtbuch (24) nach, aber er begnügt sich mit "philosophischen Implikationen seiner Dramaturgie", statt diese als Medium seines Philosophierens zu begreifen. Die nun folgenden Versuche, die auf den in der Einleitung explizierten Thesen aufbauen, sind um die Kategorien Einverständnis, Verfremdung und Produktivität gruppiert. Diese Einteilung soll zunächst kurz erläutert werden. Ich habe schon darauf hingewiesen: Brecht war kein Systembauer, aber er verstand es, "seine Interessen auf lange Dauer zu ziehen" ("Dieses ist die Fähigkeit der Klassiker. Sie erzielt Plastik" (25). Und so lassen sich so wie Themen auch Kategorien nennen, die für lange Zeit jeweils den Fokus der Interessen Brechts bezeichnen, oder jedenfalls a posteriori als gemeinsamer Nenner für oft scheinbar disparate Beschäftigungen Brechts herangezogen werden können. Es mag noch mehrere solcher Kategorien geben, mir erscheinen die im Titel genannten als die zentralen. Der Sache nach bestimmt die Problematik des Einverständnisses das Jugendwerk von Brecht, lange bevor es im Titel eines Lehrstücks und damit explizit zum Gegenstand eines Versuchs wird. Aber es bleibt auch das Thema aller weiteren Lehrstücke; die Haltung des Ja-Sagens, des Einverständnisses wird getestet bis an die Grenzen der Brauchbarkeit, was nicht heißt, dass der Themenkreis damit erschöpft ist. Aufgehoben in umfassenderen Kategorien bleibt er der Sache nach präsent. Was nun nicht heißen soll, dass eine Kategorie rein begrifflich aus der vorhergehenden herauskommt... Verfremdung bleibt kein bloß technischer Terminus (wenn man eine einseitige, verkürzende Darstellung nur auf V-Effekt bezogen vermeidet) - es ist eine erst im Verlauf der praktischen Theaterarbeit gefundene, zentrale Kategorie, welcher die "Dialektisierung" der Kategorie des Einverständnisses vorhergeht, ohne dass sie aus ihr direkt hervorginge. Es gibt nur indirekte Verbindungen, auch wenn man den Gegenbegriff "Einfühlung" mitreflektiert. Daher wird im zweiten Versuch: Verfremdung, die Erörterung der Theatertheorie ihren Platz haben samt ihren philosophischen Implikationen. Zugleich wird hier die Wendung Brechts zum Marxismus thematisiert als parallel zur Ausformung des epischen Theaters wie im Versuch übers Einverständnis Brechts Beziehung zu Nietzsche. Wie zu zeigen sein wird, ist der Begriff des Einverständnisses ein negativer, oder, um es weniger paradox zu formulieren, es liegt ihm eine negative Bewertung des Individuums, seine Desillusionierung über seine Stellung in der Welt zugrunde. Demgegenüber wird im dritten Versuch: "Produktivität" eine Zielvorstellung formuliert, die aufs Individuelle bezogen auch Selbstverwirklichung heißen könnte. Diesem Begriff kommt sowohl bezogen aufs Individuum als auch hinsichtlich des Arbeitsbegriffs und der Ethik übergreifende Bedeutung zu; hier hat die Frage nach dem richtigen Leben, die Frage nach der "eudämonia" -“nach dem "unvertilgbaren Glücksverlangen der Menschen" ihren Ort, nicht ohne dass vorher die Abrechnung mit den TUIs, den Intellektuellen dieser Epoche, geleistet wurde. "Ideologie-Zertrümmerung" und radikale Kritik an den TUIs, die als Agenten der herrschenden Eigentumsverhältnisse der Befreiung allseitiger Produktivität im Wege stehen, sind selbst schon Formen der Freisetzung von Produktivität. Das Ganze ist dann beileibe kein System von Brechts Philosophie, vielleicht ein an einigen Stellen geglücktes Nachzeichen der Bewegung seines Philosophierens mit unter anderem künstlerischen Mitteln. Ich hoffe, dass es mir gelingt, einige "überzeugende Fragen" offenzulassen: "Ich habe bemerkt", sagte Herr K. "dass wir viele abschrecken von unserer Lehre dadurch, dass wir auf alles eine Antwort wissen. Könnten wir nicht im Interesse der Propaganda eine Liste der Fragen aufstellen, die uns ganz ungeklärt erscheinen?" (12/382) Anmerkungen 1. Im Literaturverzeichnis ist die Literatur zum Thema Brecht und die Philosophie gesondert ausgewiesen 2. Manfred Riedel. Brecht und die Philosophie. In: Neue Rundschau. 82. Jg. 1971. 1. Heft. S 65 ff. Ffm. 1971 3. Marx, Texte zu Methode und Praxis, Band II, Reinbek 1966, S. 192 4. Marx, a.a.O oder auch Ebenda, S. 190f. 5. Manfred Riedel. Brecht und die Philosophie. a. a. O. Seite 65ff. 6. Niemand - das ist eine meiner übertreibungen (siehe Anm. 3). Den Intentionen meiner Arbeit am nächsten kommt vielleicht Karl-Heinz Ludwig: Bertolt Brecht. Philosophische Grundlagen und Implikationen seiner Dramaturgie. Bonn: 1975. Wie der Untertitel schon zeigt, schreckt der Autor zuletzt davor zurück, Brecht als Philosophen ganz ernst zu nehmen. 7. Martin Esslin. Brecht. Das Paradox des politischen Dichters. 2. Aufl. München: 1972 8. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in Werke, hrsg. Von W.Weischedel, Wiesbaden, 1956, S. 136 9. Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Ffm. 1964. S. 57 10. Karl Marx, Friedrich Engels Werke (MEW), Band 23. S. 16. Berlin: 1962 11. MEW 23/12 12. Jan Knopf. Bertolt Brecht. Ein kritischer Forschungsbericht. Fragwürdiges in der Brechtforschung. Ffm. 1974. S. 43 13. Knopf/Forschungsbericht. S. 44 14. Bertolt Brecht. Baal. Der böse Baal der asoziale. Texte, Varianten, Materialien. Hrsg.: Dieter Schmidt. Ffm. 1969. S 12; in der Werkausgabe ist diese Strophe nicht enthalten, aber in den Anmerkungen S. 3+ abgedruckt. 15. Nietzsche's Werke (Förster-Nietzsche, Gast). Bd. XIII. S. 5. Aph. 7 16. Friedrich Nietzsche, Werke, Hrsg. von Karl Schlechta. 6. Aufl. München: 1969. Bd. II 17. Theodor W. Adorno. Negative Dialektik. Ffm. 1966. S 13 18. Walter Benjamin. Versuche ber Brecht. Hrsg. Rolf Tiedemann. Ffm. 1966. S 118 f 19. BBA. (Bertolt Brecht-Archiv), Mappe:: Schriften zur Philosophie und Wissenschaft II. Blatt 326/22; hier muss ich um Nachsicht bitten, dass ich die ursprüngliche Fundstelle angebe, ohne einen Abdruck in der Werkausgabe gefunden zu haben. 20. Reiner Steinweg. Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung. Stuttgart 1972. S. 112. 21. Heinz Brüggemann, Literarische Technik und soziale Revolution. Versuche über das Verhältnis von Kunstproduktion, Marxismus und literarischer Tradition in den theoretischen Schriften Bertolt Brechts. Hamburg 1973. 22. Herbert Claas. Die politische Ästhetik Bertolt Brechts vom Baal zum Cäsar. Ffm. 1977 23. Herbert Claas. Ebd. S. 10, 11 24. Karl-Heinz Ludwig. Bertolt Brecht. Philosophische Grundlagen und Implikationen seiner Dramaturgie. Bonn 1975 25. Bertolt Brecht. Tagebücher 1920 – 1922 und Autobiographische Aufzeichnungen 1920 - 1954. Hrsg. von Herta Ramthun. Ffm. 1975. S. 208 Versuch 1: Einverständnis Anmerkung: Ab 1930 publizierte Brecht seine Arbeiten - Stücke, Materialien und Anmerkungen, Gedichte, theoretische Schriften und erzählende Prosa - eine einer Reihe großformatiger Hefte, die er "Versuche" nannte: Die Publikation der Versuche erfolgt zu einem Zeitpunkt, wo gewisse Arbeiten nicht mehr so sehr individuelle Erlebnisse (Werkcharakter) haben sollen, sondern mehr auf die Benutzung (Umgestaltung) bestimmter Institute und Institutionen gerichtet sind (Experimentalcharakter haben) und zu dem Zweck, die einzelnen sehr verzweigten Unternehmungen kontinuierlich aus ihrem Zusammenhang zu erklären.(1) So schrieb Brecht im 1. Heft der "Versuche". Insofern Brecht bereits eine Institution darstellt, und im folgenden versucht wird, seine Unternehmungen aus ihrem Zusammenhang zu erklären, ist es vielleicht mehr als nur Koketterie, die einzelnen Teile der folgenden Arbeit Versuche im Brechtschen Sinn zu nennen, sowohl was ihre offene, unabgeschlossene Form betrifft, als auch im Hinblick auf ihren experimentellen Charakter. Lobet von Herzen das schlechte Gedächtnis des Himmels Und das er nicht Weiß euren Nam’ noch Gesicht Niemand weiß, dass ihr noch da seid. (8/260) Und wenn wirs überlegen Wir können nicht lang groß sein Der Wind kommt und der Regen Und machen uns eilig klein Elendiglich und klein Muß der Mensch dürfen sein. (8/159) Ich, der ich nichts mehr liebe Als die Unzufriedenheit mit dem Änderbaren Hasse auch nichts mehr als Die tiefe Unzufriedenheit mit dem Unveränderlichen. (8/376) Lobet die Kälte, die Finsternis und das Verderben! Schauet hinan: Es kommt nicht auf euch an und ihr könnt unbesorgt sterben. (8/216) Einverstanden sein, heißt auch: nicht einverstanden sein. (2) A) Schwierigkeiten beim Ja-Sagen Über die Schwierigkeit; Nein zu sagen, hat vor Jahren Klaus Heinrich Versuche angestellt, und ist dabei nicht zufällig auf die Figur des Herrn Keuner gestoßen.(3) Ja-Sagen, gilt im allgemeinen als leichtere Operation. Im Grunde aber ist eines nur die Kehrseite des anderen: "Einverstanden sein, heißt auch: nicht einverstanden sein." Die Schwierigkeit, mit der wir uns hier beschäftigen müssen, ist die Frage: Ja sagen wozu, zu welchen Inhalten? Die vorangestellten Motti verweisen schon implizit darauf, dass hier von verschiedenen Einverständnissen die Rede ist. Selbst Jan Knopf, der, wie ich schon dankbar angemerkt habe, in mir geradezu unheimlicher Weise in seinem "Brecht-Handbuch, Theater", Material zusammengetragen hat, schreibt, wo der Terminus bei ihm zuerst auftaucht (im Zusammenhang mit dem Bild vom Rad der Fortuna im Leben Eduard des Zweiten): "Dieses Prinzip, das Brechts Thema vom "Einverständnis" fortsetzt, einverstanden zu sein mit dem, was ist, um es dann verändern zu können... (4) Knopf schreibt hier schon von einer Fortsetzung der Thematik in Brechts viertem Stück, denn sie ist von Anfang an da. In einer Notiz von 1938 resümiert Brecht das Thema des Baal: "Baal der Provokatör,, der Verehrer der Dinge wie sie sind, der Sichausleber und der Andereausleber. Sein "Mach, was dir Spaß macht!" gäbe viel her, richtig behandelt.(5) Der Verehrer der Dinge, wie sie sind, ist bereits einer, der einverstanden ist mit dem, was ist, hier wird einer vorgeführt, der ja sagt zu sich, zur Welt, zu den Dingen, zur Natur und daran zugrunde geht. Das Einverständnis ist hier in dieser ersten Schicht, ein Einverstandensein mit dem Chaos, dem Aufhören aller bisherigen Wertsetzungen. Im Mai 1920 notiert Brecht: "Es werden Werte gefragt: Ich habe den Sinn für Werte, Erbteil vom Vater her. Aber ich habe auch Empfindung dafür, dass man vom Begriff Wert ganz absehen kann. (6) Baal sagt Ja zu sich ("hingegeben seinen Trieben ein Glücklicher" 7/2870) und damit zugleich fällt er seiner Schwerkraft folgend aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang. Baal ist "asozial, aber in einer asozialen Gesellschaft." (17/947) In seinem Vorwort: "bei Durchsicht meiner ersten Stücke" von 1954 schreibt Brecht über Baal: Sie werden darin kaum etwas anderes als die Verherrlichung nackter Ichsucht erblicken. Jedoch setzt sich hier ein ’Ich’ gegen die Zumutungen und Entmutigungen einer Welt, die nicht eine ausnutzbare, sondern nur eine ausbeutbare Produktivität anerkennt. Es ist nicht zu sagen, wie Baal sich zu einer Verwertung seiner Talente stellen würde: er wehrt sich gegen ihre Verwurstung. (17/947) Aber mit diesem Resümee Brechts greife ich schon zu weit vor. Beschäftigen wird uns noch mit dem Begriff Einverständnis selbst. Einverständnis ist eine Art Zustimmung, und zwar eine schon bestimmte: Es hat der Verstand, die Ratio mit zu tun: Ein-Verständnis. Man hat etwas verstanden, also ist man einverstanden. Es ist nicht nur eine vage Billigung, sondern ein bewusstes Ja-Sagen oder ein Herstellen des Einverständnisses: in der Bewegung der Zustimmung lerne ich etwas, lerne ich verstehen und mich verstehen. Es stößt hier schon ein Gegenbegriff auf, der im 2. Versuch noch näher durchleuchtet werden muss: der der Ein-Fühlung: eine übers Gefühl hergestellte Identifikation, bekanntlich die von Brecht bekämpfte Identifikation des Zuschauers mit dem Geschehen auf der Bühne im von Brecht sogenannten artistotelischen Theater. Die Einfühlung ist ein passives Mitgerissenwerden, bei dem der Verstand ausgeschaltet wird, und das den sich Einfühlenden passiv belässt. Einverständnis ist dagegen aktives Tun. Schon der umgangssprachliche Gebrauch, auf einen Vorschlag zu antworten: Na klar, einverstanden! ist mehr als eine bloße Bejahung, auch mehr als nur die Einsicht in einen Sachverhalt, im Sich-Einverstanden-Erklären kommt als aktives Element dazu: die Bereitschaft, mitzumachen, etwas zu tun, was aus der Einsicht folgt. Und in diesem Tun ist auch die Verneinung mitgesetzt: Einverstanden sein heißt auch: nicht einverstanden sein. Bei solchen Sätzen steigen den Formallogikern die Grausbirnen auf, d.h. der Verstoß gegen den Satz vom Widerspruch. Aber da kann man nix machen, das spricht nur gegen eine Logik, die das nicht aushält. Dieser Satz ist nur die "Brechtisierung", die Umfunktionierung des Satzes von Spinoza, dass jede Definition eine Negation sei, den Hegel mit Recht als die Grundlage der modernen Dialektik ansieht. Die Negativität in diesem ersten absoluten Einverständnis, das ein Ja-Sagen zu sich selbst ist, liegt darin, dass es auf das Einverständnis der anderen (mit sich oder untereinander) keine Rücksicht nimmt, über sie hinweggeht, so in Gegensatz und Widerspruch gerät und daran zugrunde geht. Er steht allerdings auch erst am Ende von Brechts Versuchen über das Einverständnis, nicht am Anfang, wo die Widersprüchlichkeiten, die es impliziert, noch ausgesprochen bleiben oder nur angedeutet formuliert werden, und daher auch alle möglichen Missverständnisse auslösen konnten. Eines davon ist die Subsumierung des Jugendwerks von Brecht unter den Begriff Nihilismus (so der Untertitel von P. P. Schwarz’ Untersuchung über die Lyrik des jungen Brecht: Nihilismus als Werkzusammenhang der frühen Lyrik Brechts. (7) Dabei kann man sich auf so eindeutige Zeugnisse berufen, wie auf das Gedicht "Der Nachgeborene". Ich gestehe es: Ich Habe keine Hoffnung. Die Blinden reden von einem Ausweg. Ich Sehe. Wenn die Irrtümer verbraucht sind Sitzt als letzter Gesellschafter Uns das Nichts gegenüber. (8/99) Hoffnungslosigkeit, Besingen des Vergehens (Vom ertrunkenen Mädchen 8/252), Verklärung des Zugrundegehens (Ballade von Mazeppa 8/233), Einswerden mit der Natur (Vom Klettern in Bäumen 8/209) - diese Motive werden herangezogen, um Brecht in die Tradition des europäischen Nihilismus zu stellen, den Nietzsche prognostiziert und manchmal hat man den Eindruck, die Autoren meinen, auch produziert hatte. Hier fällt das Stichwort Nietzsche im Kontext der Erläuterung des Begriffs Einverständnis, aber diese Erörterung soll noch einmal aufgeschoben werden. Soviel nur: Es ist daran zu erinnern, dass Nietzsche sich nicht als Nihilist sondern als Überwinder des Nihilismus verstand, als der, der den lebensverneinenden Werten des Christentums das große Ja-Sagen in der Idee der ewigen Wiederkehr entgegenstellte. Daran knüpft Brecht an. Man darf nur nicht in Illusionen verhaftet bleiben. Es ist eine Sache der Redlichkeit, sich nichts vorzumachen, dem Nichts nicht auszuweichen, sondern sich im zu stellen. Aber das heißt beileibe nicht, sich womöglich zu seinem Anwalt zu machen Nochmals zurück zu dem Gedicht "Der Nachgeborene". Später hat Brecht beabsichtigt, ein solches "Nichts" als Gesellschafter auf die Bühne zu bringen (in einem Fragment: Aus Nichts wird Nichts": Der Denkende: Besonders gefiel mir, dass dein Nichts doch ein Mensch war, ein ganz bestimmtes Wesen mit Sonderzügen, eine besondere, einmalige Form des Nichts. Es war nicht ganz qualitätslos sozusagen, nur von einem gesellschaftlichen Standpunkt aus war es ein Nichts. Der Schauspieler: Und gerade von der Gesellschaft her wollte er etwas werden!" (7/2958) Das heißt, in diesem Versuch aus der Zeit der späten Lehrstücke wird das frühe - oder doch nicht ganz so frühe Gedicht beim Wort genommen. Es ist hier auch an das viel spätere Gedicht "Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus" zu erinnern, wo die Jünger den Meister fragen, ob sein Nirwana ein gutes, freundliches Nichts sei oder einfach ein Nichts, leer, kalt und bedeutungslos. Und der Meister antwortet: Keine Antwort auf eure Frage, denen aber, die nicht fragten, das Gleichnis erzählt vom brennenden Haus mit der Lehre: Wirklich, Freunde, Wem der Boden noch nicht so heiß ist, dass er ihn lieber Mit jedem andern vertausche, als dass er da bliebe, dem Habe ich nichts zu sagen. (9/664) Das Nichts, das übrigbleibt, wenn die Irrtümer verbraucht sind, ist ein Durchgangsstadium, wieder ein Ausgangspunkt. Aber außerdem: wann sind die Irrtümer verbraucht? Ich erinnere wieder an eine Keunergeschichte: Mühsal der Besten "Woran arbeiten Sie?", wurde Herr K. gefragt. Herr K. antwortete: "Ich habe viel Mühe, ich bereite meinen nächsten Irrtum vor." (12/377) Gerade in der Gedichtzeile, die vom "Verbrauchen der Irrtümer" spricht, ist auch vom Einverständnis die Rede. (wenn die Irrtümer verbraucht sind/ sitzt als letzter Gesellschafter uns/ das Nichts gegenüber.) Nur der Einverstandene, d.h., wer seine Lage erkannt, verstanden hat, kann überhaupt erkennen, dass er sich geirrt hat. Die Nicht-Einsichtigen, die Blinden sind auch die Nicht-Einverstandenen, die sich an ihre einmal erworbenen Ansichten wie an eine Habe klammern und nicht bereit oder fähig sind, darin Irrtümer zu erkennen, ihre Ansichten, als die Irrtümer, die sie notwendig sind, zu durchschauen. Brecht hat die scheinbar so endgültig klingende Schlusszeile, wie gesagt, zu einem neuen Anfang gemacht, zu einer Voraussetzung einer nun nicht mehr unmittelbaren, sondern vermittelten Individualität: Es war niemand. Wie sichtete man ihn? Indem man ihn beschäftigte Indem man ihn anruft, entsteht er. Wenn man ihn verändert, gibt es ihn. Wem er nützlich ist, der vergrößert ihn. (2/608) Denn die Irrtümer, die da verbraucht wurden, sind die Vorstellungen vom unendlichen Wert des Individuums, von der Persönlichkeit, vom Glanz des bürgerlichen Subjekts. Es ist hier zu erinnern: Hatte nicht schon die bürgerliche Philosophie auf ihrem Höhepunkt, bei Hegel, dem Ich die Kraft der absoluten Negativität zugesprochen, den Weg des erscheinenden Bewusstsein als einen notwendigen Gang durch Irrtümer beschrieben, als Weg des Zweifels, der ein Weg der Verzweiflung ist? Brecht hat diese Bewegung konkretisiert, in den Kontext der kapitalistischen Wirklichkeit am Ende des zweiten Jahrtausends, in die Zeiten des Einzugs der Menschheit in die großen Städte transportiert: Lasst eure Träume fahren, dass man mit euch Eine Ausnahme machen wird. Was eure Mutter euch sagte Das war unverbindlich. Lass euren Kontrakt in der Tasche Er wird hier nicht eingehalten. Lasst nur eure Hoffnungen fahren Dass ihr zu Präsidenten ausersehen seid Aber legt euch ordentlich ins Zeug Ihr müsst euch ganz anders zusammennehmen Dass man euch in der Küche duldet. (8/275) So heißt es ganz nüchtern im "Lesebuch für Städtebewohner", in einem Gedicht, das wie die Antwort klingt auf die "Ballade von den Abenteuern" aus der "Hauspostille" mit den Zeilen: Hat er seine ganze Jugend, nur nicht ihre Träume vergessen Er aber sucht noch in absinthenen Meeren Immer ein Land, wo es besser zu leben ist. (8/215) Das ist auch ein verbrauchter Irrtum, das Ja-Sagen zur Natur, ohne Dach, nur den Himmel über sich. Am Ende des "Dickichts" heißt es: "Das Chaos ist aufgebraucht. Es war die beste Zeit". (1/193) Angesichts der Asphaltstädte versiegt auch die romantische Hoffnung auf eine Fluchtmöglichkeit im Land, wo es besser zu leben ist (in "Dickicht" hieß es: TAHITI, auch der Stadt MAHAGONNY haftet etwas davon an), das Romantische daran ist nicht der Traum von dem Land, wo es besser zu leben ist, sondern die Hoffnung, es irgendwo fertig vorfinden zu können. Solche Hoffnung ist nur mehr bei Kindern noch legitim (vgl.10/833, Kinderkreuzzug 1939). Aber damit verweise ich auch bereits wieder auf einen Nullpunkt als Durchgangspunkt. Er muss durchschritten worden sein als Vorbedingung, den Kampf hier und jetzt aufzunehmen. Wir haben gesehen: das Einverständnis des Baal - von Brecht rückblickend als Verherrlichung nackter Ichsucht definiert, prallt mit dem Einverständnis der Gesellschaft, ihren Normen, Gesetzen und Tabus zusammen. Der Sich- und Andere-Ausleber Baal behält als letzten Außenhalt seines Einverständnisses ein Einswerdenwollen mit der Natur - das aber nur im eigenen Untergang, im Sterben im Wald sich erfüllt. Auch der Antiheld des zweiten Stückes von Brecht, der heimkehrende Soldat Kragler im Spartacusdrama "Trommeln in der Nacht"(1/69ff.) ist auf der gleichen Ebene "einverstanden" wie Baal: als Asozialer in einer asozialen Welt. In "Bei Durchsicht meiner ersten Stücke" schreibt Brecht: "Die Auflehnung gegen eine zu verwerfende literarische Konvention führte hier beinahe zur Verwerfung einer großen sozialen Auflehnung." (17/945) Für Kragler (und hier kann die Zustimmung des Stückeschreibers nicht nur geahnt werden) ist die Aufforderung, an der Revolution, an den Kämpfen im Zeitungsviertel teilzunehmen, auf einer Ebene mit den Durchhalteparolen im Weltkrieg. Gerade die Ernüchterung, die der Soldat aus dem Krieg mitbringt, lässt ihn sich "für das große, weiße Bett" mit der "beschädigten Braut" entscheiden - für die "schäbigste Lösung", wie Brecht bekennt. (17/945) Was Brecht im späten Rückblick unterschlägt, ist die Tatsache, dass dieses "auf den Kopf stellen" aller herkömmlichen dramaturgischen Gepflogenheiten nicht nur einer literarischen Rebellion des jungen Autors entsprang, sondern ebenso einer Berechnung: "das Stück sollte Geld einbringen", es war also in seiner Schockwirkung zugleich auf ein Bürgertum zugeschnitten, das "noch einmal davongekommen war." In "Im Dickicht der Städte", Brechts drittem Stück, sollte "ein Kampf an sich", ein Kampf ohne andere Ursache als dem Spaß am Kampf, mit keinem anderen Ziel als der Festlegung des "besseren Mannes" ausgefochten werden. Die Verbindung, die Brecht, wieder im Rückblick, zu seiner Begeisterung für den Boxsport herstellt, ist einer seiner Kunstgriffe, die durch eine kleine Zeitverschiebung mehr verdecken, als erhellen (das heißt einer Urfassung Motive unterstellen, die erst bei einer weiteren Bearbeitung auftauchen). Was Brecht "eine merkwürdige historische Vorstellung" nannte, "eine Menschheitsgeschichte in Vorgängen massenhafter Art von bestimmter, eben historischer Bedeutung, eine Geschichte immer anderer, neuer Verhaltensarten, die da und dort auf dem Planeten gesichtet werden konnten"(17/849) hat sehr deutlich mit dem "Willen zur Macht" Nietzsches zu tun, der eben nicht ein Wille zur Machtergreifung, sondern ein Prinzip der Kraftentfaltung, unabhängig von dem, was bisher Wille genannt wurde, auch "freier Wille", sich abspielt. Brecht formuliert offensichtlich bewusst vage, gibt aber in diesem Zusammenhang auch einen Hinweis auf Nietzsche: "Ich schrieb das Stück größtenteils im Freien, im Gehen."(17/950) Die Grundidee Brechts war, von Kiplinglektüre inspiriert, die Poesie der Großen Städte zu schreiben, indem die Großstadt als der Dschungel begriffen wurde, den der Dichter des britischen Imperialismus noch in Indien fand. Das unerbittliche Gesetz des Dschungels: das Recht des Stärkeren, wie es Mogli, das Wolfskind, gelehrt bekommt, herrscht offensichtlich auch in den Zusammenballungen der Menschheit am Ausgang des 2. Jahrtausends. Es wird noch nicht als ökonomisches Gesetz der Konkurrenz durchschaut, aber es geht Brecht um die Frage: was diese Stärke eigentlich ist (sie kann auch wie Schwäche, Nachgeben aussehen) wie und wodurch einer der Stärkere wird. Dadurch kommt es zu Brechts quasi nachtwandlerischen Streifen an die wirklichen Kämpfe und ihre materiellen Ursachen. Am Ende entpuppte sich tatsächlich der Kampf den Kämpfern als pures Schattenboxen; sie konnten auch als Feinde nicht zusammenkommen. (17/949) Shlink, der den Kampf eröffnet, führt eine ganze Reihe von Haltungen vor, die später in den Lehrstücken als Stufen des Einverständnisses vorgeführt werden: 1. Sich die kleinste Größe geben (vgl. auch "Die zwei Hergaben"12/405) 2. Die Anonymität ("verwisch die Spuren"8/267) 3. Sterben lernen (sich aufgeben... 2/587) Sie erweisen sich als nur bedingt wirksam, denn obwohl sie zuerst als Verunsicherung des "zufällig" gewählten Gegners wirken, stellt dieser, "Garga", sich bald ein, wird er ein ebenso konsequenter "Ja-Sager". Aber er lernt nur für sich, sie kommen sich als Kämpfende nicht näher: jeder einverstanden mit sich ohne gemeinsame Basis. Shlink: Die unendliche Vereinzelung des Menschen macht eine Feindschaft zum unerreichbaren Ziel. Aber auch mit den Tieren ist eine Verständigung nicht möglich. ... Die Liebe, Wärme und Körpernähe, ist unsere einzige Gnade in der Finsternis! Aber die Vereinigung der Organe ist die einzige, sie überbrückt nicht die Entzweiung der Sprache. Dennoch vereinigen sie sich, Wesen zu erzeugen, die ihnen in ihrer trostlosen Vereinzelung beistehen möchten. Und die Generationen blicken sich kalt in die Augen. Wenn ihr ein Schiff vollstopft mit Menschenleibern, dass es birst, es wird eine solche Einsamkeit in ihm sein, dass sie alle gefrieren. Hören sie denn zu, Garga" Ja, so groß die Vereinzelung, dass es nicht einmal einen Kampf gibt...(1/187) Während Brecht später selbstkritisch notiert. "Dämmerhaft zeichnet sich eine Erkenntnis ab: dass die Kampfeslust im Spätkapitalismus nur noch eine wilde Verzerrung der Lust am Wettkampf ist. Die Dialektik des Stücks ist rein idealistischer Art."(17/949), können doch noch zwei andere Schlüsse gezogen werden: 1. Über die idealistische Versuchsanordnung und die Mittel der Sprachkritik (darüber mehr im 2. Versuch) gelingt Brecht wie absichtslos die Entfremdungsproblematik zu formulieren, berührt er mehr intuitiv als bewusst forschend auch ihren sozialen Hintergrund, ihre Ursachen in der Herrschaft des Privateigentums. Von da her konnte Brecht sagen: Als ich das Kapital las, verstand ich meine Stücke...(15/129) 2. konkretisierten sich die Differenzen zu Nietzsche in Brechts Versuch, ein Stück eigentlich über den "Willen zur Macht" zu schreiben. Im Zusammenhang mit der Arbeit am "Dickicht" notiert Brecht in seinem Tagebuch: Ich denke, dass es von einem dramatischen Dichter vielleicht nichts Unsittlicheres gibt als eine gewisse Schamlosigkeit in bezug auf die gewisse Schwäche des Menschengeschlechts, mit einem Herdentrieb geboren zu sein, ohne die zur Bildung einer Herde erforderlichen Eigenschaften aufzuweisen. Fast alle bürgerlichen Institutionen, fast die ganze Moral, beinahe die gesamte christliche Legende gründen sich auf die Angst des Menschen, allein zu sein, und ziehen seine Aufmerksamkeit von seiner unsäglichen Verlassenheit auf dem Planeten, seiner winzigen Bedeutung und kaum wahrnehmbaren Verwurzelung ab... Wehe aber dem Dramatiker, der auf die Voraussetzung sein Augenmerk lenken wollte!" (8) Genau dies tut aber Brecht, darin mit Nietzsche übereinstimmend. Erst im "offenen Schluss, dem Ende des Kampfes aus der Unmöglichkeit des Kampfes" wird die Differenz zu Nietzsche deutlich. Wie sagt Brecht: "Ich hatte meine Ansichten zum Ausgeben, nicht zum Behalten". Im Resümee Gargas: "Das Chaos ist aufgebraucht. Es war die beste Zeit", nimmt Brecht auch von einem Teil seiner Anschauungen Abschied. Aber ich greife vor Das Lustspiel "Mann ist Mann" wächst aus einem Entwurf, den Brecht schon vor der Arbeit im "Dickicht" begonnen hatte. Der Vorwurf des Galgei hat etwas Barbarisches an sich. Es ist die Vision vom Fleischklotz, der maßlos wuchert, der, nur weil ihm der Mittelpunkt fehlt, jede Veränderung aushält, wie Wasser in jede Form fließt. Der barbarische und schamlose Triumph des sinnlosen Lebens, das in jede Richtung wuchert, jede Form benutzt, keinen Vorbehalt macht noch duldet. Hier lebt der Esel, der gewillt ist, als Schwein weiterzuleben. Die Frage: Lebt er denn? Er wird gelebt. (15/57) Wieder ein dramatischer Vorwurf, wie er von Nietzsche stammen könnte. Könnte? Zur Beruhigung des Skeptikers. "Ich weiß durchaus nicht, was ich tue! Ich weiß durchaus nicht, was ich tun soll!" - du hast recht, aber zweifle nicht daran: du wirst getan! In jedem Augenblick! Die Menschheit hat zu allen Zeiten das Aktivum und das Passivum verwechselt. Es ist ihr ewiger grammatikalischer Schnitzer. So Friedrich Nietzsche in der "Morgenröte". (9) Es ist nützlich, den frühen Entwurf im Gedächtnis zu behalten bei der Analyse des Lustspiels von 1925. Im "Mann ist Mann" wird das Thema des Einverständnisses erstmals explizit gemacht. Der Held des Stücks, der Packer Galy Gay, wird vorgestellt als ein Mann, der nicht Nein sagen kann, dem der Mittelpunkt eines eigenen Willens fehlt. Die Figur des wuchernden Fleischklotzes ist verkümmert (aber es ist immer noch, wie seine Frau sagt: "ein Elefant, der das schwerfälligste Tier der Tierwelt ist, aber er läuft wie ein Güterzug, wenn er ins Laufen kommt," ... aber "er hat ein weiches Gemüt." (1/299) Seine Identität ist eine irgendwie verkümmerte. Ich habe an anderer Stelle(10) zu zeigen versucht, dass der Titel des Stücks nicht zufällig die Form des logischen Satzes der Identität hat, dass es Brecht darauf ankommt, in einer logischen Untersuchung und beileibe nicht psychologisierend die Frage der Identität zu untersuchen. Dem Stück merkt man die um diese Zeit begonnenen ernsthaften philosophischen Studien Brechts an. Schon hier: er muss es genau wissen. Es sind vor allem Studien über die Zweifelslehre des Descartes und ein Studium der Dialektik Hegels. Einerseits wird der heraklitische Fluss der Dinge besungen, aber es wird schon die Hegelsche Logik angewendet: die dramatische Entwicklung deckt sich verblüffend mit der Entwicklung der Reflexionsbestimmungen im 2. Band der Logik. Ob Brecht zu dieser Zeit schon die Marxismusstudien aufgenommen hat, weiß ich nicht. Aber wenn der Schauplatz auch nur ein wieder durch Kipling angeregtes Theaterindien ist, so ist diese Wahl genial. Marx schreibt im Kapitel über die sogenannte ursprüngliche Akkumulation, zuerst einen W. Howitt zitierend: "Die Barbareien und ruchlosen Greueltaten der sogenannten christlichen Rassen, in jeder Region der Welt und gegen jedes Volk, das sie unterjochen konnten, finden keine Parallele in irgendeiner Ära der Weltgeschichte..." dazu Marx: "Man muss dieses Zeug im Detail studieren, um zu sehen, wozu der Bourgeois sich selbst und den Arbeiter macht, wo er die Welt ungeniert nach seinem Bild modeln kann." (11) Dies ist für Brecht der geeignete Schauplatz für eine Untersuchung, in der es um die totale Manipulierbarkeit des Individuums geht. Das Programm dieses Versuchs über die Entbehrlichkeit, bzw. Verwendbarkeit des einzelnen Individuums wird in der Rede Jesses an die Witwe Begbick präzisiert und begründet: "Ich sage Ihnen, Witwe Begbick, von einem weiteren Gesichtspunkt aus ist, was hier vorgeht, ein historisches Ereignis. Denn was geschieht hier? Die Persönlichkeit wird unter die Lupe genommen, dem Charakterkopf wird nähergetreten. Es wird durchgegriffen. Die Technik greift ein. Am Schraubstock und am laufenden Band ist der große Mensch und der kleine Mensch, schon der Statur nach betrachtet, gleich. Die Persönlichkeit! Schon die alten Assyrier, Witwe Begbick, stellten die Persönlichkeit dar als einen Baum, der sich entfaltet. So, entfaltet! Dann wird er eben wieder zugefaltet, Witwe Begbick. Was sagt Kopernikus? Was dreht sich? Die Erde dreht sich. Die Erde, also der Mensch. Nach Kopernikus. Also, dass der Mensch nicht in der Mitte steht. Jetzt schaun Sie sich das einmal an. Das soll in der Mitte stehn? Historisch ist das. Die moderne Wissenschaft hat nachgewiesen, dass alles relativ ist. Was heißt das? Der Tisch, die Bank, das Wasser, der Schuhlöffel, alles relativ. Sie, Witwe Begbick, ich ... relativ. Sehen Sie mir in die Augen, Witwe Begbick, ein historischer Augenblick. Der Mensch steht in der Mitte, aber nur relativ." (1/340 f.) Zwei Argumente werden gleichzeitig und gleichrangig ins Treffen geführt als Begründung für das Die- Persönlichkeit-Unter-Die-Lupe-Nehmen, dem Charakterkopf nähertreten: Das erste ist die Technik, die große Industrie und ihre Bedingungen, die wirksamer ist als jede juridische Festschreibung, die Gleichheit dekretiert: als Gleichmachung, "Gleichschaltung", wie der bezeichnende Ausdruck der Faschisten lauten wird, die Angleichung des Arbeiters als bloßes Anhängsel an ein objektiv gewordenes Arbeitsmittel, das jede seiner Bewegungen bestimmt. Als zweites Argument dient der Standpunkt des Relativismus aus naturwissenschaftlicher Argumentation, der in den Erkenntnissen Einsteins nur die Konsequenzen aus den Entdeckungen des Kopernikus, die die Erde aus dem Zentrum rückten, erkennt, und die relative Bedeutung des Individuums an diesem Beispiel erhellt. Dieses zwanglose Nebeneinander von zwei Begründungsstrategien, sie werden nicht vermittelt, kommt von Brechts Haltung, Ansichten nicht zu behalten, sondern auszugeben, d.h. experimentell zu schauen, was sie hergeben. Daher auch ihr hypothetischer Einsatz: so weit ein Argument reicht, ist es gut; wenn es nicht mehr taugt, wird es eben fallengelassen. Dass Brecht auf diese Weise, indem er die britische Kolonialarmee als Maschinerie vorführt, in der das Individuum effektiv und praktisch nicht erst ausgelöscht wird, sondern schon ausgelöscht ist, wenn es eintritt (einer ist keiner, über weniger als 200 zusammen kann man gar nichts sagen 1/328) mit traumwandlerischer Sicherheit das Funktionieren des Faschismus als konsequentester Kapitalismus vorführt, war ihm zuerst gar nicht bewusst. Er wollte zeigen, dass Galy Gay, der wegging, um einen Fisch zu kaufen, in geschäftliche Transaktionen verstrickt wird (Elefantenkauf), die ihm den Kopf kosten, sich wiederfindend als Mordmaschine Jeremiah Jip, der eine Himalayafestung erobert, nicht nur nichts verloren, sondern gewonnen hat. Erst später erkannte Brecht, was er da - versuchsweise - beim Auskriechen aus einem "fruchtbaren" sozialen Schoß beobachtet hatte: Das Problem des Stücks ist das falsche, schlechte Kollektiv (der "Bande") und seine Verführungskraft, jenes Kollektiv, das in diesen Jahren Hitler und seine Geldgeber rekrutierten, das unbestimmte Verlangen der Kleinbürger nach dem geschichtlich reifen, echten sozialen Kollektiv der Arbeiter ausbeutend. (17/951) Da kommt ein Ruf: "Für die Freiheit!" Aber blickt genau hin: der ihn ausstößt ist ein Schlöchter. (9/801) Vielleicht ist es nützlich, was bisher über den Begriff des Einverständnis verhandelt, noch einmal zusammenzufassen: Der Gestus, der dem Begriff zugrundeliegt, ist, wie wir gesehen haben, ein kommunikativer, prozessualer: Einverständnis wird hergestellt zwischen mindestens zwei Personen. Seine Zurücknahme ins Ich - als Selbstbejahung, Einverständnis mit sich, setzt diesen Vorgang voraus, der zwar Verstand (ratio) ein-, nicht aber Emotion ausschließt. Fürs Individuum handelt es sich ums Vereinheitlichen von mehreren Ich-en in sich, ums Zusammenbringen von Ichteilen zur Selbstbehauptung gegenüber einer Welt, an deren Einverständnis dieses Ich nicht teilhat (Baal). Aber auch dieses asoziale Einverständnis braucht einen Außenhalt und findet ihn in einer Natur, die als einfach da-seiend, vorhanden akzeptiert wird, ohne Hoffnung auf eine verborgene Teleologie in ihr, gottlos, ein sinnloser Kreislauf, ewig gebärend und vergänglich, vernichtend, was sie hervorbringt und hervorbringend, was sie vernichtet. Das Individuum hat so keinen von irgendwo oder wem versicherten ewigen Wert, es ist ein historisch spätes, gefährdetes Kunst(Kultur-)Produkt; es gibt keine naturwüchsige Identität der Täter, sie ist Resultat dessen, was sie tun. Das Individuum erwächst aus Anpassungsprozessen und kann nur überleben, entweder, indem es Nichtidentisches sich angleicht oder sich anpasst: zumeist der letztere Fall. - Einverständnis (nötig) daher mit dem Aufgeben des festen Ich (der Persönlichkeit) und Annehmen der kleinsten Größe zum Zweck des Überdauerns. Dies alles als Konsequenz aus dem als Faktum anerkannten Befund, dass Gott tot ist, daher die überlieferten Wertsetzungen wie die Vorstellungen darüber illusionär. Die Lehre daraus: das Schicksal der Menschen ist der Mensch (geworden). Daher: Einverständnis mit der Umänderung alles Bestehenden, da es keine Ordnung ist, aber kein "zurück zur Natur", die Aufgabe vielmehr: die Erde bewohnbar zu machen. Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt. Und warum wollt ihr nicht an meinem Kranze zupfen.(12) Friedrich Nietzsche: Zarathustra Meinem Freunde Georg! Turin, 4.1.1889 Nachdem Du mich entdeckt hast, war es kein Kunststück mich zu finden: die Schwierigkeit ist jetzt die, mich zu verlieren... (13) Der Gekreuzigte Ganz gewiss: Ich bin wahnsinnig. Es dauert nicht mehr lange bei mir. Ich bin nur noch wahnsinnig geworden. Ich lese die letzten Briefe großer Menschen und stehle den braunen Trikotarabern vor den Leinwandbuden ihre wirksamsten Gesten. Das alles tue ich nur einstweilen. (8/81) Bertolt Brecht Was sind die besten Söhne? Jene, welche den Vater vergessen machen. (14) Bertolt Brecht B) Nietzsche bei Brecht Ich habe schon angedeutet, dass der Begriff des Einverständnisses mit Nietzsche und seiner Philosophie zusammenhängt. Das große Ja-Sagen, die Überwindung der lebensverneinenden Moral des Christentums, eigentlich aller bisherigen Moralen, die Überwindung des Nihilismus sind zentrale Themen Nietzsches. Jetzt soll das Einverständnis zwischen Brecht und Nietzsche, dieser so undenkbare und ärgerliche Zusammenhang zwischen dem marxistischen Stückeschreiber und dem Philosophen, der als Wegbereiter des Faschismus gilt, näher untersucht werden. Dass Brecht Nietzsche gelesen hat, ist seit langem bekannt. Es gibt außer zwei oder drei direkten Nennungen Nietzsches in Brechts Werk ein Zeugnis des Jugendfreundes Hans Otto Münsterer, und schon erwähnte Versuche, den jungen Brecht mit bestimmten Philosophemen Nietzsches in Verbindung zu bringen. Aber all dies hat bis zu Reinhold Grimms Aufsätzen und zuletzt seinem Buch: "Brecht und Nietzsche. Geständnisse eines Dichters. Fünf Essays und ein Bruchstück"(15) die Brechtforschung eher nur peripher beschäftigt. Jan Knopf, einer der wenigen außer Grimm, der an mehreren Stellen den möglichen Verbindungen zwischen Brecht und Nietzsche nachgegangen ist, blieb sehr vorsichtig: "Ich bin allerdings nicht so weit gegangen, eine direkte Abhängigkeit zu behaupten... wie es vielleicht naheliegen könnte" (über die Abhängigkeit von Brechts Verfremdungsbegriff von Nietzsche). Und weiter: "Damit rede ich, das scheint mir betont werden zu müssen, keineswegs einer gedanklichen Identifikation beider das Wort. Zu zeigen ist, dass die Zusammenhänge offenbar viel komplexer sind, als es die nach Eindeutigkeit strebende Brechtforschung angenommen hat..." (16) Aber auch in seinem neuesten Buch betont Knopf im Hinweis auf Übereinstimmungen zwischen Nietzsche und Brecht, dass sie "sonst sehr vorsichtig zu ziehen sind" und erwähnt Nietzsche nur noch ein einziges Mal in diesem Band mit dem Hinweis auf die Herkunft des Bildes vom Rauch (im Lied vom Rauch im Guten Menschen von Sezuan) (4/1507 f.). Die Vorsicht, zu der Knopf rät, scheint angemessen, wenn man die Missverständnisse der schon erwähnten Untersuchung von P. P. Schwarz bedenkt, wobei Schwarz bezeichnenderweise davon ausgeht, dass der junge Brecht Nietzsche nicht gekannt habe.(17) Man muss schon wie von einer Idee fixe besessen sein und von daher tiefer graben (wie es R. Grimm gemacht hat), um wirklich fündig zu werden. Bevor ich mich aber mit dem "Bruchstück" Grimms im einzelnen auseinandersetze, möchte ich hier die zweite Hauptthese dieser Arbeit formulieren, und sie dann in zwei Schritten verteidigen: Nietzsche war der erste und nachhaltigste, aber von Anfang an vorsätzlich und sorgfältig verborgene Lehrer Brechts. In dieser These sind mehrere Implikationen enthalten, nicht zuletzt die, dass ich, wenn es mir gelingt, sie zu erhörten, damit auch die in der Einleitung aufgestellte These, Brecht als Philosophen ins Zentrum der Betrachtung rücken zu wollen, damit abstützen zu können glaube. Aus der Formulierung der These ergibt sich allerdings die Schwierigkeit der Beweisführung sozusagen immanent: Stützt sich doch meine Unterstellung, Brecht habe den Einfluss Nietzsches bewusst verborgen, unter anderem gerade auf die Spärlichkeit des philologisch erschließbaren Beweismaterials. Ich werde daher zuerst ganz unwissenschaftliche Argumente beibringen, die meine Unterstellung zumindest plausibel machen sollen, und mich in einem zweiten Schritt mit den Ergebnissen von Grimm auseinandersetzen. 1. Steinaffe verlässt seinen Lehrer In dem klassischen chinesischen Roman "Die Reise nach dem Westen" von Wu Che’eng-en (18) kommt der Affenkönig, wegen seiner Geburt aus einem kosmischen Ei auch Steinaffe genannt, dem es unter seinen Affen langweilig geworden ist, zu dem Patriarchen Subodhi, einem "Unsterblichen", der ihn als Schüler aufnimmt; und da der Affe seine Geheimzeichen erkennt, unterweist er ihn auch in den geheimen Künsten der Verwandlungen, der Kunst des Wolkenfliegens, kurz allen Künsten, mit denen ewiges Leben zu erlangen ist. Steinaffe aber hält seine neuerworbenen, hart erarbeiteten Kenntnisse nicht geheim, sondern prahlt damit vor den Mitschülern, zeigt ihnen zum Spaß seine Verwandlungskunst. Als der Meister erfährt, was geschehen ist, verstößt er den Schüler: "Und du Steinaffe ... Was hast du gemacht! Gespielt mit deinen geistigen Kräften! ... Bildest du dir ein, ich hätte dich unterrichtet, damit du dich vor den Leuten zur Schau stellen könntest? ... Wenn du mit ansiehst, wie jemand anders sich ... verwandelte, würdest du nicht auf der Stelle fragen, wie das zugeht?!!! Wenn also andere sehen, wie du es tust, werden sich nicht dich danach fragen? Hast du nicht den Mut, die Antwort schuldig zu bleiben, so gibst du das Geheimnis preis; und bleibst du die Antwort schuldig, so wirst du sehr wahrscheinlich grob behandelt werden. Du bringst dich in große Gefahr!" "Es tut mir entsetzlich leid", stammelte der Steinaffe. "Ich werde dich nicht bestrafen", sagte der Patriarch, "aber hier kannst du länger nicht bleiben." Als Steinaffe für seine Lehre bezahlen will, knurrt der Patriarch: "Ich wünsche nicht bezahlt zu werden. Ich verlange nur, solltest du jemals in Schwierigkeiten geraten, dass du meinen Namen nicht hineinmengst." "Wohin immer du gehen magst", sagte der Patriarch, "ich bin überzeugt, du bringst es zu nichts Gutem. Vergiss also nicht, wenn du in Schwierigkeiten gerätst, dass ich dir strengstens verbiete zu sagen, du seiest mein Schüler. Wenn du auch nur eine Andeutung von etwas Ähnlichem machst, werde ich dich lebend schinden, dir alle Knochen brechen und deine Seele an den Ort der neunfachen Finsternis verbanne, wo sie zehntausend Äonen verbleiben soll." Steinaffe verneigte sich vor dem Patriarchen: "Ich werde gewiss nicht wagen, auch nur eine Silbe von euch zu hauchen", versprach der Affe. "Ich sage ganz einfach, ich hätte alles ganz allein entdeckt." (19) Ich finde, es ist angemessen, sowohl den Dichter des Zarathustra als auch den Bearbeiter so vieler Parabeln dadurch zu ehren, hier eine Geschichte einzufügen, die bis auf ihren Inhalt überhaupt nicht her gehört, nur um eine klassische Lehrer-Schüler-Situation beziehungsvoll darzustellen. (Im übrigen ist der Text so weit hergeholt wieder auch nicht. Er geht auf eine Übersetzung von Arthur Waley zurück, dessen Lyrikübersetzungen Brecht als Vorlage für seine chinesischen Gedichte benutzte. Es sollte also nicht wundern, wenn sich sogar feststellen ließe, dass Brecht den Roman gekannt hat (die Inhaltsangabe zu der geplanten Oper "Die Reisen des Glüßcksgottes", welche Brecht als Plan zur Wiederaufnahme des Baalstoffes 1954 erwähnt, ließe zusätzlich darauf schließen. (17/947 f.) Aber das tut hier nichts zur Sache, dem nachzugehen überlasse ich den Quellenspezialisten.) In jedem Fall wäre es eine nachträgliche Kenntnisnahme, da es sich der Sache nach um etwas handelt, was der ganz junge Brecht angesichts der Nietzschelektüre mit sich ausgemacht haben muss. Im übrigen findet sich der Topos der geheimen Unterweisung samt der Verstoßung des ungehorsamen Schülers nahezu überall, wo es Traditionen esoterischer Unterweisung gab. Die hier vorgestellte Fassung weist einige Besonderheiten auf, auf die es mir gerade ankommt, um Eigentümlichkeiten der Beziehung Brechts zu Nietzsche zu kennzeichnen. Dass Nietzsche seine Lehre als Geheimlehre auffasste, und sei es nur, weil er keine Zeitgenossen fand, die ihn verstünden, braucht nicht extra erörtert zu werden; dass Brecht sie so auffasste, kann mit seinem Zarathustrasonett belegt werden (..."Dass dein Reden, für jeden nicht bestimmt, nun misset jeden ..."9/613f.). Brecht ist nun wie Steinaffe einer, der die Spielregeln nicht einhält ("So haben sie einen Verräter aufgezogen, ihn unterrichtet in ihren Diensten und er verrät sie dem Feind." 9/721) Der Steinaffe macht sich "gemein", er fasst das Wissen nicht als Selbstzweck auf, sondern bringt’s unter die Leute; dem entspricht Brechts Parteinahme für die Niederen, sein Klassenverrat. Und schließlich beachte man die Pointe im Versprechen der Geheimhaltung: "Ich sage einfach, ich hätte alles ganz allein entdeckt." Die Geheimhaltung ist so keine heroische Anstrengung, sondern stärkt das eigene Ich, wird zum Motor der Selbstbehauptung. In diesem Sinne lässt sich schon die erste überlieferte Aussage Brechts über Nietzsche interpretieren, die Mitteilung Hans Otto Münsterers: "1916 notiert Brecht, dass er Nietzsche nicht mehr mag." (20) Nämlich, dass er Nietzsche als Nietzsche nicht mehr mag, sondern fortan als Bert Brecht. Es ließe sich eine Menge Material aus dem Dokumentarband "Brecht in Augsburg" (21) dazu anführen, ich beschränke mich auf wenige Beispiele: Ein Friedrich Mayer aus der Bleichstraße, in der Brecht wohnte: "Eugen Brecht hatte originelle Angewohnheiten. So konnte ich immer wieder beobachten, wie er plötzlich in die Jackentasche griff, einen Zettel hervorzog und sich etwas notierte. Er hatte stets Papier und Bleistift bei sich ... Brecht war ein Peripatetiker. Aristoteles wurde viel genannt. Im Gehen hätte er die meisten Einfälle, sagte er einmal." Die Selbststilisierung Brechts nach dem Vorbild Nietzsches ist, finde ich, mit Händen zu greifen. Brecht machte sich Anschauungen, Vorlieben und Feindschaften Nietzsches quasi probeweise zu eigen, gab sie als eigene vor den Freunden aus, und wurde als originell empfunden. Grimm gibt die Belegstelle aus Ecce homo: (22) "So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung!" Andere Zeugnisse: "In einer Ecke des Zimmers stand lange ein Notenständer mit einer aufgeschlagenen Tristanpartitur ... Einige Zeit schwärmte er (Brecht) leidenschaftlich für Napoleon (wie Nietzsche) ... Dann wiederum war Nietzsche ..., ein andermal Hauptmann oder Wedekind ... zu sehen ... Brecht war uns einfach überlegen ... Eine Zeitlang imponierte auch Wagner, aber Brecht lehnte bei einem Streitgespräch die Meistersinger, Tristan und Walküre ab... (23) Es kommt Brecht auf die Inhalte, so scheint es, nicht so sehr an. Er hatte damals seine Ansichten "zum Ausgeben". Was er sich zu eigen machte, waren Haltungen Nietzsches. Unter den Keunergeschichten aus dem Nachlass gibt es eine, die darüber reflektiert: >Über die Haltung "Die Weisheit ist eine Folge der Haltung. Da sie nicht das Ziel der Haltung ist, kann die Weisheit niemand zur Nachahmung der Haltung bewegen. So wie ich esse, werdet ihr nicht essen. Wenn ihr aber esst wie ich, wird es euch nützen. ... Was ich da sage: dass die Haltung die Taten macht, das möge so sein. Aber die Notwendigkeiten müsst ihr ordnen, dass es so werde. (12/409)(24) Ich möchte daran anschließend eine weitere These formulieren, welche die erste von Nietzsche als verborgen gehaltenen Lehrer noch präzisiert bzw. ergänzt: Bei Nietzsche fand Brecht ein künstlerisches Programm formuliert, eine Perspektive, der sich zu stellen für Brecht eine Herausforderung darstellen musste. Einmal in Nietzsches Überlegungen über eine zukünftige Kunst: Unter Künstlern der Zukunft.... Vielleicht dürfte man sich etwas Ähnliches auch für die Welt des Wortes versprechen und ausdenken: nämlich dass einmal ein verwegener DichterPhilosoph käme, raffiniert und "spätgeboren" bis zum Exzess, aber befähigt, die Sprache der Volks-Moralisten und heiligen Männern von ehedem zu reden und dies so unbefangen, so ursprünglich, so begeistert, so lustig-geradewegs, als wenn er selbst einer der "Primitiven" wäre; dem aber, der Ohren noch hinter seinen Ohren hat, einen Genuss ohnegleichen bietend, nämlich zu hören und zu wissen, was da eigentlich geschieht, - wie hier die gottloseste und unheiligste Form des modernen Gedankens beständig in die Gefühlssprache der Unschuld und Vorwelt zurückübersetzt wird, und in diesem Wissen den ganz heimlichen Triumph des übermütigen Reiters mitzukosten, der diese Schwierigkeit, diesen Verhau vor sich auftürmte und über die Unmöglichkeit selbst hinweggesetzt ist. - Dann aber auch in viel konkreteren "Vorschlägen" wie dem der Rückkehr zur Sprache Luthers: Die Sprache Luther’s und die poetische Form der Bibel als Grundlage einer neuen deutschen Poesie: - das ist meine Erfindung! Das Antikisieren, das Reimwesen - alles falsch und redet nicht tief genug zu uns: oder gar der Stabreim Richard Wagners! Oder in Nietzsches Auffassungen über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen: Für die stete Wiederholung - u - u - u - usw., den Rhythmus der Reimdichtung, sind wir musikalisch zu anspruchsvoll (vom missverstandenen Hexameter noch abgesehen!). Wie wohl tut uns schon die Form Platens und Hölderlins! Aber viel zu streng für uns! Das Spiel mit den verschiedensten Metren und zeitweilig das Unmetrische ist das Rechte: die Freiheit, die wir bereits in der Musik, durch Richard Wagner, erreicht haben, dürfen wir uns wohl für die Poesie nehmen! Zuletzt: es die einzige, die stark zu Herzen redet! - dank Luther! (25) Dabei kann ich nicht nachweisen, dass Brecht diese Stellen gekannt hat; nicht einmal, ob sie in den Nietzschebänden drinstehen, von denen Grimm berichtet, er habe die Anstreichungen, die möglicherweise von Brecht stammen, überprüft. Ich halte es allerdings für legitim, sich auch etwas über den Bereich der bloßen Faktizität hinauszuwagen und unterstelle, dass Brecht hier einen Entwurf fand, von dem man jedenfalls post fest wird zugeben müssen, dass er ihm ähnlich geworden: Wer? Der Entwurf? Nein, Brecht! Eine solche Feststellung soll im übrigen die Verdienste Brechts nicht schmälern. Man kann auch, wenn man will, hier von Wahlverwandtschaft sprechen, wenn man eine Scheu hat, von direkter Beeinflussung zu sprechen. Es gehören nämlich auch einige Voraussetzungen dazu, sich als ein solcher Künstler der Zukunft angesprochen zu fühlen - und daran zu gehen, ein solches Programm zu verwirklichen. Sorgfältig prüf ich Meinen Plan: er ist Groß genug, er ist Unverwirklichbar. (8/366)(26) heißt es in einem Gedicht aus den späten Zwanzigerjahren. Als ich den Gedanken einer Verbindung zwischen Nietzsche und Brecht ins Auge fasste, ging es mir ungefähr so, wie Benjamin, als Brecht ihm sein schönstes Stalingedicht zu lesen gibt: Ansprache des Bauern an seinen Ochsen Nach einem ägyptischen Bauernlied, 1400 v. d. Zeit) O großer Ochse, göttlicher Pflugzieher Geruhe, gerade zu pflügen! Bring die Furchen Freundlichst nicht durcheinander! Du Gehst voraus, Führender, hüh! ... Gestern Hast Du gehustet, geliebter Schrittmacher. Wir waren außer uns. Willst du etwa Vor der Aussaat verrecken, du Hund? (9/683) Gestern kam Brecht zu mir herüber, um mir sein Stalingedicht zu bringen, das überschrieben ist "Der Bauer an seinen Ochsen". Im ersten Augenblick kam ich nicht auf den Sinn der Sache; und als mir im zweiten der Gedanke an Stalin durch den Kopf ging, wagte ich nicht, ihn festzuhalten. Solche Wirkung entsprach annährend Brechts Absicht ... (27) Trotz der eigenen Faszination bei der Nietzschelektüre (mitten in der Studentenbewegung) und der langen Beschäftigung mit Brecht dauerte es sehr lange, bis ich mit den Gedanken einer möglichen Verbindung überhaupt zugab, und bei der folgenden Suche nach Belegen zweifelte ich immer wieder an meinen Entdeckungen. Der einzige gesicherte Fund schien mir zuerst das unvollendete Sonett: Zu Nietzsches Zarathustra Du zarter Geist, dass dich nicht Lärm verwirre Bestiegst du solche Gipfel, dass dein Reden Für jeden nicht bestimmt, nur misset jeden: Jenseits der Märkte liegt nur noch die Irre. Ein weißer Gischt sprang aus verschlammter Woge! Was dem gehört, der nicht dazugehört ... Im Leeren wird die Nüchternheit zur Droge. (9/613) Nur war auch dies ein Fund mehr ex negativo. Gut, damit ließ sich die Zarathustralektüre Brechts ebenso belegen, wie mit dem offensichtlich autobiographischen Hinweis in Ziffels Memoiren in Stichworten: Schweinereien. Casanova wegen der Bayroszeichnungen. Maupassant. Nietzsche. Bleibtreu. Schlachtenschilderungen. (14/1412) von dem Grimm mit Recht anmerkt: eingeklemmt zwischen pubertärer Erotik und treudeutschen Patriotismus, scheint Nietzsche hier ein recht verschämtes und kurzatmiges Dasein zu fristen. (28) Aber der negative Beweis lag ja in den fehlenden 7 Zeilen des Sonetts, aus der Sammlung von Sonetten, die Brecht Studien nannte und die nach seiner eigenen Definition den Genuss an den klassischen Werken nicht vereiteln, sondern viel mehr reiner machen sollen. Damit zählt zwar Nietzsches Zarathustra für Brecht zu den klassischen Werken - aber warum hat er dieses Sonett nicht beendet? Sollten es Zweifel an der Klassizität Nietzsches, die Brecht doch kamen, oder Opportunitätsüberlegungen gewesen sein, die Brecht an der Fertigstellung hinderten. (Immerhin entstanden die sozialkritischen Sonette um 1938, zu einer Zeit, als die Formalismusdebatte auf dem Höhepunkt war, und Lukacs hatte seine Bannstrahlen gegen Nietzsche als philosophischen Wegbereiter des Faschismus bereits 1934 geschleudert. (29) Wären solche Rücksichten maßgeblich gewesen, hätte Brecht auch das fertige Gedicht in der Schublade liegen lassen können (wie auch die Antworten auf Lukacs). Ich wurde bei wiederholter Lektüre stutzig und verglich das Gedicht mit den anderen Sonetten. Den Bezug, den Grimm zum "Sonett vom Erbe" - und zwar einleuchtend - herstellt, hab ich allerdings nicht gesehen. (30) Sonett vom Erbe Als sie mich sahn aus alten Büchern schreiben Saßen sie traurig mürrisch bei mir, die Gewehre Auf ihren Knien und folgten meinem Treiben: Gehst du bei unseren Feinden (Grimm setzt ein: "bei Friedrich Nietzsche") in die Lehre? Ich sagte: Ja. Sie wissen, wie man schreibt. Und zwar die Lüge, sagten sie, die Lüge. (Und standen auf.) Ich freute mich der Rüge Und sagte hastig (und erschrocken): Bleibt. Das sind die Leute, die uns (Lücke) Die uns das Brot in dünne Scheiben schneiden Und ihres Volkes Schlägern raten: Schlagt es! Was können die dich lehren? Sagte ich: Zu schreiben. Und was zu schreiben? Sagte ich: Ihr sagt es: Sie schneiden euch das Brot in dünne Scheiben.(9/615 f.) Da fehlt der manchmal spöttische, manchmal aber bösartig höhnende und ätzende Ton der Aufdeckung der idealistischen Phrase durch die plebejische Perspektive - fast findet sich eine Huldigung, jedenfalls aber ein Einverständnis vermuten lassender Gestus in diesem halben Sonett - wie am ehesten noch in dem Kleists Prinz von Homburg gewidmeten Gedicht. (9/612) Es findet sich jedenfalls nichts, was auf eine prinzipielle Verurteilung Nietzsches als Propheten der Lehre vom Übermenschen, als präfaschistischen Ideologen schließen lässt. Jedenfalls begann ich Nietzsche neu zu lesen, nun im Hinblick auf Übereinstimmungen. Und es ging mir genauso, wie Grimm von Herta Ramthun, der freundlichen Helferin aller, die je im Brechtarchiv gearbeitet haben, berichtet. Auch mir kam vor, als "... klinge (das) ja immer wieder (so), als stamme es Wort für Wort von Brecht." (31) Meine Nietzscheausgaben sind inzwischen voll von Stellen, wo ich ein großes B an den Rand gezeichnet habe, aber viele dieser Stellen erschienen mir beim näheren Zusehen wieder nicht genug überzeugend - jedenfalls habe ich es bis auf eine Andeutung(32) in meiner Dissertation vermieden, auf diese, mir mehr wie eine Nachtphantasie erscheinende "undenkbare" Koinzidenz näher einzugehen. Doch noch ein paar Bemerkungen zu Brechts Zarathustrasonett: Ich glaube nicht, wie Grimm schreibt, dass Brecht hier Nietzsche zur Rechenschaft ziehen wollte,(33) vielleicht versuchte er es, jedenfalls ist es ihm nicht gelungen. Die einzige in den vorhandenen sieben Zeilen explizit gewordene Kritik ist die an seiner Flucht ins "jenseits der Märkte" und das ist auch der Punkt, wo Brecht die Wendung gegen Nietzsche von Anfang an vollzieht - und zwar selbst noch, wie der Aphorismus "Unter Künstlern der Zukunft" vermuten lässt im Ausprobieren einer von Nietzsche vorgeschlagenen ästhetischen Haltung. Gerade weil Brecht sich ständig weiter in Auseinandersetzung mit Nietzsche befand, konnte er die elitären Züge, den Aristokratismus Nietzsches hier nicht ironisieren oder der Lächerlichkeit preisgeben. Allerdings hat Brecht dies an anderer Stelle, ohne Nietzsche zu erwähnen, getan: Eine aristokratische Haltung Herr Keuner sagte: "Auch ich habe einmal eine aristokratische Haltung (ihr wisst: gerade, aufrecht und stolz, den Kopf zurückgeworfen) genommen. Ich stand nämlich in einem steigenden Wasser. Da es mir bis zum Kinn ging, nahm ich diese Haltung ein." (12/413) Auch das übrigens fast mehr eine Entschuldigung als ein Angriff. An den Schluss dieses Abschnitts will ich eine weitere Stelle aus Nietzsches Nachlass aus den achtziger Jahren stellen, die ich jedenfalls wie eine programmatische Zusammenfassung des Baalsthema lese - gerade als Gegenentwurf gegen den abstrakten Geniekult in Johst’s Grabbedrama "Der Einsame" (34), eine Stelle, die aber auch zu verstehen ermöglicht, was Grimm das lebenslange Ringen Brechts um die Gestalt Baals nennt: Die Wege der Freiheit: - sich seine Vergangenheit abschneiden (gegen Vaterland, Glaube, Eltern, Genossen); - der Verkehr mit den Ausgestoßenen aller Art (in der Historie und der Gesellschaft); - das Umwerfen des Verehrtesten, das Bejahen des Verbotensten: die Schadenfreude im großen Stile an Stelle der Ehrfurcht; alle Verbrechen tun; - Versuch neuer Sch-tzungen.(35) Und um vielleicht noch eine gänzlich ungeklärte Frage anzuschließen: Ist Baal vielleicht Brechts Name für den Gegengott, der bei Nietzsche Dionysos heißt? (36) 2. Aussparung (Reinhold Grimms Funde) Reinhold Grimms Arbeiten habe ich bereits mehrmals andeutungsweise gewürdigt, ohne im einzelnen auf seine Untersuchungen, die er unter das gemeinsame Motto Nietzsche und Brecht stellt, einzugehen. Bisher hab ich mir nur rausgenommen, was ich brauchen konnte... Unbestreitbar bleibt sein Hauptverdienst, solche Überlegungen und weiterführende Thesen, wie ich sie hier zur Diskussion stelle, überhaupt erst ermöglicht zu haben, die Erörterung der Beziehung Brechts zu Nietzsche aus dem Bereich bloßer Vermutungen herausgelöst zu haben. Wenn ich so übertreiben wollte wie Manfred Voigts es in bezug auf Reiner Steinwegs Lehrstückforschung getan hat, würde ich sagen: "Es scheint, dass die Forschung über (Brecht und Nietzsche) im wirklichen Sinn erst noch beginnen muss, (Grimm) hat zu dieser Forschung erst das primäre Material zusammengetragen. (37) Solche Sätze haben’s in sich: Wie sie ganz und gar aussparend auf den endlich erschienenen wirklichen Forscher hinweisen, der sich über den bloßen Primärmaterialiensammler erhebt. Das ist das Schöne an der Wissenschaftlichkeit: wie sublimiert da die Triebe und Affekte agieren, wie Straßenraub und Beutelschneiderei in Ethos der Wahrheitsfindung umschlagen. Also so nicht. Grimms Verdienste sollen ungeschmälert bleiben. Trotzdem will ich auch einige Kritik an Grimm anbringen. Zuerst am zufälligen Charakter des Sammelbandes: Dadurch, dass es sich um fünf einzelne Essays und das große Bruchstück, das dem ganzen Band den Titel gibt, um in sich abgeschlossene Einzelstücke handelt, gibt es eine Menge, wie mir scheint, unnötige Redundanzen; auf der anderen Seite ist man erst recht genötigt, noch weitere Essays zum gleichen Thema an andern Orten zu suchen (z. B. in Dionysos und Sokrates, wo man dann mehr über Castri als über Nietzsche erfährt (38). Das zum mehr Formal-Technischen. Inhaltlich schlägt dies aber insofern zurück, als es auch im großen Essay im Grunde nur bei der Entdeckerfreude über Zusammenhänge, Belegstellen und Entsprechungen bleibt. Grimm unterstellt die Differenzen zwischen Nietzsche und Brecht als bekannt und richtet sein Augenmerk einseitig auf die Übereinstimmungen, die dann gleichrangig nebeneinander aus vier Jahrzehnten zusammengetragen werden. Und darin besteht der bruchstückhafte Charakter dieser Untersuchung. Die Fülle des Materials wird eigentlich nicht aufgearbeitet, und dafür mache ich hauptsächlich einen Wissenschaftsbegriff verantwortlich, in dem nur reine Fakten zählen und Gedanken nicht mehr zu den Fakten genommen werden. Reinhold Grimm versucht daraus auszubrechen, aber es ist eine Berufskrankheit; er hat eine Scheu, Überlegungen preiszugeben, die nicht durch einen Beleg - und sei es eine Anstreichung in einem Nietzscheband aus Brechts Bibliothek, die möglicherweise von Brechts Hand stammt (39) - nachgewiesen werden können. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ihn nicht mehr Ahnungen, Kombinationen und Vermutungen bei seiner fast "kriminalistischen" Tätigkeit beschäftigt haben, als er zu formulieren sich traut. Der Hauptgedanke bleibt, dass nicht nur ein peripherer, fast zufälliger Kontext mit Nietzsche in Brechts Jugend besteht (bisheriger Forschungsgegenstand), sondern dass sich über vier Jahrzehnte lang die Beschäftigung Brechts mit dem Philosophen nachweisen lässt - und dann wird noch eine Stelle gezeigt, eine Keungergeschichte aus Nietzsche gebastelt, eine Übereinstimmung belegt und, und, und - es bleibt beim Nebeneinander. Dabei ist es durchaus vergnüglich, zuzusehen, wie Grimm die Aussparungen Brechts ausfüllt, aber die Frage, warum Brecht die Nennung Nietzsches so konsequent vermeidet, warum er dem kriminalistischen Forscher soviel Mühe macht, wird nirgends gestellt. Nach dieser Hauptkritik noch einzelne Kritikpunkte, über die weiter zu diskutieren wäre. Implizit vertritt Grimm die These einer nachdrücklichen Beeinflussung Brechts durch frühe Nietzschelektüre, und ein Nachwirken dieser Lektüre später, wobei zuerst Identifikationen stattgefunden hätten, wahrend "dieses Nachwirken mehr und mehr auch, obzwar beileibe nicht ausschließlich, auf Skepsis, Misstrauen und brüske Abwehr stieß..."(40) Schon hier würde ich einwenden, dass diese These überhaupt erst entfaltet werden müsste. Ich glaube, dass schon zu Anfang nur partielle Identifikationen stattfanden, dies auch der Doppelsinn des frühen: "Ich mag Nietzsche nicht mehr." Auf der anderen Seite halte ich die Rede vom Nachwirken für eine abschwächende Formulierung (die selbst noch unter dem Bann steht, sich den Marxisten Brecht nicht in ständiger Auseinandersetzung mit Nietzsche vorstellen zu können). Aber findet sich nicht der thematische Vorwurf der Flüchtlingsgespräche (ich spreche jetzt nicht vom formalen, der in Diderots Dialogromanen zu suchen ist) wörtlich vorformuliert bei Nietzsche: "Der Schaden der Tugenden ist noch nicht nachgewiesen." (41) "Die Schädlichkeit der ’Tugenden’, die Nützlichkeit der ’Untugenden’ ist nie in voller Breite gesehen worden. Ohne Furcht und Begierde - was wäre der Mensch. - Ohne Irrtümer gar." (42) Dass sich im zweiten Aphorismus noch ein Hinweis auf die Kritik der Einfühlung findet schließlich sollte die Katharsis eine Reinigung von Furcht und Begierden bewirken, nur ganz nebenbei, wie ja Grimms Belegstellen - über die Fröhliche Kritik im Messingkauf etwa überzeugend belegen, muss eben nicht nur ein Nachwirken, sondern zumindest eine immer einsetzende Auseinandersetzung mit Nietzsche stattgefunden haben, oder um es anders auszudrücken: hat sich nicht nur der Marxist Brecht seiner frühen Nietzschelektüren erinnert, sondern an ihnen seine Zweifel genährt, die es ihm erlaubten, sich einen Anhänger der Großen Methode zu nennen. (12/527: Zweifelsucht Me-tis Jemand warf Me-ti sein Misstrauen und seine Zweifelsucht vor. Er verantwortete sich so: "Nur eines berechtigt mich, zu sagen, dass ich wirklich ein Anhänger der Großen Ordnung bin: Ich habe sie oft genug angezweifelt.") Das ist vielleicht wieder eine Unterstellung, aber woher Grimm die Überzeugung nimmt "...dass Brecht immer die Naturwissenschaften oder die Wissenschaft von der Gesellschaft meint, Nietzsche dagegen die sogenannten Geisteswissenschaften", wobei er extra betont, "die Unterscheidung ist wichtig", konnte ich nicht eruieren. Nicht nur im Nachlass setzt sich Nietzsche ebenso mit Natur- und Gesellschaftswissenschaften auseinander, aber hier nur eine Belegstelle, etwa wenn er "Die großen Methodologen" nennt: Aristoteles, Bacon, Descartes, August Comte. (43) (übrigens bis auf Comte gründlich auseinandersetzte.) lauter Philosophen, mit denen sich Brecht Auch die Kopernikusstelle, die sowohl Knopf wie Grimm zitieren, (44) spricht dagegen, ebenso wie die Ecce-Homo-Stelle über Bacon, auf die Grimm wieder verweist: Wir wissen noch lange nicht genug von Lord Bacon, dem ersten Realisten in jedem großen Sinne des Wortes, um zu wissen, was er alles getan, was er gewollt, was er mit sich erlebt hat..." (45) dass Nietzsche nur geisteswissenschaftliche Belange im Auge gehabt hätte. Natürlich spricht er als Philosoph und nicht als Physiker, aber das trifft ja wieder auf Brecht ebenso zu (vgl. die Kritik an Brechts und Eislers Kommentar zur Heisenbergschen Unschärferelation bei Knopf (46)). Auch die zweite Stelle in Grimms Aufsatz, wo er noch einmal "die Brechtsche Wissenschaftlichkeit als ebenso entschieden natur- und gesellschaftswissenschaftlich wie diejenige Nietzsches, bei all ihrer Moderne, (als) eine geisteswissenschaftliche apostrophiert, ist meines Erachtens nicht schlüssig, nur weil Brecht die Vertreibung Gottes durch Wissenschaft (im Ozeanflug) d.h. Aufklärung darstellt, Nietzsche für diesen Sieg der Aufklärung selbst noch die christliche Moralität verantwortlich macht, das wissenschaftliche Gewissen als aus dem christlichen Gewissen erwachsen (im Doppelsinn) sieht. (47) Hier, wie sonst auch, sehe ich keine Beschränkung Nietzsches auf Geisteswissenschaften, vielmehr dürfte auch Brechts Berufung auf die Naturwissenschaften (ich bin auf sozusagen kaltem Weg zum Marxismus gekommen...) selbst noch Nietzsche mehr verdanken als dem Medizinstudium. Die Ausführungen Grimms über das Geistergespräch (48) wären zu ergänzen mit dem Hinweis, dass Brecht selber in seiner Lyrik durchaus teilnimmt daran (Die Auswanderung der Dichter (9/495), Besuch bei den verbannten Dichtern (9/663), was die Gegenüberstellung bei Grimm allerdings nur ergänzt, nicht widerlegt. An der direkt darauffolgenden Stelle über Hebbel hat Grimm die direkt auf Nietzsche verweisenden Zeilen nicht zitiert, nämlich: Aber es ist dann noch ein ungeheurer Schritt zu jener eiskühlen und unbewegten Umluft höchster Geistigkeit - wo Recht und Pflicht aufhören und das Individuum einsam wird und die Welt ausfüllt und Beziehungen unmöglich und unnötig werden. (49) die zugleich vor auf das Sonett über Zarathustra verweisen. Eine Anmerkung aber noch, die sich sowohl auf den Exkurs zu Freud und von hier auf das Bild von der Regulierung von Flüssen bezieht, (50) wie auch auf den Essay Grimms über das Rad der Fortuna. (51) Grimm vergleicht die schon einmal erwähnte Stelle vom Rad der Fortuna in Brechts früher Marlowebearbeitung "Leben Eduard des Zweiten" mit der Ballade bzw. dem Lied vom Wasserrad und spannt den Bogen bis zum Gedicht "Radwechsel" aus den Buckower Elegien. Solche Einzeluntersuchungen erscheinen mir wichtig, weil sie am Detail deutlich machen können, wie sehr Brecht seine Interessen über lange Zeit auszudehnen verstand - und wie ökonomisch er mit seinem Vorrat an Bildern, Themen, Wörtern umging, sein Werk nicht anders behandelnd als das der Klassiker, als Fundus mit Materialwert. Grimm vergleicht den ursprünglich allen Strophen gemeinsamen Refrain der Ballade vom Wasserrad: Freilich dreht das Rad sich immer weiter Dass, was oben ist, nicht oben bleibt Aber für das Wasser unten heißt das leider Nur: dass es das Rad halt ewig treibt. (52) mit der späteren Änderung im Lied vom Wasserrad, das Brecht immerhin an die Spitze seiner Hundert Gedichte (von 1951) stellte. Dort heißt es jetzt in der dritten Strophe: Denn dann dreht das Rad sich nicht mehr weiter Und das heitre Spiel, es unterbleibt Wenn das Wasser endlich mit befreiter Stärke seine eigne Sach betreibt." (53) Grimm meint nun, die Änderung des Refrains der dritten Strophe stelle keine bloß ideologische Korrektur dar (wie wieder von anderen behauptet), sondern eine Synthese zwischen zyklischem und linearem Denken, zwischen Kreislauf (Nietzsche) und Progression (Marx) dar. "Die Gewaltsamkeit des verändernden Eingriffs, den alle Beurteiler im Lied vom Wasserrad zu spüren scheinen, rührt" vielleicht doch nicht so "unzweifelhaft daher, dass hier das Rad der Fortuna, das in Brechts finsterer Historie ohne Aufhören kreist, unvermittelt mit dem Gang des historischen Fortschritts kollidiert." (54) Grimm hat an dieser Stelle das Bild des Wassers aus seiner Interpretation ausgeschlossen, nimmt dies Thema aber im Umweg über Freuds "Unbehagen in der Kultur", das bei Brecht zitiert wird (55), in der Untersuchung über Brecht und Nietzsche wieder auf. Ich meine nun: Die Gewaltsamkeit der Änderung (oder ihr Misslingen, von dem auch gesprochen wird) hängt eben mit dem "Wasser, das mit befreiter Stärke seine eigene Sach" betreibt, zusammen. Das Wasserrad als eine frühe technologische Errungenschaft assoziiert im Leser des Gedichts eben nicht nur Herrschaft (im Sinne des Glückrads, sondern auch sinnvolle Verwendung: Bewässerung von Feldern, Fruchtbarkeit). Dagegen ist die Befreiung des Wassers nur bedingt produktiv (Überschwemmung, Fortreißen von Häusern etc.) hauptsächlich aber Sprengung von Fesseln! Jedenfalls wird zugleich mit dem von Grimm beobachteten Umschlag der zyklischen in eine lineare Geschichtsauffassung, auch die schon von Benjamin denunzierte Vorstellung von der automatischen Kopplung technischen und gesellschaftlichen Fortschritts irritiert: "Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat, wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom. Die technische Entwicklung galt ihr als das Gefälle des Stroms, mit dem sie zu schwimmen meinte." (56) Ich halte dafür, dass Brecht mit dem veränderten Refrain der dritten Strophe zunächst nur das Aufsprengen des geschichtlichen Kontinuums - durch Stillegung der Zeit vor Augen hatte, was wieder Benjamin mit einer Begebenheit aus der Julirevolution von 1830 illustriert, dass nämlich, als der Abend des ersten Kampftages gekommen war, an mehreren Stellen von Paris und unabhängig voneinander auf die Turmuhren geschossen wurde: tatsächlich also die Zeit stillstand. (57) Dem entspricht bei Brecht das: denn dann dreht das Rad sich nicht mehr weiter. Die Gleichsetzung des Wassers mit den Volksmassen, mit dem Proletariat wird in zwei späten Gedichten Brechts einmal explizit, das andere Mal unausgesprochen thematisiert: Im Lied der Ströme (1951) heißt es: Mächtige Flüsse hat die Erde Dass sie viele schöne Früchte tragen muss, Aber wir, das Proletariat, sind Dieser Erde fruchtbarster Fluss. Freunde, er ist auch der stärkste Und ist für ihn kein Damm: Über die Erde ergiesst er sich Unaufhaltsam. (10/1024) Die zweite Belegstelle dafür ist: "Bei der Lektüre eines sowjetischen Buches" aus dem Buckower Elegien. Die Wolga, lese ich, zu bezwingen Wird keine leichte Aufgabe sein. Sie wird Ihre Töchter zu Hilfe rufen, die Oka, Kama, Unscha, Wjetluga Alle ihre Kräfte wird sie sammeln, mit den Wassern aus siebentausend Nebenflüssen Wird sie sich zornerfüllt auf den Stalingrader Staudamm stürzen. (10/1014) Mich hat oft die seltsam lineare "Positivität" dieses Gedichts im Kontext der Buckower Elegien irritiert, ohne dass ich mir im einzelnen Rechenschaft darüber abgelegt hätte, was da eigentlich vor sich geht. Bei oberflächlicher Lektüre liest es sich ähnlich positiv wie die Versfassung des Kommunistischen Manifests, als ein "trotzdem" in den von Selbstzweifeln, Bitterkeit, Resignation und Müdigkeit zeugenden Buckower Elegien, in denen Natur wieder auftaucht - als Anklage gegen die DDR-Wirklichkeit, wie ein Versuch, mit dem bekannten Bild von der Regulierung des Flusses am Sinn des sozialistischen Aufbaus festzuhalten. Kontrastiert mit der Schlussstrophe des "Liedes der Ströme" gewinnen die liebevollen Personalisierungen von Mütterchen Wolga und ihren Töchtern und Enkeln plötzlich einen neuen Sinn, fügt sich dieses Gedicht in den Kontext der anderen, wie etwa Große Zeit, vertan Ich habe gewusst, dass Städte gebaut wurden Ich bin nicht hingefahren. Das gehört in die Statistik, dachte ich Nicht in die Geschichte. Was sind schon Städte, gebaut Ohne die Weisheit des Volks. (10/1010) mehr noch, es enthüllt sich als Anklage in Sklavensprache, die Wolga selbst wird noch zu einer letzten Metamorphose der Baalsfigur als Verkörperung des sowjetischen Proletariats und seines Widerstands gegen den Stalinschen Staudamm. "Dieses erfinderische Genie mit dem teuflischen Spürsinn des Griechen Odysseus, wird ... Rechts ausbiegen, links vorbeigehen, unterm Boden sich verkriechen"(10/1014) entspricht das nicht auch dem kleinen Glücksgott - dem illegalen Hetzer - Baal? Ich will das Bild allerdings nicht überstrapazieren. Es ist nur eine Ebene, die andere, offensichtliche, legale Lesart soll damit nicht weginterpretiert werden: ...aber, lese ich, die Sowjetmenschen Die sie lieben, die sie besingen, haben sie Neuerdings studiert und werden sie Noch vor dem Jahre 1958 Bezwingen. Und die schwarzen Gefilde der Kaspischen Niederung Die dürren, die Stiefkinder Werden es ihnen mit Brot vergüten. (10/1014) Dies gehört, wie schon gesagt, zu den Ergänzungen, nicht zur Kritik an Grimm. Gerade die trüben Ahnungen Brechts über die sowjetische Wirklichkeit (dass das Stalingedicht "Ansprache der Bauern an seinen Ochsen" den Untertitel trägt "nach einem ägyptischen Bauernlied 1400 v.d.Z." ist ja auch kein Zufall) zeigen, dass die Verführung zu einem zyklischen Weltbild der ewigen Wiederkehr am stärksten die Zweifel des Marxisten Brecht nährte. Noch ein Einwand, und eine Ergänzung. Das Argument, dass Brechts spezifische Auffassung von Originalität mit der von Nietzsche nur bedingt übereinstimmt, mag gelten. Der Aphorismus, auf den sich Grimm beruft, freilich, gehört für mich zu denen, an denen sich Brecht ein Beispiel nahm (und den Nietzsche auf Wagner gemünzt haben dürfte, was wieder bestenfalls auf eine Ambivalenz und keine absolute Verurteilung schließen lässt: Das Raub-Genie. - Das Raub-Genie in den Künsten (Wagner), das selbst feine Geister zu täuschen weiß (Nietzsche bis 1876), entsteht, wenn jemand unbedenklich von jung an alles Gute, welches nicht gerade vom Gesetz als Eigentum einer bestimmten Person in Schutz genommen ist, als freie Beute betrachtet (Meyerbeer, Schumann von Nietzsche im Fall Wagner erwähnt). Nun liegt alles Gute vergangner Zeiten und Meister frei umher, eingehegt und behütet durch die verehrende Scheu der wenigen, die es erkennen: diesen wenigen bietet jenes Genie, kraft seines Mangels an Scham, Trotz und häuft sich einen Reichtum auf, der selbst wieder Scheu und Verehrung erzeugt.(58) Wie weit Brecht daraus ein Programm machte (bei seiner prinzipiellen Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums), brauche ich nicht extra zu belegen; je länger geforscht wird, desto weniger "originaler Brecht" im Sinne des allein von ihm stammenden bleibt übrig. Bei Nietzsche habe ich es noch nicht probiert, aber gerade die Stelle, die Grimm heranzieht: "Werde ich es erlauben, dass ein fremder Gedanke heimlich über die Mauer steigt?" (59) gibt, wie ich glaube, mehr über den Verdauungsapparat Nietzsches Auskunft als darüber, dass er fremde Kost verachtet! Mit der Absicherung sorgt Nietzsche nur dafür, dass seine Raubzüge verborgen bleiben – ebenso wie Brecht seinerseits mit Nietzsche verführt. Die Keunergeschichte "Originalität" 12/379 aber, die Grimm gegen Nietzsches "Raubgenie in den Künsten" ausspielt, könnte eine kleine Ermutigung für Benjamin und seine Passagenarbeit, die bekanntlich fast nur aus Zitaten montiert werden sollte, dargestellt haben,. Aber dafür will ich nicht meine Hand ins Feuer legen, jedenfalls aber dafür, dass sie nicht gegen Nietzsche zielt. Im übrigen kann ich Grimm auch dorthin nicht folgen, wo er Nietzsche eine säuberliche Trennung zwischen Denken und Dichten, Philosophie und Kunst unterstellt - grad, was "Originalität" betrifft. Sicherlich gibt es da viel Widersprüchliches bei Nietzsche - aber weder bürgerliches Eigentumsdenken noch Originalitätssucht. Bei Ecce-Homo-Zitaten wird’s ja auch deshalb problematisch, weil es schon am halben Weg von der Vereinsamung in die Irre liegt. Da hätte Nietzsche eher behauptet, Pascal habe seine besten Gedanken von ihm, und fast in diesem Sinn sind die Umdeutungen der früheren Schriften zu lesen. Statt Wagner oder Schopenhauer liest der späte Nietzsche nur noch sich, er blendet aus, dass er er nur wurde durch das Aufnehmen von den Lehrern: er selbst bietet sich als Beleg an für die Formulierung: "Das kontinuierliche Ich ist eine Mythe." (60) Aber das führe ich nicht länger aus, das führt ins Uferlose. Diese Uferlosigkeit betrifft sowohl Belege bei Nietzsche wie bei Brecht; obwohl ich im Rahmen dieser Arbeit sehr ausführlich auf die Frage der Zertrümmerung der Person, ihr Auseinanderfallen und ihr Verhältnis zu den Kollektiven eingehe, habe ich hier die Seite bei Nietzsche, die sich auf Rollenspiel, Vielfalt der Person etc. bezieht, eher vernachlässigt, um den Text nicht zu überfrachten. Zwei Stellen will ich aber noch anführen: Wir enthalten den Entwurf zu vielen Personen in uns: der Dichter verrät sich in seinen Gestalten. Die Umstände bringen Eine Gestalt an uns heraus: wechseln die Umstände sehr, so sieht man an sich auch zwei, drei Gestalten. - Von jedem Augenblick unseres Lebens aus gibt es noch viele Möglichkeiten: der Zufall spielt immer mit!... (61) Ganz ähnlich in: Man ist reicher als man denkt, man trägt das Zeug zu mehreren Personen im Leibe, man hält "Charakter", was nur zur "Person", zu einer unserer Masken gehört... Man irrt, wenn man einen Menschen nach einzelnen Handlungen beurteilt: einzelne Handlungen erlauben keine Verallgemeinerung. (62) Aus der einen Ergänzung werden doch noch zwei. Die erste betrifft noch einmal die Kopernikusstelle: ich muss sie jetzt doch auch zitieren (in der knapperen Fassung aus dem Nachlass): "Seit Kopernikus rollt der Mensch aus dem Zentrum ins Nichts" (63) Grimm belegt richtig, dass der gleiche Gedanke, von einer Notiz in frühen Tagebüchern, über "Mann ist Mann", über das frühe Gedicht "Von den großen Männern" bis zum Galilei reicht. Grimm spricht hier von einem radikalen Gegenentwurf Brechts: Galileo Galilei rechnete aus: Die Sonn steht still, die Erd kommt von der Stell. (3/1231) Kein "kosmischer Schauder" atmet mehr aus der kopernikanischen Erkenntnis, sondern ein "kosmisches Glücksgefühl". Grimm zitiert dann Galileis Hymne auf die "neue Zeit". Es hat immer geheißen, die Gestirne sind an einem kristallenen Gewölbe angeheftet, dass sie nicht herunterfallen können. Jetzt haben wir Mut gefasst und lassen sie im Freien schweben, ohne Halt und sie sind in großer Fahrt, gleich unseren Schiffen, ohne Halt und in großer Fahrt ... (3/1232) Hier nun meine Ergänzung. Auch dieser "radikale Gegenentwurf" bezieht seine Bilder, und nicht nur seine Bilder, sondern auch den Pathos des Aufbruchs ebenfalls von Nietzsche. Ich erinnere nur an das Gedicht Nach Neuen Meeren Dorthin - will ich; und ich traue Mir fortan und meinem Griff. Oben liegt das Meer, ins Blaue Treibt mein Genueser Schiff. Alles glänzt mir neu und neuer Mittag schläft auf Raum und Zeit - : Nur dein Auge - ungeheuer Blickt mich an, Unendlichkeit!(64) Das ist nur eine, vielleicht gar nicht die deutlichste Stelle bei Nietzsche, an der gezeigt werden kann, dass er wie Brecht anknüpft an jenen "Morgen der Vernunft" in der Renaissance, ja, dass sein Anknüpfen noch beerbt werden konnte von Brecht. Die letzte Ergänzung betrifft diejenige Interpretation von Grimm, die den ganzen Bogen seiner Betrachtungen umschließt. Es geht um die sich um das Gedicht "Ausschließlich wegen der zunehmenden Unordnung" rankenden Reflexionen, die Grimm zuerst im Essay: Geständnisse eines Dichters ausbreitet, um ganz am Schluss des ganzen Bandes wieder darauf zurückzukommen. In diesem Zusammenhang zitiert Grimm auch eine Stelle aus dem Me-ti, wo die Zulässigkeit, "in diesen Zeitläufen Gedichte über Naturstimmungen" zu schreiben, erörtert wird. Ihr Titel lautet: Über reine Kunst. Beziehungsvoll genug wird als Beispiel reiner Kunst die Aufgabe vorgestellt, "das Geräusch fallender Regentropfen zu einem genussvollen Erlebnis des Lesers" zu machen. (12/509; bei Grimm S.12) Grimm geht dann ausführlich auf die entfaltete Widersprüchlichkeit ein, zwischen den "alter egos" Brechts in den Figuren des Me-ti und des Kin-jeh, die auf seinen Selbstwiderspruch schließen lassen. - Was Reinhold Grimm, wie ich unterstelle, mit bestimmter Absicht auslässt, ist der mehrfach verbürgte Anlass zu dieser Me-ti-Stelle: Eine Auseinandersetzung mit Hanns Eisler über dessen Beteiligung an einem Forschungsprojekt über Filmmusik (gemeinsam mit Adorno, das kam für Brecht noch dazu!), in dessen Rahmen das Quintett "14 Arten, den Regen zu beschreiben", op. 70 entstand. Eisler hat darüber Hans Bunge mit offensichtlich nachhaltig schlechtem Gewissen sehr ausführliche Erklärungen gegeben (65) (... die meisten Erklärungen stellen Rechtfertigungen dar... 12/549), er sah in diesem finanzierten Forschungsauftrag die Möglichkeit, sowohl seinen Lebensunterhalt zu verdienen, als auch Zeit für kritische, engagierte Kompositionen zu gewinnen (Eisler verweist, auf seine "Deutsche Sinfonie"). Brecht, der sich nicht scheute, seinen eigenen Tuismus anzuprangern (...Jeden Morgen, mein Brot zu verdienen, gehe ich auf den Markt, wo Lügen gekauft werden. Hoffnungsvoll reihe ich mich ein zwischen die Verkäufer...10/848), kritisierte die Handlung seines Freundes und Mitarbeiters in einer Art, die sich etwa so zusammenfassen ließe: es ist schon schlimm genug, sich verkaufen zu müssen. Noch schlimmer aber ist es, sich zu verkaufen, um l’art pour l’art zu machen... Soviel zu dieser Auseinandersetzung, die angesichts des galoppierenden Verfalls der TUISitten wie aus dem Altertum überliefert erscheint. Diese Ergänzung einzubringen, erscheint mir wichtig, weil ich an dieser "Auslassung" Grimms eine Methode zu erkennen glaube, die prinzipiell kritisiert werden muss. In den Interpretationen Grimms wird die von Brecht konsequent kritisierte "Innerlichkeit" in Gestalt der zwiespältigen Dichterpersönlichkeit restituiert, wird das Exemplarischmachen von Persönlichem, der prinzipielle Blick von Außen, zurückgebogen ins Psychologische, Private. Von daher ist es kein Zufall, dasss Grimm weiterhin daran festhält, Brecht habe in der "Maßnahme" die Tragödie des jungen Genossen gestaltet. Wenn er Reiner Steinweg vorwirft, dieser hätte "in ebenso einseitiger wie anmaßlicher Form seine abweichenden Thesen vorgebracht", so ist in der Sache doch Steinweg recht zu geben - auch in der Gegenüberstellung mit Nietzsche im eben besprochenen Zusammenhang wird das deutlich. Brecht nimmt hier nicht Partei für den jungen Genossen und sein Mitleid mit dem Elend, er warnt nicht nur davor wie Nietzsche, sondern führt die Schädlichkeit des Mitleids vor, - so dass sich auch hier eine weniger "radikale Gegenhaltung zu Nietzsche" zeigt, als Grimm gerne wahrhaben möchte. Ich breche hier die vielleicht schon zu ausführlich gewordenen Auseinandersetzungen mit Reinhold Grimm ab, nicht ohne noch einmal zu deponieren, wie sehr die Differenzen sekundär bleiben gegenüber dem Dank für die Anregungen und Ermutigungen, die ich seinen Aufsätzen entnommen habe für diese meine Arbeit. 3. Lichtzwang (zum Geistergespräch unter neuen Aufklärern) Wir lagen schon tief in der Macchia, als du endlich herankrochst. Doch konnten wir nicht hinüberdunkeln zu dir: es herrschte Lichtzwang. Paul Celan(66) Ein Motto, das so wenig wie möglich mit Brecht und Nietzsche zu tun hat - muss ich die Zusammenhänge erläutern? Wer nicht mithört, wie sagt Nietzsche, wer nicht noch Ohren hat hinter seinen Ohren, wie soll ich dem verdeutschen, welche Zusammenhänge von Brecht und Nietzsche ich hier bei Celan lese. Die Aufklärung, dem Namen und der Sache nach, ist vielfach ausgedeutet worden, vom Orden der "Illuminaten", den "Erleuchteten" (denen angeblich der junge Hegel nahestand), über verschiedenste (Licht- und Sonnensymbolik der Zauberflöte) bis zu Hegels Schilderung des Ereignisses der Französischen Revolution (- ein Sonnenaufgang) und bis zu dem bösen Wort über das "Abspülicht des Aufklärichts". Schließlich bis zum Terminus: Dialektik der Aufklärung, der einiges hierher Gehörige zu bezeichnen imstande wäre, hätten ihn nicht Horkheimer und Adorno zu ihrem spezifischen Gebrauch so mit Beschlag belegt, dass es schwer fallen dürfte, ihn so bald "umzufunktionieren". Lichtzwang, die Wortschöpfung Celans, ist solcherart nicht vorbelastet und das Bild eindringlich genug, um für eine Definition von "Neuer Aufklärung" zu stehen. Wie der Begriff der Avantgarde als terminus technicus aus der militärischen Sphäre stammt er bezeichnet die Vorhut, so ist deren Aufgabe - die Aufklärung. Es ist nützlich, sich dieses militärischen Hintergrundes des Begriffs zu erinnern - wie dies auch Celans Gedicht tut, um die Bedeutungsnebel um den Begriff zu lichten. Aufklärung ist dann eine spezifische Operation in einem Gesamtzusammenhang strategischer und taktischer Operationen und nicht länger Selbstzweck. Womit auch schon die "Neue Aufklärung", wie ich sie hier für Nietzsche ebenso wie für Brecht verstanden wissen will, definiert wäre. These: Brecht verstand Nietzsche als Neuen Aufklärer und blieb seinen aufklärerischen Impulsen verbunden. Dass Nietzsche sich selbst in die Tradition der Aufklärung einreihte, ja in gewisser Weise als Vollender der Aufklärung ansah, brauche ich hier nicht im einzelnen zu belegen. Hier ist allerdings hinzuweisen auf eine Forschungsaufgabe, von der ich hier erst vage Umrisse anzugeben imstande bin. Es genügt einfach nicht, wenn man den Zusammenhang zwischen Brecht und Nietzsche erhellen will, Brechts Nietzschelektüre aus ihrem quasi "illegalen Status" herauszuholen, man muss auch nach dem Nietzsche, den sie freilegt, fragen. Ich glaube, es findet sich bei Benjamin ein Modell für Brechts Methode, "(Nietzsche) zu lichten, das heißt, die praktikablen Vorschläge zu formulieren, welche sich seiner Philosophie entnehmen lassen."(67) Ich hoffe, der Ausdruck "Nietzsche zu lichten" ist nicht unüberhört geblieben. In Frankreich gibt es schon seit etwa zwei Jahrzehnte Versuche, Nietzsche neu zu lesen, von denen nur langsam Kunde in den deutschen Sprachraum einzusickern beginnt, man ist schon froh, wenn Übersetzungen rauskommen, auf Auswirkungen zu hoffen, wäre ... (ich meine die Texte von Deleuze, Jean Wahl, Bataille, Derrida, Klossowski und Foucault (68)). Ich kann in diesem Zusammenhang nicht auf diese Positionen eingehen; wieweit sie meine Nachforschungen unterirdisch beeinflusst haben, kann ich nicht einmal selbst genau auseinanderhalten, hier nur so viel: in Deleuzes Nietzschelesebuch, (69) im Nachwort unter dem Titel "Nomadendenken" findet sich eine Art Leseempfehlung: "Ein Aphorismus ist ein Zustand von Kräften, deren letzter, d.h. zugleich jüngster, aktuellster und vorläufig letzter immer der Äußerste ist." Nietzsche sagt ganz klar: wenn ihr wissen wollte, was ich sage, so findet die Kraft, welche dem, was ich sage, einen Sinn, notfalls einen neuen Sinn gibt. Verbindet den Text mit dieser Kraft. Auf diese Weise gibt es kein Interpretationsproblem mit Nietzsche, es gibt allenfalls Probleme der Machination: den Text von Nietzsche maschinieren, ausprobieren, mit welcher aktuellen äußeren Kraft er etwas passieren lässt, einen Energieumlauf ... Es handelt sich ... darum, die äußeren Kräfte zu finden, zu bestimmen und wieder anzueignen, die dieser oder jener Wendungen Nietzsches ihre befreiende Richtung geben, ihre Ausrichtung auf Außen. Die Frage nach dem revolutionären Charakter Nietzsches stellt sich auf der Ebene der Methode: es ist die nietzscheanische Methode, aus einem Text Nietzsches nicht mehr eine Sache zu machen, bei der man sich zu fragen hat "ist das faschistisch, ist das bourgeois, oder an sich revolutionär?" - sondern ein Feld der Exteriorität, auf dem faschistische, bürgerliche und revolutionäre Kräfte aufeinander treffen. Und wenn man das Problem so stellt, ist die der Methode notwendig angemessene Antwort: findet die revolutionäre Kraft. (70) Ich hätte Deleuze nicht so ausführlich zitiert, aber es ist mit Händen zu greifen: Deleuze beschreibt einen Umgang mit Nietzsche, wie ihn Brecht vierzig Jahre lang praktiziert hat, der Brecht auch vor der "ekelhaften Synthese" zwischen Marx, Freud und Nietzsche, vor der Deleuze an anderer Stelle warnt, bewahrt hat. (71) Es muss auch erinnert werden, dass Brecht weit davon entfernt war, dem Aphorismus solche Kraft zuzutrauen, wie Deleuze es tut. Im Gegenteil. W. Benjamin berichtet, dass Brecht bemerkte, auch er (Benjamin) sei nicht ganz freizusprechen vom Vorwurf "einer tagebuchartigen Schriftstellerei im Stil Nietzsches." (72) Was ich hier noch versuchen möchte, ist eine Art Entwurfsskizze dessen, was zum Gegenstand eigener Untersuchungen erst noch gemacht werden müsste: eine Art Katalog der Themen und Probleme, die Brecht in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche beschäftigt haben: jedes ebensosehr im Einverständnis, wie im Widerspruch zu Nietzsche: im stummen Gespräch. Dieses stumme Gespräch aber ist es auch, welches die Radikalisierung, die Celan gegenüber Brecht anmeldet, so seltsam abprallen, ins Leere gehen lässt: Ein Blatt, baumlos für Bertolt Brecht: Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch beinahe ein Verbrechen ist, weil es soviel Gesagtes mit einschließt?(73) Das Gedicht Celans zielt auf Brechts historischen Optimismus, der als Vertrauen in die Sprache entlarvt wird, gerade dies Vertrauen ist aber viel brüchiger, als es auf den ersten Blick scheint. Ich habe früher von einem Programm gesprochen, das Brecht bei Nietzsche fand und zu zeigen versucht, wie sich der junge Brecht quasi im Einnehmen Nietzsche’scher Haltungen einübt. Aber mehr noch gilt das für die Arbeit des Stückeschreibers, Lyrikers und Prosaisten Brecht: Er hat die von Nietzsche aufgeworfenen Probleme aus der "Eisluft höchster Geistigkeit" zurück geholt auf die Märkte, und hier ausprobiert, in der von Deleuze ausgesprochenen Zielrichtung: die revolutionäre Kraft zu finden! Ich habe mehrere Stellen mit solchen "Vorschlägen" Nietzsches bereits gezeigt, die eine betitelt "Wege der Freiheit", die sich fast wie eine Inhaltsangabe des "Baal" liest, und etwa über die Schädlichkeit der Tugenden, die Brecht in den Flüchtlingsgesprächen aufgegriffen hat. Es sind besonders signifikante Beispiele, weil Brechts Stück bzw. seine Prosa so fugenlos an Nietzsche anschließen. An anderen Stellen ist dies schwieriger zu zeigen, vor allem, weil auch einmal gefundene Antworten, wenn man die Stücke als solche nehmen will, wieder verworfen, umfunktioniert, verändert werden, auch bei Brecht nach Maßgabe des Außen, der Wirklichkeit, in die einzugreifen ihre gemeinsame Intention. Bevor ich also weitere Einzelbelege zur Diskussion stelle, möchte ich doch einen Strukturierungsvorschlag aufgreifen, den Karl Schlechta im Nachwort zu seiner Nietzscheausgabe vorgeschlagen hat. Schlechta reduziert dort (wie und welche Fragezeichen hier - etwa im Sinne Deleuzes zu setzen wären, spare ich hier aus) den Inhalt von Nietzsches Philosophieren auf (um drei Fragen kreisend): 1. Die Welt - den Menschen mit eingeschlossen - wie sie in Wahrheit ist. 2. Die Welt - den Menschen mit eingeschlossen - wie sie der Mensch bisher verstanden hat und Nietzsche ausgenommen noch immer versteht. 3. Wie man sich und die Welt verstehen muss, wenn man weiß, wie die Welt - den Menschen mit eingeschlossen - in ’Wahrheit’ ist. (74) Nachdem Schlecht die Fragen als durchaus "unoriginell", allen Philosophen zukommend charakterisiert hat, verweist er auf die beispiellose Radikalität von Nietzsches Antworten: Punkt 1: Die Welt - wir wissen schon - der Mensch mit eingeschlossen - wie sie ’in Wahrheit’ ist. Sie ist ’in Wahrheit’ ohne jeden Sinn, sie ist Un-sinn! Punkt 2: Die Welt, den Menschen mit eingeschlossen - wie sie der Mensch bisher verstanden hat, kam - in jeder Form dieses Verständnisses - dadurch zustande, dass der Mensch ihr in irgendeiner Weise einen Sinn unterlegte: Jede bisherige Weltauslegung war dieser Art. Punkt 3: Wie man die Welt verstehen muss, wenn man (ich kürze ab) weiß, dass sie ohne jeden Sinn ist. Wieder Schlechta: Im Grunde schränkt sich die Frage dahingehend ein, was der Mensch - im vollen Zustande des Wissens um den wahren Charakter der Welt - von sich in einem freien Akt der Entscheidung fordern muss, da er ja nach erfolgter Einsicht sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen hat. (75) (Ich erinnere: Me-ti sagte: Das Schicksal der Menschen ist der Mensch. 12/432) Die Antwort auf Frage 3 geben bei Nietzsche Begriffe wie: Übermensch, Großer Mittag, Stunde der Entscheidung, Wille zur Macht, Erd-Herrschaft, Zwang zur großen Politik... Sie sind nur die Konsequenzen aus der obgenannten fundamentalen Einsicht; allerdings nur unter der Bedingung, dass der Mensch das ’Kleine Glück’ nicht will." (76) Punkt 1 und 2 haben für den jungen Brecht uneingeschränkt gegolten. Dies ist das zentrale Motiv der Thematik des Einverständnisses: dass die Welt sinnlos ist, und dass die bisherigen Sinngebungen, religiöse und moralische Halte unbrauchbar geworden sind. Und natürlich sind bereits darin auch Versuche, Punkt 3 betreffend. Die Antwort auf Frage 3 fällt aber nicht zufällig schon in Schlechtas Zusammenfassung weit weniger präzise aus als die ersteren Antworten. Hier ist die eigentlich offene Frage bei Nietzsche, die eben lautet: wie ist das Schaffen eines neuen Sinns der Welt möglich, ohne hinter die Erkenntnisse von 1 und 2 (die Einsicht, in ihre Sinnlosigkeit, in Kontingenz zurückzufallen), dort das eigentliche Ungenügen Nietzsches am Menschen: dass er sich immer wieder einen Sinn sucht, um sich daran zu klammern. Brechts Versuche einer Beantwortung kreisen eben deshalb auch zunächst um die Frage nach dem Individuum, weil es bei Nietzsche als Protagonist der Überwindung des Menschen (als Herdentier) auftritt, als großer Einzelner, Schaffender, der eine neue Welt aus sich gebiert... den Übermenschen schafft. Wie stark dies die ursprüngliche Thematik des Baal, hat nicht nur Grimm erwähnt. (77) Brecht schien eine Stelle im Baal verräterischer: In der Urfassung heißt es in der letzten Szene: Baal ... wimmert plötzlich laut: "Ich kann nicht. Ich will nicht. Man erstickt hier. Ganz klar: Es muss draußen hell sein. Ich will." Bei der Wiederherstellung der letzten Szene für die Druckfassung 1955 heißt es an dieser Stelle: "Man erstickt hier ja. Draußen muss es hell sein. Ich will hinaus" (Hebt sich) ...(78) Die Urfassung schließt so mit dem Bekenntnis zum Willen (zur Macht), den der späte (weise) Brecht nur als etwas ganz Konkretes gelten lässt: Ich will hinaus. (Wobei der nebenbei der Intuition Nietzsches näher rückt, als im frühen verbalen Bekenntnis zum Willen.) In die Zeit zwischen der ersten und der zweiten Fassung des Baal fällt Brechts erste und nachhaltigste Wendung gegen Nietzsche: das Akzentuieren der "plebejischen Perspektive" im Baal gibt darüber Auskunft. In den Fuhrleuten der Schenke taucht das mögliche Publikum nicht nur Baals, sondern auch Brechts auf, tauchen die auf, die allein befähigt sind, die große Umwertung zu vollziehen, weil sie die sind, die die Heuchelei und Willkür der alten Wertsetzungen durchschauen: Es sind die unten gehaltenen. Hier deutet sich die materialistische Kritik aller Moral an, die im Slogan aus der Dreigroschenoper die bündigste Formulierung fand: "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral." (2/457) (Und von der Brecht argwöhnte, sie könnte als einziges von seinem Werk der Nachwelt in Erinnerung bleiben.) Als Hauptpunkte der Auseinandersetzung Brechts mit Nietzsche könnte man schematisch die folgenden anführen: • • • • • • • • • • Radikale Infragestellung aller Moral; Kritik der Tugenden Fluss der Dinge, Veränderungen, Dialektik Egoismus, Frage nach dem Individuum (im Verhältnis zur Herde bei Nietzsche, zum Kollektiv bei Brecht) Rehabilitierung der Sinnlichkeit, des Leibes Radikale Wissenschaftskritik (Induktion, Versuche, Experiment); Relativität des Erkennens (kein Selbstzweck!) Der gute Mensch Die großen Männer (Napoleon, Cäsar...) Das Mitleid; eine Versuchung ... Sprachkritik (Luther, gestische Sprache, reimlose Lyrik) Episches Theater contra Aristotelisches Drama Man sieht gleich, dass diese Liste nicht sehr systematisch erscheint und unvollständig ist, dass einmal mehr inhaltliche Fragestellungen, dann aber auch Fragen der Form zu finden sind. Man könnte weiter unterscheiden: die ersten 5 Punkte betreffen übergreifende, in fast allen Werken Brechts behandelte Gesichtspunkte, die weiteren 3 sind Spezialisierungen aus den ersten, die aber auch immer wieder von neuem thematisiert werden, die letzten beiden schließlich betreffen das Handwerkzeug des Dichters, damit auch wieder ein Übergreifendes. Zur Methodik habe ich, glaube ich, Fingerzeige geben können, und auf einige signifikante Übereinstimmungen werde ich im folgenden noch zu sprechen kommen, aber auch auf die Widersprüche, die sich zwischen den beiden Aufklärern noch auftun werden. An den Schluss dieses Abschnitts der Gegenüberstellung passen sowohl Brechts Gedicht "Aurora", wie der Aphorismus, mit dem Nietzsche seine "Morgenröte" abschließt: Wir Luftschiffahrer des Geistes. - alle diese kühnen Vögel, die ins Weite, Weiteste hinausfliegen - gewiss! Irgendwo werden sie nicht mehr weiter können und sich auf einen Mast oder eine kärgliche Klippe niederhocken - und noch dazu so dankbar für diese erbärmliche Unterkunft! Aber wer dürfte daraus schließen, dass es vor ihnen keine ungeheure frei Bahn mehr gebe, dass sie so weit geflogen sind, als man fliegen könne! Alle unsere großen Lehrmeister und Vorläufer sind endlich stehen geblieben, und es ist nicht die edelste und anmutigste Gebärde, mit der die Müdigkeit stehen bleibt: auch mir und dir wird es so ergehen! Was geht das aber mich und dich an! Andre Vögel werden weiter fliegen! Diese unsere Einsicht und Gläubigkeit fliegt mit ihnen um die Wette hinaus und hinauf, sie steigt geradewegs über unserem Haupte und über seiner Ohnmacht in die Höhe und sieht von dort aus in die Ferne, sieht die Scharen viel mächtigerer Vögel, als wir sind, voraus, die dahin streben werden, wohin wir streben, und wo alles noch Meer, Meer, Meer ist! - Und wohin wollen wir denn? Wollen wir denn über das Meer? Wohin reißt uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgendeine Lust? Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, dass auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien zu erreichen hofften, - dass aber unser Los war, an der Unendlichkeit zu scheitern. Oder, meine Brüder? Oder? -"(79) Aurora Aurora, du auf dem geliebten Fluss In den man nicht, den gleichen, zweimal taucht: Erschauernd unter deinem erzlippigen Kuss Erhob die große Magd sich einst erlaucht. Die große, nun erlauchte Magd ging lachend Wie sie aus unruhigem Schlaf erwachend Den Fluss herauf dies Frührot schwimmen sah. Die Frührot kam, so sagte sie den Leuten Als es noch Nacht war: es war so geschwind! Und seine schöne Farbe anzudeuten Nahm sie ihr rotes Kopftuch ab und schwenkte es im Wind" (10/859) 4. Zwischenbemerkung und Zusammenfassung Nietzsche warnt einmal in der "Fröhlichen Wissenschaft": Gegen die Vermittelnden. - Wer zwischen zwei entschlossenen Denkern vermitteln will, ist gezeichnet als mittelmäßig: er hat das Auge nicht dafür, das Einmalige zu sehen; die Ähnlichseherei und Gleichmacherei ist das Merkmal schwacher Augen.(80) Jetzt ist also ein Dementi fällig (denn wer lässt sich schon gerne als mittelmäßig denunzieren). Aber ernstlich: ich hatte mit dem bisher Ausgeführten wirklich nicht die Absicht, Brecht zum Nietzscheaner zu stilisieren und alles, was ihm als Philosoph an Bedeutung zukommt, auf Nietzsche zurückzuführen. Umgekehrt hat sich Brecht bekanntlich nicht sehr daran gestoßen, wenn jemand bemerkte, dass er sich irgendwo etwas genommen hatte, was er brauchen konnte. Im Gegenteil: er beneidete jene Zeitalter um die Kraft und Unschuld ihrer Plagiate, die noch ganze Szenen oder sogar Akte sich einzuverleiben imstande waren. Ich hoffe aber, dass es schon bisher deutlich geworden ist, dass ich die Einflüsse Nietzsches auf Brecht nicht für etwas halte, was dem, was Brecht daraus gemacht hat in irgendeiner Form Abbruch tut, ja nicht einmal es relativiert, weil von einem an der Produktion interessierten Standort eben anderes zählt als Originalität. Wobei ich unter Kraft und Unschuld der Plagiate eben die Fähigkeit verstehe, Vorgefundenes, Fremdes in der Umfunktionierung eines neuen Gebrauchs sich so anzueignen, dass es als eigenstes erscheint. So steht Brecht einerseits auf den Schultern des Riesen Nietzsche, (81) hat aber von diesem luftigen Standort etwa für seine Marxismusaneignung damit eine Voraussetzung gewonnen, die ihn von so ziemlich allen anderen marxistischen Philosophen in diesem Jahrhundert unterscheidet. (82) Wenn ich an einigen Stellen, wo Reinhold Grimm "radikale Gegenentwürfe" Brechts gegenüber Nietzsche sieht, doch mehr Übereinstimmungen festgestellt habe, heißt das nicht, dass ich überhaupt nur Einverständnis und keinen Widerspruch zwischen den beiden feststellen will. Im Gegenteil. Es kommt mir drauf an, den prinzipiellen Stellenwert der Widersprüche herauszuarbeiten und nicht bei nur sich widersprechenden Einzelstellen stehenzubleiben. Auf den einen großen Widerspruch habe ich schon hingewiesen: er ergibt sich aus Brechts "Klassenverrat", seinem Annehmen der Gesinnung der Niedrigen, seiner plebejischen Perspektive". Daraus entwickeln sich aber erst alle übrigen Gegensätze im einzelnen. Und des öfteren erweist sich eine Gegenposition als eine konsequent weitergedachte, erst in der Konsequenz gegen den Lehrer gewendete: so etwa die Behandlung des Mitleidproblems. Brecht nimmt nicht einfach Stellung gegen Nietzsche, sondern deckt so die Widersprüchlichkeiten in Nietzsche selbst auf, so eine "praktikable" Nietzschelektüre erst ermöglichend, gegen seine faschistische Inanspruchnahme (dies allerdings, vom Zarathustrasonett abgesehen, nirgends Brechts deklarierte Absicht, mehr ein Nebeneffekt). Was bei Nietzsche nicht unterschieden wird, bei der Kritik aller bisherigen als Herdenmoral, ist, dass es sich dabei um Moralen zur Herrschaft über als Herde gehaltene Menschen handelt, und nicht, um in Nietzsches Vokabular zu bleiben, um Wertsetzungen der Herde selbst (eben das: dass die herrschenden Gedanken die Gedanken der Herrschenden sind). Brechts Umwendung Nietzsches besteht nun darin, zu untersuchen, ob eine Umwertung aller Werte nicht nur fürs Individuum, den großen Einzelnen (Nietzsches Vorbild: die Vorsokratiker und der Renaissancemensch Macchiavellis), sondern auch bzw. überhaupt erst für die um ihre Befreiung kämpfende Klasse der unten gehaltenen, die sich befreien müssen, um überhaupt erst Menschen zu werden, verwenden lässt. In den Flüchtlingsgesprächen formuliert das der Physiker Ziffel in ironischer Paradoxie: "Wissen Sie, dass ihr Konfuzius, der Karl Marx, die moralischen Qualitäten des Proletariats recht kühl eingeschätzt hat? Er hat ihm auch Komplimente gemacht, das geb ich zu, aber dass die Proleten Untermenschen sind, hat der Goebbels von Karl Marx persönlich. Nur dass der letztere der Ansicht war, sie haben es satt." Und weiter unten: "Der Marx hat die Arbeiter nicht beschimpft, er hat festgestellt, dass ihnen von der Bourgeoisie ein Schimpf angetan wird ..." Kalle: Und was ist mit dem Untermenschentum von den Arbeitern? Ziffel: Die Meinung scheint zu sein, wie gesagt ohne Gewähr, dass dem Proleten die Menschlichkeit, d.h. seine eigene, verweigert wird, so dass er was unternehmen muss, entmenscht wie er ist in einer Welt, wo’s für ihn auf Menschlichkeit besonders ankommt. Der homo sapiens tut nach Marx nur was, wenn er dem absoluten Ruin in die Pupille starrt. Die höheren Züge lässt er sich nur erpressen. Das Richtige macht er nur im Notfall, so ist er für Menschlichkeit nur, wenn’s gar nicht mehr anders geht. So kommt der Prolet zu seiner Mission, die Menschheit auf eine höhere Stufe zu heben. (14/1441) Brecht weiß, warum er Ziffel hier "ohne Gewähr" reden lässt. Denn, was er hier "nach Marx" formuliert, ist eben eine, nirgends so bei Marx ausgeführte, aber deutlich den Durchgang durch Nietzsche verratende Marxlektüre, angefangen von dem Begriff des Untermenschen bis zur in praktischen Zwecken und Zwängen gesuchten Ursache und damit Begründung aller Moral. Gerade der Nietzschelektüre verdankt Brecht seine Immunität gegenüber den seit den Neukantianern und Kathedersozialisten Mode gewordenen Versuchen, der ökonomischen und soziologischen Lehre des Marxismus eine Ethik anhängen zu wollen, seine, auch in den Überlegungen, die das Verhalten des Einzelnen betreffen, durchgehaltene Übereinstimmung mit Lenins Definition: "Unsere Sittlichkeit leiten wir von den Interessen des Klassenkampfs ab. (vgl. 12/477) Ich glaube, es zeigt sich schon, dass mit dem Kapitel "Nietzsche bei Brecht", nicht auch schon das Thema überhaupt abgeschlossen wird. Es gibt eine ganze Menge Brecht und ... Bücher, die sicher ihre Verdienste haben, Brechts Verhältnis zu anderen Dichtern, zur Tradition und ihrer Verwertung aufzuzeigen. Im Falle Nietzsche liegt die Sache jedoch prinzipiell anders; statt um Stoffe und ihre mustergültige Verarbeitung bis zu den berüchtigten zehn Zeilen aus der Ammerschen Villonübersetzung, um Entlehnungen und kraftvolles Plagiat, geht es hier um den "Problemwert", den Nietzsches Philosophieren für Brecht hat. Was ich plausibel machen wollte ist die singuläre Rolle Nietzsches als verborgener, verborgen gehaltener Lehrer Brechts, die ihre Kraft aus einer sehr alten Tradition schöpft. Weiters der enorme, vielleicht entscheidende Einfluss, den er dadurch sowohl auf Brechts Philosophieren - sein Weltbild - hatte als auch aufs "künstlerische Programm" des jungen Brecht, das später zwar immer mehr ausgebaut, ausgestaltet wurde, aber den frühen Impulsen im wesentlichen treu blieb. C) Die kleinste Größe (der Lehre vom Einverständnis zweiter Teil) Man könnte sagen, die Kategorie des Einverständnisses, wie ich sie bisher behandelt habe, sei nur ein post fest durch Abstraktion gewonnenes Konstrukt, dem in dieser Allgemeinheit die konkrete Ausbestimmung abgeht. Dies würde ich zugeben: die theoretische Beschreibung hat die Prozesse, durch welche der übergreifende Begriff gewonnen wird, immer schon hinter sich, zur Voraussetzung. In den Versuchsanordnungen der Lehrstücke, die den Begriff Einverständnis untersuchen, bleiben diese Voraussetzungen aufgehoben, d.h. auch erhalten, auch wenn jetzt Brecht präzisiert: Einverständnis meint nun nicht einfach Ja-Sagen, Billigung, Zustimmung, sondern wird auf die Beziehung zwischen Individuum und Kollektiv eingeschränkt: es geht um das Einverständnis mit dem Aufgeben der Individualität als Voraussetzung fürs kollektive Handeln, um die Bedingungen dieser "Hergabe" und um die neue Identitätsfindung im Kollektiv. Das "Badener Lehrstück vom Einverständnis" ist die Fortsetzung des 1. Lehrstücks: "Der Ozeanflug", in welchem die Überwindung ewiger Naturgesetze durch die Arbeit der Menschen gerühmt wird. Der eine, der Flieger (ein Mann, der sich später den Nazis als Propagandist zur Verfügung stellte, weswegen Brecht später seinen Namen tilgte), wird schon gezeigt als angewiesen auf die Arbeit des Kollektivs (es heißt auch immer: die Flieger, er selber also gilt als Kollektiv) die Arbeit der sieben Mechaniker, die sein Flugzeug gebaut haben, wird gewürdigt, er wird als Teil der Menschheit gezeigt im Kampf gegen die Naturgewalten, für die neue Zeit, er hilft mit, Unwissenheit und damit Gott zu verscheuchen. Auf den ersten Blick ein Loblied auf den technischen Fortschritt - als Vehikel der Aufklärung - im Sinne der Neuen Sachlichkeit mit ihrer Anbetung der Technik, - sind doch Fußangeln der Dialektik eingebaut. Nicht mit der Erwähnung der dialektischen Ökonomie, die parallelisiert wird mit den Naturwissenschaften in ihrem Beitrag zur Aufklärung - vielmehr in der Bestimmung des technischen Fortschritts selbst als Selbsterkenntnis der Menschen: Zu der Zeit, wo die Menschheit Anfing sich zu erkennen Haben wir Wägen gemacht ... Und sind durch die Luft geflogen. (2/584) Die Erfüllung des uralten Menschheitstraumes gilt als Indiz der beginnenden Selbsterkenntnis der Menschheit (erst einige Jahre später wurden die Pariser Manuskripte des jungen Marx herausgegeben, wo es heißt: "Man sieht, wie die Geschichte der Industrie und das gewordene gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie ist. Eine Psychologie, für welche dieses Buch ... zugeschlagen ist, kann nicht zur wirklichen ... Wissenschaft werden. (83)). Einverständnis soll erzielt werden mit diesem kollektiven Selbsterkenntnisprozess, indem technische Pionierleistung und soziale Revolution als Teile der einen Bewegung erkannt werden: beide nur kollektiv möglich, und bei jedem Erfolg mit dem Blick auf das Noch nicht Erreichte. Der bürgerliche Held wird hier aber nur implizit kritisiert, an seinem Nimbus wird gekratzt, aber doch würdigend; indem alle Hörer den Fliegerpart lesen während der Aufführung des Radiolehrstücks, sollen sie begreifen, dass jeder ein kleiner Held in dieser kollektiven Anstrengung ist. Die so geplante Übung, merkt Brecht an, "dient der Disziplinierung, welche die Grundlage der Freiheit ist" (...Einsicht in die Notwendigkeit, Hegel, Engels). "Solche Übungen nützen dem Einzelnen nur, in dem sie dem Staat nützen, und sie nützen nur einem Staat, der allen gleichmäßig nützen will" - ... (so) dass der gegenwärtige Staat kein Interesse hat, diese Übungen zu veranstalten.(84) Hier sollen weder Lehrstücktheorie noch Radiotheorie besprochen werden, auch noch nicht Brechts Marxaneignung, hier interessiert nur die Entwicklung der Kategorie des Einverständnisses, die erst deutlich wird, nicht beim Gelingen des großen Abenteuers (zu leicht lässt es sich darstellen in der Art der Lesebuchgeschichten über die großen Helden), sondern anhand seines Scheiterns: Das "Badener Lehrstück vom Einverständnis" beginnt mit den schon zitierten Schlusszeilen des Ozeanflugs, setzt aber fort mit dem Absturz von vier Fliegern, die Hilfe erbitten und nicht sterben wollen. Nach der Untersuchung, ob es üblich ist, dass der Mensch dem Menschen hilft (mit der Clownsnummer, in der einem Menschen geholfen wird, in dem ihm Füße, Arme, Ohren und schließlich der Kopf abgesägt werden), wird den gestürzten Fliegern Hilfe verweigert, weil es nicht üblich ist, dass der Mensch dem Menschen hilft: Dennoch raten wir euch ... Nicht zu rechnen mit Hilfe: Um Hilfe zu verweigern, ist Gewalt nötig Um Hilfe zu erlangen, ist auch Gewalt nötig Solange Gewalt herrscht, kann Hilfe verweigert werden Wenn keine Gewalt mehr herrscht, ist keine Hilfe mehr nötig. Also sollt ihr nicht Hilfe verlangen, sondern die Gewalt abschaffen. Hilfe und Gewalt geben ein Ganzes Und das Ganze muss verändert werden... Nur eine Anweisung Nur eine Haltung können wir auch geben. Sterbt, aber lernt lernt, aber lernt nicht falsch. (2/599) Im Zentrum des Kommentars steht die Lehre von der kleinsten Größe: • • • • Als der Denkende in einen großen Sturm kam, saß er in einem großen Fahrzeug und nahm viel Platz ein. Das erste war, dass er aus seinem Fahrzeug stieg, das zweite war, dass er seinen Rock ablegte, das dritte war, dass er sich auf den Boden legte. So überwand er den Sturm in seiner kleinsten Größe. ... Um einen Menschen zu seinem Tode zu ermutigen, bat der eingreifend Denkende ihn, seine Güter aufzugeben. Als er alles aufgegeben hatte, blieb nur das Leben übrig. Gib mehr her, sagte der Denkende. Wenn der Denkende den Sturm überwand, so überwand er ihn, weil er den Sturm kannte und er einverstanden war mit dem Sturm. Also, wenn ihr das Sterben überwinden wollt, so überwindet ihr es, wenn ihr das Sterben kennt und einverstanden seid mit dem Sterben. Wer aber den Wunsch hat, einverstanden zu sein, der hält bei der Armut. An die Dinge hält er sich nicht. Das Leben wird genommen werden, und dann ist da kein Einverständnis. Auch an die Gedanken hält er sich nicht, die Gedanken können auch genommen werden, und dann ist da auch kein Einverständnis. (2/602) Während drei der vier Flieger (die gestürzten Monteure) das Einverständnis lernen, besteht der vierte (der gestürzte Flieger) auf seiner Individualität, seinen Ruhm, seiner Größe. Jetzt wisst ihr: Niemand Stirbt, wenn ihr sterbt Jetzt haben sie Ihre kleinste Größe erreicht. Da er das Einverständnis nicht lernt, wird ihm sein Flugzeug und "sein Gesicht" entrissen, wird auch er zum Niemand. Dieser Inhaber eines Autos Wenn auch angemaßt Entriss uns, was er brauchte, und Verweigerte und, dessen wir bedurften. Also sein Gesicht Verlosch mit seinem Amt: Er hatte nur eines! (2/608) Hier wird die Konstituierung eines neuen Typs von Individuum deutlich ("das kontinuierliche Ich ist eine Mythe" lag schon dem Stück "Mann ist Mann" als Hypothese zugrunde), es ist überhaupt nicht etwas Vorhandenes, immer schon Dagewesenes, gleich einem Naturereignis, sondern: Das Individuum erscheint uns immer mehr als ein widerspruchsvoller Komplex in stetiger Entwicklung, ähnlich einer Masse, es mag nach außen hin als Einheit auftreten und ist darum doch eine mehr oder minder kampfdurchprobte Vielheit, in der die verschiedensten Tendenzen die Oberhand gewinnen, so dass die jeweilige Handlung nur das Kompromiss darstellt. (20/62) Auch hier gibt es wieder Querverweise auf Nietzsche, der die Einheit des Individuums als sehr spätes Produkt einer organischen Entwicklung dargestellt hat, als ein sich zur Herrschaft aufschwingen einzelner Funktionen über den Organismus, der als Produkt statt als Ursache verstanden wird. Brecht ergänzt, dass dies ein sozialer Prozess ist, wo eine ständig sich erneuernde Bewegung von außen ebenso wie von innen (wenn solche Bilder erlaubt sind), vor sich geht. Jan Knopf hat gegen die traditionelle bürgerliche Brechtforschung und ihr Missverständnis, das "Einverständnis wäre eine sinnlose Unterwerfung, eine Auslöschung der Individualität nach dem Prinzip: die Partei, das Kollektive hat immer recht (Esslin) - oder eine irrationale Vorstellung, "denn man überwindet den Sturm nicht dadurch, dass man die geeigneten Gegenmaßnahmen trifft" (Pietzker), festgehalten, dass in der Verdoppelung: er überwand den Sturm, und er überstand den Sturm, nicht nur der Aspekt des Aushaltens, sondern auch der der "Beherrschung" formuliert ist. "Einverständnis heißt (also) nicht nur: ’sinnloses Anerkennen’, ’bloße Unterwerfung’, es heißt zugleich auch ’Erkenntnis’ (Einverständnis, vgl. Steinweg 120) des Sturms und seiner Gesetze; und gerade in der Kenntnis dieser Gesetze und ihrer Anwendung liegt die Überwindung." (85) Knopf hat an der gleichen Stelle auch auf den Zusammenhang mit Bacon verwiesen, und sieht in der "Sturmparabel" die Umsetzung seines Satzes "Natura enim non nisi parendo vincitur" (die Natur nämlich kann nur besiegt, beherrscht werden, wenn man ihr gehorcht (Neues Organon. Aph. III), der das Prinzip der neuzeitlichen Naturwissenschaften formuliert, das von Galilei zuerst systematisch und reflektiert angewendet, bis heute in den Naturwissenschaften gültig ist, im Gegensatz zur bis Bacon gültigen These der Naturbeherrschung durch Überlistung. Knopf fährt dann fort: Brecht wendet das naturwissenschaftliche Prinzip auf die Gesellschaft und ihre Realität, ihre Prozesse an: sie sind erst so genau zu sehen, zu reflektieren und auch ’anzuerkennen’, im Sinn: ’einverstanden’ zu sein mit ihnen, nicht aber, um sich ihnen sinnlos auszuliefern, anzupassen, sondern aus ihnen die realen Möglichkeiten ihrer Beherrschung zu entnehmen..." und schließt: "Alles andere nämlich ... dem Sturm Widerstand entgegen zu setzen, ist sinnlos, weil der Widerstand ihn selbst nicht beseitigen kann (den Sturm nämlich) das ist gerade der Idealismus und Irrationalismus, der Brecht mit dem Einverständnis unterstellt worden ist." (86) Das lange Zitat drückt mein Einverständnis mit der hier vertretenen These Knopfs, hoffe ich, hinreichend aus, obwohl ich auch hier noch eine prinzipielle Ergänzung anbringen will (Knopf selbst geht noch an mehreren Stellen auf den Begriff des Einverständnisses ein, besonders beim Galilei, wo es um seine Rücknahme geht, das: Nicht einverstanden sein, den Widerstand), die mich vielleicht auch in den Geruch bringt, dem Irrationalismus des Einverständnisses (freilich anders als bei Pietzker) das Wort zu reden. So ist es jedenfalls nicht gemeint. Es war nicht bloß begriffliche Ordnungsliebe, das Thema des Einverständnisses zurück bis zum Baal zu verfolgen. Dort wird sichtbar, was ich für den Kern, wenn man genauer will: den materialistischen Kern der Lehre vom Einverständnis halte, den man etwas bombastisch auch: Brechts Hinabreichen zu den Großen Müttern nennen könnte. Im Choral vom Großen Baal ist es ganz deutlich: Als im weißen Mutterschoße aufwuchs Baal War der Himmel schon so groß und still und fahl Jung und nackt und ungeheuer wundersam Wie ihn Baal dann liebte, als Baal kam. ... Und das große Weib Welt, das sich lachend gibt Dem, der sich zermalmen lässt von ihren Knien Gab ihm einige Ekstase, die er liebt Aber Baal starb nicht: er sah nur hin. Und wenn Baal nur Leichen um sich sah War die Wollust immer doppelt groß. Man hat Platz, sagt Baal, es sind nicht viele da. Man hat Platz, sagt Baal, in dieses Weibes Schoß. ... Als im dunklen Erdenschoße faulte Baal War der Himmel noch so groß und still und fahl Jung und nackt und ungeheuer wunderbar Wie ihn Baal einst liebte, als Baal war. (1/3ff.) Wenn schon nicht dazu, aber dazu passend als Erläuterung schreibt H. P. Duerr in "Traumzeit": Diesen Nachtfahrenden sind wir nachgegangen, und wir haben ihre Anführerinnen bis zu jenen ’Erdmüttern’ zurück verfolgt, in deren Schoß einstmals die Menschen ihre Individualität auflösten, - ’starben’, um aus dem Ursprung als Wissende wiedergeboren zu werden." (87) Nicht einer Marotte wegen hat Brecht das "Sterben lernen" zum Gegenstand nicht nur von einem, sondern eigentlich von vier Lehrstücken gemacht (bis zur Selbstauslöschung des jungen Genossen in der Maßnahme). Auch wenn er kritisch notierte (zum Badener Lehrstück): Das Lehrstück erwies sich beim Abschluss als unfertig: dem Sterben ist im Vergleich zu seinem doch wohl nur geringen Gebrauchswert zuviel Gewicht beigemessen" (88) wusste vielleicht nicht der Marxist Brecht, aber etwas in ihm, dass dem "Sterben lernen" vielleicht doch mehr Gebrauchswert beigemessen werden müsste. Aber weiter Duerr: Um zu sehen, was sie im Grund waren, mussten sie zu(m) Grunde gehen, mussten sie in den Uterus der Allgebärerin zurückkehren, in den Ursprung nicht nur der Menschen, sondern aller Wesen der Natur... (89) Haben wir nicht oben von der beginnenden Selbsterkenntnis der Menschheit gehört, von der am Anfang des Badener Lehrstücks wie am Schluss des Ozeanflugs die Rede war? Der Akt dieser Erkenntnis war zugleich ein Akt der Liebe, der einen Inzest mit der Mutter dargestellt hätte, wenn sich nicht im Ursprung mit den Inzestschranken auch der Inzest selber gelöst hätte. Der Ursprung ist sündlos. Wo es keine Normen mehr gibt, können auch keine Normen übertreten werden. Und Erkenntnis des Ursprungs hieß: Auflösung der Trennung der Dinge voneinander... Denn was in späteren Zeiten, im klassischen Griechenland, in verdünnter Form ’Erkenntnis als Erinnerung’ hieß, das bedeutete in archaischen Zeiten noch den tatsächlichen Rückgang aus der ’Welt der Trennungen’ in den vereinheitlichenden Schoß der Dinge, der keine Erkenntnis und keinen Erkenntnisgegenstand, kein oben und kein unten, weder Tiere noch Menschen, weder Frauen noch Männer kannte." (90) In einer Interpretation des Schwimmgedichts aus der Hauspostille von Hans-Thies Lehmann kommt der Interpret zum Resultat: Die Einheit des Ich ist eine Grenzscheide, aus welcher der Text Lust schöpft, indem er sie übertritt. Wenn aber Identität letztlich ödipal strukturiert ist, so sagt der Text damit, dass er seine Lust gerade aus dem Durchbrechen der Ordnung (der Sprache, der Geschlechter) zieht... Die Lust, die es im frühen Raum der Mutter-Kindbeziehung gab, verschafft sich Ausdruck ... Dazu erscheint das Subjekt in deutlicher Ambivalenz von Männlichem und Weiblichem ... ’Das Subjekt der poetischen Sprache ist in gewisser Weise ein Mann, der sich als Frau weiß, aber es nicht sein will’ (Julia Kristeva).(91) Entgegen dem, was heute die Philosophen lieben und was sie ’kritische Selbstreflexion’ nennen, eine Technik, die es angeblich möglich macht, unseren Horizont von innen heraus, aus sich selber verständlich zu machen, hatten die archaischen Menschen noch die Einsicht, dass man seine Welt verlassen musste, um sie erkennen zu können, dass man nur zahm werden konnte, wenn man zuvor ’wild’ gewesen war, oder dass man nur dann in der Lage war, im vollen Sinne des Wortes zu leben, wenn man die Bereitschaft gezeigt hatte, zu sterben." (92) Nicht nur in der ironischen Behandlung dessen, "was heute die Philosophen kritische Selbstreflexion nennen", würde Brecht mit Duerr übereinstimmen, ich habe die Differenz dazu, die im Lehren bzw. Einüben von Haltungen besteht, schon in der Einleitung andeutungsweise behandelt, auch in der Beurteilung des Sinnes des "Sterbens" lässt sich Brechts Einverständnis nicht nur vermuten: die Einübung des Sterbens, das "Sterben lernen" der gestürzten Monteure, das Einnehmen der "kleinsten Größe" ist, wie der archaische Initiationsritus damals, für Brecht Voraussetzung für die Neukonstituierung des Individuums im Kollektiv. So hängen die "unerbittliche Nachgiebigkeit" des Baumes Griehn, das "es kommt nicht auf euch an" und das "Überwinden des Sturmes" in der kleinsten Größe zusammen als Grade und Stufen des Einverständnisses: mit "wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein", als Voraussetzung für eingreifendes Handeln, umwälzende Praxis. Wenn ich jetzt anfangen wollte, noch die Einsicht, dass man seine Welt verlassen muss, um sie erkennen zu können, zu interpretieren, fände ich mich unversehens, als käm ich auf Besenstielen geflogen, im nächsten Versuch: Verfremdung. So, als gäb’s Hexen. Versuch 2: Verfremdung Betrachtet genau das Verhalten dieser Leute: Findet es befremdend, wenn auch nicht fremd Unerklärlich, wenn auch gewöhnlich Unverständlich, wenn auch die Regel. Selbst die kleinste Handlung, scheinbar einfach Betrachtet mit Misstrauen! Untersucht, ob es nötig ist Besonders das Übliche! Wir bitten euch ausdrücklich, findet Das immerfort Vorkommende nicht natürlich! Denn nichts werde natürlich genannt In solcher Zeit blutiger Verwirrung Verordneter Unordnung, planmäßiger Willkür Entmenschter Menschheit, damit nichts Unveränderlich gelte. Bertolt Brecht (2/793) Und diese Fremdheit war es, über die wir die Menschen nachdenken lassen wollten, weil wir recht gut wussten, dass unsere Welt immer fremder wurde und nicht gerade beruhigender. Pablo Picasso (1) Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet, und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie. G.W.F. Hegel (2) Ich gebe es zu, ich habe Schwierigkeiten gehabt, den Übergang vom Einverständnis zur Verfremdung zu finden: und die obige Stelle bei Duerr, der ich den rasanten Hexenritt des Übergangs verdanke, ist mehr als ein glücklicher Fund. Jetzt müssen wir uns hier ein wenig aufhalten, um mögliche Missverständnisse zu zerstreuen. Dass es nicht zu weit hergeholt ist, in der Einsicht, dass man seine Welt verlassen muss, um sie erkennen zu können, einen Beitrag zum Thema Verfremdung zu sehen, ist, glaube ich, evident, ohne es lange zu erörtern. In einem guten Doppelsinn für bedenklich kann der Zusammenhang gehalten werden, in dem diese Erkenntnis auftaucht: Anrüchig mag er jenen erscheinen, die schon im Hinweis auf die "Großen Mütter" im Zusammenhang mit Brecht die Gefahr wittern, ich liefere Brecht vollends dem Irrationalismus aus, nachdem ich ihn schon zum Nietzscheschüler gemacht habe. Bedenkenswert ist er aber gerade für die Herauslösung der Kategorie Verfremdung aus einem bloß technisch-praktischen Zusammenhang innerhalb der Theatertheorie Brechts. Verfremden wäre so als eine ursprüngliche, vielleicht die ursprüngliche bewusste Praxis der Heraustretens aus einem gewohnten Zusammenhang, als das Sich-selbst-von-außen-Sehen als Distanzierung des unmittelbaren Handelns ganz generell zu bestimmen; als Distanzierung schlechthin. Aber eskamotieren wir nicht allzu schnell den Zusammenhang bei Duerr, in dem sich diese Stellen finden. Ausgehend von den Beschreibungen der Praktiken der (durchaus geduldeten) mittelalterlichen Nachtfahrenden, die erst am Anfang der Neuzeit in die von Teufeln besessenen Hexen verwandelt werden, die über zwei Jahrhunderte lang einer auf den Holocaust vorweisenden Verfolgung ausgesetzt werden, mitten im sogenannten Zeitalter der Vernunft, fragt Duerr, die europäischen Dokumente mit ethnologischen Daten konfrontierend, nach dem eigentlichen Sinn dieser Veranstaltungen, der in den Verhörprotokollen immer schon durchs ideologische Raster des Christentums verdunkelt wird, und er zeigt den Zusammenhang mit schamanischen Praktiken (etwa auch der Zauberei des Don Juan Matus des Carlos Casteneda) auf: und diese Zusammenhänge führen nicht auf die Erkenntnis "eine(r) andere(n) Wirklichkeit", (wie der missverständliche Titel eines Buchs von Castaneda lautet (3)), sondern auf die beschriebene Grenzerfahrung: das Heraustreten aus der gewohnten Alltagswirklichkeit, um etwas über sie, nicht über anderes, zu erfahren. Dennoch ist auch das Heraustreten nicht beliebig, sondern weist immer die Richtung auf die frühesten überlieferten weiblichen Fruchtbarkeitskulte, eben die "Großen Mütter", in denen Mutterschoß und Erdenschoß in einem zusammenfallen, die als vor allen Trennungen liegend, eben für die immer tieferen Trennungen der Kultur entsühnt werden müssen, deren Einfluss nur langsam schwindet und erst durch eine immer wahlloser zuschlagende Mordmaschinerie in Europa getilgt wurde. Die moderne "westliche Zivilisation" hat damit aber auch erstmals unter allen beobachteten Kulturen sich den Zugang zur "anderen Seite" ihrer selbst abgeschnitten, die Erfahrung des Heraustretens aus der einen Wirklichkeit ausgesperrt. Was bei allen Naturvölkern und noch bei den Griechen als Anwesenheit von Göttern interpretiert wurde, das Reden in "Zungen" auch der biblischen Propheten, ist erst in der europäischen Neuzeit als Fremdes abgewiesen, verfolgt und schließlich als Geisteskrankheit domestiziert und eingeteilt worden und wird heute mit Pharmachemie mundtot gemacht und Elektroschocks: wo einst ein Gott sich offenbarte, fungiert heute der Blitzeschleuderer im weißen Kittel. Vor diesem Hintergrund den Zusammenhang von Einverständnis - als eben der Bewegung des sich in seiner Besonderung Aufgebens, mit Verfremdung - den Akt des Heraustretens aus der vertrauten Wirklichkeit, um sie erkennen zu können, herstellen zu wollen, heißt das nicht, Brechts Gebrauch dieser Begriffe völlig zu entstellen, den erklärten Intentionen Brechts entgegen, gerade den kultischen Charakter theatralischer Veranstaltungen restaurieren zu wollen, ja Brecht gerade für eine magische, irrationalistische Deutung zuzurichten. - Mitnichten. Man sollte aufhören, in der Verrückung der Grenzen von Vernunft, d.h. auch im Bewusstmachen der Grenzen immer die Preisgabe der Vernunft, ihre Abdankung, oder Zerstörung zu wittern. (Diese sehr verkürzte Zusammenfassung erhebt nicht den Anspruch, die Ausführungen Duerrs adäquat zu referieren; und die so bruchlos anschließenden Bemerkungen zum Wahnsinn sind durch die Lektüre Duerrs aufgestiegene Assoziationen, die sich der Lektüre von Michel Foucaults Büchern, insbesondere Wahnsinn und Gesellschaft verdanken.) Über die konkreten Bedingungen künstlerischer wie philosophischer Produktion ist unser Wissen doch trotz wissenschaftlicher Bemühung, die ja doch zumeist im Aufsammeln von Resultaten, Endprodukten besteht, beschämend gering. Wenn Benjamin "das Werk die Totenmaske der Konzeption" (4) nennt, so spricht er diese Erfahrung aus. Und von der Totenmaske her versuchen wir den Organismus zu erforschen. Ähnlich Brecht in der "(vermutlichen) Antwort des Malers" (Michelangelo, auf eine "Kritik an seiner Weltschöpfung") Was ihr von mir Totem bekommt, ist das Was er dem Irrtum abpresste, um es Dem Irrtum zu hinterlassen. Den zehnten Teil von dem Was ich wollte Habe ich gemalt, zehnmal so viel als ich sah Ihr Seht den hundertsten davon. (9/615) Wenn ich also im Versuch, dem Philosophen Brecht auf die Spur zu kommen, bei ihm auf wirklich archaische, oder archaisch anmutende Zusammenhänge stoße, so glaube ich, damit an Produktionsbedingungen seiner Arbeit zu rühren, ohne diese in einem gesellschaftlichen Kausalnexus begründen, d.h. auflösen zu können. Dieses Unauflösbare muss nun aber nicht gleich als irrational fixiert werden: Dann erwuchs ein Gerücht. Er sei nicht gestorben, da er nicht sterblich gewesen sei, hieß es. Geheimnis umgab ihn. Es wurde für möglich gehalten Dass außer Irdischem anderes sei, dass der Lauf des Menschlichen Abzuändern sei für den einzelnen: solches Geschwätz kam auf. Aber zu dieser Zeit ward dann sein Schuh gefunden, der aus Leder Der greifbare, abgetragene, der irdische! Hinterlegt für jene, die Wenn sie nicht sehen, sogleich mit dem glauben beginnen. (9/657) Kommen wir nun zu Begriffsbestimmungen der Verfremdung bei Brecht: Bestimmte Vorgänge des Stückes sollten ... als in sich geschlossene Szenen aus dem Bezirk des Alltäglichen, Selbstverständlichen, Erwarteten gehoben (verfremdet) werden. (17/1087) So schaut der Gebrauch aus, den Brecht vom Begriff Verfremdung macht, wo er zum ersten Mal auftaucht (Ende 1936). (5) Es ist vielleicht gut, bei diesem eher spezifischen Gebrauch, zuerst zu bleiben, nachdem ich verführt durch die erhellenden Hinweise bei Duerr gleich bei einer allumfassenden Deutung gelandet bin. Da Brecht 1935 die UdSSR besucht hatte, sind einige Brechtforscher (so jedenfalls nach Knopf-) auf den Gedanken verfallen, Brecht habe den Terminus von den russischen Formalisten übernommen. Viktor Shklowsky hatte schon 1919 den Begriff Verfremdung, oder vielmehr "Sonderbarmachen" eingeführt, ihn aber zu einem konstituierenden Merkmal jedes Kunstwerks erklärt und ihn an allen möglichen Beispielen aus verschiedenen Epochen demonstriert. Brecht gebraucht nun den Begriff Verfremdung noch bis Anfang der Vierziger Jahre abwechselnd mit dem der Entfremdung, dieser Gebrauch wiederum lässt sich aber schon 1930 nachweisen: "im zuschauer (soll) nicht an das gefühl appelliert werden das ihm erlauben würde (sich) ästhetisch abzureagieren sondern an seine ration die schauspieler müssen dem zuschauer figuren und vorgänge entfremden so dass sie ihm auffallen der zuschauer muss partei ergreifen statt sich zu identifizieren." (6) Ich zitiere hier nach Jan Knopf, der eine äußerst sorgfältige und ausführliche Darstellung der Gesamtproblematik bringt; völlig zu Recht behandelt Knopf >Verfremdung< als den übergreifenden Begriff von Brechts Theatertheorie, innerhalb dessen Episierung, Historisierung, Gestik bis hin zur Bühne und Theater Musik behandelt werden. Das Auftauchen des Begriffs 1930 "entfremden im Sinn von auffällig machen" fällt in die Zeit, wo Brecht "seinen Lehrer" Sergei Tretjakow in Berlin kennenlernte. Für damals, die Zeit vor dem 1. Allrussischen Schriftstellerkongress, der den Sozialistischen Realismus Shdanowscher Prägung verbindlich machte, ist eine solche Übermittlung eines Theoriestücks Shklowskys, der mit Tretjakow gemeinsam in der neuen LEF (7) arbeitete, wesentlich wahrscheinlicher anzunehmen als für 1935. Mitte der Dreißigerjahre wird Brecht bereits (wie etwa die Gespräche mit Benjamin ausweisen) die gespenstische Atmosphäre der Schauprozesse in Moskau verspürt haben: So am "1. Juli 1938: Sehr skeptische Antworten erfolgen, so oft ich russische Verhältnisse berühre. Als ich mich neulich erkundigte, ob Ottwald noch sitzt, kam die Antwort: ’Wenn der noch sitzen kann, sitzt er.’ Gestern meinte die Steffin, Tretjakov sei wohl nicht mehr am Leben." "29.7.38 ... Da er mir gleichzeitig erzählt, Lukacs habe derzeit ’drüben’ eine große Stellung, so sage ich ihm, ich könne ihm keinen Rat geben. ’Hier handelt es sich um Machtfragen. Dazu müsste sich jemand von drüben äußern. Sie haben doch Freunde dort.- Brecht: ’Eigentlich habe ich dort keine Freunde. Und die Moskauer selber haben auch keine - wie die Toten." (8) Es muss also weder die erste noch die zweite Russlandreise von Brecht herangezogen werden, um eine mögliche Verbindung anzunehmen. Umgekehrt legt der schwankende Gebrauch über Jahre hinweg doch die von Knopf vertretene These der Herkunft aus der philosophischen Tradition Hegel-Marx nahe, wobei die offensichtlichen Unterschiede zum Marx’schen Entfremdungsbegriff schließlich zur Fixierung des Verfremdungsbegriffs im Sinne des Hegelschen "Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt" geführt haben mag. (9) Knopf hat nun eine Hegelstelle gefunden, die den Sachverhalt noch genauer bezeichnet, und den Terminus Entfremdung enthält: Um aber zum Gegenstand zu werden, muss die Substanz der Natur und des Geistes gegenüber getreten seyn, sie muss die Gestalt von etwas Fremdartigen erhalten haben - Unglücklich der, dem seine unmittelbare Welt der Gefühle entfremdet wird, - denn dies heißt nichts anderes, als das die individuelle Bande, die das Gemüt und den Gedanken heilig mit dem Leben befreunden Glauben, Liebe und Vertrauen ihm zerrissen wird! - Für die Entfremdung, welche Bedingung der theoretischen Bildung ist, fordert diese nicht diesen sittlichen Schmerz, nicht das Leiden des Herzens, sondern den leichten Schmerz und Anstrengung der Vorstellung, sich mit einem Nicht-Unmittelbaren, einem Fremdartigen, mit etwa der Erinnerung, dem Gedächtnis und dem Denken Angehörigen zu beschäftigen. (10) In ihrer Fortsetzung führt die Stelle bei Hegel direkt auf den gleichen Gedanken, den wir bei Duerr formuliert gefunden haben: Diese Forderung der Trennung aber ist so notwendig, dass sie sich als ein allgemeiner und bekannter Trieb (!) in uns äußert. Das Fremd-artige, das Ferne führt das anziehende Interesse mit sich, das uns zur Beschäftigung und Bemühung lockt, und das Begehrenswerthe steht im umgekehrten Verhältnisse mit der Nähe, in der es steht und gemein mit uns ist. Die Jugend stellt es sich als ein Glück vor, aus dem Einheimischen weg zu kommen und mit Robinson eine ferne Insel zu bewohnen. Es ist eine notwendige Täuschung, das Tiefe zuerst in der Gestalt der Entfernung machen zu müssen, aber die Tiefe und Kraft, die wir erlangen, kann nur durch die Weite gemessen werden, in die wir von dem Mittelpunkte hinwegflohen, in welchen wir uns zuerst versenkt befanden, und dem wir wieder zustreben. (11) Schon bei Hegel wird, wenigstens im Bild der Reise des Jünglings von der gleichen Erfahrung im Zusammenhang mit Verfremdung gesprochen, von der wir mit Duerrs Betrachtungen über den Sinn von Grenzerfahrungen ausgegangen sind. Wir haben also als erstes Resultat einen sehr allgemeinen, umfassenden Sinn von Verfremdung, dem aber noch die Prägnanz der Konkretisierung fehlt, wie sie etwa Karl Valentin mit der Klärung der Frage: "Was sind eigentlich Fremde unter Fremden? erreicht hat: "Fremde unter Fremden sind: wenn Fremde über eine Brücke fahren und unter der Brücke führt ein Eisenbahnzugmit Fremden durch, so sind die durchfahrenden Fremden Fremde unter Fremden, was Sie, Herr Lehrer, vielleicht so schnell gar nicht begreifen werden. - Oho!" (12) Ich möchte aber die Diskussion über Herkunft und Gebrauch des Terminus nicht weiter ausdehnen und verweise hier pauschal auf die erschöpfenden Auskünfte, die sich in Jan Knopfs Brecht-Handbuch am Beginn der Erörterung der Theatertheorie Brechts finden lassen. (13) Auf die Differenz zwischen dem Hegelschen und Marx’schen Gebrauch des Terminus Entfremdung ist allerdings noch einzugehen: Ich versuche kurz zusammenzufassen. Entfremden bei Hegel im Zusammenhang und abwechselnd gebraucht mit entäußern beschreibt das sich Objektivieren des Subjekts und den Zustand des Sich-im-Objekt-verloren-Habens: Daher auch die Welt der Bildung als der der entfremdete Geist in der Phänomenologie auftritt. Sich als dies Verobjektivierte zu erkennen, oder das Objekt als Objekt aufzulösen, es als Geist von seinem Geist begreifen, bedeutet die Rückkehr des Subjekts aus der Entfremdung. Hier setzt die Marx’sche Kritik und ökonomische Differenzierung ein. Dies Sich-im-entäußern-verlustig-Gehen und die Wiederaneignung im Gedanken wird als Verkehrung durchschaut und berichtigt: nicht in der Entäußerung geschieht Entfremdung, sondern dadurch, dass die Aneignung des Entäußerten nicht dem Produzenten (dessen, der sich entäußert hat) zufällt, sondern einem andern (Privateigentum wird), was nichts anderes heißt als Verhinderung der allgemeinen Aneignung des auch in der Entäußerung immer schon Eigenen. Daher die spätere Ersetzung des Begriffs Entfremdung durch Lohnarbeit bei Marx. (Nur noch, um Philosophen verständlich zu sein, wird der ursprünglich gebrauchte Terminus nochmals verwendet.) (14) Mit dieser scheinbar nur geringfügigen Eingrenzung des Entfremdungsbegriffs sind weitreichende Folgerungen verbunden. In einem Fall ist Entfremdung so etwas wie eine Grundbedingung menschlicher Existenz: das Heraustreten aus der Natur als ursprüngliche Entfremdung, die sich auf höherer Stufe reproduziert und potenziert, Aufhebung der Entfremdung grundsätzlich nur als Bewusstseinsakt - im Geiste möglich. Bei Marx statt dessen Vergegenständlichung jene anthropologische Voraussetzung der Gattung Mensch, Entfremdung aber erst durch die Klassenspaltung auftretend, und mit der Aufhebung dieses Antagonismus auch aufhebbar. Ohne dies weiter verfolgen zu können, wird klar, dass dies nicht der Entfremdungsbegriff ist, den Brecht abwechselnd mit Verfremdung gebraucht. Sowohl Ver- als auch Ent-fremdung heißt bei ihm das aktive Etwas-Fremdmachen zum Zwecke des Erkennens, wie es mit dem Hegelsatz aus der Vorrede der Phänomenologie "das Bekannte ist, weil es bekannt, noch nicht erkannt" (15) angesprochen, in der obigen Hegelstelle eben als Vorgang des Fremdmachens auch beschrieben wird. Erst in einer späteren Erläuterung des Verfremdungsbegriffs stellt Brecht den Zusammenhang zwischen Verfremdung und Entfremdung (im Marx’schen Sinn) dar als dialektische Bewegung: Verfremdung als ein Verstehen (verstehen = unmittelbar Vertrautes, Gefühltes, Hingenommenes, "Natürliches") - nicht verstehen ("fremd" machen, das heißt: aufmerken auf die Tatsache der "Entfremdung" - zugleich fürs Subjekt: entfremdeter Zustand) - verstehen (neues Verständnis, Durchschauen der "Entfremdung", Abschluss des Verfremdungsprozesses: Voraussetzung für praktisches Eingreifen, "Bewusstsein", Negation der Negation = Entfremdung der "Entfremdung"). (16) Verfremdung wird also als Mittel zur Aufdeckung von Entfremdung und damit möglicher Einsicht und von daher als Motor zur Überwindung von Entfremdung durch Eingreifen in die Wirklichkeit verstanden. Damit ist auch schon der Rahmen abgesteckt, in dem sich die weitere Erörterung bewegen kann, ohne auf die Beschreibung von V-Effekten eingeschränkt zu werden. Es tut also wirklich nichts zur Sache, ob der russische Formalismus (Shklowsky über Tretjakow) oder Hegel, wie hier angenommen (und Marx als Hegelinterpret) den Begriff bereitstellten, den Brecht ins Zentrum seiner Theatertheorie stellte. Wichtig ist vorerst nur festzuhalten, dass Verfremdung einiges mehr umfasst als nur die VEffekte, mehr ist als ein terminus technicus (wenn auch ein zentraler). Und so ist es auch vom Aufbau dieser Untersuchung zu legitimeren, dass in diesem Versuch über Verfremdung nicht nur von Theatertheorie die Rede sein wird, sondern Brechts Marxismus hier zentral zur Sprache kommt. Zunächst soll aber nach Methoden der Verfremdung, des Fremdmachens bei Brecht gefragt werden, die sich lange vor der Verwendung des Begriffs auffinden lassen. Von der Sache selbst hatte er längst ein genaues Bewusstsein, wie eine Tagebuchnotiz belegt, wo Brecht einerseits von Distanz, andererseits von der ästhetischen Qualität des Verwunderlichen, des Staunens spricht. Bereits 1922 notiert Brecht: Einen großen Fehler sonstiger Kunst hoffe ich im ’Baal’ und ’Dickicht’ vermieden zu haben: ihre Bemühung, mizureissen. Instinktiv lasse ich hier Abstände und sorge, dass meine Effekte (poetischer und philosophischer Art) auf die Bühne begrenzt bleiben. Die ’splendid isolation’ des Zuschauers wird nicht angetastet, es ist nicht sua res, quae agitur, er wird nicht beruhigt dadurch, dass er eingeladen wird mitzuempfinden, sich im Helden zu inkarnieren und, indem er sich gleichzeitig betrachtet in zwei Exemplaren, unausrottbar und bedeutsam aufzutreten. Es gibt eine höhere Art von Interesse: das am Gleichnis, das am Andern, Unübersehbaren, Verwunderlichen.(15/62) Dies, an die Stelle des Mitgerissenwerdens die Distanz, das Staunen zu setzen, ist ein uraltes philosophisches Prinzip, in dem schon die Griechen den Anfang der Weisheit, oder die Voraussetzung der Philosophie sahen. (Und als der ganz späte Brecht seinen oft überkandidelten Schülern von der ästhetischen Kategorie des Naiven spricht, ist wieder vom Gleichen die Rede). Damit bekennt sich schon der junge Brecht als der "Philosoph auf dem Theater", der im Messingkauf dann die Umwälzung und Umfunktionierung des überlieferten Apparats für seine Zwecke fordern wird. Die Frage ist nun, wie und womit Brecht schon in den frühen Stücken das erreicht, was er als Vorzug seiner Stücke anerkennt (bei sonst hellsichtiger Selbstkritik gegenüber ihren Schwächen). Es ist das Ergebnis einer radikalen Sprachkritik. (Dies eine Basis, an der Brecht auch während seiner philosophischen Studien festhalten wird: Erkenntnistheorie muss vor allem Sprachkritik sein (20/140), wird er später formulieren.) A) Der Krieg der Wörter mit den Kehlkopfschreien "Gestern träumte ich vom Tod der Wörter", sage ich. Carola starrte mich an: "Sooo?" "Jaa", sage ich glatt: "Es waren einmal die Wörter, die führten Krieg mit den Kehlkopfschreien ..." Robert Schindel: "Kluge Kinder sterben früh" Diese Sätze stehen am Ende einer Prosa von Robert Schindel über die Aporien der Neuen Linken nach 1968, einer Prosa, die kenntlich macht, wie man produktiv von Brecht lernen kann, ohne ihn nachzuahmen; und da Schindel Wiener ist, treffen sich bei ihm Brecht und Nestroy, Karl Kraus und Freud mit Godard, Celan und Biermann, in einer Durchdringung, die gerichtet auf die Erfassung einer komplizierten Realität, von überall her nimmt, was brauchbar für diese schwierige Unternehmung. Die obigen Sätze bezeichnen ein Bewusstsein von der Situation der Sprache in einem Zustand der Sprachlosigkeit, wo sich das unaufhörliche Reden der Menschen abgelöst hat vom handeln, von ihrem Tun und daher fast aufhört, Mittel der Verständigung, der Kommunikation zu sein in seiner beliebigen Auswechselbarkeit. Karl Kraus hat sich bekanntlich als Lebensaufgabe die Kritik an der Verschluderung der Sprache gewählt und der Presse und dem, was in ihr der Sprache angetan wird, die Schuld gegeben am Weltuntergang (in: "Die letzten Tage der Menschheit", einer grandiosen Montage aus Zeitungsnotizen, Kriegsberichten und Reflexionen des Nörglers dazwischen). Brecht hat sein Absolutsetzen der Sprachkritik in der Keunergeschichte über Herrn Wirr aufs Korn genommen und seiner Forderung nach Abschaffung der Presse die Forderung nach besseren Zeitungen entgegengestellt. In dieser Keunergeschichte findet sich ein Hinweis auf Brechts spezifischen Humanismus: Herr Wirr hielt den Menschen für hoch und die Zeitungen für unverbesserbar, Herr Keuner hingegen hielt den Menschen für niedrig und die Zeitungen für verbesserbar. "Alles kann besser werden", sagte Herr Keuner, "außer dem Menschen." (12/403) (Ich weiß, man soll Kunstfiguren nicht leichtfertig mit ihrem Autor identifizieren.) Aber grundsätzlich stimmte er der Intention dieses "Gewissens der Sprache" zu. Ein anderer Lehrer von Brecht, Karl Valentin, baut seine ganz Komik auf dem hilflosen, grotesken Stolpern über die bürokratisierte, formalisierte, zerbrochene Sprache auf, die, je länger ein Dialog dauert, immer mehr Missverständnisse, Verständnisbarrieren aufbaut, aus denen es kein Entrinnen mehr gibt, so oft er auch in den in sich unendlichen Streitgesprächen mit seiner kongenialen Partnerin Lisl Karlstadt aus ihnen auszubrechen versucht. Hier eine signifikante Probe: Es freut mich ungemein, dass Sie, wie Sie, wenn sie hätten, widrigenfalls ohne direkt, oder besser gesagt, inwiefern, nachdem naturgemäß es ganz gleichwertig erscheint, ob so oder so, im Falle, es könnte oder es ist, wie erklärlicherweise in Anbetracht oder vielmehr, warum es so gekommen sein kann oder muss, es ist, kurz gesagt, kein Beweis vorhanden ... (17) Gegenüber diesem in sich verstrickten Wortsalat, den das Eindringen der "Schreibe" in die Alltagssprache ergibt, steht die esoterische Stilisierung der Schreibe als reine Kunstsprache, ein sich esoterisch gebärdendes Flüchten aus der Wirklichkeit etwa Rilkes oder Georges, nicht zu reden von den ekstatischen Schreiben und Wortfetzen der Expressionisten. Diese Sprachformen hatten den Zusammenhang mit der gesprochenen Sprache verloren - bzw. sich absichtsvoll distanziert davon, mit dem Resultat, für welches Brecht ironisch den Terminus "Druckkunst" prägte: als Zusammenfassung von Im- und Ex-Pressionismus mit dem schönen Doppelsinn von Druck, der sowohl auf die bloß geschriebene, gedruckte Kunst verweist, wie auf die Anstrengung und Künstlichkeit dieser Produktionen. (18/55) Im Me-ti findet sich eine Beschreibung der Neuerungen, die Brecht vornahm, in einer rückblickenden Reflexion auf die eigene Ausgangssituation, d.h. die des Dichters Kin-jeh: "Er (Kin-jeh, Brecht) fand zwei Sprachweisen vor: Eine stilisierte, welche gespreizt und geschrieben klang und nirgends im Volk, bei der Erledigung der Geschäfte oder bei anderen Gelegenheiten, gesprochen wurde, und eine überall gesprochene, welche eine bloße Imitation des alltäglichen Redens und nicht stilisiert war. Er wandte eine Sprachweise an, die zugleich stilisiert und natürlich war. Dies erreichte er, indem er auf die Haltungen achtete, die den Sätzen zugrunde liegen: Er brachte nur Haltungen in Sätze und ließ durch die Sätze die Haltungen immer durchscheinen. Eine solche Sprache nannte er gestisch, weil sie nur ein Ausdruck für die Gesten der Menschen war. Man kann seine Sätze am besten lesen, wenn man dabei gewisse körperliche Bewegungen vollführt, die dazu passen, Bewegungen, welche Höflichkeit oder Zorn oder Überredung oder Spotten oder Memorieren oder Überrumpeln oder Warnen oder Furchtbekommen oder Furchteinflüssen bedeuten. Oft kommen innerhalb eines bestimmten Gestus (wie Trauer) noch viele anderen Gesten vor (wie Alle-zu-ZeugenAufrufen, Sich-zurückhalten, Ungerechtwerden usw.). Der Dichter Kin (Brecht) erkannte die Sprache als ein Werkzeug des Handelns und wusste, dass einer auch dann mit andern spricht, wenn er mit sich spricht. (12/459) Hier hat Brecht nicht nur bereits längst seine Sprache gefunden, sondern verfügt über eine metasprachliche Ebene der theoretischen Beschreibung dessen, was die Neuerungen seiner Sprache ausmacht. Für den jungen Brecht um 1920 stellt sich die Aufgabe direkter, unmittelbarer, tatsächlich als "Krieg der Wörter mit dem Kehlkopfschreien": "Viele Dinge sind erstarrt, die Haut hat sich ihnen verdickt, sie haben Schilde vor, das sind die Wörter... Wir haben von den Dingen nichts als Zeitungsberichte in uns, wir sehen die Geschehnisse nur mit den Augen von Reportern, die nur bemerken, was interessieren könnte, was verstanden wird. Das Schlimmste, wenn die Dinge sich verkrusten in Wörtern, hart werden, wehtun beim Schmeißen, tot herumliegen." (18) Damals fehlte Brecht eine andere Methode als diejenige der radikalen Sprachkritik, um der Dinge in ihrer vielfältigen Erscheinung und stündigen Veränderung habhaft zu werden; er greift die abgestumpften Wörter heftig an: "Sie müssen aufgestachelt werden, enthäutet, bösgemacht, man muss sie füttern und herauslocken unter der Schale, ihnen pfeifen, sie streicheln und schlagen, im Taschentuch herumtragen, abrichten. Man hat seine eigene Wäsche, man wäscht sie mitunter. Man hat nicht seine eigenen Wörter, und man wäscht sie nie. Im Anfang war nicht das Wort. Das Wort ist am Ende. Es ist die Leiche des Dinges ..." (19) In den Berichten von Augsburger Jugendfreunden (20) Brechts finden sich Hinweise darauf, wo und wie Brecht sein Material sammelte, Wörter und Redewendungen notierte, ausprobierte, auf dem Markt, bei den Fuhrleuten (wie sie im Baal vorkommen), auf dem Plärrer (einer Art Jahrmarkt in Augsburg), den Ausrufern "ihre wirksamsten Gesten stahl". (8/81) Ebenso finden sich Selbstzeugnisse: 28.8.1920: Ich merke, dass ich schwach im Zeitwort bin. Auf dem Zeitwort baut sich aber das Drama auf. Ich lege ein Vokabularium an, schaue drauf wie auf rollende Kugeln beim Roulette. Ich muss mich bessern darin. (21) Brecht nahm also schon früh die Aufgabe wörtlich, "dem Volke aufs Maul schauen." Damit fällt das Stichwort Luther. Bekannt ist Brechts Antwort auf die Frage nach der Lektüre, die den stärksten Eindruck auf ihn gemacht habe, sein schnoddriges: "Sie werden lachen, die Bibel." Tatsächlich schöpfte er aus der Lutherschen Bibelübersetzung wohl die meisten Anregungen bei der Arbeit, die deutsche Sprache und besonders die der Literatur so zu verändern, dass mit ihrer Hilfe die sich vollziehenden gesellschaftlichen Umwälzungen wiedergegeben werden konnten. Die deutsche Sprache hatte für ihn seit der Reformation unter den Zuständen der "deutschen Misere" gelitten, war zu einer Bedienten- und Kanzlistensprache herabgesunken und hatte schließlich in der Literatur den Anspruch aufgegeben, der Mitteilung zu dienen, sondern musste dazu herhalten, die Gefühle schöner Seelen auszudrücken. In den Versuchen der Expressionisten, eine neue Sprache zu schaffen, sah er nur die andere Seite der gleichen Wirklichkeitsfremdheit. Die Sprache der Lutherbibel musste sich aus mehreren Gründen für eine Neugestaltung der Sprache besonders eignen. Einmal übernahm Brecht die Luthersche Forderung, dem Volks aufs Maul zu schaun; ging es ihm darum, das gestische Element, das in der vulgären Sprache am stärksten sich durchsetzt, für die Literatur fruchtbar zu machen; zum anderen war die Teutsche Bibel Luthers in einer Zeit entstanden, in der die revolutionären Hoffnungen der sich gerade aus mittelalterlicher Enge befreienden bürgerlichen Klasse in Deutschland erfüllbar schienen, daher sich in ihrer Sprache Elemente des Rebellischen, der Aufsässigkeit und der Gehorsamsverweigerung gegenüber der Obrigkeit finden. Andererseits ist sie aber auch eine Fundgrube für Elemente der "Sklavensprache", die sich im gesamten Werk Brechts nachweisen lassen. Die Stellen, wo Nietzsche für sich das Verdienst in Anspruch nimmt, die Sprache Luthers wieder entdeckt zu haben für die Literatur, habe ich schon im ersten Teil dieser Arbeit zitiert. Brecht hat es aus auch schon erörterten mutmaßlichen Gründen nie für notwendig gehalten, auf eine Vermittlerrolle Nietzsches in diesem Zusammenhang zu sprechen zu kommen und die Entdeckung der gestischen Sprache Luthers durchaus für sich in Anspruch genommen. Und bekanntlich figuriert als Exempel zur Erläuterung dessen, was die gestische Formulierung eines Satzes ausmacht, eine Stelle aus Luthers Bibelübersetzung: "Wenn dich dein Auge ärgert: reiß es aus". (15/482) Die direkten und indirekten Zitate, Anspielungen, Umkehrungen und Abwandlungen von Bibelstellen in Brechts Werk sind Legion (ich glaube, Thomas O. Brandt hat in seinem Buch über die Vieldeutigkeit Brechts versucht, die wichtigsten Belegstellen aufzulisten(22)). Wenn aber Brecht mit der Entdeckung der Luthersprache auch Nietzsche "beerbt" hat, so ist auch festzuhalten, dass er im Aufgreifen dieses Fundes zugleich auch weit über Nietzsche hinausgegangen ist, nicht nur in der theoretischen Begründung (soweit ich sehe, findet sich der Terminus "Gestus" bei Nietzsche nicht; an einigen Stellen spricht Nietzsche allerdings in ähnlichem Sinn wie Brecht von Gestus von Gebärden), sondern auch im Ausmaß bzw. der Konsequenz der Säkularisierung. Besonders im Zarathustra wird deutlich, wieviel quasi religiöser Gehalt, prophetische Gebärde von Nietzsche mit übernommen wird, während Brecht das "Dem Volk aufs Maul schauen" noch um die Wendung des "Einnehmens der plebejischen Perspektive" ernster nimmt und mit dem Blick von unten auch die Religionskritik des niederen Materialismus konsequent entfaltet. Was Brecht besonders beeindrucken musste, war die Tatsache, dass die Sprache der Bibel in ihrem Gestus stets schon ein Publikum einschloss als Überlieferung, Bericht und Prophezeiung an eine Gemeinde, in einer nie unterbrochenen Dialogsituation sich wendete. Schon der frühe Brecht erzielte dadurch, lange bevor er den Ausdruck prägte, einen Verfremdungseffekt, dass er die Auseinandersetzung mit einer neuen Wirklichkeit so darbot, als handelte es sich um Vertrautes und Bekanntes, dem aber plötzlich der Boden unter den Füßen entzogen wird. Gerade dadurch war der Abstand zwischen den neuen Bedingungen menschlicher Existenz und den dahinter zurückbleibenden Denkformen und Lebensgewohnheiten deutlich zu machen. Mögen bei Brecht zunächst wie bei Nietzsche ästhetische Gründe für den Rückgriff auf Luther maßgeblich gewesen sein (Nietzsche stellt seine Entdeckung ja als Stil- bzw. Geschmacksfrage dar), so geht es Brecht um die Herstellung eines Traditionszusammenhangs, den er in der deutschen Literatur weitgehend vermisst. Man vergleiche die Eintragung im Arbeitsjournal vom Februar 1940(23), worin Brecht die englische Literatur um die Kontinuität ihrer Entwicklung beneidet. Brecht muss sich seine Tradition "zusammensuchen" und zu Wedekind, Villon und Rimband für die frühen Balladen treten dann von den Deutschen neben Luther, Grimmelshausen und Johann Peter Hebel, Büchner und Lenz, und die Klassik aussparend nur die "gescheiterten Außenseiter" zwischen Klassik und Romantik: Hölderlin und Kleist. Die Aussparung der Weimarer Klassik hängt zusammen mit der gehobenen Kanzleisprache Goethes, an die - wie Eisler im Gespräch mit Bunge bemerkt - , unmöglich angeschlossen werden konnte. Anläßlich der Lektüre des Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe spricht Brecht von einer "hochgesinnten" Verschwörung gegen das Publikum, in der der deutschen Bourgeoisie eine Nationalliteratur aufgezwungen wurde "wie sein bürgerliches Gesetzbuch". (24) Für diese Isolierung der Weimarer - der eigentliche Grund ihrer Selbststilisierung als Olympier wie überhaupt für das Fehlen einer literarischen Tradition in Deutschland - findet Brecht die Ursache in der verfehlten bürgerlichen Entwicklung Deutschlands, der "Deutschen Misere", dem Resultat des Bündnisses Luthers mit dem Feudaladel gegen die Bauern, mit dem Dreißigjährigen Krieg und der Kleinstaaterei nach dem Westfälischen Frieden im Gefolge, - mit den verheerenden Auswirkungen auf den deutschen Charakter (Knechtseligkeit, Barbarei ...) und die geistige Entwicklung in Deutschland. Die Erörterung des Einflusses der Lutherbibel auf Brechts Sprache hat, scheint es, recht weit abgeführt von der hier interessierenden Problematik der Verfremdung. Ging es nicht schon Luther mit der Bibelübersetzung um ein Nahebringen eines früher fremden (fremdsprachigen) und damit entrückten, verfremdeten Bereichs, um ein vertraut Machen, allgemein Machen eines vorher nur wenigen zugänglichen Wissen? Und ging es nicht auch dem jungen Brecht mit dem Aufstacheln, Bösmachen der verkrusteten Wörter darum, fremd- und gleichgültig Gewordenes wieder nahezubringen, - rede ich also vom Gegenteil dessen, was ich angekündigt habe? Hat die Sprachkritik Brechts gar nichts mit Verfremdung zu tun? Dieser Schein entsteht, wenn man vergisst, dass Verfremdung als "Fremdmachen eines Bekannten, um es erkennen zu können", sich auf Wirklichkeit bezieht, auf die wir uns mittels Sprache beziehen. Je abgetrennter die Sprache vom Handeln, desto eher passiert eben das, dass das bloß Bekannte schon fürs Erkannte genommen wird. Wir meinen dann bloß von Wirklichkeit zu sprechen und nehmen die Differenz gar nicht mehr wahr. Jeder, der nur gelegentlich versucht hat, einen Vorfall, eine Situation zu beschreiben, hat die Erfahrung machen müssen, dass es eine unmittelbare Abschilderung nicht gibt, nicht gegen kann, dass die Wirklichkeit, die man mit Händen greifen zu können meinte, zwischen den Worten entweicht und man kennt die Öde, die unendliche Langeweile von Versuchen, in positivistischem Vertrauen auf die Faktizität immer noch präzisere Beschreibungen zu geben: sie geraten in die schlechte Unendlichkeit der Aufreihung von Einzelheiten, in denen die Dinge, die festgehalten werden sollten, sich auflösen. Sprache ist eben nicht ein neutraler Spiegel oder das indifferente Medium der Mitteilung, sondern ein Konstrukt, durch welches eine bestimmte Wirklichkeit konstruiert wird. In diesem Sinn gilt auch Brechts schon erwähntes Diktum: Erkenntniskritik ist Sprachkritik. Dies ist nun nicht im Sinne eines Agnostizismus ein Argument der Leugnung objektiver Wirklichkeit oder misszuverstehen im Sinne der Sprachspieltheorie des späten Wittgenstein, da Sprache eben nie nur Konvention, gelegentliche Übereinkunft, sondern historisch vermittelte Intersubjektivität, auf Handeln bezogen und auf dieses einwirkend. Die Entdeckung der gestischen Sprache bedeutet die Freilegung eines verschütteten Zusammenhangs zwischen Sprache und Handlung. Oder nicht Sprache ist das Konstrukt, in dem eine Wirklichkeit konstituiert wird, sondern gesellschaftlich handelnd konstituieren die Menschen ihre Wirklichkeit und ihr Sprechen gehört dazu, die Trennung zwischen Sprache und Handeln ist so eigentlich Abstraktion (die nun aber auch in der Wirklichkeit der fortschreitenden Arbeitsteilung und Spezialisierung fundiert ist.) Daher ist das Herausarbeiten des dem jeweiligen Sprechen zugrundeliegenden Gestus ein Mittel des Auffälligmachens dieses Zusammenhangs, damit Voraussetzung fürs verändernde Eingreifen in die Wirklichkeit. Aber noch in einem andern Zusammenhang betreibt Brecht Sprachkritik als Erkenntniskritik: Philosophen werden meist sehr böse, wenn man ihre Sätze aus dem Zusammenhang reißt. Me-ti empfahl es. Er sagte: Sätze von Systemen hängen aneinander wie Mitglieder von Verbrecherbanden. Einzeln überwältigt man sie leichter. Man muss sie also voneinander trennen. Man muss sie einzeln der Wirklichkeit gegenüberstellen, damit sie erkannt werden. Alle zusammen hat man vielleicht nur bei einem Verbrechen gesehen, jeden Einzelnen aber schon bei verschiedenen." (12/471) Der sicher nicht schmeichelhafte Vergleich der philosophischen Sätze mit Mitgliedern einer Verbrecherbande stachelt das Misstrauen gegen die Versuche der Philosophen an, der Welt jeweils ihr System als die einzig gültige Weltsicht aufzuzwingen. Daher empfiehlt Brecht in diesem Zusammenhang auch, den Philosophen weniger bei der Darlegung ihres Systems zu folgen, sondern ihnen dort zuzuschauen, wo sie ihre Kollegen kritisieren: "Dann nämlich beschreiben sie dieselben als ziemlich skrupellose und voreilige Konstrukteure, nicht als Finder, sondern als Erfinder, und ein appetitmachender Slang von Werkzeug, terminus technicus, technischen Griffen macht sich breit: Man sieht Handwerker an der Arbeit..." (20/142) Einem Philosophieren, welches auf Eingriffe in die Wirklichkeit zielt, statt fertige Weltinterpretationen liefern zu wollen, ist daher auch eine Art der Darstellung angemessen, die Platz lässt zwischen den Sätzen - den Raum fürs Handeln, der Praxis - deutlich sichtbar ausspart. Wenn hier Sprachkritik als erste Stufe der Arbeit des Problems der Verfremdung dargestellt wurde, ist damit nicht unterstellt, dass es sich um ein frühes Verfahren bei Brecht handelt, welches später durch andere entwickeltere Techniken der Schauspiel- bzw. Bühnenkunst abgelöst worden wäre. Sprachkritik bleibt vielmehr die Grundlage aller Kritik und zieht sich durchs gesamte Werk von Brecht. So beschreibt Brecht in dem schon mehrfach zitierten Rückblick bei Durchsicht seiner ersten Stücke die Arbeit an der Sprache bei der Entstehung von "Im Dickicht der Städte". Schwäne schwammen in dem teichartigen Wasser. Die Kastanien warfen ihr gelbes Laub ab. ... Ich stellte Wortmischungen zusammen wie scharfe Getränke, ganze Szenen in sinnlich empfindbaren Wörtern bestimmter Stofflichkeit und Farbe. Kirschkern, Revolver, Hosentasche, Papiergott: Mischungen von der Art. - Selbstverständlich arbeitete ich gleichzeitig an der Fabel, an den Charakteren, an meinen Meinungen über menschliches Verhalten und seine Wirksamkeit, und vielleicht habe ich das Formale ein wenig übertrieben. (17/950) Und ganz ähnlich die Arbeit am Cäsarroman, nun beschrieben mit Blick auf die Formalismusanklagen der Lukacse: Während ich .. .einen bestimmten Sachverhalt zu ergründen suche, voll von Skepsis ..., habe ich Farben, Vorstellungen vager Art im Hinterkopf, Eindrücke bestimmter Jahreszeiten, höre Tonfälle ohne Worte, sehe Gesten ohne Sinn, denke an wünschbare Gruppierungen von nichtbenamten Gestalten ... der Formalist" in mir arbeitet. Während mir langsam die Bedeutung der Sterbekassenvereine des Clodius aufgeht und mich eine gewisse Entdeckerfreude erfasst, denke ich: wenn man einmal ein sehr langes, durchsichtig geschriebenes, herbstliches, glasklares Kapitel schreiben könnte, mit einer unregelmäßigen Kurve einer Art roter Wellenlinie die durchgeht! ... Ich bin in einem frühen Stadium meiner Arbeit. (19/300) Immer geht in die Arbeit an der Sprache Verfremdung als Mittel der Erkenntnis, als Mittel für die Herstellung von praktikablen Abbildern der Wirklichkeit ein, wobei deutlich wird, dass die Betonung des Artistischen, das ästhetische Interesse nicht bloß als kleines "erlaubtes" Nachlassen der Erkenntnisinteressen gelten kann, sondern von Brecht als gleich wichtiges Element des Erkenntnisprozesses verstanden wird. In diesem Zusammenhang sei auf den Aufsatz von Dieter Thiele verwiesen: "Brecht als TUI?". (25) Der Autor interpretiert dort die von mir schon in der Einleitung zitierte Stelle aus Benjamins Gesprächen mit Brecht, wo Brecht sich vor einem fiktiven Tribunal verantwortet und an das Eingeständnis: Ganz ernst ist es mir nicht, die "noch wichtigere Behauptung" anschließt: dass mein Verhalten nämlich erlaubt ist. Zitat Thiele: Und womit ist es Brecht eigentlich nicht ganz ernst? Nehmen wir den krassesten Fall: mit seinem politischen Engagement. Dann entspräche dieses Nicht-ganz-ernst-Sein genau dem, was Lenins hypothetische Romanschreiberei bedeuten würde: eine politische Betätigung des großen Revolutionärs mit falschen Mitteln; ein für ihn ’nicht würdiges Verhalten’, an dessen Ernst und ’Durchschlagskraft’ man zweifeln müsste. Damit ist aber nicht der Ernst literarischer Betätigung und ihre Bedeutung für die politische Praxis geleugnet, noch kann man davon sprechen, dass der Ernst der politischen Aktion und die Realitätsdistanz der ästhetischen Sphäre in Widerspruch stehen. Vielmehr lässt sich die Passage aus Benjamins Tagebucheintragung so verstehen, dass Brecht, indem er betont, dass das Romanschreiben des Politikers Lenin als ’unstatthaft’ empfunden werden würde, gerade die politische Sphäre als dessen eigentliches Aufgabenfeld hervorhebt und durch sein eigenes vor dem fiktiven Tribunal geäußertes Bekenntnis ‘ganz ernst ist es mir nicht’ in umgekehrter Weise die ästhetische Sphäre, die Literatur und das Theater, als sein Aufgabenfeld verdeutlichen will." (26) Einen weiteren Beleg für diese Argumentationsrichtung stellt die Geschichte: Me-ti über den Tod des Tu (12/577) dar. Leider bin ich weit von dem Idealzustand entfernt, dieses Buch aus 90 % Zitaten montieren zu können, wie ich es Brechts Vorschlag folgend gerne möchte; aber der Zwischentext schwillt doch zu sehr an: Originalität "Heute", beklagte sich Herr K., "gibt es Unzählige, die sich öffentlich rühmen, ganz allein große Bücher verfassen zu können, und dies wird allgemein gebilligt. Der chinesische Philosoph Dschuang Dsi verfasste noch im Mannesalter ein Buch von hunderttausend Wörtern, das zu neun Zehnteln aus Zitaten bestand. Solche Bücher können bei uns nicht mehr geschrieben werden, da der Geist fehlt. Infolgedessen werden Gedanken nur in eigener Werkstatt hergestellt, indem sich der faul vorkommt, der nicht genug davon fertigbringt. Freilich gibt es dann auch keinen Gedanken, der übernommen werden, und auch keine Formulierung eines Gedankens, die zitiert werden könnte ..." (12/379) B) Der einzige Zuschauer für meine Stücke ... Als ich ’Das Kapital’ von Marx las, verstand ich meine Stücke. Man wird verstehen, dass ich eine ausgiebige Verbreitung dieses Buches wünsche. Ich entdeckte natürlich nicht, dass ich einen ganzen Haufen marxistischer Stücke geschrieben hatte, ohne eine Ahnung zu haben. Aber dieser Marx war der einzige Zuschauer für meine Stücke, den ich je gesehen hatte. Denn einen Mann mit solchen Interessen mussten gerade diese Stücke interessieren. Nicht wegen ihrer Intelligenz, sondern wegen der seinigen. Es war Anschauungsmaterial für ihn. Das kam, weil ich so wenig Ansichten besass wie Geld und weil ich über Ansichten die gleiche Ansicht hatte wie über Geld: Man muss sie haben zum Ausgeben; nicht zum Behalten. (15/129) Wenn man der Frage nachgeht, wie Brecht zum Marxismus gekommen ist, - um dann das Spezifische seiner Marxrezeption zu untersuchen -, dann fällt auf, wie sehr Brecht betont, dass es im Zusammenhang mit seiner Theaterarbeit geschehen ist. Das Zeugnis, er sei "auf kaltem Weg zum Marxismus gekommen", haben wir schon erwähnt. Aber man könnte hinzufügen: Brecht konnte ihn brauchen. 1935 beschreibt er seinen Zugang zum Marxismus als eine Art Betriebsunfall seiner Theaterarbeit: Für ein bestimmtes Theaterstück brauchte ich als Hintergrund die Weizenbörse Chicagos. Ich dachte, durch einige Umfragen bei Spezialisten und Praktikern mir rasch die nötigen Kenntnisse verschaffen zu können. Die Sache kam anders. Niemand, weder einige bekannte Wirtschaftsschriftsteller noch Geschäftsleute ..., niemand konnte mir die Vorgänge an der Weizenbörse hinreichend erklären. Ich gewann den Eindruck, dass diese Vorgänge schlechthin unerklärlich, d.h. von der Vernunft nicht fassbar, und das heißt wieder einfach unvernünftig waren. Die Art, wie das Getreide der Welt verteilt wurde, war schlechthin unbegreiflich. Von jedem Standpunkt aus außer demjenigen einer Handvoll Spekulanten war der Getreidemarkt ein einziger Sumpf. Das geplante Drama wurde nicht geschrieben. Statt dessen begann ich Marx zu lesen, und da, jetzt erst las ich Marx. Jetzt erst wurden meine eigenen zerstreuten praktischen Erfahrungen und Eindrücke richtig lebendig... (27) Brecht galt in den Zwanziger Jahren als fortschrittlicher Dichter, als "heimatloser Linker" ohne festen politischen Standort. Er konnte, aus einem Vortrag über das neue Russland kommend, notieren: Mir graut nicht vor der tatsächlich erreichten Unordnung dort, sondern vor der tatsächlich angestrebten Ordnung. Ich bin jetzt sehr gegen den Bolschewismus: Allgemeine Dienstpflicht, Lebensmittelrationierung, Kontrolle, Durchstecherei, Günstlingswirtschaft. Außerdem, im günstigsten Fall: Balance, Umformierung, Kompromiss. Ich danke für Obst und bitte um ein Auto... (28) aber sich ebenso darüber aufregen, wenn sein Vater über den Kommunismus schimpfte: Mittags redet Papa Unsinn über den Kommunismus. Zwei Äpfel im Garten sind gestohlen, ich verteidige den Dieb: Was Bäume machen, gehört niemand. Hierauf schreit Papa ... soweit sei es mit Deutschland wegen Leuten wie uns gekommen... (29) Der Kommunismus oder der Marxismus war für Brecht eine Ansichtssache, die ihn nur peripher interessierte. (20/16) Aber schon Anfang 1922 notiert er auch im Zusammenhang mit Theater sein Bedürfnis "nach einer starken und gleichmäßigen Philosophie": Gelingt es einem von uns, das Drama zum Spiel zu machen, ohne es zu schwächen, wozu vielleicht weniger eine heroische Religion wie zu den großen mythischen Tragödien gehört, als eine starke und gleichmäßige Philosophie; dann werden wir durch ein Feixen dem Gelächter entgehen. (30) Dass Brecht sich hier mutmaßlich mit Nietzsches "Geburt der Tragödie" auseinandersetzt, sei nur wieder einmal angemerkt. Wenn ich weiter oben salopp formuliert habe: Er konnte ihn brauchen (Brecht den Marxismus), wird jetzt schon in zweierlei Hinsicht deutlicher, wozu. Einerseits, um die eigenen Eindrücke von der Wirklichkeit besser zu ordnen, in einen theoretischen Zusammenhang stellen zu können und durchsichtig zu machen, andererseits als theoretische Grundlage für sein Theater. In diesem Sinn kann man der Meinung Hans Mayers zustimmen, dass die These, "dass es das gesellschaftliche Sein sei, welches das Bewusstsein bestimme, als philosophisch-materialistische Grundeinsicht vom Primat der Basis gegenüber der - angeblich sekundären Rolle des Überbaus in fast allen Werken Brechts paraphrasiert werde." (31) Aber auch nur in diesem Sinn. Denn gerade dabei dürfte es sich nicht um eine "kritische Erleuchtung", wie Mayer formuliert, sondern eben um die Konkretisierung einer frühen Brecht-eigenen Grundeinsicht handeln, die er bei Marx theoretisch ausformuliert fand. Was aber nicht geht (aber Mayer tut) ist, einerseits die auf Lenin zurückgehende Dreiteilung des Marxismus in dialektischen und historischen Materialismus, Politische ökonomie und Geschichte der Arbeiterbewegung als formell zu kritisieren, aber dann Brechts Beitrag zum Marxismus auf die Abteilung "Diamat" zu beschränken. (32) Die philosophische Bedeutung Brechts liegt gerade darin, dass er innerhalb des Marxismus nicht nur eine eigenständige Nuance entwickelte (wie etwa Korsch oder Bloch), sondern dass er den Bruch, der in der Konzeption vom Praktischwerden der Philosophie lag, auch theoretisch und praktisch vollzog: zum Ausgangspunkt seiner philosophischen Bemühungen machte. Es war ihm ernst damit, den Marxismus nicht als eine von vielen möglichen Ansichten über die Welt - als Weltanschauung - anzuerkennen, sondern als eine Methode zu begreifen, handelnd in die Wirklichkeit einzugreifen, wobei er zu diesem Handeln auch das Theatermachen zählte. Ich habe in der Einleitung festgestellt, dass die paradoxe Situation besteht, dass gerade Brechts Bekenntnis zum Marxismus eins der Hindernisse darstellte, ihn als Philosophen ernst zu nehmen. Auf der anderen Seite beginnt sich doch die Überzeugung durchzusetzen, dass Brechts theoretisches Werk mehr Gewicht hat, als bloßer Kommentar zu den literarischen Werken zu sein (so noch der Herausgeber Werner Hecht im Nachwort zu Band 20 der Werkausgabe Suhrkamp (33)), und es wird seit einigen Jahren versucht, den marxistischen Theoretiker Brecht ins Licht zu rücken. Allerdings ist unübersehbar, dass dabei (etwa von Werner Mittenzwei, der den Me-ti-Fundus systematisch geordnet herausgebracht hat) der Versuch unternommen wird, die Differenzen zum offiziellen Marxismus wegzuretuschieren. Nachdem schon Hanns Eisler in den Gesprächen mit Hans Bunge auf die eminente Bedeutung Lenins für Brecht verwiesen hat, sieht Mittenzwei im Me-ti "Brechts Lenin-Poem, einen Dialog, den er in der dritten Person über Lenin führt, über den Dialektiker, den Revolutionär, über Lenin, den Listigen, den Weisen." (34) Anders als der offizielle Marxismus-Leninismus, der den Beitrag Lenins im wesentlichen additiv bzw. selektiv zu dem von Marx und Engels versteht (d.h. einerseits vom Marxismus das aufnimmt, was und wie Lenin Marx rezipiert hat, andererseits dem Marxismus die Imperialismustheorie Lenins oder sein Parteiaufbaukonzept hinzufügt), kann Brecht als einer der wenigen authentischen Leninisten bezeichnet werden, d.h. als einer, dessen gesamte Marxrezeption durch seine Leninrezeption als Katalysator tingiert ist: Von Mi-en-leh (Lenin) sagten viele, er sei ein großer Praktiker gewesen, Le-peh (Plechanow) aber ein großer Philosoph. Me-ti sagte: Le-pehs Praxis bewies, dass er kein großer Philosoph war, Mi-en-lehs Praxis bewies, dass er ein großer Philosoph war. Mi-en-leh war in der Philosophie praktisch und in der Praxis philosophisch. ... Während andere das Leben betrachten auf seine Ausbeute für Meinungen hin, beschäftigte sich Mi-en-leh mit Meinungen um des Lebens willen. Nur wenn man annimmt, der Philosoph lebe um der Philosophie willen, war Mi-en-leh kein Philosoph, aber so etwas anzunehmen, schien ihm selber nicht philosophisch." So heißt es in einer Notiz im Me-ti unter der Überschrift: Vorsicht bei der Verwahrung von Erfahrungen. (12/451) Ich kann mir nicht ersparen, in diesem Zusammenhang auch auf die schon leidige KorschDebatte in der Brechtforschung einzugehen, die ganz im Zeichen der Inanspruchnahme Brechts für oder gegen den offiziellen Marxismus steht. Seit Wolfdietrich Rasch bereits 1963 Karl Korsch als den "marxistischen Lehrer Brechts" entdeckt hat, ist der Anteil von Korsch an Brechts marxistischer Ausbildung beliebter Zankapfel der Brechtforschung. Während die einen (Rasch und Brüggemann) Brechts Marxismus mit dem von Korsch weitgehend identifizieren, weisen andere (Mittenzwei vor allem) den Einfluss von Korsch weitgehend in den Bereich der Legende. Ich vermeide es, hier die ganze Korsch-Debatte auszubreiten, zu der dann noch die eingehende Auseinandersetzung mit dem Einfluss Sternbergs, Tretjakows, Benjamins und Eislers treten müsste, ganz zu schweigen (wie es die Brechtforschung weitgehend tut,[eine Anmerkung von 1981!; heute kann man von der Brechtforschung eher das Gegenteil behaupten; nach Fuegi heißt der große deutsche Dichter eigentlich Elisabeth Hauptmann und nur ihr Expropriateur Brecht!]) vom Einfluss der Frauen um Brecht, die bereits vor ihm den Marxismus anhingen: Asja Lacis, die er bei der Inszenierung von "Leben Eduard des Zweiten" bereits 1923/24 in München kennengelernt hatte (welchen Einfluss etwa sie auf Benjamins Marxismuszuwendung üben sollte, belegt seine Widmung an sie in der "Einbahnstraße" (35)), Helene Weigel, deren Einfluss auf Brecht in den Zwanziger Jahren sicherlich nicht nur ein auf die kongeniale Schauspielerin eingegrenzter war, wie Klaus Völker hervorhebt,(36) und schließlich Margarete Steffin, der "Kleine Soldat der Revolution", Brechts Freundin und proletarische Lehrerin seit Beginn der Dreißiger Jahre. Wie weit Elisabeth Hauptmann früher als Brecht zum Marxismus kam, entzieht sich meiner Kenntnis. All dies ist, finde ich, im einzelnen nicht so wichtig: Es hilft nur, die identifizierenden Vorstellungen zu relativieren, wenn einmal Korsch allein zum Lehrer Brechts gemacht wird oder anderswo Brecht nur als Lehrer von Benjamin (quasi als sein "ideologischer Verführer") dargestellt wird (wie von Scholem oder Adorno). Allerdings kann der Einfluss von Korsch auf Brecht auch nicht als bloße "Korsch-Legende" einer antikommunistisch interessierten westlichen Brechtforschung einfach abgetan werden, wie Mittenzwei dies tut. Dazu kommt bei ihm, dass seine apodiktischen Urteile über Korsch ihre Schlagkraft hauptsächlich daraus beziehen, dass normalen DDR-Lesern, die Mittenzweis Verdikte im Nachwort zu Brechts Me-ti-Buch der Wendungen erstehen können, kaum in der Lage sind [waren! 1998, Subik], an einen authentischen Korschtext heran zu kommen. (37) Im wesentlichen wird aber der zusammenfassenden Darstellung bei Knopf gefolgt werden dürfen, der zwar die Absolutierung von Korschs Einfluss auf Brecht zurückweist, aber doch einen solchen zugesteht: "nach den vorliegenden Zeugnissen hat Brecht offenbar eine ganze Menge von Korsch gelernt." (38) Knopf verweist vor allem richtig darauf, dass Lehren und Lernen von Brecht in einer dialektischen Verschränkung begriffen wird - ganz allgemein - und nicht als bloße Identifikation mit dem Lehrer. Vieles an der Korsch-Debatte erübrigte sich, wenn man die Brechtsche Grundhaltung seinen Lehrern gegenüber mitreflektiert hätte, - weniger die Dialektik ständig im Mund führte, als willens oder imstande zu sein, dialektisch zu denken. Es mag ja bedauerlich sein, dass Brecht lieber und mehr von einem "Häretiker" lernte, als von den offiziellen Parteiphilosophen, aber diese hätten es doch Sieg ihrer Lehre verbuchen können, dass Brecht im Resultat trotzdem so ganz andere Konsequenzen zog als sein Lehrer Korsch: ihm war die Erfahrung im praktischen Experiment (dem des Aufbaus in der Sowjetunion) trotz Verkümmerung der Theorie, Verflachung der Dialektik wichtiger als die vorschnelle Resignation und das Sich-Abwenden von der Praxis um der Reinheit der Theorie willen, wie er es Korsch vorwarf: Über meinen Lehrer Mein Lehrer ist ein enttäuschter Mann. Die Dinge, an denen er Anteil nahm, sind nicht so gegangen, wie er es sich vorgestellt hatte. Jetzt beschuldigt er nicht seine Vorstellungen, sondern die Dinge, die anders gegangen sind. Allerdings ist er sehr misstrauisch geworden. Mit scharfem Auge sieht er überall die Keime zukünftiger enttäuschender Entwicklungen. Er glaubt fest an das Neue... So glaubt er auch an das Proletariat. Manchmal scheint es mir, dass er sich verpflichtet fühlte, mehr zu tun, wenn er weniger daran glaubte. Mein Lehrer dient der Sache der Freiheit. Er hat sich selber ziemlich frei gemacht von allerlei unangenehmen Aufgaben. >Manchmal scheint es mir daher, dass er, bestünde er weniger auf seiner eigenen Freiheit, mehr für die Sache der Freiheit tun könnte. Seine Hilfe bei meinen Arbeiten ist unschätzbar. Er entdeckt alle Schwächen. Und er macht sogleich Vorschläge. Er weiß viel. Ihm zuzuhören ist schwierig. Seine Sätze sind sehr lang. So bringt er mir Geduld bei. Er hat viele Pläne, die er selten ausführt. Ein heftiger Wunsch, Vollkommenes zu geben, hält ihn vom Geben meist ab. ... Er ist sehr für den Kampf, aber er selber kämpft eigentlich nicht. ... Auch beim Proletariat wäre er wohl nur ein Gast. Man weiß nicht, wann er abreist. Seine Koffer stehen immer gepackt. Mein Lehrer ist sehr ungeduldig. Er will alles oder nichts. Oft denke ich: auf diese Forderung antwortet die Welt gerne mit: nichts. (20/66) Das sollte nicht mit einer Abrechnung verwechselt werden. Ich habe aus dem Text so ausführlich zitiert, weil hier ein Stück konkreter TUI-Kritik von exemplarischem Charakter vorliegt (nicht zu vergessen Brechts selbstkritische Bemerkungen), in dem der Leser durchaus auch zur Selbstkritik aufgefordert ist. Um aber nicht völlig in metatheoretischer Erörterung zu versinken, ein Hinweis auf den zentralen Punkt des Einflusses von Korsch, um den die Diskussion geht: "So wenig durch die ökonomische Aktion der revolutionären Klasse die politische Aktion überflüssig gemacht wird, so wenig wird auch durch die ökonomische und politische Aktion zusammen die geistige Aktion überflüssig gemacht. Sie muss vielmehr, als revolutionäre wissenschaftliche Kritik und agitatorische Arbeit vor der Ergreifung der Staatsgewalt durch das Proletariat, und als organisierende wissenschaftliche Arbeit und ideologische Diktatur nach der Ergreifung der Staatsgewalt ebenfalls theoretisch und praktisch bis zu Ende durchgeführt werden." (39) Die von Korsch geforderte "geistige Aktion", die neben der ökonomischen und der politischen Aktion in gewissem Sinn als selbständig vorgestellt wird, findet bei Brecht ihr Gegenstück in der Formulierung des "eingreifenden Denkens", und hier werden einerseits oft die Unterschiede übersehen oder verwischt (40) oder es wird schlechthin geleugnet, dass Brecht diese Position je eingenommen hat (Mittenzwei), während Knopf eine Entwicklung von einer Sein und Bewusstsein zusammenfallen lassenden frühen Position zu einer eindeutigen Klarstellung der den wirklichen Eingriff in die Realität vorbereitenden Rolle des eingreifenden Denkens bei Brecht aufzeigt. (41) Wesentlicher aber, als das hier aus dem Zusammenhang gerissene Theoriestück "Geistige Aktion" selbst, das auf Brecht gerade darin eine Faszination ausüben musste, dass es seiner Tätigkeit als Stückeschreiber wie intellektueller Tätigkeit überhaupt eine wichtige Funktion im Prozess der Revolution zuwies, erweist sich, dass Korsch damit Brecht auf Lenin als Philosophen, als konsequenten Fortsetzer des wissenschaftlichen Sozialismus verwiesen hat. Noch einmal Korsch: Theoretische Kritik und praktische Umwälzung, und zwar diese beiden als untrennbar zusammenhängende Aktionen begriffen und beide als Aktionen nicht in irgendeiner abstrakten Bedeutung des Wortes, sondern als konkrete, wirkliche Veränderung der konkreten, wirklichen Welt der bürgerlichen Gesellschaft - in diesem Wort ist das Prinzip der neuen, materialistisch-dialektischen Methode des wissenschaftlichen Sozialismus von Marx und Engels in der präzisesten Form ausgesprochen. (42) Solche Erkenntnisse bildeten für Brecht den Schlüssel zur Entdeckung des Philosophen Lenin, und mit fortschreitendem Leninstudium wandte er sich gegen Korsch, der ihm (etwa in seinem Marxbuch) im Vergleich zu Lenin zu "formalistisch" erschien. (43) Nichtsdestoweniger blieb Korsch für Brecht die "anerkannte Autorität in Fragen des Marxismus", und ein Hüter des Zweifels in bezug auf die Entwicklungen in der SU. Jedenfalls war er weit entfernt von Beurteilungen wie sie etwa jüngst Manfred Voigts formulierte: Das Urteil von 1932, dass der leninsche Marxismus ‘die ideologische Form für den materiellen Kampf um die Durchsetzung der kapitalistischen Entwicklung im zaristisch feudalistischen Russland’ war, zeigt Korschs Unfähigkeit, die Widersprüche der politischen Praxis und die daraus resultierenden Widersprüche der Theorie zu erklären." (44) Enthalten wir uns Spekulationen darüber, ob Brecht heute Korsch zustimmen würde, es ist jedenfalls borniert und stellt dem Rezensenten von 1976 ein testimonium pauperum eigener ideologischer Engstirnigkeit aus, in der von Korsch vorgetragenen These nicht zumindest eine heute diskutable Einschätzung anerkennen zu wollen. Mag Korsch 1932 eine sich erst anbahnende (enttäuschende) Entwicklung bereits als Resultat vorweggenommen haben, so ist es 1980 ohne ideologische Scheuklappen nicht einmal mehr möglich, Brechts Haltung, wie er sie Benjamin gegenüber 1938 formulierte, einzunehmen: In Russland herrscht eine Diktatur über das Proletariat. Es ist so lange zu vermeiden, sich von ihr loszusagen, als diese Diktatur noch praktische Arbeit für das Proletariat leistet - d.h. als sie zu einem Ausgleich zwischen Proletariat und Bauernschaft unter vorherrschender Wahrnehmung der proletarischen Interessen beiträgt. Einige Tage später sprach Brecht von einer ’Arbeitermonarchie’ und ich verglich diesen Organismus mit den grotesken Naturspielen, die in Gestalt eines gehörnten Fisches oder anderer Ungeheuer aus der Tiefsee gefördert werden. (45) Zu solchen verwirrenden "Naturspielen" gehört denn auch das aktuelle Anschauungsmaterial darüber, wie dadurch, dass Marxisten, Geheimpolizei und russische Panzer die Theorie so auf den Hund gebracht haben, die selbständige Organisierung des polnischen Proletariats heute unter Papstbildern und mit Belegschaftsmessen sich abspielt. - dies als ein Stück Nachhilfeunterricht in historischer Dialektik für allzu mechanisch Denkende, wie sie sich bei Brecht schon anlässlich des Hitler-Stalin-Paktes, des Finnlandkrieges und schließlich anlässlich des 17. Juni 1953 in Brechts Arbeitsjournal finden: "Der 17. Juni hat die ganze existenz verfremdet. in aller ihrer richtungslosigkeit und jämmerlicher hilflosigkeit zeigen die demonstrationen der arbeiterschaft immer noch, dass hier die aufsteidende klasse ist. nicht die kleinbürger handeln, sondern die arbeiter. ... ihre losungen sind verworren und kraftlos, eingeschleust durch den klassenfeind, und es zeigt isch keinerlei kraft der organisation, es entstehen keine räte, es formt sich kein plan. Und doch hatten wir hier die klasse vor uns, in ihrem depraviertesten zustand, aber die klasse. ... das war der kontakt. er kam nicht in der form der umarmung, sondern in form des faustschlags aber es war doch der kontakt. Die partei hatte zu erschrecken, aber sie brauchte nicht zu verzweifeln ... aber nun, als große ungelegenheit, kam die große gelegenheit, die arbeiter zu gewinnen. deshalb empfand ich den schrecklichen 17. Juni nicht einfach als negativ ... in dem augenblick, wo ich das proletariat - nichts kann mich bewegen, da schlaue, beruhigende abstriche zu machen - wiederum ausgeliefert dem klassenfeind sah, dem wieder erstarkenden kapitalismus der faschistischen Ära, sah ich die einzige kraft, die mit ihr fertig werden konnte." (46) Wieder eine ganz und gar unlösbare Frage: Wie hätte Brecht den Danziger Sommer 1980 kommentiert? Die Regierung als Dialektikum Ken-jeh (meistens vereinheitlicht in Kin-jeh, aber in unedierten Manuskripten findet sich öfters die Form Kenjeh) sagte: Wenn wir einen vergänglichen starken Staat bauen wollen, d.h. einen Staat, der schwindet je mehr seine Funktion schwindet, d.h. einen Staat, den sein Erfolg erledigt, müssen wir die Regierung als ein Dialektikum bauen, d.h. einen guten Konflikt schaffen. Es sollte den Staatsapparat geben, in dem die Befehle von oben nach unten laufen; und den Gewerkschaftsapparat, in dem sie von unten nach oben laufen. Die Regierung besteht dann aus einem Ausschuss, in dem die wichtigen Fragen mit Zweidrittelmehrheit entschieden werden." (12/500) Ähnliche Vorschläge Brechts nach der Rückkehr in den östlichen Teil Deutschlands finden sich im Arbeitsjournal: die arbeiter klagen, höre ich, über die scharfe unterdrückung der kleinen hamsterer, die 10 pfund kartoffeln vom land hereinschleppen, während kartoffeln im großen verschoben werden und überall auf dem schwarzen markt kaufbar sind. in solchen zeiten müsste es vielleicht immer doppelorganisationen geben, so dass etwas willkür und parteilichkeit in die maßnahmen kommt. so könnten arbeiterfrauen in organisierten trupps die polizeikontrolle kontrollieren, die überwachung der lastwägen verschärfen, die der kleinen leute mildernd. es muss ein augenzwinkern in die kontrolle hineinkommen, und die massen müssen sehen, dass es ihr kampf gegen die schieber ist. küchendialektik. (47) Nach dieser die Aktualität Brechts betreffenden Abschweifungen noch einmal zurück zur spezifischen Art von Brechts Marxismus: Es ist ganz zweifellos falsch, in Brechts theoretischer Arbeit nur Beiträge zur Dialektik erblicken zu wollen, obwohl für ihn die Wichtigkeit des dialektischen Denkens außer Frage steht und die unaufhörliche Bemühung, das dialektische Denken zu entwickeln, zweifellos zu den Grundanliegen von Brechts Marxismus gehören. Wie aber eben ausgeführt, hat Brecht auch gezeigt bzw. sich darum bemüht zu zeigen, wie aktuelle Probleme der Arbeiterbewegung dialektisch analysiert werden müssen. Ganz zentral sind dabei seine Auseinandersetzungen über den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion unter dem Titel "Über die Große Ordnung" und an anderen Orten, und die Faschismusanalysen, die tiefer gehen als alles, was die offizielle marxistisch-leninistische wie auch die bürgerliche Faschismusforschung geleistet haben. Hans Mayer wirft Brecht vor, dort, wo er die Revolution auf die Bühne stellt, nur zurückzublicken "auf Vorformen und Frühformen der proletarischen Revolution: Paris 1871 und Russische Revolution von 1905. Ihn fasziniert die Niederlage von 1871 und die zunächst gleichfalls gescheiterte Vorrevolution offensichtlich stärker als die siegreiche proletarische Erhebung vom 7. November 1917." (48) Aber erweist sich nicht Brecht auch da als der bessere Marxist (jetzt einmal abgesehen davon, dass Mayer die Auseinandersetzungen Brechts mit den aktuellen Revolutionen im Me-ti und in anderen theoretischen Schriften und in "Turandot" ausspart): Proletarische Revolutionen dagegen ... kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam - gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichtet, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodos, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!" So schrieb Marx im "18. Brumaire des Lou Bonaparte" über die Französische Revolution von 1848. (49) Brechts Stücke ("Die Mutter" nach Gorki und "Die Tage der Commune") sind in keiner Weise historische Dramen im herkömmlichen Sinn, sondern Umfunktionierungen des tradierten Genres der bürgerlichen Literatur zu aktuellen Zwecken. Das gleiche gilt auch für Brechts historischen Roman "Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar", über dessen Verhältnis zur überlieferten Gattung die ausgezeichnete Untersuchung von Herbert Claas erschöpfend Auskunft gibt.(50) Einen historischen Roman schreiben hieß für Brecht zugleich, das vorgegebene Schema in Frage zu stellen, es ’umzufunktionieren’ und den historischen Roman selbst in den Dienst des Kampfes der Unterdrückten um ihre Befreiung zu stellen.(51) Solange die Revolution in Deutschland ausstand, war es klar, dass Brecht den unvollendeten, nicht zu Ende geführten Erhebungen mehr Interesse abgewinnen musste als den erfolgreichen. "Die Mutter" stellt eine "Gestentafel" revolutionären Handelns dar und ist von Brecht nicht zufällig - über die Vorlage von Gorki hinaus - bis an den Vorabend von 1917 weitergeführt worden, zu einer Zeit, als er auch für Deutschland eine zweite, erfolgreiche Revolution erwartete (nach der gescheiterten von 1918). Die "Tage der Commune" bringen in einer Zeit, wo im Zeichen des Antifaschismus die Taktik der organisierten Arbeiterbewegung nur auf Wiederherstellung der bürgerlichen Demokratie ausgerichtet blieb, die eigentlichen revolutionären Ziele der proletarischen Revolution wieder in Erinnerung beide Male durchaus keinerlei Historismus, sondern bewusste Aktualisierungen, Eingriffe in die aktuelle Situation. Ganz zu schweigen von "Turandot" oder "Der Kongress der Weißwäscher", wo die revolutionäre Gegenfigur, die im Hintergrund des TUI-Kongresses steht, Kai Ho, unmissverständlich den chinesischen Revolutionären um Mao Tse Tung nachgebildet ist, die von den Dörfern aus die Revolution in die Städte hinein trugen. Jetzt sind wir über einige Umwege wieder beim "Zuschauer für meine Stücke", der Marx für Brecht war, angelangt. Um noch einmal zusammenzufassen: die wichtigste Einsicht, die Brecht Marx verdankt, die in den Mechanismus des gesellschaftlichen Zusammenhangs als ökonomischer Bedingtheit, präzisierte und verschärfte bereits vorher intuitiv eingenommene Haltungen Brechts. Der Marxismus, indem er die Probleme des menschlichen Zusammenlebens als Klassenfragen auffasst, verlangt ebenso einen Blick von außen, wie ihn Brecht in Widerspruch zum psychologisierenden Theater seiner Vorgänger von Anfang an zu erreichen versucht hatte. "Denn wissen, was seine ’menschliche Seite’ ist, das vermag (der Einzelne) nur, wenn er zumal weiß, was sie nicht ist, oder anders ausgedrückt, wenn sie ’verfremdet’ ist, wenn er sie gesehen und das heißt, von außen gesehen hat." (52) Um das aber - anders als über halluzigene Drogen als persönliche Grenzerfahrung darstellbar zu machen, sind Kenntnisse über die unmittelbar vorliegende, entfremdete Wirklichkeit notwendig. Beispielhaft könnte dies gezeigt werden an der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe", und den Interpretationen, die das Stück erfahren hat. Besonders an der von Manfred Voigts, der die frühere Bedeutung Käthe Rülicke-Weilers, hier habe Brecht den Krisenzyklus gemäß des zweiten und dritten Bandes des "Kapitals" auf die Bühne zu bringen versucht, zurückweist, und der in sehr minutiöser Darstellung die Widersprüche zwischen der ökonomischen Analyse und der individuellen Entwicklung der Hauptfiguren Johanna und Pierpont Mauler herausgearbeitet hat. Ohne insgesamt auf den Rahmen seiner Erörterungen eingehen zu können (sie betreffen die Widersprüche zwischen Theater als soziologischem Experiment und dem "Rückfall" Brechts in eine der bürgerlichen Ästhetik verhaftet bleibende Darstellung von Einzelschicksalen), sind doch einige Anmerkungen angebracht: Bei der Abtrennung der "Individualfabeln" von der ökonomischen Fabel (die als in sich widersprüchlich und durchaus nicht als "wie es im Buch, sprich ’Kapital’ steht" erwiesen wird) zum Zwecke der Analyse unterläuft dem Interpreten ein folgenschwerer Fehler: Er übersieht, was die innere Widersprüchlichkeit der Figuren bei Brecht begründet, nämlich dass sie nicht als Individuen, sondern im Marx’schen Sinn als agierende "Charaktermasken" gezeigt werden, dass sie also gar nicht als kontinuierlich individuell aufgefasst werden dürfen. Voigts berichtigt Brecht, der notierte, "Johanna mache einen Erkenntnisprozes durch": denn wenn hier jemanden durch die Erkenntnis der Prozes gemacht wird, dann nur der Johanna selber", völlig zu Recht und in Brechts Sinn, um sich sofort wieder von dieser Erkenntnis zu entfernen: "Der Erkenntnisprozess ist keiner über die gesellschaftliche Realität, sondern einer über die eigenen Illusionen; die Individualität der Johanna als ’guten Menschen’ lässt die soziale Erkenntnis zur einfachen Selbsterhellung verkommen: Die Geschichte der Johanna ist die Geschichte einer aufklärerischen ’Erhellung eines Geistes’ über sich selbst. (53) Voigts übersieht, dass Brecht nicht einfach zur vorher überwundenen Individualität zurückkehrt, sondern dass er gerade, indem er in der Johanna "die heutige Entwicklungsstufe des faustischen Menschen" zeigen will, das große bürgerliche Individuum nicht nur als ramponiert, sondern eben als "Charaktermaske" statt als Charakter zeigen muss: Das Individuum erscheint uns immer mehr als ein widerspruchsvoller Komplex in stetiger Entwicklung, es mag nach außen hin als Einheit auftreten und ist darum doch eine mehr oder minder kampfdurchprobte Vielheit, in der die verschiedensten Tendenzen die Oberhand gewinnen, so dass die jeweilige Handlung nur das Kompromiss darstellt. (20/62) Und wenn Voigts als zweite Fehlinterpretation des Stückes (neben der "ökonomischen" von Rülicke-Weiler) eine angreift, die das Stück zu einer Ideologiekritik verkürzt, so ist ihm zuzustimmen, soweit diese angeblich darin bestehe, dass Johanna zeige, "wie Ideologie entsteht und wirkt, die die Aufhebung der Ausbeutung verhindert." (54) Die Ideologiekritik Brechts setzt tiefer an (deshalb spricht Brecht auch zur besseren Unterscheidung von Ideologiezertrümmerung, worauf wir noch zurückkommen werden). Nicht diese oder jene Ideologie (als Meinung oder Weltanschauung) in Konkurrenz mit einer anderen wird angegriffen, sondern Ideologieproduktion überhaupt als das notwendige falsche Bewusstsein, das in der Verdunklung über den gesellschaftlichen Charakter der menschlichen Produktion seine wesentliche Wurzel hat. Damit wird der Individuumsbegriff als zentrales Stück bürgerlicher Ideologie angegriffen: Das Bürgertum hat keine Vorstellung von der Masse. Es teilt immer nur Masse und Individuum, aber selbst dem Individuum gegenüber ist die Masse wieder sehr teilbar: Sie enthält wieder Individuen, welche ... unterscheidbar wichtig sind. Also steht das Individuum nicht nur der Masse, sondern Gruppen innerhalb der Masse gegenüber. Es spricht zu Gruppen, und diese Gruppen erst sprechen zur Masse. Wer dies weiß, weiß die Voraussetzung zu jeder Art von Organisation. Er begreift den kollektiven Apparat, der keine Demokratie ist. Der Kollektivist setzt nicht seinen Gruppenapparat gegen die Masse, sondern in die Masse hinein. Die Menschen wirken aufeinander. Die Masse besteht nur aus Agenten. Der Kollektivist sieht die Menschheit als einen Apparat, der erst teilweise organisiert ist. (20/60) Wenn ihr beisammen bleibt Werden sie euch niederschlachten Wir raten euch, beisammen zu bleiben! Wenn ihr kämpft Werden ihre Tanks euch zermalmen (2/753) Bis jetzt habe ich Brechts Wendung zum Marxismus sehr von außen, um nicht zu sagen, nur äußerlich behandelt, d.h. mehr von Brechts Beweggründen bzw. bestimmten Einflüssen auf seine Marxstudien gesprochen und gerade erst nur die Frage klären können, inwieweit Brecht von Marx als einzigem Zuschauer seiner Stücke sprechen durfte. Interessanterweise spielt letztere Frage ja auch eine gewisse Rolle in der Diskussion über die Aktualität Brechts, nämlich in der Wendung, ob sich nicht Brecht über die Wirkungsmöglichkeiten seiner Stücke bzw. seines Theaters insofern Illusionen machte, als er mit Zuschauern wie Marx rechnete, und seine Vereinnahmung ins bürgerliche Theaterrepertoire gerade dadurch ermöglichte. Aber dies sei nur am Rande angemerkt und sonst unerörtert gelassen. Die Frage, die sich im Zusammenhang des bisher Dargestellten aufdrängt, ist die, ob die Wendung Brechts zum Marxismus den, wie ich hoffe, nachgewiesenen frühen Einfluss von Nietzsche einfach ablöste, verdrängte, einfach an dessen Stelle trat, oder ob nicht gerade die frühe Beschäftigung mit Nietzsche für Brecht den Weg zu Marx bahnte? Ohne sie so explizit gestellt zu haben, ist die Antwort, der ich zuneige, bereits im ersten Teil gegeben, dort, wo ich den fortwirkenden Einfluss von Nietzsche aufgelistet habe. Nietzsche als Ausgangspunkt bewahrte Brecht einmal davor, aus dem Sozialismus eine ethische Angelegenheit zu machen und/oder Marx um eine Ethik vervollständigen zu wollen, ein gerade unter Intellektuellen seiner Generation gängiges Missverständnis bei der Zuwendung zum Marxismus. Nietzsches radikale Kritik aller Moral hatte darin gegipfelt, alle bisherige Moral als von Interessen, von bestimmten Zwecken diktiert zu denunzieren, ohne zur Analyse dieser Interessen vorzustoßen. Daran hinderte ihn sein bürgerlicher Horizont, damit blieb er auch trotz der Wendung gegen Wagner etc. durch und durch der Romantik verhaftet. Der Herdenmoral, die er im Christentum triumphieren sah, stellte er einen am Begriff der "virtu" des Renaissancemenschen, des großen Individuums, am Beginn der bürgerlichen Epoche und an den großen Individuen am Anfang der griechischen Philosophie gewonnenen Begriff entgegen: die Konzeption des Übermenschen; eine Stelle aus den Grundrissen von Marx gibt den passenden Kommentar: Auf früheren Stufen der Entwicklung erscheint das einzelne Individuum voller, weil es eben die Fülle seiner Beziehungen noch nicht herausgearbeitet und als von ihm unabhängige gesellschaftliche Mächte und Verhältnisse sich gegenübergestellt hat. So lächerlich es ist, sich nach jener ursprünglichen Fülle zurückzusehnen, so lächerlich ist der Glaube, bei jener vollen Entleerung stehenbleiben zu müssen. Über den Gegensatz gegen jene romantische Ansicht ist die bürgerliche nie herausgekommen. (55) Die Marx’sche Kritik richtete sich auf das Offenlegen dieser Interessen, die er als ökonomische entlarvte, ohne sich bei Fragen der Moral allzu lang aufzuhalten, indem er den Mechanismus erforschte, wie die ökonomischen Interessen sich gesellschaftlich durchsetzen und unter anderem dazu bestimmter Moralen oder Ethiken bedurften. Brecht konnte daher bei Marx quasi eine rationale Fundierung von Einsichten, über die er von der anderen Seite her - gekommen war, gewinnen. Von daher erkläre ich mir auch die so bohrende, immer wieder neu gestellte Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv, die den Kern der Kategorie des Einverständnisses ausmacht und, wie ich zu zeigen versucht habe, umschlägt in die Problematik der Verfremdung. Denn als Technik der Schauspielkunst, als gesetzter V-Effekt, setzt Verfremdung den Durchgang durchs Nichts, das Bewusstsein jener "vollen Entleerung" voraus, welches das Heraustreten aus der Rolle als eigener Kommentator, das sich als in sich "Mehrerer", als Kollektiv vorzustellen erst ermöglicht. Man könnte es auch so formulieren: in der Frage nach dem Einverständnis stehen Individuum und Kollektiv sich noch als polare Gegensätze gegenüber: es geht um den Lernprozess, durch die Bewegung des Widerspruchs im zu(m) Grundegehen die Einheit dieses Widerspruchs zu begreifen. Verfremden könnte dann als das bewusste Ausstellen des prozessierenden Widerspruchs definiert werden. Dies betrifft einmal die Bewegung des Hereinnehmens des Kollektivs ins Individuum, gilt aber ebenso umgekehrt; es wird möglich, das Kollektiv statt als abstrakten Gegensatz zum Individuum, als bedrohende formlose Masse, als in sich gegliederten Organismus - sagen wir: als Klasse, zu begreifen. Diese Möglichkeit aber ist noch nicht wirklich, oder vorerst nur Möglichkeit, der der unbegriffene gesellschaftliche Zusammenhang entgegensteht: darin besteht die Entfremdung, die aufzuheben kein V-Effekt bewerkstelligen kann, solange gilt: Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden ... (56) Was mittels der Technik der Verfremdung möglich ist, ist gerade dies, die geschichtliche Vermittlung jeder Handlung, die dargestellt wird, vors Bewusstsein zu bringen, was Brecht Historisieren nennt. Über die historische Selbstbetrachtung Me-ti fand in den Schriften der Klassiker nur wenig Fingerzeige für das Verhalten der Einzelnen. Meist wurde von den Klassen gesprochen oder andern großen Gruppen von Menschen. Dabei allerdings fand er als sehr nützlich gepriesen den historischen Gesichtspunkt. So empfahl er dem Einzelnen nach vielem Nachdenken, sich selber ebenso wie die Klassen und großen Menschengruppen historisch zu betrachten und historisch zu benehmen. Das Leben, gelebt als Stoff einer Lebensbeschreibung, gewinnt eine gewisse Wichtigkeit und kann Geschichte machen. Als der Feldherr Ju Seser seine Erinnerungen schrieb, schrieb er in der drittenPerson von sich selber. Me-ti sagte: Man kann auch in der dritten Person leben. (12/548) Dies als ein Beispiel bzw. ein Vorschlag, die erste Bewegung, das Hereinnehmen des Kollektivs ins Individuum betreffend; nun auch für die umgekehrte Bewegung eine "Empfehlung" aus dem Me-ti: Staaten im Verkehr zueinander Es ist verderblich, Staaten, was den Verkehr untereinander betrifft, mehr zu erlauben oder mehr zuzumuten, als man einzelnen Menschen im Verkehr zueinander erlauben oder zumuten kann. Durch die Aufstellung besonderer nur für sie geltender Gesetzlichkeiten oder Gesetzlosigkeiten macht man sie zu etwas Unmenschlichem, über den Menschen Stehenden. Es hat nichts über den Menschen zu stehen. Regierungen sagen oft, sie handelten nicht für sich, sondern für das Volk, und damit stellen sie ihre Verbrechen und ihre Verstöße gegen das Rechte als selbstlos und damit gerechtfertigt hin. Aber Verbrechen werden nicht gute Taten dadurch, dass sie für andere begangen werden. Ein Staat, der untergeht, wenn er nicht raubt und mordet, soll untergehen. (12/511) Hier überlegt Brecht eine "materialistische" Staatstheorie, wie sie noch nirgends in die Tat umgesetzt wurde, eine, die vor allem Prinzipien der Beurteilung der Taten von Staaten an die Hand gibt. Das: Es hat nichts über den Menschen zu stehen (wenn man so will, der kategorische Imperativ einer Gemeinschaft, wie sie aus dem Absterben des Staates hervorgehen - soll!) fasst besser die praktische Seite der Religionskritik zusammen als jede historische Propaganda. Der Witz der Sache: der Idealist und Staatsvergotter Hegel ist realistisch genug festzustellen: im Verkehr untereinander fallen diese hochorganisierten, komplexen "Geister" - die Staaten, ganz schön zurück und benehmen sich wie Individuen: zwischen den Staaten herrscht Willkür. Der materialistische Historiker schaut, welche Entwicklung das Verhalten der Individuen geschichtlich genommen hat und empfiehlt, das Waffentragen und Sich-Duellieren auch zwischen den Staaten zum alten Eisen zu werfen. Die Köchin soll den Staat lenken können Mi-en-leh sagte, jede Köchin müsse den Staat lenken können. Er hatte so zugleich eine Veränderung des Staates wie der Köchin im Auge. Aber man kann auch daraus die Lehre ziehen, dass es vorteilhaft ist, den Staat als eine Küche, die Küche aber als einen Staat einzurichten. (12/569) Es ist nicht einfach, das Kapitel über Brechts Marxismus abzuschließen, so muss ich mich entschließen, einfach abzubrechen, wo es mir nicht gelingt, von vornherein entsprechend zu straffen. Wenden wir uns also etwas abrupt weiteren Implikationen von Brechts marxistischen Studien zu. Wie der Einbrecher Wie der Einbrecher In der mondlosen Nacht, der sich umsieht Ob da kein Polizist geht So bewegt sich derjenige Der hinter der Wahrheit her ist. Und wie etwas Gestohlenes Die Schulter in Furcht Dass sich eine Hand darauf lege trägt er die Wahrheit weg. (9/569 C) Ein besseres Denken Leben heißt für den Menschen: die Prozesse organisieren, denen er unterworfen ist. (20/144) Wenn ich bedenke, wie wenig ich weiß, dann erschrecke ich. (20/126) Es wird mir nicht einfallen, zu behaupten, der Mensch sei dazu da, zu denken. Natürlich soll das Denken einfach seine Existenz ermöglichen. Ich kann mir Zustände menschlichen Zusammenlebens vorstellen, wo nicht allzu gewaltige Denkakte nötig sind, damit der Mensch sein Leben fristen kann. (20/165) Er dachte in andern Köpfen, und auch in seinem Kopf dachten andere. Das ist das richtige Denken. (20/166) Brechts Beschäftigung mit anderen Philosophen als Marx und Lenin (den "Klassikern" der Großen Methode) gehört nicht nur zu dem Programm, sich eine "halbwegs komplette Kenntnis" des Marxismus zu verschaffen, zu der eben auch Hegel und Ricardo gehören, ohne das bliebe es so ein "minderwertiger Marxismus" (bemerkt Ziffel 14/1440), sondern zu der weiterreichenden Bemühung Brechts, "zu einem besseren Denken zu kommen", um sich in der Welt besser zurecht zu finden. Auf den Rückgriff auf einen im Volk umlaufenden Begriff von Philosophen, der einen meint "der gut im Nehmen" ist, im Einstecken von Schlägen - was von seiner (des Volkes) Lage kommt, hab ich schon in der Einleitung verwiesen. Ebenso hat die Faszination für die chinesische Philosophie, für Konfuzius und das Urbild des Brechtschen Me-ti, der auch Mo-ti genannt wird, darin ihre Wurzel, dass es sich bei diesen Philosophen um Verhaltenslehrer handelt (was nicht verwechselt werden soll mit der Modeströmung der Verhaltensforscher, die vorschnell die konkreten gesellschaftlichen Verhalten der Menschen analogisierten mit dem Verhalten von Graugänsen oder Bienenvölkern und etwa die Ursachen von Kriegen in einer genetisch codierten Aggressivität als Naturanlage suchten und nicht etwa in den gesellschaftlichen Eigentumsverhältnissen) und dass ihre Vorschläge über lange Zeit hin befolgt wurden. An der europäischen Philosophie interessierte Brecht vor allem die Frage, wieso sie zu einem "folgenlosen Denken" verkommen konnte (soweit es Philosophie blieb) oder besser, was für eine Art von Eingreifen das neuzeitliche Denken (ein Denken um seiner selbst willen hervor treiben konnte), ein Denken, das deshalb, weil es folgenlos geworden, doch auch wieder nicht funktionslos geworden ist. Im Gegenteil: seine Funktion, zur Erhaltung des Bestehenden beizutragen noch dort, wo es radikale Kritik zu üben vorgibt, ist gerade das Anstößige daran. Also wandte sich Brecht den Anfängen des bürgerlichen Zeitalters und dem damals aufkommenden Denken zu. Auf die Beschäftigung mit Francis Bacon verweise ich einstweilen nur (wieder einmal), und werde später darauf zurückkommen. Die Auseinandersetzung mit dem englischen Lordkanzler, "der die induktive Methode in die Naturwissenschaften einführte (9/616), reicht von Gedichten und Prosa (Das Experiment 11/264) bis ins Zentrum von Brechts Theaterkonzeption und soll dort noch gewürdigt werden. Im Zentrum der Brecht’schen Bemühungen um ein besseres Denken steht die (soweit ich sehe, von Manfred Riedel zuerst aufgegriffene(57)) Beschäftigung mit der Zweifelslehre Descartes, gerade an der Wendung vom frühen Relativismus Brechts zu seinem Marxismus, in dem der Zweifel immer lebendig erhalten blieb - aufgehoben, aber nie durch eine letzte Gewissheit ersetzt wurde: Da sind die Unbedenklichen, die niemals zweifeln. Ihre Verdauung ist glänzend, ihr Urteil ist unfehlbar. Sie glauben nicht den Fakten, sie glauben nur sich. Im Notfall Müssen die Fakten dran glauben. Ihre Geduld mit sich selber Ist unbegrenzt. Auf Argumente Hören sie mit dem Ohr des Spitzels. Nur Sarkasmus hat Brecht für solche Zweifelsfreien übrig, allerdings auch für solche, die nur zweifeln: Den Unbedenklichen, die niemals zweifeln Begegnen die Bedenklichen, die niemals handeln. Sie zweifeln nicht, um zur Entscheidung zu kommen, sondern Um der Entscheidung auszuweichen. Ihre Köpfe Benützen sie nur zum Schütteln. Mit besorgter Miene Warnen sie die Insassen sinkender Schiffe vor dem Wasser ... (9/628) Aber schon in "Mann ist Mann" findet sich ein "Lob des Zweifels" im Song der Witwe Begbick: Ich sprach auch mit vielen Leuten und hörte Genau zu und hörte viele Meinungen Und hörte viele von vielen sagen: das sei ganz sicher! Aber zurückkehrend sprachen sie anders, als sie ehedem gesprochen hatten Und von dem andern sagten sie: das ist sicher. Da sagte ich mir: von den sicheren Dingen Das Sicherste ist der Zweifel. (1/340) Brecht interessierte gerade die Zweifelslehre des Descartes, jenes methodische Zweifeln, mit dem der jüngere Zeitgenosse des Galilei der Philosophie ein unerschütterliches Fundament zu errichten hoffte. Gerade das Grundprinzip des cartesianischen Denkens, das cogito ergo sum, in welchem durch die Selbstgewissheit des Denkens die Vergewisserung des Ich und seiner Existenz geleistet schien, reizte Brecht zum Widerspruch. Und es sollte uns inzwischen nicht mehr wundern, dass Brecht auch da an seinen Lehrer Nietzsche anschloss: Seien wir vorsichtiger als Cartesius, welcher in dem Fallstrick der Worte hängen blieb. Cogito ist freilich nur ein Wort: aber es bedeutet etwas Vielfaches (Manches ist vielfach, und wir greifen derb darauf los, im guten Glauben, dass es eines sei). In jenem berühmten cogito steckt erstens: es denkt, zweitens: ich glaube, dass ich es bin, der da denkt, drittens: aber auch angenommen, dass dieser zweite Punkt in der Schwebe bliebe, als Sache des Glaubens, so enthält auch jenes erste "es denkt" noch einen Glauben: nämlich, dass "denken" eine Tätigkeit sei, zu der ein Subjekt, zum mindesten ein "es" gedacht werden müsse: und weiter bedeutet das ergo nun nichts! Aber das ist der Glaube an die Grammatik, da werden schon "Dinge" und deren "Tätigkeiten" gesetzt, und wir sind fern von der unmittelbaren Gewissheit! (58) Aber Nietzsche verbleibt gewissermaßen noch auf dem Boden der philosophischen Diskussion, wenn er das Fundament des cartesianischen Zweifels bezweifelt. Brecht tritt heraus und untersuchte noch die Voraussetzungen des Descartes, um Aufschluss darüber zu gewinnen, welche Veränderungen gesellschaftlicher Art dazu geführt hatten, dass der Descartes’sche Satz nicht mehr einem maßlosen Zweifel an allem Einhalt gebieten konnte, sondern zu neuen Zweifeln Anlass gab. Brecht stellt sich, wie er sagt, "Quer zum Denken des Descartes", indem er von außen, von den persönlichen Verhältnissen her die Bedingungen zu untersuchen anfing, unter denen Descartes zu seinem Satz gekommen war: "Wenn ich ihn, so betrachtet, zweifeln sah an allem, dann besonders in seiner Existenz, und ihn dann im maßlosen Zweifel einhalten sah vor der Tatsache seines Denkens, beruhigt darüber, dass ihm nicht nötig war, an allem zu zweifeln, aber auch darüber beruhigt, dass es ihm möglich war, an so vielem zu zweifeln, kam mir der Gedanke, dass dieser Mensch, plump genommen, eben in einer Zeit lebte, wo er vielleicht auf keine andere Art, als durch Denken existieren konnte, aber durch Denken eben doch existieren konnte, und ich dachte sofort: Das war eine andere Zeit als die meine. ... So fragte ich mich bei der Lektüre der Grundlagen der Philosophie jetzt: ob auch ich Lust und Möglichkeit hätte, an allem zu zweifeln, was ich für wahr halte, und, wenn ja, meine Existenz in Zweifel stellte und dann annähme als unzweifelhaft, diese sei gesichert, wenn ich und da ich doch denke, und zwar das alles prüfen und entscheiden würde in ganz allgemeinen, aber meinem Sinne. (20/133) Brecht nimmt hier die Haltung des Philosophen auf dem Theater ein, den an der Trompete nur ihr Materialwert, das Messing interessiert (Messingkauf 16/507), das meint er mit "sich quer zum Denken des Descartes stellen". Er untersucht nun die Unterschiede zwischen der Situation des Descartes und der seinen und konstatiert, dass sie sich beide, der eine am Anfang, der andre am Ende der gleichen bürgerlichen Epoche befänden, und dass von daher die Fragen des Descartes auch für ihn von Interesse sein müssten; da allerdings "der Morgen und der Abend eines einzigen Tages so sehr anders sind, fühlte ich, dass auch die Antwort auf die Fragen anders ausfallen müsste." (20/134) Brecht merkt an, dass er sich die Sicherung seiner Existenz wie Descartes nur vom Denken erhoffen könnte, allerdings nur von einem Denken in weitestem Sinne: "aber da verstehe ich unter Denken nicht jene Tätigkeit, die alle andere Tätigkeit ausschließt, das, was von den Philosophen gemeinhin reines Denken genannt wird." Was Brecht beschäftigte und nachdenklich machte, war das Ergebnis, "dass (er), um zu existieren noch mehr als nur Gedanken haben muss(te), nämlich auch ziemlich viele Tugenden und besondere Fähigkeiten, und zwar von all dem mehr, als Descartes brauchte." (20/133 ff) Bevor wir die Auseinandersetzung weiter verfolgen, scheint ein Hinweis angebracht, auf die Verfahrensweise, in der Brecht die Auseinandersetzung mit Descartes entwickelte. Wie in seinen Stücken die Figuren, so stellt hier Brecht selbst nicht eine individuelle, rein persönliche Auseinandersetzung dar. Auch sein Ich steht vielmehr exemplarisch für ein Kollektiv, für eine Gruppe oder Schichte innerhalb einer bestimmten historisch umrissenen gesellschaftlichen Situation. In diesem historischen Sinn stellt er auch die Situation des Descartes der seinen gegenüber: Als Descartes seine Prinzipien schrieb, verfehlte er ... nicht ... zu bemerken, dass er ein reifes Alter abgewartet habe und über ein Vermögen verfüge, so dass sein Geist von allen Sorgen frei sei. Auch erwähnt er seine wissenschaftliche Schulung und setzt diese so hoch an, dass er betont, sein Verstand sei im übrigen in keiner Beziehung vollkommener als der eines Durchschnittsmenschen. Mir fehlt die Reife des Alters, die Sorglosigkeit, die ein Vermögen verschafft, und die strenge Schulung, und doch muss ich versuchen, zu einem Denken zu kommen, das besser ist als mein bisheriges. Alles, selbst meine Lebensdauer, meine materielle Existenz und meine Möglichkeit, mich zu schulen, hängt davon ab. Während dieser Descartes und manch einer seiner Art und seiner Zeit ihre Angelegenheiten geordnet sahen, als sie zu denken begannen, beginne ich damit oder nehme mir vor, damit zu beginnen, wo sie ganz und gar ungeordnet sind und: um sie zu ordnen." (20/135 f) Es ist mir bewusst, dass mein Versuch, Brecht als Philosophen populär zu machen, selbst noch unter einer Berufskrankheit leidet, nämlich der, die gesellschaftliche Realität, auf die sich Brechts Denken richtet, weitgehend ausgeblendet zu lassen, ja, dass es mir nicht einmal gelingt, tatsächlich die Verschränkung der theoretischen Bemühungen Brechts mit seiner spezifischen Praxis des Theatermachens deutlich zu machen: dass ich sie der Kapiteleinteilung aufopfere. Es ist also vielleicht nicht unwichtig, den Titel anzuführen, unter dem sich Brechts Auseinandersetzungen finden: es handelt sich um den Versuch einer "Darstellung des Kapitalismus als einer Existenzform, die zuviel Denken und zu viele Tugenden nötig macht." (20/133) Dieser Gedanke ist nicht nur ein Residuum der frühen Auffassung der Welt als eines sinnlosen Chaos, nun einfach marxistisch gewendet, er ist eine Grundeinsicht, ein zentrale Lehrstück dessen, was die Aktualität von Brechts Marxismus ausmacht; ja dieser Ansatz gewinnt überhaupt erst in dem Maße an Aktualität, als sich etwa die Rolle der Sozialdemokratie als "Arzt am Krankenbett des Kapitalismus" wenigstens in einer Reihe von Industriestaaten als soweit erfolgreich erwiesen hat, dass mittels staatlicher Lenkungseingriffe in der Ökonomie, mittels Politik des "deficit spending" über den Kreditapparat alle Zusammenbruchstheorien, die auf ein quasi automatisches (naturgesetzlich sich vollziehendes) Ende des Kapitalismus hoffen, ab absurdum geführt werden. Dieser Ansatz erlaubt es, das scheinbar so erfolgreiche staatliche Krisenmanagement zu durchschauen als eine immer bösartigere Geschwulst verschobener Krisen mit immer größeren Gefahren eines welthistorischen letalen Ausgangs; der Kapitalismus kann, wo die Lehren der Klassiker nur als Aufschrei gegen soziale Ungerechtigkeit aufgefasst wird, mit Recht auf seine Produktivität, den erreichten Lebensstandard (wie gesagt, in einigen Industrieländern) verweisen und von da dem Marxismus seine 100 Jahre vorhalten, ihn für veraltet erklären. Dem Argument, das ihn als zu kompliziert (wie die Ptolemäische Erklärung der Planetenbahnen) und zu anstrengend (zuviel Denken erforderlich machend) durchschaut, ist mit solchen Erklärungen nicht beizukommen. Von da her kommt Brecht schließlich auch zur Definition des Kommunismus: Er ist das Einfache, das schwer zu machen ist (9/463) und zur Feststellung: Der Kommunismus ist das Mittlere Zum Umsturz aller bestehenden Ordnung aufzurufen Scheint furchtbar. Aber das Bestehende ist keine Ordnung. Zur Gewalt seine Zuflucht nehmen Scheint böse. Aber da, was ständig geübt wird, Gewalt ist Ist es nichts Besonderes. Der Kommunismus ist nicht das Äußerste Was nur zu einem kleinen Teil verwirklicht werden kann, sondern Wo er nicht ganz und gar verwirklicht ist Gibt es keinen Zustand, der Selbst von einem Unempfindlichen ertragbar wäre. Der Kommunismus ist wirklich die geringste Forderung Das Allernächstliegende, Mittlere, Vernünftige. Wer sich gegen ihn stellt, ist nicht ein Andersdenkender Sondern ein Nichtdenkender oder ein nur An sich denkender Ein Feind des Menschengeschlechts Furchtbar Böse Unempfindlich Besonders Das Äußerste wollend, was selbst zum kleinsten Teil verwirklicht Die ganze Menschheit ins Verderben stürzte. (9/503) An dieser Position, eingenommen zur Zeit als der Faschismus als "anderer Ausweg" die Macht ergriff, hat Brecht auch später nie Abstriche gemacht, bei allen Zweifeln am Gelingen des sowjetischen Experiments, wofür ich schon Beispiele angeführt habe. Ja, das blieb der Anspruch, an dem für Brecht der "reale Sozialismus" (ich weiß, der Terminus ist erst Jahre nach Brechts Tod in Gebrauch gekommen) sich messen lassen musste und eben oft genug als zu leicht befunden wurde. Aber kehren wir jetzt nochmals zur Beschäftigung Brechts mit Descartes zurück. Brecht versuchte, indem er Denken als eine vielerlei Tätigkeit umfassende, praktische Haltung fasste, noch einmal die Aufklärung des "erkenntnistheoretischen Zirkels, um den die philosophische Entwicklung von Descartes bis Hegel gekreist war, zu vollziehen, um die für das Eingreifen in die Natur so fruchtbaren Ansätze des frühbürgerlichen Denkens auch für ihre Anwendung auf die Erforschung des gesellschaftlichen Lebens (die mit Marx einsetzte) fruchtbar zu machen; die Methodologie, auf die Marx sich berief, wenn er seine Arbeit mit der des Physikers verglich (59) in seine (Brechts) Versuche eines experimentellen Theaters einzubringen. Darin bestand für Brecht die Aufgabe und Rechtfertigung eines Theaters des wissenschaftlichen Zeitalters. So scheinen seine Notizen zur Kritik der Erkenntnistheorie stets schon als Beiträge zur Theatertheorie konzipiert: "Beim Erkennungsvorgang hat der Intellekt außer dem Organisieren des Erfahrenen oder der (erst zu tätigenden) Erfahrung noch die Funktion des Auffälligmachens der Vorgänge, einer Konfrontation derselben mit einer gedachten Negation. Das Es-ist-so wird staunend aufgenommen als ein Es-ist-also-nicht-anders. Man bekommt also fast immer nur vergleichsweise Wahrheiten." (20/137) Ein solcher Satz korrespondiert direkt mit der Feststellung aus einem frühen Entwurf zu einer Dramaturgie: "Absolute Klarheit wie völlige Regelmäßigkeit zerstören die Lust am Beschauen. Das Vergnügen am Rätselraten hängt mit dem Element der Ästhetik, der Be-Wunderung innig zusammen." (15/54) Ich habe schon am Beginn dieses Versuchs über Verfremdung auf diese Kategorie der Bebzw. Ver-wunderung, des Staunens schon verwiesen. Sie erhält noch in den späteren Überlegungen zur Neuformulierung des "Kleinen Organons" nochmals eine theoretische Würdigung im Herausarbeiten der Kategorie des "Naiven". (60) Brechts weitere Erörterung des Cogito korrespondiert wieder sehr direkt mit der oben zitierten Nietzschekritik an Descartes: So notiert er: Auch der Satz ’Cogito ergo sum’ hat eine ungleiche (und vergleichsweise) Wahrheit. Es müssen noch viele Sätze dazukommen, um ihn zu stützen. Das Sein wie das Denken ist etwas Vergleichsweises und Ungleiches (Steigerbares). Der Satz ist auch nur als Grundstein eines ganzen Gebäudes gedacht. Er ist nicht durch sich selbst richtig. Was meint er? Will er sagen: Man muss an allem zweifeln, so lang man keinen Beweis hat. Man muss mit der Bezweiflung der eigenen Person (als des noch Sichersten) beginnen. Man darf sie nur glauben, weil man sie beweisen kann. Ihr Beweis ist: sie denkt. Will er das sagen? (20/137) Demgegenüber findet sich bei Nietzsche: "Abgesehen von den Gouvernanten, welche auch heute noch an die Grammatik als veritas aeterna und folglich an Subjekt, Prädikat und Objekt glauben, ist niemand heute mehr so unschuldig, noch in der Art des Descartes das Subjekt "ich", als Bedingung von "denken" zu setzen. ... Das Denken ist uns kein Mittel zu "erkennen", sondern das Geschehen zu bezeichnen, zu ordnen, für unseren Gebrauch handlich zu machen: so denken wir heute über das Denken: morgen vielleicht anders. Wir begreifen nicht mehr recht, wie "Begreifen" notwendig sein sollte, noch weniger, wie es entstanden sein sollte: und ob wir schon fortwährend in die Not kommen, mit der Sprache und den Gewohnheiten des VolksVerstandes uns behelfen müssen, so spricht der Anschein des beständigen SichWidersprechens noch nicht gegen die Berechtigung unseres Zweifels. Auch in Betreff der "unmittelbaren Gewissheit" sind wir nicht leicht zu befriedigen: wir finden "Realität" und "Schein" noch nicht im Gegensatz, wir würden vielmehr von Graden des Seins - und vielleicht noch lieber von Graden des Scheins - reden und jene "unmittelbare Gewissheit" (z.B. darüber, dass wir denken und dass folglich Denken Realität habe) immer noch mit dem Zweifel durchsäuern, welchen Grad dieses Sein hat; ... in summa: es ist zu bezweifeln, dass das Subjekt sich selber beweisen kann, - dazu müsste es eben außerhalb einen festen Punkt haben, und der fehlt. (61) Wieder Brecht: "Der Zweifel müsste unbedingt an alle Dinge zusammen gesetzt werden, denn da alle Dinge miteinander zusammenhängen, kann ich einzelne ja gar nicht abgrenzen, und im Grund zweifle ich ja auch nicht an den Dingen, sondern nur an meinen Sinnen, die sie mir vermitteln, und zwar vielleicht ungenau oder falsch. Aber in Wirklichkeit tue ich gerade das, was ich nicht tun kann: Ich zweifle an dem einen Ding mehr als an dem anderen, oder: ich weiß von dem einen Ding mehr als von dem anderen, und noch etwas: Ich weiß von ein und demselben Ding verschieden viel; ich kann nämlich mehr und mehr davon erfahren und dieses Mehr-Als und dieses Mehr-und-Mehr sind sehr wichtige Operationen oder Kategorien (Anm. von Brecht: Die Operation mit diesen Begriffen ermöglicht die Auflösung der Kant’schen Zweifel und die Fruktifizierung der Descartes’schen). Wir stimmen also im Grund überein mit Descartes, wenn er zweifelt, das Ding erkennen zu können, nämlich das substantivische starre, sich nicht ändernde Ding ... (10/137 f) Diese Abstufungen des Erkennens, die Kategorien des Mehr-Als oder Mehr-und-MehrErkennens, sowie die Erforschung der Bedingungen, welchen diese differenzierten Operationen in der Praxis unterliegen, muss untersuchen, wer zu einem eingreifenden Denken gelangen will. Wie nahe Brecht hier wieder bei Nietzsche bleibt, wollte ich mit der obigen Zitatcollage, die sich fast bruchlos aneinanderfügt, belegen, ohne im Einzelnen die Differenzen zu untersuchen. Ich bin auf Brechts Auseinandersetzung mit Descartes nicht eingegangen, um mein BrechtNietzsche-Steckenpferd zu reiten, sondern in erster Linie deshalb, weil hier die Differenz zu einem oft geübten Verfahren marxistischer Philosophen deutlich wird, die in ihrer materialistischen Kritik oft rein ideologisch vorgehen, d.h. bestimmten Philosophen rein äußerlich ein Basis-Überbauschema überstülpen, statt sich auf die Inhalte (auch die materieller Voraussetzungen) wirklich einzulassen. Natürlich wäre es reizvoll, im einzelnen auch die Auseinandersetzungen Brechts mit Kant zu verfolgen, zu denen die Descartes-Kritik quasi den Auftakt bildet: Wir stimmen also im Grund überein mit Descartes, wenn er zweifelt, das Ding erkennen zu können, nämlich das substantivische starre, sich nicht ändernde Ding. Nur nehmen wir nicht an, dass dies in der Art des menschlichen Geistes liegt, sondern meinen, dass es dieses Ding gar nicht gibt, wie es Kant zum Beispiel haben will, um es zu erkennen, oder nicht zu erkennen. (20/138) Es war weiter oben schon einmal das Wort "plump genommen" vorgekommen, und im Dreigroschenroman wird dazu explizit erklärt: Die Hauptursache ist, plump denken zu lernen. Plumpes Denken, das ist das Denken der Großen. (13/916) In einem Kommentar hat Walter Benjamin auf den Zusammenhang von plumpem Denken mit eingreifenden Denken verwiesen: Es gibt viele Leute, die unter einem Dialektiker einen Liebhaber von Subtilitäten verstehen. Da ist es ungemein nützlich, dass Brecht auf das "plumpe Denken" den Finger legt, welches die Dialektik als ihren Gegensatz produziert, in sich einschließt und nötig hat. Plumpe Gedanken gehören gerade in den Haushalt des dialektischen Denkens, weil sie gar nichts anderes darstellen als die Anweisung der Theorie auf die Praxis. Auf die Praxis, nicht an sie: Handeln kann natürlich so fein ausfallen wie Denken, aber ein Gedanke muss plump sein, um im Handeln zu seinem Recht zu kommen. (62) Jetzt will ich, ohne noch weiter etwa auf den großen Humoristen Hegel, "der mit einem Augenzwinkern auf die Welt gekommen sein muss" (14/1460) mich einzulassen oder über Brechts Pläne für ein Stück "Leben des Konfutse" zu reden, diese illustre Gesellschaft verlassen (und damit diesen Abschnitt abschließen), indem ich ein Stück "plumpes Denken über Kants Ding an sich" für sich sprechen lasse: in den TUI-Geschichten aus dem Komplex des TUI-Romans gibt es eine mit dem Titel: Die Erkenntnistheorie oder der Fluss Mis-ef. Dort werden die Streitigkeiten zwischen den Philosophen über die Frage: ob dem Faden oder der Idee des Fadens Priorität zukommen müsse, geschildert: Eine der größten Störungen in den tiefsinnigen Untersuchungen des Problems war eingetreten, als einige jüngere Philosophen eine ganz neue Frage aufgestellt hatten, nämlich, ob nicht die in dem ganzen Streit zutage tretende Unsicherheit der Erkenntnis von einer anderen Unsicherheit herrühre, einer äußeren, zeitweiligen Unsicherheit des Lebens der Philosophierenden. Der Philosoph Ka-meh verstieg sich am Ende zu der ungeheuerlichen Behauptung (und er schämte sich nicht, dieselbe zu beweisen), dass das innerste Wesen der Kartoffel zum Beispiel, deren Erkenntnis den Philosophen solche Schwierigkeiten bereitete, die Tatsache sei, dass sie auf den Markt komme. Er sagte: "Als die Menschen noch die Kartoffel nur für sich selber pflanzten, hatten sie keine beträchtlichen Schwierigkeiten, ihr Wesen zu erkennen. Sie erkannten ihr innerstes Wesen, indem sie sie pflanzten und indem sie sie aufaßen. Von dem Tag an, wo sie die Kartoffel in einem Schubkarren auf den Gemüsemarkt schoben oder sie mit einem Sack unter dem Arm dort abholten, begann sie ihr innerstes Wesen so schlau und dickköpfig zu verhüllen. Heute zweifeln die Kartoffelpflanzer und die Kartoffelesser beim Anblick dieser Frucht an ihrem Verstand. Denn ein Sack Kartoffeln ist ein Hemd, wenn verkauft, ein Hemd, das eine Ladenmiete für einen Tag war im Kreislauf der Waren, und wieviel Seiten hat die Kartoffel! ... Aber hinter all ihren Bedeutungen verschwindet sie selber freilich immer mehr, sie ist eigentlich gar nichts selber, so viel und so gar nichts. Im Grund ist sie am ehesten ein Etwas, mit dem man etwas anderes gewinnen kann." (12/697) Plumpes Denken bezeichnet also die Fähigkeit zur Vereinfachung nicht im Sinne der Tilgung der Widersprüche, sondern im Sinne der Ausrichtung auf den einen Punkt, an dem das Denken eingreifen soll. In einem Entwurf für die Darstellung von Sätzen in einer neuen Enzyklopädie (die Brecht zur Entlarvung des faschistischen Sprachgebrauchs plante), ist aufgelistet, wie Sätze untersucht werden müssen: 1. Wem nützt der Satz? 2. Wem zu nützen gibt er vor? 3. Zu was fordert er auf? 4. Welche Praxis entspricht ihm? 5. Was für Sätze hat er zur Folge? Was für Sätze stützen ihn? 6. In welcher Lage wird er gesprochen? Von wem? (20/174) Der Gedanke in den Werken der Klassiker Nackt un ohne Behang Tritt er vor dich hin, ohne Scham, denn er ist Seiner Nützlichkeit sicher. Es bekümmert ihn nicht Dass du ihn schon kennst, ihm genügt es Dass du ihn vergessen hast. Er spricht Mit der Grobheit der Größe. Ohne Umschweife Ohne Einleitung Tritt er auf, gewohnt Beachtung zu finden, seiner Nützlichkeit wegen. Sein Hörer ist das Elend, das keine Zeit hat. Kälte und Hunger wachen Über die Aufmerksamkeit der Hörer. Die geringste Unaufmerksamkeit Verurteilt sie zum sofortigen Untergang. Tritt er aber so herrisch auf So zeigt er doch, dass er ohne Hörer nichts ist Weder gekommen wäre noch wüsste Wohin gehen oder wo bleiben Wenn sie ihn nicht aufnehmen. Ja von ihnen nicht belehrt Den gestern noch Unwissenden Verlöre er schnell seine Kraft und verkäme eilig. (9/568) D) Das Theater des wissenschaftlichen Zeitalters 1. Unfreiwilliger Exkurs in die Brechtforschung Ich habe geschwankt zwischen obigem Titel oder dem eines "Dialektischen Theaters" und dann doch den des Theaters des wissenschaftlichen Zeitalters gewählt, u.a. weil er quasi von rechts und links unter Beschuss steht: Martin Esslin zitiert ihn als eins der Beispiele, mit denen es Brecht, "sonst der klarste und direkteste Stilist", fertigbringt, mit seinen theoretischen Schriften, "jenen so nützlichen wie reizvollen teutonischen Nebel zu verbreiten", um seinen "weder besonders neuen oder originellen" Theorien den Anschein einer "völlig revolutionären, alles Bestehende umwälzenden Theorie" zu geben: Spezifisch Wendungen wie die oben genannte resultierten aus einer "Mischung von prophetischer Gewissheit und pseudowissenschaftliche Exaktheit", die Brecht sich "durch die Benutzung des marxistischen Jargons angesteckt, zu eigen machte." (63) Dies von einem Autor, der auf der zitierten Seite Marx und Heidegger in einem Atemzug gleichermaßen der Obskurität und Unlesbarkeit bezichtigt... Nun die Kritik "von links": "Nicht von einem objektiven Begriff der Wissenschaft ausgehend untersuchte er (Brecht) - wie das oft dargestellt wird - die mögliche Verbindung von Theater und Wissenschaft, sondern umgekehrt, von seiner Vorstellung eines neuen Theaters mit dem Publikum des ’wissenschaftlichen Zeitalters’ her begriff Brecht die selbständige und arbeitsteilig institutionalisierte Wissenschaft: Bevor Brecht ausreichend Einsicht in die Klassenstruktur der bürgerlichen Gesellschaft erlangt hatte, stand seine Konstruktion des ‘wissenschaftlichen Zeitalters’ schon fest. Der unmarxistische Begriff des ’wissenschaftlichen Zeitalters’ wurde meines Wissens nie kritisiert. (64) So Manfred Voigts, von dem man, Brecht paraphrasierend, sagen könnte: er ist schwächer als Esslin, das ist unglücklich. Er wäre so sehr viel besser sonst.(65) Aber Spass beiseite. Der umstrittene Begriff des wissenschaftlichen Zeitalters ist mir lieber, hinter dem der eine den marxistischen Jargon wittert und gegen den der andere gleich sein Verdikt schleudert: unmarxistisch. Aber es sei hier festgehalten: es ist das Verdienst des Marxisten Brecht, einige nirgends sonst bei den Klassikern vorkommende, "praktikable Definitionen" geliefert zu haben, deren Nützlichkeit sich erst später herausstellen sollte, die Brecht aber schon zu Lebzeiten immer in den Geruch der Höresie brachten. (Um Voigts verständlich zu bleiben: Brecht hat mit einer sich der Beurteilung durch marxistische Beckmesser entziehenden Witterung noch vor der Marx- und Leninlektüre etwas davon gespürt, dass Wissenschaft zur unmittelbaren Produktivkraft wird und sich mit seiner im übrigen, wie die häufigen Umformulierungen zeigen, heuristischen Definition einer Tendenz aufgeschlossen gezeigt, die heute erst allgemein deutlich wid. Ich gerate hier unversehens, aber nicht gerade zufällig in eine Polemik, wo ich mich kurz fassen wollte: Geht es doch nicht an, in einem Kapitel über Verfremdung den Ort ganz auszusparen, für den er als terminus technicus gefunden und in dem er seine spezifische Berechtigung hat - das Theater - ohne die vorher gezeigten Weiterungen zurücknehmen zu wollen. Die Bemühung, das Theater bzw. Brechts Theatertheorie bisher eher zurückzustellen, hängt damit zusammen, dass ja der einseitig auf den Stückeschreiber und Erfinder des V-Effekts gerichtete Blick der Forschung den auf den Philosophen Brecht weitgehend verstellt hat. Ganz verdrängen hab ich diese Thematik ja nicht können, zumal ich ja Brechts Absicht, Theatermachen zu einer Gepflogenheit des Philosophierens zu machen, zustimme und zum spezifischen Tun des "Philosophen neuen Typs" Brecht erklärt habe. Und in der Schlussthese der Einleitung habe ich Brechts Theatermachen sogar unter den Begriff des "eingreifend Handelns" subsumiert, wobei man die Differenzierung von Handlungsebenen, wie sie Knopf hervorhebt (in der Auseinandersetzung um "idealistische Tendenzen" Brechts im Gefolge von Korsch), durchaus unterstreichen muss. Brecht hat sein Theatermachen sicher nicht als Ersatz für eine Weltrevolution verstanden, aber ihm seine Nützlichkeit im weltrevolutionären Prozess zugestanden. Damit bin ich wieder bei der Polemik gegen Voigts, der es implizit unternimmt, Max Frisch’ Satz von der "durchschlagenden Wirkungslosigkeit des Klassikers Brecht"(66) wissenschaftlich aufzuarbeiten - genauer, er sucht die Beantwortung der Rezeptionsfrage also der Diskrepanz zwischen dem Anspruch etwa der "revolutionierenden Wirkung des eingreifenden Denkens" und der Tatsache, dass Brecht im Westen zum meistgespielten Dramatiker neben Shakespeare avanciert ist, und dem Bereich der Ãœberschneidung von Kunst und Marxismus. Ein idealistisch verfälschter Marxismus und ein Verharren (bzw. Zurückfallen) in den Bereich der bürgerlichen Institution Kunst wären, so die Antwort Voigts, plump zusammengefasst, verantwortlich zu machen für die oben kritisierte Wirkung bzw. Wirkungslosigkeit Brechts. Für die hier zu untersuchende Fragestellung relevant ist dabei die so formulierte These Voigts: Das Problem des Widerspruchs zwischen Intention und Realisation des epischen Theaters muss sich zurückführen lassen auf den inneren Doppelcharakter des V-Effekts, der es ermöglicht, ihn mal so, mal so zu erfahren. " (67) Und das "Mal-so, Mal-so" ein wenig zu erhellen: einmal - für einen geschulten, marxistischen Zuschauer könne das epische Theater aktivierende Wirkung haben, als Experiment im Marx’schen Sinn (Vorwort zum Kapital), im anderen Fall - der fehlenden Entwicklung der Zuschaukunst verfällt alles, was der Verfremdung zugehört der zweiten, poetischen Realität, die Brecht zwischen Realität und Zuschauer in seinen Stücken schiebe. (68) Vor einer Überprüfung der Hypothese von Voigts müsste man überlegen, ob nicht die ganze Frage falsch gestellt ist, die von Frisch’s Diktum ausgegangen ist. Es wäre ehrlicher von Frisch gewesen, Brecht rauszulassen bei der Rechtfertigung seines Rückzugs in selbstbespiegelnde Innerlichkeit, statt sich auf das Scheitern eines so nicht erhobenen Anspruchs zu berufen. Brecht teilte nicht die Ansprüche etlicher seiner Zeitgenossen, Kunst ins Leben zurückzuführen, sie mit der Wirklichkeit verschmelzen zu wollen, und auch nicht die These vom Ende der Kunst - im übrigen auch nicht in den avanciertesten Projekten einer "Großen Pädagogik" im Zusammenhang mit den Lehrstücken. Auch da ging es ihm um eine Umfunktionierung - die durchaus einschließen konnte, dass "ein ganzer Haufen, bisher Kunst genannten Krempels von jetzt ab nicht mehr Kunst genannt würde." (15/66) Der letzte Satz bei Brecht schliesst an an die Stelle: "Kunst ist nichts Individuelles. Kunst ist, sowohl was ihre Entstehung als auch was ihre Wirkung betrifft, etwas Kollektivistisches." (15/66) Das steht allerdings in deutlichem Widerspruch nicht zur Hegelschen Bestimmung der Kunst als Existenzweise der realen Versöhnung von Individuum und Gesellschaft (bei der Voigts anmerkt: Hegel nahm die bürgerliche Kunst als bürgerliche nicht ernst, indem er sie der romantischen Kunstform - Niedergangsphase! - zurechnet), sondern zu der Eingrenzung, die Voigts vorschlägt: Die Geschichte der Kunst ist in gewisser Weise die Geschichte ihres Zerfalls, d.h. der Verschiebung der Ebenen, innerhalb derer im Individuum die Versöhnung realisiert werden kann." (69) Dem ersten Teil des Satzes hätte Brecht zugestimmt, es geht ihm ja auch um diese Verschiebung der Ebenen, aber nicht individueller Versöhnung, sondern "kollektivistischer", fürs Aufhören der Kunst hatte er aber nichts übrig. Voigts schließt nach einem Überblick über die Geschichte der bürgerlichen Ästhetik so: "Innerhalb dieser Entwicklung hat der Dadaismus, ohne aus dem Bereich der Kunst selbst auszubrechen ... die Kunst zu ihrem immanenten Ende gebracht. Historisch lebt die Kunst und wird weiterleben, solange die bürgerliche Gesellschaft das Individuum reproduziert und vernichtet, und erst mit der Änderung der Gesellschaftsverhältnisse wird Kunst tatsächlich ersetzt werden durch eine neue und höhere Bewusstseinsform, die gesellschaftlich-historisch bestimmt sein wird." (70) Für das so verstandene Diktum vom Ende der Kunst gilt, was Brecht einmal in Bezug auf Freud notiert: "benjamin behauptet, freud sei der meinung, die sexualität werde einmal überhaupt absterben. unsere bourgeoisie ist der meinung, sie sei die menschheit. als der kopf des adlers fiel, stand ihm wenigstens noch der schwanz. der bourgeoisie ist es gelungen, sogar die sexualität zu ruinieren..." (71) Entweder ist diese "neue und höhere Bewusstseinsform, die gesellschaftlich-historisch bestimmt sein wird" nichts anderes, als Brecht oben definierte: etwas Kollektivistisches, aber eben doch Kunst, das heißt eben Versöhnung - oder Lösung von Widersprüchen mit nichtwissenschaftlichen sprich künstlerischen Mitteln oder Voigts meint die Stillegung von Widersprüchen überhaupt: dann ist Kunst allerdings, was immer man darunter versteht, überflüssig, wie auch das Leben selbst... Aber vielleicht tue ich Voigts Unrecht, wenn ich ihm unterstelle, dass er mit seinem emphatischen, aber leeren Begriff vom Ende der Kunst selbst bürgerlicher Ideologie verfällt, ich gebe gern zu, dass die eigentliche Kritik an ihm weniger an seinen Thesen, als an seiner Sprache ihren Anlas findet. Ich bin ja schon bei der ersten Gelegenheit deutlich genug geworden (apropos Steinwegs Lehrstückbuch) und auch der Anlass dieser Polemik: Voigts Bemerkung über den "unmarxistischen Begriff" des "wissenschaftlichen Zeitalters" ist ja für seine These eher peripher, aber der anmaßende Ton lässt mir die Grausbirnen (Gallbirnen, bei Verhören der Inquisition verwendet, von da ins Wienerisch eingewandert) aufsteigen. ("Gewohnheiten noch immer: Die Teller werden hart hingestellt/Dass die Suppe überschwappt./Mit schriller Stimme/Ertönt das Kommando: Zum Essen!/Der preußische Adler - oder ist es hier ’Der bayrische Löwe’/Den Jungen hackt er/Das Futter in die Mäulchen." 10/1011) Dazu kommt eine geradezu notorische Humorlosigkeit, die sich dann hin und wieder im Übersehen einer Brechtschen Ironie im Argumentationszusammenhang zeigt. Ich breche hier diesen kritischen Exkurs ab, ohne vorweg Voigts These weiter zu diskutieren. Ich stimme nämlich in einer Reihe von Punkten mit Voigts durchaus überein: Einmal in der Einschätzung der Bedeutung, die er der Sprachkritik (wenigstens bei Brecht) zumisst. Dann aber auch in der Abwehr der häufig zu findenden Darstellung einer quasi selbstgenügsamen Theaterrevolution durchs epische Theater etwa bei K. D. Müller oder Hecht: Die Revolutionierung des Theaters erfolgte komplex von Inhalt und Form her. Durch diese wesentliche Neuerung wurde das epische Theater zu einem transportablen künstlerischen Prinzip. (72) Dazu Voigts völlig zu Recht: Als hätte sich Brecht eine Revolutionierung des Theaters ohne eine der Gesellschaft denken können, als sei das epische Theater eine innerkünstlerische Sache, ein ’Stil’, der einen politisch aktivierenden Anspruch hat. Nicht von Form und Inhalt ging Brecht aus, sondern von der Erfahrung des ’montierten Individuums’ und des ’Theaters als Institution. (73) 2. Lauter Synonyme? Wie gesagt, gibt es bei Brecht einige Beschreibungsvarianten seiner Theaterarbeit, wobei zu den schon genannten Termini Theater des wissenschaftlichen Zeitalters und Dialektisches Theater noch episches Theater und eine nicht-aristotelischeDramatik hinzukommen, die in der mittleren Lebensepoche Brechts (und in den theoretischen Hauptwerken zur Theatertheorie, dem Messingkauf und dem "Kleinen Organon" hauptsächlich verwendet werden), während der späte Brecht vor allem wegen der Missverständnisse, denen seine Äußerungen über episches Theater und V-Effekt ausgesetzt waren, wiederum zu den schon 1931 verwendeten Terminus: Dialektisches Theater zurückkehren wollte: Ernst Schumacher berichtet über ein Gespräch mit Brecht, das Brechts tiefe Einsicht in die Fehldeutungen und verkürzten Interpretationen seiner Theorie bezeugt: ...und von den Verfremdungseffekten bleiben meist nur die Effekte übrig, losgelöst von ihren Zwecken ... Ach, wissen Sie, die menschliche Natur versteht sich nicht weniger als die übrige organische darauf, sich anzupassen. Die Menschen, die sogar den Krieg mit Atombomben als normal zu betrachten vermögen, warum sollen sie nicht mit so kleinen Sachen wie den Verfremdungseffekten fertig werden, nur um nicht die Augen aufschlagen zu müssen? Ich kann mir vorstellen, dass sie eines Tages sogar ihre alte Form des Genusses nur zu haben vermögen, wenn die V-Effekte geboten werden... (74) Brecht war sich allerdings auch darüber klar, dass dagegen keine Umbenennungen seiner Theorien helfen würden, diese können bestenfalls die Differenz zwischen dem Anspruch und seiner jeweiligen Einlösung deutlicher machen. Untersuchen wir nun die einzelnen Begriffe. Brecht hat auf der Differenz bestanden zwischen Theater des wissenschaftlichen Zeitalters und "wissenschaftlichem Theater" ebenso wie zwischen Theater des Experiments und "Experimentiertheater". Worin besteht in beiden Fällen die Differenz? Im ersten Falle hätte wissenschaftliches Theater die oben besprochene Ablösung der Kunst durch die Wissenschaft zum Inhalt, damit auch den bewussten Verzicht auf künstlerische Mittel. (Eine Form des "wissenschaftlichen Theaters" stellt etwa, jedenfalls dem eigenen Anspruch nach, Morenos "Psychodrama" dar, welches im übrigen auch einige verwandte Züge zu Brechts Lehrstückpraxis- Spielen ohne Zuschauer, Rollentausch der Agierenden etc. aufweist, allerdings mit geradezu diametral entgegengesetzter Zielsetzung; wie weit gegenseitige Kenntnis bzw. Beeinflussung angenommen werden kann, ist meines Wissens übrigens noch nicht erforscht.) Mit "wissenschaftlichem Zeitalter" wird von Brecht auf die gesellschaftliche Bedeutung vor allem und zuerst der Naturwissenschaften verwiesen, die in Form der Technik tief ins Leben der Menschen eingreifen und die neuen Kollektive hervorbringen, deren Bewegungsgesetze für Brecht mit dem Auftreten der Marx’schen Gesellschaftstheorie erst wissenschaftlich erschlossen werden. Es ist vielleicht noch eine Bemerkung zum "unmarxistischen" dieses Begriffs zu sagen. Wie das schon im ersten Teil erwähnte Bild vom "Einzug der Menschheit in die großen Städte zu Anfang des 3. Jahrtausends" ist auch der Begriff des "wissenschaftlichen Zeitalters" amarxistisch, von Marx nicht gebraucht worden, aber nicht dem Marxschen Denken entgegengesetzt, welchen Eindruck Voigts erweckt. Die erste Erkenntnis, die Brecht übers Theater gewinnt, ist die von der Unbrauchbarkeit der überlieferten Institution Theater, des quasi-religiösen Kulturtempels zur Erbauung des bourgeoisen Publikums. Destruktion der kultischen Restfunktion von Theater durch radikale Kritik des überkommenen Theaters ist daher die erste Aufgabe: Jahrmarkt, Zirkus, Sportplatz, Boxarena als Gegenbilder (auch das Rauchertheater gehört dazu), haben nicht nur die Funktion von Schreckbildern fürs feierliche Theaterpublikum, sondern stellen für Brecht reale Alternativformen dar, vor allem findet er hier seine Zuschauer: die mit den Regeln vertrauten, als Fachleute die Vorgänge distanziert beurteilenden Betrachter, deren "splendid isolation" nicht angetastet wird - zunächst noch nicht das mit seinen umwälzenden Angelegenheiten beschäftigte Kollektiv, welches das Theater als Ort zur Einübung bestimmter Haltungen benützt (Große Pädagogik im Rahmen der Lehrstücktheorie). In diesem Stadium bereits gewinnen das "Experiment", die "Versuche", der "Modellbegriffe" Bedeutung für Brecht, taucht auch das Modell des Planetariums auf, das Brecht im Messingkauf dem des Karussells (fürs herkömmliche Theater) gegenüberstellt. Analog zur Arbeit des Physikers im Laboratorium sollte die Arbeit des Stückeschreibers im Theater besondere Versuchsbedingungen herstellen, um in einer von störenden Nebeneinflüssen gereinigten Anordnung bestimmte Hypothesen über Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Lebens - des Zusammenlebens und Aufeinander-Einwirkens von Menschen zu erproben, wobei der Zuschauer als Beobachter sich nicht in die Vorgänge hineinzuversetzen, sondern sie aus der Distanz kritisch zu beurteilen befähigt werden sollte. Brecht hatte also eine im Konkreten zwar sich entwickelnde, aber doch fest umrissene Vorstellung von der Art und vom Zwecke der Experimente, zu denen das Theater herangezogen werden sollte: durch Abbildungen gesellschaftlicher Vorgänge sollte es möglich werden, praktikable Modelle für Eingriffe in die Wirklichkeit zu erlangen. Das, was man unter Experimentiertheater versteht, ist ein Herumexperimentieren mit theatralischen Mitteln. An diesem Punkt schieden sich die Auffassungen Brechts von denen Piscators, der gerade mit dem Theater experimentierte, technische Neuerungen einführte (so die Verwendung von Film auf der Bühne, die Verwendung von Laufbändern, das Anbringen von Transparenten und Zwischentiteln - Dinge, die Brecht als Bestandteile "epischen Theaters" von Piscator übernahm, die aber nicht zum Selbstzweck werden sollten. Hier ist das Stichwort "episches Theater" gefallen, über das es einen späten Prioritätsstreit geben sollte; Erich Piscator beanspruchte das Verdienst für sich, der "Erfinder" des epischen Theaters zu sein, obwohl oder gerade weil der Begriff heute allgemein mit Brecht verbunden wird. Solche Prioritätsansprüche für Dinge, die in einer bestimmten Situation quasi in der Luft liegen, sind wohl mäßig, insbesondere in diesem Fall, wo wiederum einem ungenannten Dritten, Nietzsche nämlich, (über eventuelle Vermittlung Alfred Döblins) gewisse Geburtshelferdienste nicht abgesprochen werden dürften. Es ist das Verdienst Reinhold Grimms, darauf verwiesen zu haben, auch wenn er die Frage des Zusammenhangs zwischen Nietzsches "mythisierende(r) Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, mit ihrer Verhimmelung des Wagnerschen Gesamtkunstwerks" und Brechts epischen Theater nur erst angerissen hat. Dass in Nietzsches Rekonstruktion "jedenfalls in mancher Hinsicht förmlich das Negativbild eines Brechtschen Theaters (darin) zu sehen (75), lautet seine durchaus diskutable Arbeitshypothese. In dem schon erwähnten Aufsatz "Dionysos und Sokrates" verweist Grimm immerhin auf den Nietzsche’schen Ausdruck "dramatisches Epos" für nichts anderes als das, was Brecht zunächst als "episches Drama" und sehr bald als "episches Theater" bezeichnen sollte. Selbst den sogenannten "epischen Darstellungsstil, wonach der Schauspieler seine Rolle mit Hilfe der Verfremdungstechnik nicht so sehr lebt als vielmehr ’zeigt’, nahm Nietzsche im Prinzip vorweg und beschrieb ihn zudem auf eine Weise, die durchaus derjenigen Brechts im Kleinen Organon für das Theater ähnelt." (76) "Der Dichter des dramatischen Epos kann ebensowenig wie der epische Rhapsode mit seinen Bildern völlig verschmelzen: er ist immer noch ruhig unbewegte aus weiten Augen blickende Anschauung, die die Bilder vor sich sieht. Der Schauspieler in (diesem) dramatischen Epos bleibt im tiefsten Grund immer noch Rhapsode ..." (77) Zu den wichtigsten Übungen für den Schauspieler zählt Brecht das Verfahren, aus der Rolle herauszutreten und sie in der dritten Person "zu erzählen" ... Aber wie schon angedeutet, sind die Beziehungen wohl verwickelter als dass sie nur in der Übernahme des sokratischen Parts (gegen den Nietzsche ja polemisiert) durch Brecht bestünde. Die Aufarbeitung dieses Zusammenhangs würde eine eigene ausführliche Untersuchung erfordern, die Grimm nicht lieferte, da er auf Nietzsche im zitierten Aufsatz als vermittelnde Instanz zwischen Brecht und Artaud auch nur hinweisend Bezug nimmt. Es ist in diesem Zusammenhang auch die Frage zu erwähnen, ob eine solche Untersuchung nicht auch auf Voigts These von der Doppeldeutigkeit des Brechtschen V-Effekts einen erhellenden Einfluss ausüben könnte - aber das sei einer weiteren Arbeit vorbehalten. Um aber nur mit einem Streiflicht doch die verwickelteren Beziehungen anzudeuten, noch ein Hinweis: ich habe den Unterabschnitt über Brechts Marxismus mit dem Zitat über Marx als den einzigen Zuschauer Brechts betitelt; bei Nietzsche heißt es: Euripides fühlte sich ... als Dichter wohl über die Masse, nicht aber über zwei seiner Zuschauer erhaben ... Von diesen beiden Zuschauern ist der eine - Euripides selbst, Euripides als Denker, nicht als Dichter. Von ihm könnte man sagen, dass die außerordentliche Fülle seines kritischen Talents ähnlich wie bei Lessing, einen produktiv künstlerischen Nebentrieb wenn nicht erzeugt, so doch fortwährend befruchtet habe. Mit dieser Begabung, mit aller Helligkeit und Behendigkeit seines kritischen Denkens hatte Euripides im Theater gesessen und sich angestrengt, an den Meisterwerken seiner großen Vorgänger, wie an dunkel gewordenen Gemälden Zug um Zug, Linie für Linie wiederzuerkennen ..." (78) Ist das nicht schon wieder ein "maßgeschneiderter Anzug" für - Brecht? Der zweite Zuschauer aber, von dem Nietzsche kunstvoll zögert, den Namen zu nennen ist: Sokrates. Ich führe den Zusammenhang hier nicht aus: die Entsprechung ist keine lineare, die als Gleichung "Brecht : Marx = Euripides : Sokrates"so einfach "aufgehen" könnte. Lässt sich das Wesen des ästhetischen Sokratismus noch vergleichen, dessen oberstes Gesetz ungefähr so lautet: "alles muss verständig sein, um schön zu sein" (79) und fügt sich auch das Beispiel des euripedeischen Prologs fugenlos in Brechts Theorie: "Dass eine einzelne auftretende Person am Eingange des Stücks erzählt, wer sie sei, was der Handlung vorangehe, was bis jetzt geschehen, ja was im Verlaufe des Stückes geschehen werde, das würde ein moderner Theaterdichter als ein mutwilliges und nicht zu verzeihendes Verzichtleisten auf den Effekt der Spannung bezeichnen." (80) Aber der Zweck dieser Neuerungen bei Euripides führt auf das gerade Brechts Intention diametral entgegenstehende Einführungsdrama, das eigentliche aristotelische Drama mit Handlungseinheit und vollständiger Einfühlung (Nietzsche spricht von der "vollen Versenkung in das Leiden und Tun der Hauptpersonen" des Zuschauers, ohne die "das atemlose Mitleiden und Mitfürchten noch nicht möglich (ist)." (81) Aber, haben wir uns die Frage weiter zu stellen, liegt in diesem Zusammenhang mit Nietzsches Frühschrift nicht vielleicht die verborgene Wurzel dafür, dass Brecht sein Theater als nichtaristotelische Dramatik dargestellt hat - wenigstens zeitweise? Man hat Brecht öfter vorgeworfen, dass seine Kritik des aristotelischen Theaters wohl das bürgerliche Drama von der Klassik bis zum Naturalismus, eingeschlossen das Wagnersche Gesamtkunstwerk mit seinem eingestandenen Ziel, Rauschzustände zu erzielen, betreffe, dass aber sein Angriff auf Aristoteles sein Ziel wesentlich verfehle. Manfred Riedel etwa nennt es eine "seltsame Verkennung der geschichtlichen Zusammenhänge", dass Brecht das monumentale Theater seiner Vorgänger, das sich "an den Affekt, die Gefühle und Leidenschaften der Menschen gewandt habe, bis auf die griechischen Tragiker und einen klassischen Philosophen, nämlich Aristoteles, zurückdatiere."(82) Brecht betont in einer "Kritik der Poetik des Aristoteles" aus den frühen Dreißiger Jahren, dass es dabei nicht in erster Linie um die "bekannte Forderung der drei Einheiten als Hauptpunkt geht", er bemerkt, "sie wird von Aristoteles auch gar nicht erhoben, wie die neuere Forschung festgestellt hat." Brecht erscheint es vielmehr von größtem gesellschaftlichem Interesse, was Aristoteles der Tragödie als Zweck setzt, nämlich die Katharsis, die Reinigung des Zuschauers von Furcht und Mitleid durch die Nachahmung von furcht- und mitleiderregenden Handlungen. Diese Reinigung erfolgt aufgrund eines eigentümlichen psychischen Aktes, der infühlung des Zuschauers in die handelnden Personen. (15/240) Brecht war sich - auch über Nietzsche - dessen bewusst, wie groß die Rolle epischer Elemente in der antiken Tragödie war und dass sie eine ganze Menge von V-Effekten praktizierte. Die Berufung auf Aristoteles, bzw. die Gegenüberstellung hat doppelte polemische Bedeutung: einmal als Frontstellung gegen den Metaphysiker als materialistischer Dialektiker, zum andern im Sinne der Kopernikanischen Wende: Brecht reihte sich neben Bacon, Kopernikus, Bruno und Galilei, die Begründer der anti-aristotelischen modernen Naturwissenschaft. Zum dritten aber verweist der Bezug auf Aristoteles eben auch auf die Rolle, die Nietzsches Reflexionen über das griechische Drama für die Herausbildung von Brechts eigener Theatertheorie zukommt. 3. Lehrstücktheorie, Idealismusverdacht und Utopismus Obwohl einzelne Lehrstücke seit den Anfängen der Brechtforschung Gegenstand heftiger Kontroversen geworden sind (das gilt vor allem für die "Maßnahme" (83)) kann man, wie Jan Knopf mit Recht feststellt, erst seit Reiner Steinwegs Untersuchungen von einer Lehrstücktheorie sprechen, weil dieser mit deutscher Gründlichkeit soviel Material dazu gesammelt hat, dass man sich mit seinen oft bewusst gegen die frühere Forschung pointierten Thesen auseinandersetzen musste. Nicht so sehr die Definition des Lehrstücks (als eines Stücktypus für ein Theater ohne Zuschauer, welches als pädagogisches Institut fungierend, belehrt, nicht durchs Zuschauen, sondern durchs Mitspielen, d.h. durchs wechselnde Einnehmen von oft gegensätzlichen Rollen (84)), sondern die durch zwei Belege aus den späten dreißiger Jahren einerseits und von 1956 andrerseits abgestützte These, dass für Brecht die Zukunft des Theaters in der Form des Lehrstücks lag, hat die eigentlichen Kontroversen ausgelöst. Die DDR-Forschung mit ihrem linearen Entwicklungsmodell: Brecht auf dem Weg zum Sozialistischen Klassiker war ebenso irritiert, wie etwa (schon erwähnt) Reinhold Grimm (als ein Beispiel für die westliche Brechtforschung), der an die Lehrstücke mit inadäquaten traditionellen Gattungsbegriffen der Literatur- wissenschaft herangegangen war (- die "Tragödie" des jungen Genossen in der "Maßnahme"). Egal, ob die Lehrstücke als puritanische Askese des frisch zum Marxismus bekehrten Dichters eingestuft wurden, die in den großen Stücken der Exilzeit durch ein Wieder-Sich-Durchsetzen der eigentlichen dichterischen Kraft überwunden wurde (westliche Version), oder ob die Lehrstücke als "mechanisch-materialistische" und daher abstrakte Durchgangsstufe des Stückeschreibers auf dem Weg zur authentisch marxistischen Dramatik eines wirklichen sozialistischen Realismus (ab dem Galilei) angesehen wurden (östliche Variante), für jede der beiden Seiten stellte Steinwegs These von der zentralen und zukunftsweisenden Bedeutung der Lehrstücke ein Ärgernis dar - was sich - wie auch schon erwähnt (bei Grimm z.B.) im Ton der Auseinandersetzungen niederschlug. (85) Manfred Voigts kritisiert Steinweg nun von einer anderen Seite: Ihm, der Brecht insgesamt aus dem Eck des Originalgenies holen will, in den ihn die bisherige Forschung gestellt hat, geht es darum, den historischen Kontext zu rekonstruieren, in welchem Brechts Theaterkonzeptionen entstanden, nachzuweisen, was Brecht alles von Zeitgenossen übernommen - sich anverwandelt habe, um einerseits den Nimbus von Brecht anzukratzen, und andrerseits das spezifisch Brechtsche der Lehrstücke deutlicher herauszukristallisieren. Und, wenn ich ihn recht verstehe, erklärt er die Lehrstücke zu einem Teil eines darüber hinausgehenden "revolutionsspezifischen soziologischen Experiments", in dem - aus einer utopischen Grundhaltung Brechts heraus - das "Ende der Kunst" angepeilt wurde. Brecht hätte aber schließlich die Ambivalenz, die sich in der gleichzeitigen Entwicklung von zwei Strängen neuer Dramatik, nämlich des Lehrstücks einerseits und des epischen Theaters (Dreigroschenoper, Mahagonny) andrerseits zeigt, nicht überwunden, und sei bereits mit der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe", dem Prototyp der "reifen Brechtstücke" zurückgekehrt in den Bereich der bürgerlichen Institution Kunst, was ihn in seinen späteren theoretischen Formulierungen seiner Ästhetik zurückgeworfen hätte auf Positionen der Aufklärung (Diderot, Lessing) bzw. sogar Schillers (Theater als moralische Anstalt). Im Doppelcharakter des V-Effekts sei eben diese Ambivalenz theoretisch fixiert.(86) Dass ich Brechts These aus dem "Messingkauf", wo die Kunst als "ein ursprüngliches Vermögen der Menschheit" (frei nach Kant) definiert wird, nicht für eine Rückzugsposition halte, hab ich schon an anderen Stellen dargestellt - ebenso wie meine Zweifel daran, ob die Hegelsche Konsequenz vom Ende der Kunst so unbesehen (oder unumgestülpt) als Grundlage materialistischer Ästhetik genommen werden darf (wie es übrigens, wenn auch mehr en passant und vorsichtig, Hanns Eisler in seinen Gesprächen mit H. Bunge getan hat. (87) Eisler hat aber auch gesagt: "Im Kommunismus werden die Leute Homer lesen wie heute die B-Z (Berliner Zeitung). Und nur das nenn ich Kommunismus."(88) Der geneigte Leser möge zurückblättern. Ich will aber über das dort Ausgeführte noch hinausgehen, und meinen gerade wiederholten Zweifel an Hegel nochmals in Zweifel ziehen: Vorausgesetzt, man macht aus Hegels Diktum vom Ende der Kunst nicht einen verdinglichten Fetisch und verbietet quasi den Gebrauch des Wortes Kunst für eine befreite Gesellschaft, so stellt Brechts Forderung nach einem Theater des wissenschaftlichen Zeitalters gerade die Einlösung des Hegelschen Satzes dar: als vorbegriffliche Versöhnungsinstanz ans Ende gekommen, muss sich Kunst als aufgehobene vor dem Begriff, d.h. vor der Wissenschaft verantworten können, darf sie nicht zurückbleiben hinter dem durch Wissenschaft, Intellekt erreichten Reflexionsniveau, muss sie sich hinterfragbar machen, ja selbst die wissenschaftliche Haltung einzunehmen einladen. Bei Brecht standen, wir wissen bereits, noch vor seiner Bekanntschaft mit dem Marxismus die Naturwissenschaften Pate bei den Versuchen, ein Theater des wissenschaftlichen Zeitalters zu entwickeln. Beeindruckt von den bereits verwirklichten Möglichkeiten des Eingriffs in die Natur außer uns, bewerkstelligt mit Hilfe der induktiven Methode, des planmäßigen Experiments, einer immer systematischeren Befragung der Natur von bestimmten Hypothesen aus, schien es Brecht möglich und nötig, d.h. an der Zeit, auch das Verhalten der Menschen zueinander experimentell zu untersuchen, diesen Methoden auch in bezug auf die Natur des Menschen Geltung zu verschaffen. Von daher wird auch verständlich, dass die Bekanntschaft mit Marx sich für Brecht als Überspringen eines zündenden Funkens darstellte: da war einer, der das, was Brecht mit Mitteln der Sprachkritik quasi intuitiv versucht hatte, bereits als Wissenschaft begründet und entfaltet hatte. Der bereits mehrmals zitierte Vergleich mit der Arbeit des Physikers, den Marx im Vorwort zum Kapital verwendet, war für Brecht nicht bloß eine bestechende Analogie, sondern wurde für ihn zum zentralen Theoriestück, das er nicht zufällig weiter ausbaute: die für die Marx’sche Gesellschaftstheorie geltende Einschränkung, dass sie Phänomene massenhafter Art untersuche, und für das Verhalten Einzelner nur beschränkt Gültigkeit beanspruchen könne, insofern zu klassenspezifischen Determinanten noch weitere sich überlagernde und widersprüchliche Determinierungen hinzukämen, setzte er in Beziehung zu den Schwierigkeiten der modernen Atomphysik bei der Beschreibung der Bewegungen der kleinsten Teilchen, die sie dazu zwang, anstelle exakter Fixierungen Wahrscheinlichkeitskalküle einzusetzen. Die Unberechenbarkeit der kleinsten Körper Me-ti sagte: Eben jetzt stellt die Physik fest, dass die kleinsten Körper unberechenbar sind; ihre Bewegungen sind nicht vorauszusagen. Sie erscheinen wie Individuen, mit eigenem freien Willen begabt. - Aber die Individuen sind nicht mit eigenem freien Willen begabt. Ihre Bewegungen sind nur deshalb schwer oder nicht vorauszusagen, weil für uns zu viele Determinierungen bestehen, nicht etwa gar keine. (12/568) Von daher auch die Begeisterung Brechts für die Heisenberg’sche Unschärferelation, die für Dialektiker, sprich Marxisten "ein Leibgericht" sei: "Wenn er (Heisenberg) sagt, dass sich das zu Erkennende durch die Methode der Erkennung verändert, so dass wir es nicht genau erkennen können - das stimmt ungefähr genau - ja, das ist für uns ein einfaches Volksfest." (89) (So Eisler gegenüber Bunge.) Gerade an dieser Stelle ist (im Zusammenhang mit der KorschDebatte über den Stellenwert der "geistigen Aktion") gegenüber Eisler und Brecht von marxistischer Seite ein Idealismusvorwurf erhoben worden (so bei Knopf (90)). Brecht leugne (unter dem Einfluss von Korsch) die Erkennbarkeit der objektiven Wirklichkeit, bzw. analogisiere physikalische Prozesse mit Unternehmungen in der sozialen Welt: "Das Licht in den Mikroskopen muss so stark sein, dass es Erhitzungen und Zerstörungen in der Atomwelt, wahre Revolutionen anrichtet. Eben das, was wir beobachten, setzen wir so in Brand, indem wir es beobachten. So beobachten wir nicht das normale Leben der mikroskopischen Welt, sondern ein durch unsere Beobachtungen verstörtes Leben. In der sozialen Welt scheinen nun ähnliche Phänomene zu existieren. Die Untersuchung der sozialen Vorgänge lässt diese Vorgänge nicht unberührt, sondern wirkt ziemlich stark auf sie ein. Sie wirkt ohne weiteres revolutionierend." (14/1420) Wir kämen also zu dem Resultat, dass das bloße Erkennen - also Denken - schon revolutionierend wirke. Wir wären, besser gesagt, Brecht wäre beim Hegel von 1808 angelangt, der an Niethammer schrieb: "Täglich überzeuge ich mich mehr vom Wert der theoretischen Arbeit: ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus ..." (ich zitiere aus dem Gedächtnis statt aus der Briefausgabe des Meiner Verlags), Brecht wäre also der Illusion erlegen, dass bloßes Erkennen der Wirklichkeit schon ihre Veränderung impliziere. Ein Satz aus einer Überlegung zu Kant liefert neuen "drückenden" Beweis: Sollten wir nicht einfach sagen, dass wir nichts erkennen können, was wir nicht verändern können, noch das, was uns nicht verändert. (20/140) Und Knopf stellt auch, an das obige Eislerzitat anschließend fest: "Wie Eisler verficht auch Brecht das Prinzip der Veränderung um jeden Preis, ohne dass sie bemerken, dass sie idealistischen Positionen huldigen, da sie eine objektive Wirklichkeit, und sei es bloß die durch die Menschen produzierte gesellschaftliche Wirklichkeit, die ’an sich’ erkennbar und beschreibbar ist, ohne dass der erkennende Mensch sie zugleich ändert, leugnen." (91) Knopf, der gegen Brüggemanns Identifikation von Brechts Marxismus mit dem von Karl Korsch argumentiert, schwächt den Idealismusvorwurf an Brechts Adresse wieder ab, indem er Brecht bescheinigt, in der realdialektischen Verfremdung, "die nicht Montage der Wirklichkeit, sondern Demontage ihres falschen Scheins bedeutet" (92), die idealistische Züge der Korsch’schen Erkenntnistheorie überwunden zu haben, allerdings den Widerspruch zwischen beiden Positionen nie völlig gelöst zu haben: "Es ist ein Widerspruch, der durch Bertolt Brecht marxistischen Lehrer Karl Korsch erzeugt worden ist, ein Widerspruch, dem die künftige Brechtforschung nachzugehen haben wird; in einer ihrer wichtigsten Fragen steht sie noch am Beginn." (93) Voigts wirft nun Knopf vor, seine Untersuchung von Brechts spezifischem Marxismus (d.h. auch seiner Korsch verdankten idealistischen Positionen) am entscheidenden Punkt abzubrechen, aus Unvermögen Kunst als Kunst überhaupt zu beschreiben(94). Was das bei Voigts heißt, haben wir schon gesehen: die von Korsch undurchschaut übernommenen idealistischen Positionen führten Brecht zu einer Verwechslung von Theater und Wirklichkeit und schließlich zu einem Rückzug bzw. Rückfall in die bürgerliche Institution Kunst, auf aufklärerische oder sogar konventionelle Positionen. Damit sei schließlich auch Brechts "durchschlagende Wirkungslosigkeit eines Klassikers" zu erklären ... Der Zirkel, in den Knopfs Argumentation im Forschungsbericht gerät, kann als Beleg für meine Behauptung gelten. Ich halte es mit für einen der wichtigsten Beiträge Brechts zum marxistischen Denken, dem "Idealisieren" als notwendiger geistiger Operation auch für den konsequentesten Materialisten, Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, ohne sich um den Idealismusvorwurf zu kümmern, der eine gewichtige Waffe in den Händen derer darstellte, die für die Verkümmerung der materialistischen Dialektik sorgten. Dass Knopf hier inzwischen differenzierter urteilt, belegt sein Aufsatz "Eingreifendes Denken als Realdialektik" in: Argument Sonderband 50. S. 57 ff. Nebenbei: die Polemik, die Karen Ruoff an diesen Aufsatz Knopfs anschließt, gibt ein schönes Beispiel linker TUI-Sitten: weil Knopf sich erlaubt, die Deutung einer TUI-Szene aus Turandot (die Entscheidung über die "Hauptfragen" der Philosophie: Sind die Dinge außer und, für sich, auch ohne uns, oder sind die Dinge in uns, für uns, nicht ohne uns?) als am Witz der Sache vorbeigehend zu kritisieren, wird er ordentlich durchgebeutelt (verhängnisvoll verkürzter Ansatz, Fehldeutung der Brechtschen TUI-Kritik, erkenntnistheoretische Modeschau, die nichts zur Sache beiträgt etc.). Was die Autorin noch daran anschließt, als käme sie jetzt erst zur Sache, ist nichts als eine mehr oder weniger konsistente Zitatsammlung aus Brechts Äußerungen zum "eingreifenden Denken", die in Durchhalteparolen für linke Intellektuelle in nichtrevolutionären Zeiten mündet. (Karin Ruoff. Das Denkbare und die Denkware. Zum eingreifenden Denken. In: Argument Sonderband 50. S. 75 ff) Ich fürchte, wir drehen uns im Kreise. Aber das macht bekanntlich nichts: im Kreise gehend, bewegen wir uns weiter... (14/461) Die Abschweifung, ausgelöst vom Hinweis auf die Bedeutung, die Brecht dem Zusammenhang von Naturwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften beimaß, führt zu seiner zentralen Frage: nämlich der nach der Vergleichbarkeit naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Methoden: Kann oder darf der Marx’sche Vergleich überhaupt "ganz ernst" genommen werden, ist er mehr als eine Analogie oder Homologie? Oder ergeben sich die oben illustrierten Kalamitäten nicht gerade aus der prinzipiellen Inkommensurabilität, zu deutsch: aus der Schiefheit des Marx’schen Vergleiches? Ich fände es müßig - oder sehr mühselig, auf die oben diskutierten Idealismusvorwürfe gegen Brecht einzugehen. Müßig, wenn nur Brecht immanent argumentiert wird, weil dann von außen Materialismus bzw. Idealismus- definitionen herangetragen werden, denen Brecht zu entsprechen hat oder er eben des Idealismus überführt wird, mühselig, wenn die ganze Frage auf ihren Ursprung: die Umstülpung der Hegelschen Dialektik durch Marx zurückgeführt und dort ausgetragen wird. Denn die Erforschung der Konkretionen der "materialistischen" Umstülpung der "idealistischen" Positionen Hegels liegt noch sehr im argen. Wenn sich bei Brecht da Widersprüchlichkeiten zeigen, zeugen sie nur vom gründlichen Marxstudium Brechts: er hat sich seinen Marx nicht ideologisch glätten lassen. Ich hege den starken Verdacht (ohne mich allerdings mit Korsch intensiv genug beschäftigt zu haben, um ihn zu erhörten), dass schon die Polemik gegen Korsch’ "geistige Aktion" sich einen idealistischen Popanz aufbaut. Brecht jedenfalls hätte sicher dem zustimmen können, was Knopf als "materialistisches" Argument vorbringt: Die sogenannte theoretische Erforschung der Gesellschaft und ihrer Produktivkräfte gehört also in die Veränderung hinein, und verändert wird nicht, indem man erkennt, sondern verändert werden kann, wenn man die Veränderlich- und Veränderbarkeit der Welt erkennt, und zwar als objektive, reale und nicht als Tätigkeit theoretischer Erkenntnis. Dialektische Theorie ist Praxis und deshalb auch ständig der veränderten Praxis, dem veränderlichen "Sein" unterworfen: "Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein." Das ist reale Dialektik. (95) Brecht hätte dem schon deshalb zustimmen können, weil es beim Wort genommen, nichts anderes aussagt als Korsch’ geistige Aktion: Dialektische Theorie ist Praxis, deutlicher kann man den unaufgelösten Zirkel gar nicht benennen; aber Brecht hätte sicher nicht zugestimmt, weil solche Formulierungen gerade das Gegenteil von "eingreifendem Denken" darstellen: bis zur Bekräftigung der so zur Leerformel erstarrten marxistischen Grundeinsicht aus der Deutschen Ideologie mit dem trotzig naiven: Das ist reale Dialektik. Hätte es Marx bei diesem Einblick in die reale Dialektik bewenden lassen, so hätte er sich die zermürbenden und mühseligen zwanzig Jahre im Britischen Museum erspart und wäre wirklich mit seinem Freund Fred (Engels) nach Paris gefahren, alle Grisetten zu vögeln, wie er einmal wörtlich schreibt... (96), um sein Bewusstsein vom Leben bestimmen zu lassen. Herr Knopf hat’s auch nicht so gemeint, wie er es hier niedergeschrieben hat. Zumindestens hat er es früher schon besser gewusst. Aber wie schon Marx in der ersten Feuerbachthese hervorhebt, hat der Idealismus eben bestimmte Meriten, was die "tätige Seite" betrifft, die in materialistischer Dialektik nur aufgehoben, nicht aber eskamotiert werden sollten. Oder sollten wir auf den "Idealismus" des: Wer verloren ist, kämpfe! Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein? (9/468) nur deshalb verzichten, weil hier dem Erkenntnisvorgang ein zu großer Einfluss auf die Veränderung zugeschrieben wird (gemessen wenigstens an denjenigen, denen noch jede Einsicht dazu dient, passiv zu bleiben): Und ich dachte immer: die allereinfachsten Worte Müssen genügen. Wenn ich sage, was ist Muss jedem das Herz zerfleischt sein. Dass du untergehst, wenn du dich nicht wehrst Das wirst du doch einsehen. (10/1030) Aber kehren wir jetzt zu der vorher aufgeschobenen Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Methode zurück. Marx vergleicht seine Arbeit mehrmals mit der der Naturwissenschaften. Zuerst konstatiert er einen Unterschied im Werkzeug: die Abstraktionskraft des Forschers muss an die Stelle von Mikroskop bzw. chemischer Reagenzien treten. Dann rechtfertigt Marx seine Beschränkung auf die Beschreibung englischer Verhältnisse: Der Physiker beobachtet Naturprozesse entweder dort, wo sie in der prägnantesten Form und von störenden Einflüssen mindest getrübt erscheinen, oder, wo möglich, macht er Experimente unter Bedingungen, welche den reinen Vorgang des Prozesses sichern. Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse. Ihre klassische Stätte ist bis jetzt England. Dies der Grund, warum es zur Hauptillustration meiner theoretischen Entwicklung dient ... (97) Weiter spricht Marx von den "Naturgesetzen" der kapitalistischen Produktion", die er erforsche, vom "Naturgesetz ihrer Bewegung", dem eine Gesellschaft auf die Spur gekommen ist und nennt schließlich die "Enthüllung des ökonomischen Bewegungsgesetzes der modernden Gesellschaft den letzten Endzweck" seines Werks. Es ist also beileibe keine zufällige Metapher, die Marx irgendwo unterläuft, sondern eine bewusste Position, die er hier einnimmt, wo er die Naturwissenschaften zum Vergleich heranzieht. Aber damit wird nicht nur ein wissenschaftlicher Anspruch erhoben. Gerade die Tatsache der Verhülltheit ökonomischer Gesetze, ihr blindes Wirken ermöglicht die Gleichsetzung mit physikalischen Gesetzen: obwohl die Menschen ihre eigene Geschichte machen, sie die Schöpfer ihrer ökonomischen Verhältnisse sind, ist ihnen ihre eigene Tätigkeit nicht bewusst, vollzieht sie sich hinter dem Rücken der Individuen als blinde Macht: Wie die Einsicht in die Gesetze der Schwerkraft diese nicht aufhebt, aber zu beherrschen ermöglicht: sie so auch tatsächlich überwindet, kann auch die Einsicht in die ökonomischen Gesetze diese nicht aufheben: aber sie können beherrschbarer werden. (das hoffte er...) In diesem: "sie können beherrscht werden" verbirgt sich die Krux des naturwissenschaftlichen Modells für die Sozialwissenschaften. Seit Bacon wurde Natur (im Gegensatz zur antiken, aristotelischen Tradition) immer mehr ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Beherrschung und Ausbeutung behandelt. Bacons Einsicht, dass man die Natur nicht überlisten könne (was Aristoteles annahm und worin der Natur in gewissen Sinn Subjektcharakter zugeschrieben wird) sondern, dass man sie nur beherrschen könne, indem man ihr gehorche, d.h. sie erforsche, sie unter dem Aspekt der Nützlichkeit befrage, führt in der Folge zu ihrer völligen Dequalifizierung - im wörtlichen Sinn: es werden alle für sich bestehenden unterschiedlichen Qualitäten in quantifizierbare Verhältnisse überführt, sie wird "berechenbar", reines Objekt. Und Marx betont nun, dieselbe Objektivität in bezug auf die Bewegungsgesetze der Gesellschaft anzustreben. Er nimmt die bürgerlichen Ökonomen beim Wort und wendet ihren Anspruch, im Kapitalismus die natürliche, naturgemäße Produktionsweise erreicht zu haben, gegen sie selbst. Aus der Forderung: "Zurück zur Natur", die den Kapitalismus meint, wird die kritische Feststellung: er ist nur Natur, blind wirkender Verhängniszusammenhang einer Macht, die, obwohl nichts anderes als das Produkt der Menschen selbst, ihnen feindlich gegenüber steht: als Kapital, welches nichts anderes darstellt als die menschlichen Wesenskräfte in ihrer entfremdeten, d.h. enteigneten Gestalt. Wenn also die ökonomischen Verhältnisse in ihren Gesetzmäßigkeiten durchschaut werden, d.h. Gesetze gefunden werden können, die sich ohne Wissen und Bewusstsein der Individuen durchsetzen, so kommen darin bereits ex negativo, als diejenigen, die ihre Wirkungen erleiden, diejenigen vor, denen die Einsicht in diese Gesetzmäßigkeiten helfen kann, ihren Auswirkungen zu entrinnen: die Proletarier, die ihrer Menschlichkeit beraubt, die geltende Weltordnung umstürzen müssen, um ihre Menschlichkeit erlangen zu können. (vgl. 14/1441) < P>Es passiert dabei etwas, was Georg Kreisler in einem seiner Lieder so darstellt: Ein Wissenschaftler, dem ich dieses sagte erzählte mir darauf bei ein paar Bieren: Der Virus, den ich kürzlich erst erjagte der benimmt sich auch nicht so wie andere Viren! Ich habe ihn unter meinem Mikroskope mit Müh’ und Sorgfalt endlich isoliert, und hab zu meinem Schrecken, statt Neues zu entdecken bei diesem Virus deutlich konstatiert: Er beobachtet mich Ganz genau wie ich ihn Schau ich durch, schaut er fort Schau ich fort, ist er dort und blickt wachsam zu mir hin. Er ist sehr interessant und doch was fang ich mit ihm an wenn man zwischen uns keinen Unterschied merken kann. (98) Nur, was Kreislers Wissenschaftler beunruhigt und erschreckt, da er an stumme, passive Objekte gewöhnt ist, das ist die Absicht, und das eigentlich epochemachende an der Marx’schen Methode, das, wodurch sie aufhört, Theorie in traditionellem Sinn von "Interpretation" zu sein und wirklich Praxis wird: dass in Marx’ Werk die Objekte der Wissenschaft zu Subjekten werden, ja, dass ihre "wissenschaftliche" Objektivität, d.h. auch ihre Wirklich- und Wirksamkeit von den ihr erfassten Subjekten abhängt. Das heißt, in Marxens Theorie wird "Raum" für die Aktivität der Subjekte, der mit Produktion und Reproduktion beschäftigten Menschen gelassen. Einmal schon in der doppelbödigen Formulierung von den "mit eherner Notwendigkeit sich durchsetzenden Tendenzen, dann in der ausdrücklichen Ablehnung einer aus der Geschichte ableitbaren Gewissheit über ein geschichtliches Telos (klassenlose Gesellschaft), welches von den Subjekten unabhängig und unbeeinflusst bliebe. Immer stellt Marx der Möglichkeit und Hoffnung auf Befreiung auch die des "Versinkens in Barbarei", des gemeinsamen Untergangs der kämpfenden Klasse gegenüber. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, diese über die Methode der Naturwissenschaft hinausreichende, aber sie einschließende neue Qualität der Marx’schen Methode klar zu machen. Vielleicht gelingt es mir, in der Rückkehr zu unserem Ausgangspunkt, den Brechtschen Lehrstücken. Die Reduktion der Handlung, die Beschränkung der Figuren auf Typen (die Flieger, die Monteure, der junge Genosse, die Agitatoren) statt Darstellung von Charakteren entspricht dem naturwissenschaftlichen Experimentbegriff ; dem, was man die Ausschaltung störender Einflüsse, die Sicherung des reinen Vorgangs des Experiments nennt. Experimentiert wird mit Haltungen, die untersucht, erprobt, verworfen oder gewonnen werden sollen ... der Zweck des Experiments ist ein pädagogischer: Lehre von Haltungen. Dabei werden die Figuren auch fast völlig "objektiv", als Objekte, von außen betrachtet, ihr mögliches "innen" wird ignoriert, oder wo es sich äußert, als der Störfaktor behandelt, als der es nur erscheint, um kritisiert zu werden. Da Haltungen anschauen nichts oder nur wenig bringt, da sie eingeübt werden müssen, wenn man sie sich aneignen will, werden in Konsequenz die Zuschauer unnötig: es geschieht also eine seltsame Umkehrung: Es wird auf alles verzichtet, was das Theater an Sinnlichkeit, Fülle, Farbigkeit, individuellem Charakter vorführen kann, damit rein der Problemkomplex des Einverständnisses zwischen Individuum und Kollektiv untersucht werden kann - aber der draußen stehende Betrachter, der "wertfreie" Beobachter fällt weg: Es ist, nach dieser Seite hin betrachtet, das Prinzip der Aktionsforschung, die im Lehrstück erreicht wird. Es gibt nicht mehr das Subjekt (Forscher) und die Objekte (Forschungsgegenstand), sondern Forschung wird zu einem sich selbst kritisierendem Prozess, wo der Forscher ebenso zum Forschungsgegenstand für die von ihm Erforschten wird, wie der Fortgang, oder Ergebnisse der Forschung nur im prozessualen Vollzug von Veränderungen gefunden werden. Im traditionellen Verhältnis Bühne - Zuschauer erhält sich nicht nur ein kultisches Ritual, sondern auch eine hierarchische Ordnung; wie das Christentum beim Übergang zur Staatsreligion die Kommunion, die Feier der Gemeinde in ein vor der versammelten Gemeinde zelebriertes Schauspiel verwandelte, indem die "Vereinigung" zur Formel verkam, so wirkt jede Bühne autoritär: von der Rampe aus wird Herrschaft ausgeübt - besonders deutlich in der suggestiven Technik der Einfühlung. Die Zuschauer werden (wenigstens der Intention nach) gezwungen, sich mit dem Helden zu identifizieren, mit ihm mit zu leiden, zu weinen und zu trauern. Im Sinne dieser Intention, aus dem Theater eine Institution eingreifender Aktionsforschung zu machen, stellt die Rückkehr zum Theater für Schauspieler zweifellos einen Rückschritt dar, wird aber andrerseits auch die Praxis, in die einzugreifen, eindeutig nach draußen, in die gesellschaftliche Wirklichkeit außerhalb des Theaters verlegt. Mittels der nun auch theoretisch erfassten und beschriebenen Techniken der Verfremdung, des V-Effekts, der Distanzierung, Episierung, Historisierung, der Unterbrechung, des Zeigens, der Gestik wird die teilnehmende Beobachtung statt der mitreißenden Einfühlung ermöglicht. Aber es bleibt bei einem Kompromiss. Brecht war sich darüber auch im klaren: "Es ist gut, wenn man in einer extremen Position von einer Reaktionsepoche ereilt wird. Man kommt dann zu einem mittleren Standort. So sei es ihm ergangen; er sei milde geworden", berichtet Walter Benjamin.(99) Ohne dass diese Stelle explizit auf die Lehrstücktheorie Bezug nimmt, wird man sie (auch) dafür gelten lassen müssen, was auch die schon erwähnten von Steinweg als Beleg verwendeten Aussagen über die Fatzerfragmente (gemeint ist das unvollendete Lehrstück "Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer", das Brecht noch kurz vor seinem Tode als "der höchste Standard, technisch" bezeichnete) und über "Die Maßnahme", als "Beispiel eines Theaters der Zukunft" bezeugen.(100) Der an die Macht gekommene deutsche Faschismus enteignete den Autor Brecht nicht nur als Privatmann, indem er ihn zur Flucht zwang, seinen Besitz beschlagnahmte und ihm die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannte, sondern auch dadurch, dass er ihn von seinem Publikum aussperrte und seine für eine revolutionäre Umwälzung vorgesehenen Versuche einer prinzipiellen Umfunktionierung der Institution Theater so unterbrach, dass Brecht sie in dieser Radikalität nie wieder aufnahm. In diesem Zusammenhang ist ein Wort über Brechts Utopismus, der durch die neuere Brechtforschung geistert, zu sagen. Als erster hat wohl Bloch auf utopische Elemente bei Brecht verwiesen (vgl. seine Interpretation von Jenny’s Lied aus der Dreigroschenoper(101)), und auch Benjamin hat etwa in der Gestalt des Soldaten Fewkoombey aus dem Dreigroschenroman utopische Züge entziffert. (102) Aber Mennemeier spricht von "Jahren der Utopie" bei Brecht,(103) und Voigts entdeckt "Brechts utopische Grundhaltung" am Ende der Zwanziger- und zu Beginn der Dreißigerjahre. Was Brecht jetzt schreibt, steht im Banne des Gedankens, der Sozialismus werde sich innerhalb kurzer Frist verwirklichen und es sei an der Zeit, für die neue Gesellschaft die neue Kunst zu entwickeln." (104) Das ist zwar exakt beschrieben, hat aber mit Utopismus nichts zu tun. Entweder wird hier der Sinn des Begriffs Utopie völlig missverstanden, oder es handelt sich um bewussten Etikettenschwindel. Die baldige Verwirklichung des Sozialismus im Deutschland der späten Zwanzigerjahre war eben keine Utopie - fast könnte man sagen, sonst hätte es nicht der reaktionären Karikatur des National-Sozialismus bedurft, um ihn zu verhindern. Er war eben das, was in jedem Sinne auf der Tagesordnung stand, und was für die herrschende Klasse nur unter Zuhilfenahme der extremsten Mittel - eben der des offenen Faschismus, noch zu umgehen war. Hier von Utopismus bei Brecht zu reden, gelingt nur von einem Standort eines historischen Determinismus, der im "Dazwischenkommen" des Faschismus eben eine vorher übersehene historische Zwangsläufigkeit erblickt, ohne zu untersuchen, ob diese Entwicklung bei richtiger Politik nicht zu verhindern gewesen wäre. Aber selbst wenn sich eine solche Zwangsläufigkeit - aus inneren und äußeren Faktoren auch konstruieren ließe, entscheidend bleibt, ob die Bedingungen für eine sozialistische Revolution in Deutschland reif waren. Brecht hat schon "grausam-gründlich" solche Marxisten verhöhnt, "die sich als Baumeister des Kommunismus betrachteten, diesen als die unvermeidliche ’nächste’ Formation erwarteten und das Proletariat als die Leute ansahen, die ihn zu verwirklichen hatten. Sie sahen den Faschismus an und siehe, er war noch nicht die nächste Formation: Sie musste also noch kommen. Aus den Propheten für morgen wurden sie einfach die von übermorgen." (20/93) Und im folgenden präzisiert Brecht sehr genau, was sein Denken von einem utopischen unterschied: "Diejenigen aber, die den Kommunismus lediglich als Lösung ganz bestimmter, benennbarer Schwierigkeiten vorschlugen, ihn gleichzeitig natürlich auch als Ausnutzung geschaffener, ebenso bestimmter und benennbarer Möglichkeiten herbeizuführen gedachten, mussten sich die Frage vorlegen, ob sie nicht doch gewisse andere Auswege übersehen, andere Möglichkeiten außer acht gelassen hatten. Vielleicht hatten sie sich überhaupt getäuscht in der Frage, welches die die Völker im Grunde bewegenden Kräfte sind? (20/93) Jeder sich nicht einfach im Bestehenden einhausende, sondern den Horizont des Vorhandenen überschreitende Gedanke wäre, am Sprachgebrauch Mennemeiers und Voigts gemessen, schon utopisch - und in diesem, allerdings den Begriff Utopie überflüssig machenden Sinn gab es so etwas wie eine "utopische Grundhaltung" Brechts. Gerade aber gegenüber jenen, die von einer gesellschaftlichen Umwälzung des "ganz Andere", den eschatologischen Bruch erwarteten, hielt er aber an der "bestimmten Negation" des Bestehenden fest: Man darf nie vergessen, dass der Hauptvorwurf aller konservativen Elemente gegen den Sozialismus, er stelle eine Fortführung (und also, wenn man will: eine Steigerung) des Kapitalismus dar, eine einfache Wahrheit ist, die noch nicht alle Sozialisten begriffen haben." (20/48) Gerade in der dialektischen Verschränkung von Kontinuität und Bruch im Kampf um die Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse und ihrer Abbildung mit künstlerischen Mitteln, ist das Motiv zu suchen, warum für Brecht die Kategorie der Produktivität schließlich zum zentralen Begriff seiner philosophischen Untersuchungen wird. So heißt es in einer Notiz, die sich mit der bürgerlichen Kritik an der "Mutter" auseinandersetzt, etwa 1932: Der Kommunismus ist keine Spielart unter Spielarten. Radikal auf die Abschaffung des Privateigentums von Produktionsmitteln ausgehend, steht er allen Richtungen, die sich durch was immer unterscheiden, aber in der Beibehaltung des Privateigentums einig sind, als einer einzigen Richtung gegenüber. Er erhebt den Anspruch, die direkte und einzige Fortführung der großen abendländischen Philosophie zu sein, als solche Fortführung eine radikale Umfunktionierung dieser Philosophie, wie er die einzige praktische Fortführung der abendländischen (kapitalistischen) Entwicklung und als solche zugleich die radikale Umfunktionierung der entwickelten Wirtschaft ist ... (20/79) Nimm Platz am Tisch, du hast ihn doch gedeckt. Von heute ab wird auch das Kleid tragen, die es genäht hat. Heute, mittag um zwölf Uhr Beginnt das goldene Zeitalter. Wir fangen es an aus der Erwägung heraus Dass ihr müd seid, Häuser zu bauen und Nicht darin zu wohnen. Wir glauben Ihr wollt jetzt das Brot essen, das ihr gebacken habt. Mutter, dein Sohn soll essen. Der Krieg ist abgesagt worden. Wir dachten So sei es dir recht. Warum, fragten wir uns Das goldene Zeitalter noch aufschieben? Wir leben nicht ewig (10/961) 1. Unfreiwilliger Exkurs in die Brechtforschung Ich habe geschwankt zwischen obigem Titel oder dem eines "Dialektischen Theaters" und dann doch den des Theaters des wissenschaftlichen Zeitalters gewählt, u.a. weil er quasi von rechts und links unter Beschuss steht: Martin Esslin zitiert ihn als eins der Beispiele, mit denen es Brecht, "sonst der klarste und direkteste Stilist", fertigbringt, mit seinen theoretischen Schriften, "jenen so nützlichen wie reizvollen teutonischen Nebel zu verbreiten", um seinen "weder besonders neuen oder originellen" Theorien den Anschein einer "völlig revolutionären, alles Bestehende umwälzenden Theorie" zu geben: Spezifisch Wendungen wie die oben genannte resultierten aus einer "Mischung von prophetischer Gewissheit und pseudowissenschaftliche Exaktheit", die Brecht sich "durch die Benutzung des marxistischen Jargons angesteckt, zu eigen machte." (63) Dies von einem Autor, der auf der zitierten Seite Marx und Heidegger in einem Atemzug gleichermaßen der Obskurität und Unlesbarkeit bezichtigt... Nun die Kritik "von links": "Nicht von einem objektiven Begriff der Wissenschaft ausgehend untersuchte er (Brecht) - wie das oft dargestellt wird - die mögliche Verbindung von Theater und Wissenschaft, sondern umgekehrt, von seiner Vorstellung eines neuen Theaters mit dem Publikum des ’wissenschaftlichen Zeitalters’ her begriff Brecht die selbständige und arbeitsteilig institutionalisierte Wissenschaft: Bevor Brecht ausreichend Einsicht in die Klassenstruktur der bürgerlichen Gesellschaft erlangt hatte, stand seine Konstruktion des ‘wissenschaftlichen Zeitalters’ schon fest. Der unmarxistische Begriff des ’wissenschaftlichen Zeitalters’ wurde meines Wissens nie kritisiert. (64) So Manfred Voigts, von dem man, Brecht paraphrasierend, sagen könnte: er ist schwächer als Esslin, das ist unglücklich. Er wäre so sehr viel besser sonst.(65) Aber Spass beiseite. Der umstrittene Begriff des wissenschaftlichen Zeitalters ist mir lieber, hinter dem der eine den marxistischen Jargon wittert und gegen den der andere gleich sein Verdikt schleudert: unmarxistisch. Aber es sei hier festgehalten: es ist das Verdienst des Marxisten Brecht, einige nirgends sonst bei den Klassikern vorkommende, "praktikable Definitionen" geliefert zu haben, deren Nützlichkeit sich erst später herausstellen sollte, die Brecht aber schon zu Lebzeiten immer in den Geruch der Höresie brachten. (Um Voigts verständlich zu bleiben: Brecht hat mit einer sich der Beurteilung durch marxistische Beckmesser entziehenden Witterung noch vor der Marx- und Leninlektüre etwas davon gespürt, dass Wissenschaft zur unmittelbaren Produktivkraft wird und sich mit seiner im übrigen, wie die häufigen Umformulierungen zeigen, heuristischen Definition einer Tendenz aufgeschlossen gezeigt, die heute erst allgemein deutlich wid. Ich gerate hier unversehens, aber nicht gerade zufällig in eine Polemik, wo ich mich kurz fassen wollte: Geht es doch nicht an, in einem Kapitel über Verfremdung den Ort ganz auszusparen, für den er als terminus technicus gefunden und in dem er seine spezifische Berechtigung hat - das Theater - ohne die vorher gezeigten Weiterungen zurücknehmen zu wollen. Die Bemühung, das Theater bzw. Brechts Theatertheorie bisher eher zurückzustellen, hängt damit zusammen, dass ja der einseitig auf den Stückeschreiber und Erfinder des V-Effekts gerichtete Blick der Forschung den auf den Philosophen Brecht weitgehend verstellt hat. Ganz verdrängen hab ich diese Thematik ja nicht können, zumal ich ja Brechts Absicht, Theatermachen zu einer Gepflogenheit des Philosophierens zu machen, zustimme und zum spezifischen Tun des "Philosophen neuen Typs" Brecht erklärt habe. Und in der Schlussthese der Einleitung habe ich Brechts Theatermachen sogar unter den Begriff des "eingreifend Handelns" subsumiert, wobei man die Differenzierung von Handlungsebenen, wie sie Knopf hervorhebt (in der Auseinandersetzung um "idealistische Tendenzen" Brechts im Gefolge von Korsch), durchaus unterstreichen muss. Brecht hat sein Theatermachen sicher nicht als Ersatz für eine Weltrevolution verstanden, aber ihm seine Nützlichkeit im weltrevolutionären Prozess zugestanden. Damit bin ich wieder bei der Polemik gegen Voigts, der es implizit unternimmt, Max Frisch’ Satz von der "durchschlagenden Wirkungslosigkeit des Klassikers Brecht"(66) wissenschaftlich aufzuarbeiten - genauer, er sucht die Beantwortung der Rezeptionsfrage also der Diskrepanz zwischen dem Anspruch etwa der "revolutionierenden Wirkung des eingreifenden Denkens" und der Tatsache, dass Brecht im Westen zum meistgespielten Dramatiker neben Shakespeare avanciert ist, und dem Bereich der Ãœberschneidung von Kunst und Marxismus. Ein idealistisch verfälschter Marxismus und ein Verharren (bzw. Zurückfallen) in den Bereich der bürgerlichen Institution Kunst wären, so die Antwort Voigts, plump zusammengefasst, verantwortlich zu machen für die oben kritisierte Wirkung bzw. Wirkungslosigkeit Brechts. Für die hier zu untersuchende Fragestellung relevant ist dabei die so formulierte These Voigts: Das Problem des Widerspruchs zwischen Intention und Realisation des epischen Theaters muss sich zurückführen lassen auf den inneren Doppelcharakter des V-Effekts, der es ermöglicht, ihn mal so, mal so zu erfahren. " (67) Und das "Mal-so, Mal-so" ein wenig zu erhellen: einmal - für einen geschulten, marxistischen Zuschauer könne das epische Theater aktivierende Wirkung haben, als Experiment im Marx’schen Sinn (Vorwort zum Kapital), im anderen Fall - der fehlenden Entwicklung der Zuschaukunst verfällt alles, was der Verfremdung zugehört der zweiten, poetischen Realität, die Brecht zwischen Realität und Zuschauer in seinen Stücken schiebe. (68) Vor einer Überprüfung der Hypothese von Voigts müsste man überlegen, ob nicht die ganze Frage falsch gestellt ist, die von Frisch’s Diktum ausgegangen ist. Es wäre ehrlicher von Frisch gewesen, Brecht rauszulassen bei der Rechtfertigung seines Rückzugs in selbstbespiegelnde Innerlichkeit, statt sich auf das Scheitern eines so nicht erhobenen Anspruchs zu berufen. Brecht teilte nicht die Ansprüche etlicher seiner Zeitgenossen, Kunst ins Leben zurückzuführen, sie mit der Wirklichkeit verschmelzen zu wollen, und auch nicht die These vom Ende der Kunst - im übrigen auch nicht in den avanciertesten Projekten einer "Großen Pädagogik" im Zusammenhang mit den Lehrstücken. Auch da ging es ihm um eine Umfunktionierung - die durchaus einschließen konnte, dass "ein ganzer Haufen, bisher Kunst genannten Krempels von jetzt ab nicht mehr Kunst genannt würde." (15/66) Der letzte Satz bei Brecht schliesst an an die Stelle: "Kunst ist nichts Individuelles. Kunst ist, sowohl was ihre Entstehung als auch was ihre Wirkung betrifft, etwas Kollektivistisches." (15/66) Das steht allerdings in deutlichem Widerspruch nicht zur Hegelschen Bestimmung der Kunst als Existenzweise der realen Versöhnung von Individuum und Gesellschaft (bei der Voigts anmerkt: Hegel nahm die bürgerliche Kunst als bürgerliche nicht ernst, indem er sie der romantischen Kunstform - Niedergangsphase! - zurechnet), sondern zu der Eingrenzung, die Voigts vorschlägt: Die Geschichte der Kunst ist in gewisser Weise die Geschichte ihres Zerfalls, d.h. der Verschiebung der Ebenen, innerhalb derer im Individuum die Versöhnung realisiert werden kann." (69) Dem ersten Teil des Satzes hätte Brecht zugestimmt, es geht ihm ja auch um diese Verschiebung der Ebenen, aber nicht individueller Versöhnung, sondern "kollektivistischer", fürs Aufhören der Kunst hatte er aber nichts übrig. Voigts schließt nach einem Überblick über die Geschichte der bürgerlichen Ästhetik so: "Innerhalb dieser Entwicklung hat der Dadaismus, ohne aus dem Bereich der Kunst selbst auszubrechen ... die Kunst zu ihrem immanenten Ende gebracht. Historisch lebt die Kunst und wird weiterleben, solange die bürgerliche Gesellschaft das Individuum reproduziert und vernichtet, und erst mit der Änderung der Gesellschaftsverhältnisse wird Kunst tatsächlich ersetzt werden durch eine neue und höhere Bewusstseinsform, die gesellschaftlich-historisch bestimmt sein wird." (70) Für das so verstandene Diktum vom Ende der Kunst gilt, was Brecht einmal in Bezug auf Freud notiert: "benjamin behauptet, freud sei der meinung, die sexualität werde einmal überhaupt absterben. unsere bourgeoisie ist der meinung, sie sei die menschheit. als der kopf des adlers fiel, stand ihm wenigstens noch der schwanz. der bourgeoisie ist es gelungen, sogar die sexualität zu ruinieren..." (71) Entweder ist diese "neue und höhere Bewusstseinsform, die gesellschaftlich-historisch bestimmt sein wird" nichts anderes, als Brecht oben definierte: etwas Kollektivistisches, aber eben doch Kunst, das heißt eben Versöhnung - oder Lösung von Widersprüchen mit nichtwissenschaftlichen sprich künstlerischen Mitteln oder Voigts meint die Stillegung von Widersprüchen überhaupt: dann ist Kunst allerdings, was immer man darunter versteht, überflüssig, wie auch das Leben selbst... Aber vielleicht tue ich Voigts Unrecht, wenn ich ihm unterstelle, dass er mit seinem emphatischen, aber leeren Begriff vom Ende der Kunst selbst bürgerlicher Ideologie verfällt, ich gebe gern zu, dass die eigentliche Kritik an ihm weniger an seinen Thesen, als an seiner Sprache ihren Anlas findet. Ich bin ja schon bei der ersten Gelegenheit deutlich genug geworden (apropos Steinwegs Lehrstückbuch) und auch der Anlass dieser Polemik: Voigts Bemerkung über den "unmarxistischen Begriff" des "wissenschaftlichen Zeitalters" ist ja für seine These eher peripher, aber der anmaßende Ton lässt mir die Grausbirnen (Gallbirnen, bei Verhören der Inquisition verwendet, von da ins Wienerisch eingewandert) aufsteigen. ("Gewohnheiten noch immer: Die Teller werden hart hingestellt/Dass die Suppe überschwappt./Mit schriller Stimme/Ertönt das Kommando: Zum Essen!/Der preußische Adler - oder ist es hier ’Der bayrische Löwe’/Den Jungen hackt er/Das Futter in die Mäulchen." 10/1011) Dazu kommt eine geradezu notorische Humorlosigkeit, die sich dann hin und wieder im Übersehen einer Brechtschen Ironie im Argumentationszusammenhang zeigt. Ich breche hier diesen kritischen Exkurs ab, ohne vorweg Voigts These weiter zu diskutieren. Ich stimme nämlich in einer Reihe von Punkten mit Voigts durchaus überein: Einmal in der Einschätzung der Bedeutung, die er der Sprachkritik (wenigstens bei Brecht) zumisst. Dann aber auch in der Abwehr der häufig zu findenden Darstellung einer quasi selbstgenügsamen Theaterrevolution durchs epische Theater etwa bei K. D. Müller oder Hecht: Die Revolutionierung des Theaters erfolgte komplex von Inhalt und Form her. Durch diese wesentliche Neuerung wurde das epische Theater zu einem transportablen künstlerischen Prinzip. (72) Dazu Voigts völlig zu Recht: Als hätte sich Brecht eine Revolutionierung des Theaters ohne eine der Gesellschaft denken können, als sei das epische Theater eine innerkünstlerische Sache, ein ’Stil’, der einen politisch aktivierenden Anspruch hat. Nicht von Form und Inhalt ging Brecht aus, sondern von der Erfahrung des ’montierten Individuums’ und des ’Theaters als Institution. (73) 2. Lauter Synonyme? Wie gesagt, gibt es bei Brecht einige Beschreibungsvarianten seiner Theaterarbeit, wobei zu den schon genannten Termini Theater des wissenschaftlichen Zeitalters und Dialektisches Theater noch episches Theater und eine nicht-aristotelischeDramatik hinzukommen, die in der mittleren Lebensepoche Brechts (und in den theoretischen Hauptwerken zur Theatertheorie, dem Messingkauf und dem "Kleinen Organon" hauptsächlich verwendet werden), während der späte Brecht vor allem wegen der Missverständnisse, denen seine Äußerungen über episches Theater und V-Effekt ausgesetzt waren, wiederum zu den schon 1931 verwendeten Terminus: Dialektisches Theater zurückkehren wollte: Ernst Schumacher berichtet über ein Gespräch mit Brecht, das Brechts tiefe Einsicht in die Fehldeutungen und verkürzten Interpretationen seiner Theorie bezeugt: ...und von den Verfremdungseffekten bleiben meist nur die Effekte übrig, losgelöst von ihren Zwecken ... Ach, wissen Sie, die menschliche Natur versteht sich nicht weniger als die übrige organische darauf, sich anzupassen. Die Menschen, die sogar den Krieg mit Atombomben als normal zu betrachten vermögen, warum sollen sie nicht mit so kleinen Sachen wie den Verfremdungseffekten fertig werden, nur um nicht die Augen aufschlagen zu müssen? Ich kann mir vorstellen, dass sie eines Tages sogar ihre alte Form des Genusses nur zu haben vermögen, wenn die V-Effekte geboten werden... (74) Brecht war sich allerdings auch darüber klar, dass dagegen keine Umbenennungen seiner Theorien helfen würden, diese können bestenfalls die Differenz zwischen dem Anspruch und seiner jeweiligen Einlösung deutlicher machen. Untersuchen wir nun die einzelnen Begriffe. Brecht hat auf der Differenz bestanden zwischen Theater des wissenschaftlichen Zeitalters und "wissenschaftlichem Theater" ebenso wie zwischen Theater des Experiments und "Experimentiertheater". Worin besteht in beiden Fällen die Differenz? Im ersten Falle hätte wissenschaftliches Theater die oben besprochene Ablösung der Kunst durch die Wissenschaft zum Inhalt, damit auch den bewussten Verzicht auf künstlerische Mittel. (Eine Form des "wissenschaftlichen Theaters" stellt etwa, jedenfalls dem eigenen Anspruch nach, Morenos "Psychodrama" dar, welches im übrigen auch einige verwandte Züge zu Brechts Lehrstückpraxis- Spielen ohne Zuschauer, Rollentausch der Agierenden etc. aufweist, allerdings mit geradezu diametral entgegengesetzter Zielsetzung; wie weit gegenseitige Kenntnis bzw. Beeinflussung angenommen werden kann, ist meines Wissens übrigens noch nicht erforscht.) Mit "wissenschaftlichem Zeitalter" wird von Brecht auf die gesellschaftliche Bedeutung vor allem und zuerst der Naturwissenschaften verwiesen, die in Form der Technik tief ins Leben der Menschen eingreifen und die neuen Kollektive hervorbringen, deren Bewegungsgesetze für Brecht mit dem Auftreten der Marx’schen Gesellschaftstheorie erst wissenschaftlich erschlossen werden. Es ist vielleicht noch eine Bemerkung zum "unmarxistischen" dieses Begriffs zu sagen. Wie das schon im ersten Teil erwähnte Bild vom "Einzug der Menschheit in die großen Städte zu Anfang des 3. Jahrtausends" ist auch der Begriff des "wissenschaftlichen Zeitalters" amarxistisch, von Marx nicht gebraucht worden, aber nicht dem Marxschen Denken entgegengesetzt, welchen Eindruck Voigts erweckt. Die erste Erkenntnis, die Brecht übers Theater gewinnt, ist die von der Unbrauchbarkeit der überlieferten Institution Theater, des quasi-religiösen Kulturtempels zur Erbauung des bourgeoisen Publikums. Destruktion der kultischen Restfunktion von Theater durch radikale Kritik des überkommenen Theaters ist daher die erste Aufgabe: Jahrmarkt, Zirkus, Sportplatz, Boxarena als Gegenbilder (auch das Rauchertheater gehört dazu), haben nicht nur die Funktion von Schreckbildern fürs feierliche Theaterpublikum, sondern stellen für Brecht reale Alternativformen dar, vor allem findet er hier seine Zuschauer: die mit den Regeln vertrauten, als Fachleute die Vorgänge distanziert beurteilenden Betrachter, deren "splendid isolation" nicht angetastet wird - zunächst noch nicht das mit seinen umwälzenden Angelegenheiten beschäftigte Kollektiv, welches das Theater als Ort zur Einübung bestimmter Haltungen benützt (Große Pädagogik im Rahmen der Lehrstücktheorie). In diesem Stadium bereits gewinnen das "Experiment", die "Versuche", der "Modellbegriffe" Bedeutung für Brecht, taucht auch das Modell des Planetariums auf, das Brecht im Messingkauf dem des Karussells (fürs herkömmliche Theater) gegenüberstellt. Analog zur Arbeit des Physikers im Laboratorium sollte die Arbeit des Stückeschreibers im Theater besondere Versuchsbedingungen herstellen, um in einer von störenden Nebeneinflüssen gereinigten Anordnung bestimmte Hypothesen über Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Lebens - des Zusammenlebens und Aufeinander-Einwirkens von Menschen zu erproben, wobei der Zuschauer als Beobachter sich nicht in die Vorgänge hineinzuversetzen, sondern sie aus der Distanz kritisch zu beurteilen befähigt werden sollte. Brecht hatte also eine im Konkreten zwar sich entwickelnde, aber doch fest umrissene Vorstellung von der Art und vom Zwecke der Experimente, zu denen das Theater herangezogen werden sollte: durch Abbildungen gesellschaftlicher Vorgänge sollte es möglich werden, praktikable Modelle für Eingriffe in die Wirklichkeit zu erlangen. Das, was man unter Experimentiertheater versteht, ist ein Herumexperimentieren mit theatralischen Mitteln. An diesem Punkt schieden sich die Auffassungen Brechts von denen Piscators, der gerade mit dem Theater experimentierte, technische Neuerungen einführte (so die Verwendung von Film auf der Bühne, die Verwendung von Laufbändern, das Anbringen von Transparenten und Zwischentiteln - Dinge, die Brecht als Bestandteile "epischen Theaters" von Piscator übernahm, die aber nicht zum Selbstzweck werden sollten. Hier ist das Stichwort "episches Theater" gefallen, über das es einen späten Prioritätsstreit geben sollte; Erich Piscator beanspruchte das Verdienst für sich, der "Erfinder" des epischen Theaters zu sein, obwohl oder gerade weil der Begriff heute allgemein mit Brecht verbunden wird. Solche Prioritätsansprüche für Dinge, die in einer bestimmten Situation quasi in der Luft liegen, sind wohl mäßig, insbesondere in diesem Fall, wo wiederum einem ungenannten Dritten, Nietzsche nämlich, (über eventuelle Vermittlung Alfred Döblins) gewisse Geburtshelferdienste nicht abgesprochen werden dürften. Es ist das Verdienst Reinhold Grimms, darauf verwiesen zu haben, auch wenn er die Frage des Zusammenhangs zwischen Nietzsches "mythisierende(r) Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, mit ihrer Verhimmelung des Wagnerschen Gesamtkunstwerks" und Brechts epischen Theater nur erst angerissen hat. Dass in Nietzsches Rekonstruktion "jedenfalls in mancher Hinsicht förmlich das Negativbild eines Brechtschen Theaters (darin) zu sehen (75), lautet seine durchaus diskutable Arbeitshypothese. In dem schon erwähnten Aufsatz "Dionysos und Sokrates" verweist Grimm immerhin auf den Nietzsche’schen Ausdruck "dramatisches Epos" für nichts anderes als das, was Brecht zunächst als "episches Drama" und sehr bald als "episches Theater" bezeichnen sollte. Selbst den sogenannten "epischen Darstellungsstil, wonach der Schauspieler seine Rolle mit Hilfe der Verfremdungstechnik nicht so sehr lebt als vielmehr ’zeigt’, nahm Nietzsche im Prinzip vorweg und beschrieb ihn zudem auf eine Weise, die durchaus derjenigen Brechts im Kleinen Organon für das Theater ähnelt." (76) "Der Dichter des dramatischen Epos kann ebensowenig wie der epische Rhapsode mit seinen Bildern völlig verschmelzen: er ist immer noch ruhig unbewegte aus weiten Augen blickende Anschauung, die die Bilder vor sich sieht. Der Schauspieler in (diesem) dramatischen Epos bleibt im tiefsten Grund immer noch Rhapsode ..." (77) Zu den wichtigsten Übungen für den Schauspieler zählt Brecht das Verfahren, aus der Rolle herauszutreten und sie in der dritten Person "zu erzählen" ... Aber wie schon angedeutet, sind die Beziehungen wohl verwickelter als dass sie nur in der Übernahme des sokratischen Parts (gegen den Nietzsche ja polemisiert) durch Brecht bestünde. Die Aufarbeitung dieses Zusammenhangs würde eine eigene ausführliche Untersuchung erfordern, die Grimm nicht lieferte, da er auf Nietzsche im zitierten Aufsatz als vermittelnde Instanz zwischen Brecht und Artaud auch nur hinweisend Bezug nimmt. Es ist in diesem Zusammenhang auch die Frage zu erwähnen, ob eine solche Untersuchung nicht auch auf Voigts These von der Doppeldeutigkeit des Brechtschen V-Effekts einen erhellenden Einfluss ausüben könnte - aber das sei einer weiteren Arbeit vorbehalten. Um aber nur mit einem Streiflicht doch die verwickelteren Beziehungen anzudeuten, noch ein Hinweis: ich habe den Unterabschnitt über Brechts Marxismus mit dem Zitat über Marx als den einzigen Zuschauer Brechts betitelt; bei Nietzsche heißt es: Euripides fühlte sich ... als Dichter wohl über die Masse, nicht aber über zwei seiner Zuschauer erhaben ... Von diesen beiden Zuschauern ist der eine - Euripides selbst, Euripides als Denker, nicht als Dichter. Von ihm könnte man sagen, dass die außerordentliche Fülle seines kritischen Talents ähnlich wie bei Lessing, einen produktiv künstlerischen Nebentrieb wenn nicht erzeugt, so doch fortwährend befruchtet habe. Mit dieser Begabung, mit aller Helligkeit und Behendigkeit seines kritischen Denkens hatte Euripides im Theater gesessen und sich angestrengt, an den Meisterwerken seiner großen Vorgänger, wie an dunkel gewordenen Gemälden Zug um Zug, Linie für Linie wiederzuerkennen ..." (78) Ist das nicht schon wieder ein "maßgeschneiderter Anzug" für - Brecht? Der zweite Zuschauer aber, von dem Nietzsche kunstvoll zögert, den Namen zu nennen ist: Sokrates. Ich führe den Zusammenhang hier nicht aus: die Entsprechung ist keine lineare, die als Gleichung "Brecht : Marx = Euripides : Sokrates"so einfach "aufgehen" könnte. Lässt sich das Wesen des ästhetischen Sokratismus noch vergleichen, dessen oberstes Gesetz ungefähr so lautet: "alles muss verständig sein, um schön zu sein" (79) und fügt sich auch das Beispiel des euripedeischen Prologs fugenlos in Brechts Theorie: "Dass eine einzelne auftretende Person am Eingange des Stücks erzählt, wer sie sei, was der Handlung vorangehe, was bis jetzt geschehen, ja was im Verlaufe des Stückes geschehen werde, das würde ein moderner Theaterdichter als ein mutwilliges und nicht zu verzeihendes Verzichtleisten auf den Effekt der Spannung bezeichnen." (80) Aber der Zweck dieser Neuerungen bei Euripides führt auf das gerade Brechts Intention diametral entgegenstehende Einführungsdrama, das eigentliche aristotelische Drama mit Handlungseinheit und vollständiger Einfühlung (Nietzsche spricht von der "vollen Versenkung in das Leiden und Tun der Hauptpersonen" des Zuschauers, ohne die "das atemlose Mitleiden und Mitfürchten noch nicht möglich (ist)." (81) Aber, haben wir uns die Frage weiter zu stellen, liegt in diesem Zusammenhang mit Nietzsches Frühschrift nicht vielleicht die verborgene Wurzel dafür, dass Brecht sein Theater als nichtaristotelische Dramatik dargestellt hat - wenigstens zeitweise? Man hat Brecht öfter vorgeworfen, dass seine Kritik des aristotelischen Theaters wohl das bürgerliche Drama von der Klassik bis zum Naturalismus, eingeschlossen das Wagnersche Gesamtkunstwerk mit seinem eingestandenen Ziel, Rauschzustände zu erzielen, betreffe, dass aber sein Angriff auf Aristoteles sein Ziel wesentlich verfehle. Manfred Riedel etwa nennt es eine "seltsame Verkennung der geschichtlichen Zusammenhänge", dass Brecht das monumentale Theater seiner Vorgänger, das sich "an den Affekt, die Gefühle und Leidenschaften der Menschen gewandt habe, bis auf die griechischen Tragiker und einen klassischen Philosophen, nämlich Aristoteles, zurückdatiere."(82) Brecht betont in einer "Kritik der Poetik des Aristoteles" aus den frühen Dreißiger Jahren, dass es dabei nicht in erster Linie um die "bekannte Forderung der drei Einheiten als Hauptpunkt geht", er bemerkt, "sie wird von Aristoteles auch gar nicht erhoben, wie die neuere Forschung festgestellt hat." Brecht erscheint es vielmehr von größtem gesellschaftlichem Interesse, was Aristoteles der Tragödie als Zweck setzt, nämlich die Katharsis, die Reinigung des Zuschauers von Furcht und Mitleid durch die Nachahmung von furcht- und mitleiderregenden Handlungen. Diese Reinigung erfolgt aufgrund eines eigentümlichen psychischen Aktes, der infühlung des Zuschauers in die handelnden Personen. (15/240) Brecht war sich - auch über Nietzsche - dessen bewusst, wie groß die Rolle epischer Elemente in der antiken Tragödie war und dass sie eine ganze Menge von V-Effekten praktizierte. Die Berufung auf Aristoteles, bzw. die Gegenüberstellung hat doppelte polemische Bedeutung: einmal als Frontstellung gegen den Metaphysiker als materialistischer Dialektiker, zum andern im Sinne der Kopernikanischen Wende: Brecht reihte sich neben Bacon, Kopernikus, Bruno und Galilei, die Begründer der anti-aristotelischen modernen Naturwissenschaft. Zum dritten aber verweist der Bezug auf Aristoteles eben auch auf die Rolle, die Nietzsches Reflexionen über das griechische Drama für die Herausbildung von Brechts eigener Theatertheorie zukommt. 3. Lehrstücktheorie, Idealismusverdacht und Utopismus Obwohl einzelne Lehrstücke seit den Anfängen der Brechtforschung Gegenstand heftiger Kontroversen geworden sind (das gilt vor allem für die "Maßnahme" (83)) kann man, wie Jan Knopf mit Recht feststellt, erst seit Reiner Steinwegs Untersuchungen von einer Lehrstücktheorie sprechen, weil dieser mit deutscher Gründlichkeit soviel Material dazu gesammelt hat, dass man sich mit seinen oft bewusst gegen die frühere Forschung pointierten Thesen auseinandersetzen musste. Nicht so sehr die Definition des Lehrstücks (als eines Stücktypus für ein Theater ohne Zuschauer, welches als pädagogisches Institut fungierend, belehrt, nicht durchs Zuschauen, sondern durchs Mitspielen, d.h. durchs wechselnde Einnehmen von oft gegensätzlichen Rollen (84)), sondern die durch zwei Belege aus den späten dreißiger Jahren einerseits und von 1956 andrerseits abgestützte These, dass für Brecht die Zukunft des Theaters in der Form des Lehrstücks lag, hat die eigentlichen Kontroversen ausgelöst. Die DDR-Forschung mit ihrem linearen Entwicklungsmodell: Brecht auf dem Weg zum Sozialistischen Klassiker war ebenso irritiert, wie etwa (schon erwähnt) Reinhold Grimm (als ein Beispiel für die westliche Brechtforschung), der an die Lehrstücke mit inadäquaten traditionellen Gattungsbegriffen der Literatur- wissenschaft herangegangen war (- die "Tragödie" des jungen Genossen in der "Maßnahme"). Egal, ob die Lehrstücke als puritanische Askese des frisch zum Marxismus bekehrten Dichters eingestuft wurden, die in den großen Stücken der Exilzeit durch ein Wieder-Sich-Durchsetzen der eigentlichen dichterischen Kraft überwunden wurde (westliche Version), oder ob die Lehrstücke als "mechanisch-materialistische" und daher abstrakte Durchgangsstufe des Stückeschreibers auf dem Weg zur authentisch marxistischen Dramatik eines wirklichen sozialistischen Realismus (ab dem Galilei) angesehen wurden (östliche Variante), für jede der beiden Seiten stellte Steinwegs These von der zentralen und zukunftsweisenden Bedeutung der Lehrstücke ein Ärgernis dar - was sich - wie auch schon erwähnt (bei Grimm z.B.) im Ton der Auseinandersetzungen niederschlug. (85) Manfred Voigts kritisiert Steinweg nun von einer anderen Seite: Ihm, der Brecht insgesamt aus dem Eck des Originalgenies holen will, in den ihn die bisherige Forschung gestellt hat, geht es darum, den historischen Kontext zu rekonstruieren, in welchem Brechts Theaterkonzeptionen entstanden, nachzuweisen, was Brecht alles von Zeitgenossen übernommen - sich anverwandelt habe, um einerseits den Nimbus von Brecht anzukratzen, und andrerseits das spezifisch Brechtsche der Lehrstücke deutlicher herauszukristallisieren. Und, wenn ich ihn recht verstehe, erklärt er die Lehrstücke zu einem Teil eines darüber hinausgehenden "revolutionsspezifischen soziologischen Experiments", in dem - aus einer utopischen Grundhaltung Brechts heraus - das "Ende der Kunst" angepeilt wurde. Brecht hätte aber schließlich die Ambivalenz, die sich in der gleichzeitigen Entwicklung von zwei Strängen neuer Dramatik, nämlich des Lehrstücks einerseits und des epischen Theaters (Dreigroschenoper, Mahagonny) andrerseits zeigt, nicht überwunden, und sei bereits mit der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe", dem Prototyp der "reifen Brechtstücke" zurückgekehrt in den Bereich der bürgerlichen Institution Kunst, was ihn in seinen späteren theoretischen Formulierungen seiner Ästhetik zurückgeworfen hätte auf Positionen der Aufklärung (Diderot, Lessing) bzw. sogar Schillers (Theater als moralische Anstalt). Im Doppelcharakter des V-Effekts sei eben diese Ambivalenz theoretisch fixiert.(86) Dass ich Brechts These aus dem "Messingkauf", wo die Kunst als "ein ursprüngliches Vermögen der Menschheit" (frei nach Kant) definiert wird, nicht für eine Rückzugsposition halte, hab ich schon an anderen Stellen dargestellt - ebenso wie meine Zweifel daran, ob die Hegelsche Konsequenz vom Ende der Kunst so unbesehen (oder unumgestülpt) als Grundlage materialistischer Ästhetik genommen werden darf (wie es übrigens, wenn auch mehr en passant und vorsichtig, Hanns Eisler in seinen Gesprächen mit H. Bunge getan hat. (87) Eisler hat aber auch gesagt: "Im Kommunismus werden die Leute Homer lesen wie heute die B-Z (Berliner Zeitung). Und nur das nenn ich Kommunismus."(88) Der geneigte Leser möge zurückblättern. Ich will aber über das dort Ausgeführte noch hinausgehen, und meinen gerade wiederholten Zweifel an Hegel nochmals in Zweifel ziehen: Vorausgesetzt, man macht aus Hegels Diktum vom Ende der Kunst nicht einen verdinglichten Fetisch und verbietet quasi den Gebrauch des Wortes Kunst für eine befreite Gesellschaft, so stellt Brechts Forderung nach einem Theater des wissenschaftlichen Zeitalters gerade die Einlösung des Hegelschen Satzes dar: als vorbegriffliche Versöhnungsinstanz ans Ende gekommen, muss sich Kunst als aufgehobene vor dem Begriff, d.h. vor der Wissenschaft verantworten können, darf sie nicht zurückbleiben hinter dem durch Wissenschaft, Intellekt erreichten Reflexionsniveau, muss sie sich hinterfragbar machen, ja selbst die wissenschaftliche Haltung einzunehmen einladen. Bei Brecht standen, wir wissen bereits, noch vor seiner Bekanntschaft mit dem Marxismus die Naturwissenschaften Pate bei den Versuchen, ein Theater des wissenschaftlichen Zeitalters zu entwickeln. Beeindruckt von den bereits verwirklichten Möglichkeiten des Eingriffs in die Natur außer uns, bewerkstelligt mit Hilfe der induktiven Methode, des planmäßigen Experiments, einer immer systematischeren Befragung der Natur von bestimmten Hypothesen aus, schien es Brecht möglich und nötig, d.h. an der Zeit, auch das Verhalten der Menschen zueinander experimentell zu untersuchen, diesen Methoden auch in bezug auf die Natur des Menschen Geltung zu verschaffen. Von daher wird auch verständlich, dass die Bekanntschaft mit Marx sich für Brecht als Überspringen eines zündenden Funkens darstellte: da war einer, der das, was Brecht mit Mitteln der Sprachkritik quasi intuitiv versucht hatte, bereits als Wissenschaft begründet und entfaltet hatte. Der bereits mehrmals zitierte Vergleich mit der Arbeit des Physikers, den Marx im Vorwort zum Kapital verwendet, war für Brecht nicht bloß eine bestechende Analogie, sondern wurde für ihn zum zentralen Theoriestück, das er nicht zufällig weiter ausbaute: die für die Marx’sche Gesellschaftstheorie geltende Einschränkung, dass sie Phänomene massenhafter Art untersuche, und für das Verhalten Einzelner nur beschränkt Gültigkeit beanspruchen könne, insofern zu klassenspezifischen Determinanten noch weitere sich überlagernde und widersprüchliche Determinierungen hinzukämen, setzte er in Beziehung zu den Schwierigkeiten der modernen Atomphysik bei der Beschreibung der Bewegungen der kleinsten Teilchen, die sie dazu zwang, anstelle exakter Fixierungen Wahrscheinlichkeitskalküle einzusetzen. Die Unberechenbarkeit der kleinsten Körper Me-ti sagte: Eben jetzt stellt die Physik fest, dass die kleinsten Körper unberechenbar sind; ihre Bewegungen sind nicht vorauszusagen. Sie erscheinen wie Individuen, mit eigenem freien Willen begabt. - Aber die Individuen sind nicht mit eigenem freien Willen begabt. Ihre Bewegungen sind nur deshalb schwer oder nicht vorauszusagen, weil für uns zu viele Determinierungen bestehen, nicht etwa gar keine. (12/568) Von daher auch die Begeisterung Brechts für die Heisenberg’sche Unschärferelation, die für Dialektiker, sprich Marxisten "ein Leibgericht" sei: "Wenn er (Heisenberg) sagt, dass sich das zu Erkennende durch die Methode der Erkennung verändert, so dass wir es nicht genau erkennen können - das stimmt ungefähr genau - ja, das ist für uns ein einfaches Volksfest." (89) (So Eisler gegenüber Bunge.) Gerade an dieser Stelle ist (im Zusammenhang mit der KorschDebatte über den Stellenwert der "geistigen Aktion") gegenüber Eisler und Brecht von marxistischer Seite ein Idealismusvorwurf erhoben worden (so bei Knopf (90)). Brecht leugne (unter dem Einfluss von Korsch) die Erkennbarkeit der objektiven Wirklichkeit, bzw. analogisiere physikalische Prozesse mit Unternehmungen in der sozialen Welt: "Das Licht in den Mikroskopen muss so stark sein, dass es Erhitzungen und Zerstörungen in der Atomwelt, wahre Revolutionen anrichtet. Eben das, was wir beobachten, setzen wir so in Brand, indem wir es beobachten. So beobachten wir nicht das normale Leben der mikroskopischen Welt, sondern ein durch unsere Beobachtungen verstörtes Leben. In der sozialen Welt scheinen nun ähnliche Phänomene zu existieren. Die Untersuchung der sozialen Vorgänge lässt diese Vorgänge nicht unberührt, sondern wirkt ziemlich stark auf sie ein. Sie wirkt ohne weiteres revolutionierend." (14/1420) Wir kämen also zu dem Resultat, dass das bloße Erkennen - also Denken - schon revolutionierend wirke. Wir wären, besser gesagt, Brecht wäre beim Hegel von 1808 angelangt, der an Niethammer schrieb: "Täglich überzeuge ich mich mehr vom Wert der theoretischen Arbeit: ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus ..." (ich zitiere aus dem Gedächtnis statt aus der Briefausgabe des Meiner Verlags), Brecht wäre also der Illusion erlegen, dass bloßes Erkennen der Wirklichkeit schon ihre Veränderung impliziere. Ein Satz aus einer Überlegung zu Kant liefert neuen "drückenden" Beweis: Sollten wir nicht einfach sagen, dass wir nichts erkennen können, was wir nicht verändern können, noch das, was uns nicht verändert. (20/140) Und Knopf stellt auch, an das obige Eislerzitat anschließend fest: "Wie Eisler verficht auch Brecht das Prinzip der Veränderung um jeden Preis, ohne dass sie bemerken, dass sie idealistischen Positionen huldigen, da sie eine objektive Wirklichkeit, und sei es bloß die durch die Menschen produzierte gesellschaftliche Wirklichkeit, die ’an sich’ erkennbar und beschreibbar ist, ohne dass der erkennende Mensch sie zugleich ändert, leugnen." (91) Knopf, der gegen Brüggemanns Identifikation von Brechts Marxismus mit dem von Karl Korsch argumentiert, schwächt den Idealismusvorwurf an Brechts Adresse wieder ab, indem er Brecht bescheinigt, in der realdialektischen Verfremdung, "die nicht Montage der Wirklichkeit, sondern Demontage ihres falschen Scheins bedeutet" (92), die idealistische Züge der Korsch’schen Erkenntnistheorie überwunden zu haben, allerdings den Widerspruch zwischen beiden Positionen nie völlig gelöst zu haben: "Es ist ein Widerspruch, der durch Bertolt Brecht marxistischen Lehrer Karl Korsch erzeugt worden ist, ein Widerspruch, dem die künftige Brechtforschung nachzugehen haben wird; in einer ihrer wichtigsten Fragen steht sie noch am Beginn." (93) Voigts wirft nun Knopf vor, seine Untersuchung von Brechts spezifischem Marxismus (d.h. auch seiner Korsch verdankten idealistischen Positionen) am entscheidenden Punkt abzubrechen, aus Unvermögen Kunst als Kunst überhaupt zu beschreiben(94). Was das bei Voigts heißt, haben wir schon gesehen: die von Korsch undurchschaut übernommenen idealistischen Positionen führten Brecht zu einer Verwechslung von Theater und Wirklichkeit und schließlich zu einem Rückzug bzw. Rückfall in die bürgerliche Institution Kunst, auf aufklärerische oder sogar konventionelle Positionen. Damit sei schließlich auch Brechts "durchschlagende Wirkungslosigkeit eines Klassikers" zu erklären ... Der Zirkel, in den Knopfs Argumentation im Forschungsbericht gerät, kann als Beleg für meine Behauptung gelten. Ich halte es mit für einen der wichtigsten Beiträge Brechts zum marxistischen Denken, dem "Idealisieren" als notwendiger geistiger Operation auch für den konsequentesten Materialisten, Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, ohne sich um den Idealismusvorwurf zu kümmern, der eine gewichtige Waffe in den Händen derer darstellte, die für die Verkümmerung der materialistischen Dialektik sorgten. Dass Knopf hier inzwischen differenzierter urteilt, belegt sein Aufsatz "Eingreifendes Denken als Realdialektik" in: Argument Sonderband 50. S. 57 ff. Nebenbei: die Polemik, die Karen Ruoff an diesen Aufsatz Knopfs anschließt, gibt ein schönes Beispiel linker TUI-Sitten: weil Knopf sich erlaubt, die Deutung einer TUI-Szene aus Turandot (die Entscheidung über die "Hauptfragen" der Philosophie: Sind die Dinge außer und, für sich, auch ohne uns, oder sind die Dinge in uns, für uns, nicht ohne uns?) als am Witz der Sache vorbeigehend zu kritisieren, wird er ordentlich durchgebeutelt (verhängnisvoll verkürzter Ansatz, Fehldeutung der Brechtschen TUI-Kritik, erkenntnistheoretische Modeschau, die nichts zur Sache beiträgt etc.). Was die Autorin noch daran anschließt, als käme sie jetzt erst zur Sache, ist nichts als eine mehr oder weniger konsistente Zitatsammlung aus Brechts Äußerungen zum "eingreifenden Denken", die in Durchhalteparolen für linke Intellektuelle in nichtrevolutionären Zeiten mündet. (Karin Ruoff. Das Denkbare und die Denkware. Zum eingreifenden Denken. In: Argument Sonderband 50. S. 75 ff) Ich fürchte, wir drehen uns im Kreise. Aber das macht bekanntlich nichts: im Kreise gehend, bewegen wir uns weiter... (14/461) Die Abschweifung, ausgelöst vom Hinweis auf die Bedeutung, die Brecht dem Zusammenhang von Naturwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften beimaß, führt zu seiner zentralen Frage: nämlich der nach der Vergleichbarkeit naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Methoden: Kann oder darf der Marx’sche Vergleich überhaupt "ganz ernst" genommen werden, ist er mehr als eine Analogie oder Homologie? Oder ergeben sich die oben illustrierten Kalamitäten nicht gerade aus der prinzipiellen Inkommensurabilität, zu deutsch: aus der Schiefheit des Marx’schen Vergleiches? Ich fände es müßig - oder sehr mühselig, auf die oben diskutierten Idealismusvorwürfe gegen Brecht einzugehen. Müßig, wenn nur Brecht immanent argumentiert wird, weil dann von außen Materialismus bzw. Idealismus- definitionen herangetragen werden, denen Brecht zu entsprechen hat oder er eben des Idealismus überführt wird, mühselig, wenn die ganze Frage auf ihren Ursprung: die Umstülpung der Hegelschen Dialektik durch Marx zurückgeführt und dort ausgetragen wird. Denn die Erforschung der Konkretionen der "materialistischen" Umstülpung der "idealistischen" Positionen Hegels liegt noch sehr im argen. Wenn sich bei Brecht da Widersprüchlichkeiten zeigen, zeugen sie nur vom gründlichen Marxstudium Brechts: er hat sich seinen Marx nicht ideologisch glätten lassen. Ich hege den starken Verdacht (ohne mich allerdings mit Korsch intensiv genug beschäftigt zu haben, um ihn zu erhörten), dass schon die Polemik gegen Korsch’ "geistige Aktion" sich einen idealistischen Popanz aufbaut. Brecht jedenfalls hätte sicher dem zustimmen können, was Knopf als "materialistisches" Argument vorbringt: Die sogenannte theoretische Erforschung der Gesellschaft und ihrer Produktivkräfte gehört also in die Veränderung hinein, und verändert wird nicht, indem man erkennt, sondern verändert werden kann, wenn man die Veränderlich- und Veränderbarkeit der Welt erkennt, und zwar als objektive, reale und nicht als Tätigkeit theoretischer Erkenntnis. Dialektische Theorie ist Praxis und deshalb auch ständig der veränderten Praxis, dem veränderlichen "Sein" unterworfen: "Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein." Das ist reale Dialektik. (95) Brecht hätte dem schon deshalb zustimmen können, weil es beim Wort genommen, nichts anderes aussagt als Korsch’ geistige Aktion: Dialektische Theorie ist Praxis, deutlicher kann man den unaufgelösten Zirkel gar nicht benennen; aber Brecht hätte sicher nicht zugestimmt, weil solche Formulierungen gerade das Gegenteil von "eingreifendem Denken" darstellen: bis zur Bekräftigung der so zur Leerformel erstarrten marxistischen Grundeinsicht aus der Deutschen Ideologie mit dem trotzig naiven: Das ist reale Dialektik. Hätte es Marx bei diesem Einblick in die reale Dialektik bewenden lassen, so hätte er sich die zermürbenden und mühseligen zwanzig Jahre im Britischen Museum erspart und wäre wirklich mit seinem Freund Fred (Engels) nach Paris gefahren, alle Grisetten zu vögeln, wie er einmal wörtlich schreibt... (96), um sein Bewusstsein vom Leben bestimmen zu lassen. Herr Knopf hat’s auch nicht so gemeint, wie er es hier niedergeschrieben hat. Zumindestens hat er es früher schon besser gewusst. Aber wie schon Marx in der ersten Feuerbachthese hervorhebt, hat der Idealismus eben bestimmte Meriten, was die "tätige Seite" betrifft, die in materialistischer Dialektik nur aufgehoben, nicht aber eskamotiert werden sollten. Oder sollten wir auf den "Idealismus" des: Wer verloren ist, kämpfe! Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein? (9/468) nur deshalb verzichten, weil hier dem Erkenntnisvorgang ein zu großer Einfluss auf die Veränderung zugeschrieben wird (gemessen wenigstens an denjenigen, denen noch jede Einsicht dazu dient, passiv zu bleiben): Und ich dachte immer: die allereinfachsten Worte Müssen genügen. Wenn ich sage, was ist Muss jedem das Herz zerfleischt sein. Dass du untergehst, wenn du dich nicht wehrst Das wirst du doch einsehen. (10/1030) Aber kehren wir jetzt zu der vorher aufgeschobenen Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Methode zurück. Marx vergleicht seine Arbeit mehrmals mit der der Naturwissenschaften. Zuerst konstatiert er einen Unterschied im Werkzeug: die Abstraktionskraft des Forschers muss an die Stelle von Mikroskop bzw. chemischer Reagenzien treten. Dann rechtfertigt Marx seine Beschränkung auf die Beschreibung englischer Verhältnisse: Der Physiker beobachtet Naturprozesse entweder dort, wo sie in der prägnantesten Form und von störenden Einflüssen mindest getrübt erscheinen, oder, wo möglich, macht er Experimente unter Bedingungen, welche den reinen Vorgang des Prozesses sichern. Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse. Ihre klassische Stätte ist bis jetzt England. Dies der Grund, warum es zur Hauptillustration meiner theoretischen Entwicklung dient ... (97) Weiter spricht Marx von den "Naturgesetzen" der kapitalistischen Produktion", die er erforsche, vom "Naturgesetz ihrer Bewegung", dem eine Gesellschaft auf die Spur gekommen ist und nennt schließlich die "Enthüllung des ökonomischen Bewegungsgesetzes der modernden Gesellschaft den letzten Endzweck" seines Werks. Es ist also beileibe keine zufällige Metapher, die Marx irgendwo unterläuft, sondern eine bewusste Position, die er hier einnimmt, wo er die Naturwissenschaften zum Vergleich heranzieht. Aber damit wird nicht nur ein wissenschaftlicher Anspruch erhoben. Gerade die Tatsache der Verhülltheit ökonomischer Gesetze, ihr blindes Wirken ermöglicht die Gleichsetzung mit physikalischen Gesetzen: obwohl die Menschen ihre eigene Geschichte machen, sie die Schöpfer ihrer ökonomischen Verhältnisse sind, ist ihnen ihre eigene Tätigkeit nicht bewusst, vollzieht sie sich hinter dem Rücken der Individuen als blinde Macht: Wie die Einsicht in die Gesetze der Schwerkraft diese nicht aufhebt, aber zu beherrschen ermöglicht: sie so auch tatsächlich überwindet, kann auch die Einsicht in die ökonomischen Gesetze diese nicht aufheben: aber sie können beherrschbarer werden. (das hoffte er...) In diesem: "sie können beherrscht werden" verbirgt sich die Krux des naturwissenschaftlichen Modells für die Sozialwissenschaften. Seit Bacon wurde Natur (im Gegensatz zur antiken, aristotelischen Tradition) immer mehr ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Beherrschung und Ausbeutung behandelt. Bacons Einsicht, dass man die Natur nicht überlisten könne (was Aristoteles annahm und worin der Natur in gewissen Sinn Subjektcharakter zugeschrieben wird) sondern, dass man sie nur beherrschen könne, indem man ihr gehorche, d.h. sie erforsche, sie unter dem Aspekt der Nützlichkeit befrage, führt in der Folge zu ihrer völligen Dequalifizierung - im wörtlichen Sinn: es werden alle für sich bestehenden unterschiedlichen Qualitäten in quantifizierbare Verhältnisse überführt, sie wird "berechenbar", reines Objekt. Und Marx betont nun, dieselbe Objektivität in bezug auf die Bewegungsgesetze der Gesellschaft anzustreben. Er nimmt die bürgerlichen Ökonomen beim Wort und wendet ihren Anspruch, im Kapitalismus die natürliche, naturgemäße Produktionsweise erreicht zu haben, gegen sie selbst. Aus der Forderung: "Zurück zur Natur", die den Kapitalismus meint, wird die kritische Feststellung: er ist nur Natur, blind wirkender Verhängniszusammenhang einer Macht, die, obwohl nichts anderes als das Produkt der Menschen selbst, ihnen feindlich gegenüber steht: als Kapital, welches nichts anderes darstellt als die menschlichen Wesenskräfte in ihrer entfremdeten, d.h. enteigneten Gestalt. Wenn also die ökonomischen Verhältnisse in ihren Gesetzmäßigkeiten durchschaut werden, d.h. Gesetze gefunden werden können, die sich ohne Wissen und Bewusstsein der Individuen durchsetzen, so kommen darin bereits ex negativo, als diejenigen, die ihre Wirkungen erleiden, diejenigen vor, denen die Einsicht in diese Gesetzmäßigkeiten helfen kann, ihren Auswirkungen zu entrinnen: die Proletarier, die ihrer Menschlichkeit beraubt, die geltende Weltordnung umstürzen müssen, um ihre Menschlichkeit erlangen zu können. (vgl. 14/1441) < P>Es passiert dabei etwas, was Georg Kreisler in einem seiner Lieder so darstellt: Ein Wissenschaftler, dem ich dieses sagte erzählte mir darauf bei ein paar Bieren: Der Virus, den ich kürzlich erst erjagte der benimmt sich auch nicht so wie andere Viren! Ich habe ihn unter meinem Mikroskope mit Müh’ und Sorgfalt endlich isoliert, und hab zu meinem Schrecken, statt Neues zu entdecken bei diesem Virus deutlich konstatiert: Er beobachtet mich Ganz genau wie ich ihn Schau ich durch, schaut er fort Schau ich fort, ist er dort und blickt wachsam zu mir hin. Er ist sehr interessant und doch was fang ich mit ihm an wenn man zwischen uns keinen Unterschied merken kann. (98) Nur, was Kreislers Wissenschaftler beunruhigt und erschreckt, da er an stumme, passive Objekte gewöhnt ist, das ist die Absicht, und das eigentlich epochemachende an der Marx’schen Methode, das, wodurch sie aufhört, Theorie in traditionellem Sinn von "Interpretation" zu sein und wirklich Praxis wird: dass in Marx’ Werk die Objekte der Wissenschaft zu Subjekten werden, ja, dass ihre "wissenschaftliche" Objektivität, d.h. auch ihre Wirklich- und Wirksamkeit von den ihr erfassten Subjekten abhängt. Das heißt, in Marxens Theorie wird "Raum" für die Aktivität der Subjekte, der mit Produktion und Reproduktion beschäftigten Menschen gelassen. Einmal schon in der doppelbödigen Formulierung von den "mit eherner Notwendigkeit sich durchsetzenden Tendenzen, dann in der ausdrücklichen Ablehnung einer aus der Geschichte ableitbaren Gewissheit über ein geschichtliches Telos (klassenlose Gesellschaft), welches von den Subjekten unabhängig und unbeeinflusst bliebe. Immer stellt Marx der Möglichkeit und Hoffnung auf Befreiung auch die des "Versinkens in Barbarei", des gemeinsamen Untergangs der kämpfenden Klasse gegenüber. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, diese über die Methode der Naturwissenschaft hinausreichende, aber sie einschließende neue Qualität der Marx’schen Methode klar zu machen. Vielleicht gelingt es mir, in der Rückkehr zu unserem Ausgangspunkt, den Brechtschen Lehrstücken. Die Reduktion der Handlung, die Beschränkung der Figuren auf Typen (die Flieger, die Monteure, der junge Genosse, die Agitatoren) statt Darstellung von Charakteren entspricht dem naturwissenschaftlichen Experimentbegriff ; dem, was man die Ausschaltung störender Einflüsse, die Sicherung des reinen Vorgangs des Experiments nennt. Experimentiert wird mit Haltungen, die untersucht, erprobt, verworfen oder gewonnen werden sollen ... der Zweck des Experiments ist ein pädagogischer: Lehre von Haltungen. Dabei werden die Figuren auch fast völlig "objektiv", als Objekte, von außen betrachtet, ihr mögliches "innen" wird ignoriert, oder wo es sich äußert, als der Störfaktor behandelt, als der es nur erscheint, um kritisiert zu werden. Da Haltungen anschauen nichts oder nur wenig bringt, da sie eingeübt werden müssen, wenn man sie sich aneignen will, werden in Konsequenz die Zuschauer unnötig: es geschieht also eine seltsame Umkehrung: Es wird auf alles verzichtet, was das Theater an Sinnlichkeit, Fülle, Farbigkeit, individuellem Charakter vorführen kann, damit rein der Problemkomplex des Einverständnisses zwischen Individuum und Kollektiv untersucht werden kann - aber der draußen stehende Betrachter, der "wertfreie" Beobachter fällt weg: Es ist, nach dieser Seite hin betrachtet, das Prinzip der Aktionsforschung, die im Lehrstück erreicht wird. Es gibt nicht mehr das Subjekt (Forscher) und die Objekte (Forschungsgegenstand), sondern Forschung wird zu einem sich selbst kritisierendem Prozess, wo der Forscher ebenso zum Forschungsgegenstand für die von ihm Erforschten wird, wie der Fortgang, oder Ergebnisse der Forschung nur im prozessualen Vollzug von Veränderungen gefunden werden. Im traditionellen Verhältnis Bühne - Zuschauer erhält sich nicht nur ein kultisches Ritual, sondern auch eine hierarchische Ordnung; wie das Christentum beim Übergang zur Staatsreligion die Kommunion, die Feier der Gemeinde in ein vor der versammelten Gemeinde zelebriertes Schauspiel verwandelte, indem die "Vereinigung" zur Formel verkam, so wirkt jede Bühne autoritär: von der Rampe aus wird Herrschaft ausgeübt - besonders deutlich in der suggestiven Technik der Einfühlung. Die Zuschauer werden (wenigstens der Intention nach) gezwungen, sich mit dem Helden zu identifizieren, mit ihm mit zu leiden, zu weinen und zu trauern. Im Sinne dieser Intention, aus dem Theater eine Institution eingreifender Aktionsforschung zu machen, stellt die Rückkehr zum Theater für Schauspieler zweifellos einen Rückschritt dar, wird aber andrerseits auch die Praxis, in die einzugreifen, eindeutig nach draußen, in die gesellschaftliche Wirklichkeit außerhalb des Theaters verlegt. Mittels der nun auch theoretisch erfassten und beschriebenen Techniken der Verfremdung, des V-Effekts, der Distanzierung, Episierung, Historisierung, der Unterbrechung, des Zeigens, der Gestik wird die teilnehmende Beobachtung statt der mitreißenden Einfühlung ermöglicht. Aber es bleibt bei einem Kompromiss. Brecht war sich darüber auch im klaren: "Es ist gut, wenn man in einer extremen Position von einer Reaktionsepoche ereilt wird. Man kommt dann zu einem mittleren Standort. So sei es ihm ergangen; er sei milde geworden", berichtet Walter Benjamin.(99) Ohne dass diese Stelle explizit auf die Lehrstücktheorie Bezug nimmt, wird man sie (auch) dafür gelten lassen müssen, was auch die schon erwähnten von Steinweg als Beleg verwendeten Aussagen über die Fatzerfragmente (gemeint ist das unvollendete Lehrstück "Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer", das Brecht noch kurz vor seinem Tode als "der höchste Standard, technisch" bezeichnete) und über "Die Maßnahme", als "Beispiel eines Theaters der Zukunft" bezeugen.(100) Der an die Macht gekommene deutsche Faschismus enteignete den Autor Brecht nicht nur als Privatmann, indem er ihn zur Flucht zwang, seinen Besitz beschlagnahmte und ihm die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannte, sondern auch dadurch, dass er ihn von seinem Publikum aussperrte und seine für eine revolutionäre Umwälzung vorgesehenen Versuche einer prinzipiellen Umfunktionierung der Institution Theater so unterbrach, dass Brecht sie in dieser Radikalität nie wieder aufnahm. In diesem Zusammenhang ist ein Wort über Brechts Utopismus, der durch die neuere Brechtforschung geistert, zu sagen. Als erster hat wohl Bloch auf utopische Elemente bei Brecht verwiesen (vgl. seine Interpretation von Jenny’s Lied aus der Dreigroschenoper(101)), und auch Benjamin hat etwa in der Gestalt des Soldaten Fewkoombey aus dem Dreigroschenroman utopische Züge entziffert. (102) Aber Mennemeier spricht von "Jahren der Utopie" bei Brecht,(103) und Voigts entdeckt "Brechts utopische Grundhaltung" am Ende der Zwanziger- und zu Beginn der Dreißigerjahre. Was Brecht jetzt schreibt, steht im Banne des Gedankens, der Sozialismus werde sich innerhalb kurzer Frist verwirklichen und es sei an der Zeit, für die neue Gesellschaft die neue Kunst zu entwickeln." (104) Das ist zwar exakt beschrieben, hat aber mit Utopismus nichts zu tun. Entweder wird hier der Sinn des Begriffs Utopie völlig missverstanden, oder es handelt sich um bewussten Etikettenschwindel. Die baldige Verwirklichung des Sozialismus im Deutschland der späten Zwanzigerjahre war eben keine Utopie - fast könnte man sagen, sonst hätte es nicht der reaktionären Karikatur des National-Sozialismus bedurft, um ihn zu verhindern. Er war eben das, was in jedem Sinne auf der Tagesordnung stand, und was für die herrschende Klasse nur unter Zuhilfenahme der extremsten Mittel - eben der des offenen Faschismus, noch zu umgehen war. Hier von Utopismus bei Brecht zu reden, gelingt nur von einem Standort eines historischen Determinismus, der im "Dazwischenkommen" des Faschismus eben eine vorher übersehene historische Zwangsläufigkeit erblickt, ohne zu untersuchen, ob diese Entwicklung bei richtiger Politik nicht zu verhindern gewesen wäre. Aber selbst wenn sich eine solche Zwangsläufigkeit - aus inneren und äußeren Faktoren auch konstruieren ließe, entscheidend bleibt, ob die Bedingungen für eine sozialistische Revolution in Deutschland reif waren. Brecht hat schon "grausam-gründlich" solche Marxisten verhöhnt, "die sich als Baumeister des Kommunismus betrachteten, diesen als die unvermeidliche ’nächste’ Formation erwarteten und das Proletariat als die Leute ansahen, die ihn zu verwirklichen hatten. Sie sahen den Faschismus an und siehe, er war noch nicht die nächste Formation: Sie musste also noch kommen. Aus den Propheten für morgen wurden sie einfach die von übermorgen." (20/93) Und im folgenden präzisiert Brecht sehr genau, was sein Denken von einem utopischen unterschied: "Diejenigen aber, die den Kommunismus lediglich als Lösung ganz bestimmter, benennbarer Schwierigkeiten vorschlugen, ihn gleichzeitig natürlich auch als Ausnutzung geschaffener, ebenso bestimmter und benennbarer Möglichkeiten herbeizuführen gedachten, mussten sich die Frage vorlegen, ob sie nicht doch gewisse andere Auswege übersehen, andere Möglichkeiten außer acht gelassen hatten. Vielleicht hatten sie sich überhaupt getäuscht in der Frage, welches die die Völker im Grunde bewegenden Kräfte sind? (20/93) Jeder sich nicht einfach im Bestehenden einhausende, sondern den Horizont des Vorhandenen überschreitende Gedanke wäre, am Sprachgebrauch Mennemeiers und Voigts gemessen, schon utopisch - und in diesem, allerdings den Begriff Utopie überflüssig machenden Sinn gab es so etwas wie eine "utopische Grundhaltung" Brechts. Gerade aber gegenüber jenen, die von einer gesellschaftlichen Umwälzung des "ganz Andere", den eschatologischen Bruch erwarteten, hielt er aber an der "bestimmten Negation" des Bestehenden fest: Man darf nie vergessen, dass der Hauptvorwurf aller konservativen Elemente gegen den Sozialismus, er stelle eine Fortführung (und also, wenn man will: eine Steigerung) des Kapitalismus dar, eine einfache Wahrheit ist, die noch nicht alle Sozialisten begriffen haben." (20/48) Gerade in der dialektischen Verschränkung von Kontinuität und Bruch im Kampf um die Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse und ihrer Abbildung mit künstlerischen Mitteln, ist das Motiv zu suchen, warum für Brecht die Kategorie der Produktivität schließlich zum zentralen Begriff seiner philosophischen Untersuchungen wird. So heißt es in einer Notiz, die sich mit der bürgerlichen Kritik an der "Mutter" auseinandersetzt, etwa 1932: Der Kommunismus ist keine Spielart unter Spielarten. Radikal auf die Abschaffung des Privateigentums von Produktionsmitteln ausgehend, steht er allen Richtungen, die sich durch was immer unterscheiden, aber in der Beibehaltung des Privateigentums einig sind, als einer einzigen Richtung gegenüber. Er erhebt den Anspruch, die direkte und einzige Fortführung der großen abendländischen Philosophie zu sein, als solche Fortführung eine radikale Umfunktionierung dieser Philosophie, wie er die einzige praktische Fortführung der abendländischen (kapitalistischen) Entwicklung und als solche zugleich die radikale Umfunktionierung der entwickelten Wirtschaft ist ... (20/79) Nimm Platz am Tisch, du hast ihn doch gedeckt. Von heute ab wird auch das Kleid tragen, die es genäht hat. Heute, mittag um zwölf Uhr Beginnt das goldene Zeitalter. Wir fangen es an aus der Erwägung heraus Dass ihr müd seid, Häuser zu bauen und Nicht darin zu wohnen. Wir glauben Ihr wollt jetzt das Brot essen, das ihr gebacken habt. Mutter, dein Sohn soll essen. Der Krieg ist abgesagt worden. Wir dachten So sei es dir recht. Warum, fragten wir uns Das goldene Zeitalter noch aufschieben? Wir leben nicht ewig (10/961) Versuch 3: Produktivität Die handelnd Unzufriedenen Die handelnd Unzufriedenen, eure großen Lehrer Erfanden die Konstruktion des Gemeinwesens In dem der Mensch dem Menschen kein Wolf ist. Und entdeckten die Lust des Menschen am Sattessen und Trockenwohnen Und seinen Wunsch, seine Sache selber zu ordnen. Sie glaubten nicht dem Geschwätz der Pfaffen Dass der schreckliche Hunger gestillt werde, wenn die Mägen verfault sind. Sie schütteten die Schüssel mit dem schlechten Essen aus. Sie erkannten in dem Mann, den man ihnen als Feind bezeichnete Ihren hungrigen Nebenmann. Sie waren geduldig nur im Kampf gegen die Unterdrücker Verträglich nur zu denen, die die Ausbeutung nicht ertrugen Müde nur des Unrechts. Wer den Stuhl wegschleuderte, auf dem er schlecht saß Wer den Pflug einen Zoll tiefer in die Erde drückte als jeder andere zuvor Der soll unser Lehrer sein, der Unzufriedene Beim Umbau des Gemeinwesens. Diejenigen aber Die von einem Teller voll Versprechungen satt werden Ihnen soll man die Mägen herausreißen. Ihre krummen Knochen zu verstecken Ist ein Löffel voll Sand zu schade.(10/865) Bertolt Brecht "Mit diesen Leuten", sagte ich, mit Beziehung auf Lukacs, Gabor, Kurella, "ist eben kein Staat zu machen." Brecht: "Oder nur ein Staat, aber kein Gemeinwesen. Es sind eben Feinde der Produktion. Die Produktion ist ihnen nicht geheuer. Man kann ihr nicht trauen. Sie ist das Unvorhersehbare. Man weiß nie, was bei ihr herauskommt. Und sie selber wollen nicht produzieren. Sie wollen den Apparatschik spielen und die Kontrolle der anderen haben. Jede ihrer Kritiken enthält eine Drohung."(1) Walter Benjamin Der Magier Seht, mit wundervoller Bewegung Zieht der Magier ein Kaninchen aus dem Hut. Aber auch der Kaninchenzüchter könnte wundervolle Bewegungen haben.(9/770) Bertolt Brecht Viele sehen es so Viele sehen es so, als drängten wir uns Zu den abgelegensten Verrichtungen Bemühten uns um seltene Aufträge Unsere Kräfte zu erproben oder unter Beweis zu stellen Aber in Wirklichkeit sieht besser, wer Uns einfach das Unvermeidliche tun sieht! Möglichst gerade zu gehen, die Hindernisse des Tages zu überwinden, die Gedanken zu vermeiden, die schlimme Folgen gehabt haben, die günstigen Ausfindig zu machen, eben: Den Weg des Tropfens zu bahnen im Fluss, der sich Durch das Geröll den Weg bahnt.(19/875)Bertolt Brecht Produktivität - eine übergreifende Kategorie. Methodo-logische Zwischenbemerkungen. Es sind methodologische Skrupel, die mich daran hindern, einfach in den "3. Versuch: Produktivität" einzusteigen und mich veranlassen, quasi laut über die bisher erreichten Resultate nachzudenken, vor allem über die Diskrepanz zwischen dem kategorialen Rahmen, den ich zwar explizit als versuchsweisen vorgeschlagen habe, und einem Mangel an systematischer Stringenz, durch den dem geneigten Leser der "rote Faden" verloren gegangen sein mag. Jedenfalls hege ich diesbezüglich Skrupel insbesondere dort, wo ich Brechts Beziehungen zu anderen Philosophen, zu Nietzsche unter dem Thema des Einverständnisses, zu Marx und Lenin unter dem der Verfremdung behandelt habe. Auf die Gefahr hin, offene Türen einzurennen, will ich noch einmal erläutern, was mir dabei vielleicht allzu evident schien: Brechts Beziehung zu Nietzsche, die ich als ein geheimes Lehrer-Schüler-Verhältnis dechiffriert habe, erscheint mir, ganz abgesehen von der inhaltlichen Seite der Verknüpfung von Nietzsches Überwindung des Nihilismus und der europäischen Dekadenz im großen JaSagen mit dem Thema des Einverständnisses, selbst schon geeignet, die Dialektik des Einverständnisses zu illustrieren; schließt sie doch auch die Problematik des "mit sich identisch bleiben", der Identitätsfindung im Lernprozess durch Nachahmen und Einnehmen von Haltungen, aber auch die Überwindung von Autorität, das Sich-frei-machen, das Nichteinverstanden-Sein mit ein. Ebenso hat die Auseinandersetzung Brechts mit Marx nicht nur deshalb ihren Ort im Versuch über Verfremdung, weil Brecht diesen Begriff, wie ich hoffe, deutlich gemacht zu haben, am Hegelschen und Marxschen Entfremdungsbegriff entwickelt hat, sondern weil Brechts Beitrag zum Marxismus zu einem guten Teil eine Verfremdungsleistung darstellt: er hat das allzu bekannte, oft zu Formeln erstarrte und schematisch fixierte Marx’scher Begriffe durch verfremdete z.B. sinisierende Eingriffe verflüssigt, wieder in Bewegung gebracht - manchmal bis zu Unkenntlichkeit für die Zeitgenossen. (So hat etwa erst Reiner Steinweg nach 40 Jahren entziffert, dass Brecht in der "Maßnahme" Lenins Thesen aus "Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus" als Verhaltenslehre erproben wollte. (2) Auf der anderen Seite stellt sich natürlich auch mit Brechts Zuwendung zum Marxismus das Thema des Einverständnisses neu, ist dies nicht etwa eine Problematik, die erledigt wäre, sondern es muss auch dieser "rote Faden" weiter verfolgt werden. Wenn der Hegelsche "Dreischritt" nicht zu Unrecht im Hintergrund der kategorialen Einteilung vermutet werden darf, so muss die Verknüpfung nun eine doppelte sein; einmal die mit dem unmittelbar vorhergehenden Begriff der Verfremdung , dann aber auch die mit dem des Einverständnisses. Ich betone die Möglichkeit und damit den Konstruktcharakter dieses Zusammenhangs noch einmal, um Missverständnisse zu vermeiden: diese Systematisierungsansätze stellen, ich hab das schon vorneweg in der Einleitung betont, nicht den Versuch dar, so etwas wie ein System von Brechts Philosophie nachkonstruieren zu wollen, sie verdanken sich mehr der philosophischen Tradition, welche die Leidenschaft fürs Systembauen noch dort weiterreicht, wo der Systemanspruch von Philosophie längst obsolet geworden ist; dass Brecht selbst nicht frei ist von dieser Versuchung, belegen seine Überlegungen bezüglich des "Gesamtplans" seiner Produktion: der gesamtplan für die produktion breitet sich allerdings immer mehr aus. und die einzelnen werke haben nur aussicht, wenn sie in einem solchen plan stehen. zu Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar muss Der TUI-Roman treten. zu den dramen die lehrstücke, wann werde ich die Abenteuer des Bösen Baal des Asozialen anfangen können? und die Haltungen Lenins? 30 jahre sind nicht zuviel für das noch zu schaffende. notierte Brecht am 16.8.1938 in seinem Arbeitsjournal(3). Allerdings ist das eine Art von Systematisierung, in der das System - als geschlossener Kreis - bereits überwunden, aufgehoben fortlebt: im Blick aufs Ganze wird das als einzelnes disparate, widersprüchliche als auf einander bezogen, als zusammengehörig erst erkennbar. Ich könnte also, hier Brecht folgend, gar nicht mehr behaupten, es sei mir "ganz ernst" mit dem System, aber damit gewinnen die systematischen Elemente eine neue Qualität - die des spielerischen, ästhetischen - um so mehr ist darauf zu achten, dass aus der Ordnung nicht bloßes Ornament wird. Was solch "aufgehobenes" Systematisieren vom philosophischen System im emphatischen Sinn trennt, ist einfach die Einsicht, dass noch jedes Chaos, wollen wir praktisch eingreifend damit umgehen, sich ordnen lässt, sich zu einer Ordnung fügen lässt, d.h. von uns geordnet wird. Vermeiden muss man dabei allerdings, so Ordnung zu schaffen, wie Brecht Kalle in den Flüchtlingsgesprächen referieren lässt: "Ich bin im Grund für Ordnung. Aber ich hab einmal einen Film gesehen mit Charlie Chaplin. Er hat seine Kleider usw. in einen Handkoffer gepackt, d.h. hineingeschmissen und den Deckel zugeklappt, und dann war es ihm zu unordentlich, weil zu viel herausgeschaut hat, und da hat er eine Schere genommen und die Ärmel und Hosenbeine, kurz alles, was herausgehängt ist, einfach abgeschnitten. Das hat mich in Erstaunen gesetzt…"(14/1388) Ich schätze meinen Mangel an Ordnungsliebe doch hoch genug ein, um diesen Fehler vermieden zu haben. Aber irgendwie ist uns das Provisorische, nur versuchsweise dieses gedanklichen Ordnens, das man Philosophieren nennt, schon so in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir den Anspruch etwa "Gottes Gedanken vor der Schöpfung" der Reihe nach aufzeichnen zu wollen(4), nicht mehr ganz ernst nehmen können. Das heißt aber, selbst wenn ich einräume, dass solches Reden schon bei Hegel mehr nur eine literarische Lizenz darstellt, dass die Einsicht in die geschichtliche Vermittlung der logischen Strukturen zugleich ihre überzeitliche "objektive" Geltung als Aussagen über die Struktur der Wirklichkeit in Frage stellt, und sie jeweils nur zu einer unter vielen möglichen Interpretationsmöglichkeiten von Welt herabsetzt, auch und gerade weil diese Interpretation vom Stand der jeweiligen praktischen Hervorbringung, der Produktion von Welt durch jeweils bestimmte Menschengruppen abhängt. Kurz, gerade wo durch die historisch-materialistische Kritik das philosophische System als Abbild, Widerspiegelung, Reflexion, Distanzierung (ich weiß, auch das sind nicht lauter Synonyme) einer realdialektisch sich zum ökonomischen System des Kapitals zusammenschließenden historischen Bewegung dechiffriert wird (bei Marx in der Analyse des Kapitals) wird die Sprengung des philosophischen Systems ebenso unabdingbar wie die des ökonomischen: sie gehört zur Freisetzung der im System gefesselten Produktivkräfte, sei es gesellschaftlich-ökonomischer oder geistiger und künstlerischer Natur, zur "Wiederaneignung der menschlichen Wesenskräfte."(5) Dass ich mich nicht der Illusion hingebe, allein das Destruieren des philosophischen Systemanspruchs könne hinreichen, die anvisierte Freisetzung von Produktivkräften zu bewirken, brauche ich hoffentlich nicht extra zu betonen. Umgekehrt kann und braucht damit aber auch nicht gewartet werden, bis die Basis entsprechend umgewälzt ist. Im übrigen halte ich dafür, dass gerade die Fortexistenz und die scheinbar unentrinnbare Schwerkraft eines immer noch mehr sich zusammenschließenden Verhängniszusammenhangs (wie die späte Frankfurter Schule die bürokratisch-technokratisch verwalteten Herrschaften der Industriegesellschaft in Ost und West metaphorisch zu bezeichnen pflegte(6)) die Systematisierungszwänge unseres Denkens (meines jedenfalls will ich nicht davon ausnehmen) zu erklären imstande ist. Um aber von diesem Ausflug in die luftigen Höhen der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit philosophischer Systematik überhaupt wieder zurückzukommen auf die doch eher bescheidenen Systemrelikte meines kategorialen Rahmens, will ich die eingangs erwogene Möglichkeit einer doppelten Vermittlung versuchen, ohne dass man mir allzu gewaltsames Konstruieren vorwerfen können wird. Die Dialektik des Einverständnisses enthüllte sich als negative Bewegung des Einholens der Voraussetzungen des Individuums, zuerst im gegen die gesellschaftliche Umwelt gerichteten Einverständnis des Asozialen mit der eigenen Triebnatur, die sich gegen die Heuchelei gesellschaftlicher Moralvorstellungen richtet. Hier wird der ewige Kreislauf der Natur als Gegeninstanz gegen die als widernatürlich erlebte Aufspaltung des Individuums in Funktionen angerufen (Brecht erwägt in dramaturgischen Notizen, dass der Dramatiker die Partei der Natur gegen seinen Helden ergreifen müsste(7)). Aber diese Position erweist sich als unhaltbar, weil sie, wenn nicht der Naturbegriff hypostatiert, d.h. romantisch verklärt werden sollte, in einen unendlichen Regress führt: das Wesen der menschlichen Natur lässt sich als nicht anders bestimmen als durch die Einsicht in die Vergesellschaftung der Menschengattung: die unwiderrufliche und unumkehrbare Vergesellschaftung der Gattung Mensch ist die einzige Naturbestimmung, die sich nicht als zu eng erweist. Mit dieser Einsicht tritt das Verhältnis Individuum - Kollektiv ins Zentrum der Untersuchung: es ist die Wahrheit der Vereinzelung und Vereinsamung, die am Ausgangspunkt der Untersuchung stand. Es geht nun um die Beschädigungen und Deformationen, denen das Individuum, wie es die bürgerliche Gesellschaft hervorgebracht hatte, durch die neue Qualität der Vergesellschaftung ausgesetzt ist:- Brecht spricht vom Einzug der Menschheit in die großen Städte zu Beginn des 3. Jahrtausends, als epochalem Einschnitt,den nicht erst der am Horizont drohende "kollektivistische Bolschewismus", sondern der Kapitalismus selbst hervorgebracht hat, so wie der kapitalismus selber die kollektivierung der menschen durch depravation und entindividualisierung besorgt und wie zuerst vom kapitalismus selber eine art ’gemeineigentum an nichts’ geschaffen wird, so spiegelt die behavioristische psychologie zunächst nur die gleichgültigkeit der gesellschaft am individuum ab, von dem nur gewisse reflexe wichtigkeit haben, da ja das individuum nur objekt ist. andrerseits ist die zertrümmerung, sprengung, atomisierung der einzelpsyche eine tatsache, d.h. es ist nicht nur eine beobachtungsgewohnheit fehlerhafter art, wenn man diese eigentümliche kernlosigkeit der individuen feststellt, nur bedeutet kernlosigkeit nicht substanzlosigkeit. man hat eben neue gebilde vor sich, die neu zu bestimmen sind. selbst auflösung ergibt nicht nichts. dabei ist ja auch die abgrenzung der einzelpsychen immer noch deutlich wahrnehmbar. auch das neue gebilde reagiert und agiert individuell, einmalig, unschematisch. (8) Das lange Zitat enthält das Entscheidende: Einverständnis heißt nicht: Vernichtung des Individuums. Einverständnis meint den bewussten Nachvollzug einer historischen Veränderung, Aufgeben des illusionären Sich-fest-Klammern an der Vorstellung von der Persönlichkeit des "hier steh ich, ich kann nicht anders"(Luther) vom festgefügten in sich statischen Charakterkopf. Einverständnis ist das Sich-Abfinden mit und Bejahen der neuen allseitigen gesellschaftlichen Abhängigkeit, weil nur von dieser Einsicht aus Eingriffe, bewusstes Handeln möglich werden. Und zentral ist die Aussage: selbst Auflösung ergibt nicht nichts. Der Nullpunkt des Aufgehens im Kollektiv, das Eingehen ins Nichts - das Sterben-lernen, das Einnehmen der kleinsten Größe - mit verschiedenen Termini umschreibt Brecht diesen Punkt - ist nur ein Durchgangspunkt, den durchschritten habend das Individuum seine neue Unentbehrlichkeit im Ganzen - als Teil des Kollektivs entdeckt. Aber das Resultat dieser Bewegung bleibt ambivalent, wie schon die erste vielschichtige Untersuchung in "Mann ist Mann" mit schonungsloser Deutlichkeit zeigt: weder über die Art des Kollektivs noch über die neue Unentbehrlichkeit des ummontierten Individuums lässt sich aus der Dialektik des Einverständnisses etwas ableiten: die Verwandlung des Packers Galy Gay in die blutrünstige Mordmaschine Jeremiah Jeep ist ebenso "drinnen" wie die Erziehung der Pelagea Wlassowa, Witwe eines Arbeiters und Mutter eines Arbeiters zur bewussten Revolutionärin in Brechts Bearbeitung von Gorkis Roman "Die Mutter". Oder eben doch nicht: und dafür wird die Kategorie der Produktivität entscheidend. Das zwiespältige, die faschistische wie stalinistische Entwicklung vorwegnehmende Resultat des Experiments der Ummontierung des Galy Gay liegt in seiner Passivität begründet.("Er wird gelebt.") Sein Einverständnis ist das des Alles-mit-sich-geschehen-lassens, ist das der Bereitschaft, sich als Objekt zu verhalten, einer passiven Billigung von allem, was mit ihm geschieht, wodurch er auch als blutrünstiger Kämpfer der Kolonialarmee willenloses Werkzeug fremder undurchschauter Zwecke bleibt. Dem Einverständnis der Pelagea Wlassowa hingegen liegt die produktive Haltung des "nicht länger Duldens" zugrunde, das Nicht-einverstanden-Sein, nämlich mit den Zuständen, die drohen, ihr nach dem Gatten auch den Sohn zu nehmen. Ihre "Ummontierung" ist ein schrittweiser bewusster Akt der Einordnung in ein Kollektiv, das selbst nicht von außen zusammengehalten (wie die Kolonialarmee) sondern aus der Einsicht in die Notwendigkeit des Zusammenschlusses entsteht. Die Einordnung ins Kollektiv der revolutionären Arbeiter ist bewusstem Widerstand, genauer, immer bewusster werdendem Widerstand der Wlassowa gegen ihre Lage verdankt: von Anfang an von ihr selbst produziert und mitproduziert. Hierin besteht im Kern die Bedeutung der Kategorie der Produktivität für die weitere Entfaltung der Dialektik des Einverständnisses, wie auch der Prozess des Einverständnisses Produktionsbedingung für Produktivität wird. Auch hier könnte man von einer Übertragung einer Kategorie aus der Lehre der Klassiker aufs Verhalten der Einzelnen bei Brecht sprechen. Die Lehre von Marx beruht bekanntlich darauf, dass die Kategorie der Arbeit als konstituierend für den Selbsterzeugungsprozess der Menschengattung erkannt wird. In dieser universelle Geltung beanspruchenden Kategorie der Arbeit als einziger Wesensbestimmung der Gattung Mensch, wodurch zugleich jede Hypostasierung eines "Wesens" des Menschen verworfen wird, fand Brecht eine auch für den Einzelnen praktikable "Bestimmung", die es ermöglichte, über die Ambivalenz der Dialektik des Einverständnisses hinauszugelangen. Daher auch die Reduktion aller ethischen Postulate im Me-ti auf den "einzigen" Du-sollstSatz: "Du sollst produzieren." (12/498 f) Am entscheidenden Punkt der Dialektik des Einverständnisses, wo es fürs Individuum darum geht, die eigene Entbehrlichkeit zu lernen, und das heißt: die kleinste Größe einzunehmen, sterben zu lernen, an diesem Durchgangspunkt sind wir auch auf die Grunderfahrung der Verfremdung gestoßen, wie sie in magischen Ritualen und mythologischer Überlieferung bis hin zu den Grenzerfahrungen der Nachtfahrenden und Hexen weitab vom sublimierten Bereich des Theaters ihre Wurzel hat. Verfremden erschien als das bewusste Fremdmachen der eigenen kulturellen Wirklichkeit, um in dieser Grenzsituation das Bekannte (der eigenen Kultur) erkennen, durchschauen und relativieren zu können; ich glaube tatsächlich, hier an eine Wurzel des Brechtschen Verfremdungsbegriffs gestoßen zu sein, die durch die Rezeption der Verfremdung als VEffekt als bloße Technik der Schauspielkunst bisher verstellt geblieben ist. Schon im Ursprung geht es - in grundsätzlicher Differenz zur Entfremdungsproblematik - um den bewussten Akt der Überwindung von Entfremdung, um ein Bewusstmachen der erlittenen Trennungen, um Verfremdung als Negation der Negation: verstehen - nicht verstehen verstehen, wie es Brecht (15/360) kryptisch genug ausgedrückt hat. Dabei ist es Brecht bewusst, dass Verfremdung als Kunstmittel, als Erkenntnisprozess nicht real existierende Entfremdung aufheben, rückgängig machen kann: aber die Ermöglichung der Einsicht in entfremdete Verhältnisse ist dafür eine wesentliche Voraussetzung: "man muss die versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen bringen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorspielt, forderte bekanntlich der junge Marx.(9) Von da kommt auch der Kategorie Verfremdung konstitutive Bedeutung für die der Produktivität zu. Bekanntlich haben in West und Ost Industriegesellschaften Produktivitätssteigerung als ökonomisches Erfolgskriterium gleichermaßen auf ihre Fahnen geheftet (wenn auch mit gravierend unterschiedlichem Resultat!) und nicht erst durch die ökologische Kritik ist der Produktionsfetischismus verdächtig geworden: wie vorher bei der Formulierung der Dialektik des Einverständnisses resultiert eine Ambivalenz, die auch schon im Faschismus historisch aktualisiert wurde: der Begriff Produktivität sagt über seine Inhalte, also über das, was und zu welchem Zweck produziert wird, zunächst nichts aus. Es gibt keine Automatik im Verhältnis von Produktion und Befreiung. Auch der Faschismus hat die gelähmte Produktion angekurbelt, die Arbeitslosigkeit beseitigt, "Autobahnen gebaut", aber zum Zweck der Destruktion, des Krieges. Als ebenso problematisch erwiesen hat sich der Produktionsfetischismus unter der Fahne des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion, bis hin zur Pervertierung der Freisetzung von Produktivkräften in der Errichtung des die ganze Gesellschaft überziehenden und durchdringenden "Archipel Gulag", dessen Epos wir Alexander Solschenizyn verdanken. Ich glaube, es genügt hier nicht, auf die historischen Faktoren, ökonomische und politische Rückständigkeit Russlands zu verweisen oder die Ambivalenz des Produktivitätsbegriffs mit Hinweis auf die Marx’sche Analyse des Doppelcharakters gesellschaftlicher Arbeit dahingehend abzuspannen, dass es sich um die Folgen der Reduktion konkreter menschlicher Tätigkeit auf quantitativ messbare Verausgabung menschlicher Arbeitskraft handelt; d.h. letzteres dürfte schon unverzichtbar sein, nur müssten konkrete Vermittlungsschritte gezeigt werden, wie sie zur spezifisch menschlichen Produktivität wird. Programmatisch formuliert findet sich die gestellte Aufgabe wiederum beim jungen Marx: "Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht, dass ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben, er also als Kapital für uns existiert oder von uns unmittelbar besessen, gegessen, getrunken, an unserem Leib getragen, von uns bewohnt etc., kurz gebraucht wird. Obgleich das Privateigentum alle diese unmittelbaren Verwirklichungen des Besitzes selbst wieder nur als Lebensmittel fasst und das Leben, zu dessen Mittel sie dienen, ist das Leben des Privateigentums, Arbeit und Kapitalisierung." (10) Marx charakterisiert so die Produktion um der Produktion vielmehr um des Mehrwerts willen als eigentliche Wurzel der Entfremdung: "An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist daher die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Habens getreten. Auf diese absolute Armut musste das menschliche Wesen reduziert werden, damit es seinen inneren Reichtum aus sich herausgebäre." (11) Dabei wird die transitorische Rolle der entfesselten quantitativen Produktion im Kapitalismus anerkannt, um sogleich die qualitative Bedeutung seiner Überwindung hervorzuheben: "Die Aufhebung des Privateigentums ist daher die vollständige Emanzipation aller Sinne und Eigenschaften, aber sie ist diese Emanzipation gerade dadurch, dass diese Sinne und Eigenschaften menschlich, sowohl subjektiv als objektiv geworden sind. Das Auge ist zum menschlichen Auge geworden, wie sein Gegenstand zu einem gesellschaftlichen, menschlichen vom Menschen für den Menschen herrührenden Gegenstand geworden ist. Die Sinne sind daher unmittelbar in ihrer Praxis Theoretikergeworden. Sie verhalten sich zu der Sache um der Sache willen, aber die Sache selbst ist ein gegenständliches menschliches Verhalten zu sich selbst und zum Menschen und umgekehrt. Das Bedürfnis oder der Genuss haben darum ihre egoistische Natur und die Natur ihre bloße Nützlichkeit verloren, indem der Nutzen zum Nutzen geworden ist." (12) Hier liegt nun der eigentliche Zusammenhang von Verfremdung und Produktivität: einerseits ist der Akt des Heraustretens, der Distanzierung selbst eine Produktion, eine Veränderung des Vorgefundenen, auf der anderen Seite kann der Blick von außen, das verfremdende Abstandgewinnen deutlich machen, inwiefern Produktion menschlich geworden ist nicht nur an sich als - Selbsterzeugung, sondern auch reale Aneignung: als Selbstverwirklichung. Noch ein letztes Mal der frühe Marx: "Wir haben gesehen, welche Bedeutung unter der Voraussetzung des Sozialismus die Reichheit der menschlichen Bedürfnisse und daher sowohl eine neue Weise der Produktion als auch ein neuer Gegenstand der Produktion hat. Neue Bestätigung der menschlichen Wesenskraft und neue Bereicherung des menschlichen Wesens." (13) Mit diesen Hinweisen ist die oben angeschnittene Frage (nämlich, ob es nicht bei Marx selbst oder jedenfalls in der marxistischen Tradition einen Produktionsfetischismus gibt) noch nicht beantwortet. Auf die Differenzen zwischen jungem und reifem Marx und erst recht au die wechselvolle Wirkungsgeschichte seines Werks kann und will ich hier nicht genauer eingehen; es wird aber immerhin deutlich, dass dem jungen Marx eine unterschiedslose Anbetung der Produktion fernlag, und ich hoffe im weiteren zeigen zu können, dass Brechts Begriff von Produktivität in der inhaltlichen Entfaltung des "Du sollst produzieren" immer auch ein "Du sollst dich produzieren" und damit die Seite des "erfüllten Tuns", darin auch den sinnlichen Genuss als Kunstgenuss als zur Selbstverwirklichung gehörend, im Auge hatte. A) Du-Ochs-Sätze und Du-Schwein-Sätze Nur widerstrebend ließ Brecht sich auf Erörterungen über Moral und Ethik ein. Man könnte sagen, im ersten Dezennium seiner Tätigkeit als Stückeschreiber behandelte er solche Fragen mehr aussparend und ex negativo, zuerst vom Standpunkt eines pointierten bis zynischen Immoralismus (vom Baal bis zur Hauspostille), ab und zu mit schnoddrigen Bemerkungen die Bürgerwelt schockierend, danach, in der Zeit der Lehrstücke, immer unter dem Gesichtspunkt konkreten Verhaltens, dabei Verallgemeinerungen in der Art kategorischer Imperative tunlichst vermeidend. Es ging ihm gerade darum, die verhängnisvolle Zweiteilung der Vernunft in eine theoretische - des Denkens und eine praktische - des Verhaltens, von der schon Nietzsche gegen Kant einwendet, er hätte "eigens eine Vernunft dafür (erfunden), in welchem Falle man sich nicht um die Vernunft zu kümmern habe, nämlich wenn die Moral, wenn die erhabene Forderung ’du sollst’ laut (werde)"(14) zu überwinden, d.h. vom Denken als einem Verhalten auszugehen und es ständig auf seine Rückführbarkeit auf Verhalten, auf Haltungen zu überprüfen. Der Beifallssturm, mit dem das bürgerliche Publikum den Immoralismus der Dreigroschenoper quittierte (ich habe schon erwähnt, wie sehr Brecht vom durchschlagenden Erfolg seiner Formulierung: "Erst kommt das Fressen, dann erst die Moral" irritiert wurde, und wie dieser ihn anspornte, in weiteren Bearbeitungen den Stoff "unverdaulicher " für den Spießer zu machen - aber auch der Ausgang der "Versuche" der Lehrstücke, die schon besprochene, eigentümliche Ambivalenz der Resultate - sei es in "Mann ist Mann" oder auf andere Weise in der "Maßnahme", führten Brecht auf eine, wenn man will, "zweite Untersuchungslinie", eine Fragestellung, die in der des Badener Lehrstücks: "ob es üblich ist, dass der Mensch dem Menschen hilft"(2/592) schon angelegt war, aber nunmehr ins Zentrum rückt: die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Gutseins, sogleich übersetzt mit: den Bedingungen guten, d.h. menschenwürdigen Lebens, in Richtung der Veränderung der Lebensverhältnisse. In den Lehrstücken geht es zunächst um den Nachweis ständiger Veränderungen und die Forderung nach Änderung der Welt: es geht um die Dialektisierung des Denkens und Verhaltens, um das Aufgebenlernen aller Halte, aller fixierten Standpunkte der Person, des Charakters, darum, dass man nur selbst beweglich, in die Bewegungen der Wirklichkeit einzugreifen imstande ist: es geht um ein Verflüssigen alles Fixen, von dem Hegel in der Vorrede der Phänomenologie spricht: "Die Gedanken werden flüssig, in dem das reine Denken, diese innere Unmittelbarkeit, sich als Moment erkennt, oder indem die reine Gewissheit seiner selbst von sich abstrahiert - nicht sich weglässt, auf die Stelle setzt, sondern das Fixe ihres Sich-selbst-Setzens aufgibt, sowohl das fixe des reinen Konkreten, welches Ich selbst im Gegensatz gegen unterschiedenen Inhalte ist - als das Fixe vom Unterschiedenen, die im Elemente des reinen Denkens gesetzt, an jener Unbedingtheit des Ich Anteil haben."(15) Und dies eben nicht als Gehirnakrobatik des reinen Denkens, sondern als ein Verhalten, das den ganzen Menschen erfasst: als eine Art von Geschmeidigkeitsübungen für den Dialektiker. (16) Daher wird auch schon die Auflösung aller festen Prinzipien vorausgesetzt, bzw. folgt daraus die Unmöglichkeit, aus diesen Stücken eine Moral zu ziehen (wie die Lehrstücke lange missverstanden wurden). So stellt sich auch das Thema des "guten Menschen" zunächst nicht als Zielvorstellung, sondern vielmehr als Kritik: bereits der Packer Galy Gay ist ein "guter Mensch" im Sinn von Schwäche, Harmlosigkeit: ein Mann, der nicht Nein-Sagen kann, und es wird am Prozess seiner Ummontierung gezeigt, wohin bloßes Gutsein in diesem Sinn führt. Fast überflüssig, hier wieder auf Nietzsche zu verweisen, auf den Anstoß, den er der perennierenden Frage nach dem "guten Menschen" bei Brecht gibt: Der "gute Mensch". Oder: die Hemiphlegie der Tugend. - Für jede starke und Natur gebliebene Art Mensch gehört Liebe und Hass, Dankbarkeit und Rache, Güte und Zorn, Jatun und Nein-tun zueinander. Man ist gut, um den Preis, dass man auch böse zu sein weiß; man ist böse, weil man sonst nicht gut zu sein verstünde. Woher nun jene Erkrankung und ideologische Unnatur, welche diese Doppelheit ablehnt - welche als das Höhere lehrt, nur halbseitig tüchtig zu sein? - Diese Unnatur entspricht dann jener dualistischen Konzeption eines bloß guten und eines bloß bösen Wesens (Gott, Geist, Mensch) in ersterem alle positiven, in letzterem alle negativen Kräfte, Absichten, Zustände summierend. - Eine solche Wertungsweise glaubt sich damit ’idealistisch’; sie zweifelt nicht daran, eine höchste Wünschbarkeit in der ’Konzeption des Guten’ angesetzt zu haben. - Sie hält es also nicht einmal für ausgemacht, dass jener Gegensatz von Gut und Böse sich wechselseitig bedinge; umgekehrt letzteres soll verschwinden und ersteres soll übrig bleiben, das eine hat ein Recht zu sein, das andere sollte gar nicht da sein ”Was wünscht da eigentlich!" (17) Aber während in der Dreigroschenoper der "gute Mensch" noch als eine zwar schöne, aber wirklichkeitsfremde Schimäre hingestellt wird: Ein guter Mensch sein! Ja wer wär’s nicht gern? Sein Gut den Armen geben, warum nicht? Wenn alle gut sind ist SEIN Reich nicht fern. Wer säße nicht sehr gern in seinem Licht? … Doch leider sind auf diesem Sterne eben Die Mittel kärglich und die Menschen roh Wer möchte nicht in Fried’ und Eintracht leben? Doch die Verhältnisse, die sind nicht so!(2/430 f) wird daraus in der "Maßnahme" die Forderung nach der Verbesserung, dem Gutmachen, unter Aufgabe des bloßen Gutseins: Ändere die Welt; sie braucht es Mit wem säße der Rechtliche nicht zusammen Dem Recht zu helfen? Welche Medizin schmeckt zu schlecht Dem Sterbenden? Welche Niedrigkeit begingst du nicht, um Die Niedrigkeit auszutilgen? Könntest du die Welt endlich verändern, wofür Wärst du dir zu gut.(2/652) Im Licht der Leninschen Radikalisierung der Moralkritik: "Unsere Sittlichkeit leiten wir von den Interessen des Klassenkampfs ab"(Vgl. 12/477) was zugleich heißt, dass es einer eigenen Sittenlehre nicht länger bedarf, wird ein abstraktes "gutsein", zu einem sich-zu-gut-sein, ein unproduktives Verhalten. Aber im Gegensatz zu Nietzsche, bei dem die Bejahung der Widersprüchlichkeit des Lebens zur Rechtfertigung bestehender Herrschaftsverhältnisse und ihrer Verklärung als Natur umschlägt, geht es Brecht unüberhörbar um die Austilgung der Niedrigkeit, Durchsetzung von Recht, um ein gutes, d.h. ein menschenwürdiges Leben, das nur mit Güte, gutem Zureden, bloßem Gutsein nicht zu erreichen ist. Darin gipfelt die Einsicht der Johanna Dark, aus den Tiefen der Schlachthöfe zurückkehrend, die Aussichtslosigkeit ihres Vermittelns zwischen oben und unten erkennend: Ich zum Beispiel habe nichts getan. Denn nichts werde gezählt als gut, und sehe es aus wie immer, als was Wirklich hilft, und nichts gelte als ehrenhaft mehr, als was Diese Welt endgültig ändert: sie braucht es! Hier wird der kategorische Imperativ der Produktivität bereits deutlich. Es kommt aufs Tun, und zwar allein aufs Tun und seine Resultate an: Wie gerufen kam ich den Unterdrückern! O folgenlose Güte! Unmerkliche Gesinnung! Ich habe nichts geändert. Schnell verschwindend aus dieser Welt ohne Frucht Sage ich euch: Sorgt doch, dass ihr die Welt verlassend Nicht nur gut wart, sondern verlasst Eine gute Welt!(beide Zitate: 2/780) Wir haben früher entziffert, dass es das Einnehmen der plebejischen Perspektive war, womit sich Brecht quer zum Denken Nietzsches stellte. Was Brecht ablehnt, ist die folgenlose Güte, das Hinnehmen menschenunwürdiger Zustände, nicht die Hoffnung auf eine bessere Welt. Über den berühmten Satz "du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst", sagte Me-ti einmal: Wenn die Arbeiter das tun, werden sie niemals einen Zustand abschaffen, in dem man seinen Nächsten nur lieben kann, wenn man sich selbst nicht liebt.(12/476) Im Lichte des Zusammenhangs mit Nietzsche wäre auch das Stück Brechts zu untersuchen, welches den "guten Menschen" explizit zum Thema hat, in welchem "das große Experiment der Götter, dem Gebot der Nächstenliebe das Gebot der Selbstliebe hinzuzufügen, dem "Du sollst zu andern gut sein", das "Du sollst zu dir selber gut sein", das die Fabel beherrscht, quasi nachvollzogen wird. (18) Ich spreche vom Parabelstück "Der gute Mensch von Sezuan", das manche Kritiker auch für das vollendete Stück des Parabeltypus halten.(19) Vielleicht von einem frühen Entwurf her, der von 1926 stammt, ist zu erklären, dass es in manchem direkt an "Mann ist Mann" anknüpft: Die Untersuchung wird noch einmal aufgenommen. Wie der Packer Galy Gay ist Shen Te zunächst dadurch charakterisiert, dass sie eine ist, "die nicht nein sagen kann.(4/1494) Aber während die Ummontierung Galy Gays den Gang der Handlung des Lustspiels von 1925 bestimmt, bildet die Aufspaltung Shen Tes in sich selbst und in ihr ’alter ego’, den bösen Vetter Shui Ta als Notlösung, weil es ihr nicht gelingt, zu sich und zu anderen gut zu sein, selbst nur eine Voraussetzung, deren Möglichkeit gar nicht in Frage gestellt wird. Allerdings zeigt sich: "Der Vetter soll immer nur für kurz, nur noch einmal kommen, und am Schluss ist nur er mehr da."(20) "Der Prozess des guten Menschen: ein Prozess der Götter" notiert Brecht in den Arbeitsnotizen. (21) Er greift auf biblische Vorbilder (Geschichte Hiob, Abraham und der Untergang von Sodom und Gomorrha) zurück: drei der obersten Götter kommen nach Sezuan, in "eine chinesische Vorstadt mit Zementfabriken und so weiter. Da sind noch Götter und schon Flugzeuge."(22) Man könnte heute sagen, in eine Stadt der Dritten Welt (und Brecht verabsäumte nicht, später hinzuzufügen: Die Provinz Sezuan der Parabel, die für alle Orte stand, an denen Menschen von Menschen ausgebeutet werden, gehört heute nicht mehr zu diesen Orten.(23) (auch nicht mehr wahr...) Sie suchen gute Menschen aufgrund eines Beschlusses der Götter: "die Welt kann bleiben wie sie ist, wenn genügend gute Menschen gefunden werden, die ein menschenwürdiges Dasein leben können."(4/1492) In der Bibel handelt Abraham bekanntlich mit den Engeln des Herrn über die Anzahl der notwendigen Gerechten, um den Untergang von Sodom abzuwenden. Bei Brecht setzen die Götter selbst ihre Forderung herab, nur um die Welt nicht ändern zu müssen. Shen Te, weil sie nicht nein sagen kann, nimmt sie für eine Nacht auf, und mit dem Geschenk der Götter, 1000 Silberdollar, die sie als Bezahlung für das Nachtlager erhält, kann sie einen kleinen Laden kaufen und glaubt nun, zu sich und zu anderen gut sein zu können. Aber es misslingt: Der Rettung kleiner Nachen Wird sofort in die Tiefe gezogen Zu viele Versinkende Greifen gierig danach.(4/1508) Nur das Auftauchen des zuerst von Shen Te als Notlüge erfundenen Vetters Shui Ta verhindert den Untergang. Er greift hart und unbarmherzig durch, verjagt die Hilfesuchenden, liefert sie der Polizei aus, begeht Verrat, betrügt, unterschlägt - kurz, er macht all das Böse, was Shen Te nicht übers Herz brachte. Damit personifiziert Brecht nicht einfach wieder den alten Dualismus Gut - Böse, in dem er ihn in die Extreme zerfallen vorführt, sondern untergräbt - weil ja dem Zuschauer das Rollenspiel Shen Tes nicht verborgen wird, im Sinne der Lehrstücke die Vorstellungen von gut und böse als Charaktereigenschaften, es wird durchsichtig, dass es sich um von den jeweiligen Bedingungen abhängige Haltungen handelt: "Sie ist also nicht stereotyp gut, ganz gut, in jedem Augenblick gut, auch als Li Gung (Shen Te) nicht. Und Lao Go (Shui-Ta) ist nicht stereotyp böse und so weiter. Das Ineinanderübergehen der beiden Figuren, ihr ständiger Zerfall usw. scheint nun halbwegs gelungen." (24) Brecht hütete sich auch in der Parabel davor, aus den Figuren bloße Ideenträger werden zu lassen, den lebendigen Widerspruch aus ihnen zu entfernen, und es darf nicht vergessen werden, dass es Shen Te schwer fällt, den bösen Vetter zu spielen: Die Maske des Bösen An meiner Wand hängt ein japanisches Holzwerk Maske eines bösen Dämons, bemalt mit Goldlack. Mitfühlend sehe ich Die geschwollenen Stirnadern, andeutend wie anstrengend es ist, böse zu sein.(9/850) Hier wird nun so etwas wie eine Naturkategorie des Guten deutlich, eine dem menschlichen Wesen inhärente Güte, von der auch Shen Te spricht, als sie den Flieger Sun kennenlernt und ihn vom Selbstmord abhält: Es gibt noch freundliche Menschen, trotz des großen Elends. Als ich klein war, fiel ich einmal mit einer Last Reisig hin. Ein alter Mann hob mich auf und gab mir sogar einen Käsch. Dran habe ich mich oft erinnert. Besonders die wenig zu essen haben, geben gerne ab. Wahrscheinlich zeigen Menschen einfach gern, was sie können, und womit könnten sie es besser zeigen, als indem sie freundlich sind? Bosheit ist bloß eine Art Ungeschicklichkeit. Wenn jemand ein Lied singt oder eine Maschine baut oder Reis pflanzt, das ist eigentlich Freundlichkeit. (4/1525) Aber diese Güte und Freundlichkeit ist nichts von Natur und vorhandenes, keine Naturbestimmung von ontologischem Rang, sondern untrennbar mit Produktivität, produktiv sein und machen verbunden, es ist einfach die Möglichkeit, seine Kräfte zu entfalten. Daher ist es auch unnötig oder sogar schädlich (heute noch) Morallehren und "Du sollst Sätze" aufzustellen: "Es gibt wenige Beschäftigungen," sagte Me-ti, "welche die Moral eines Menschen so beschädigen wie die Beschäftigungen mit Moral: Ich höre sagen: Man muss wahrheitsliebend sein, man muss seine Versprechen halten, man muss für das Gute kämpfen. Aber die Bäume sagen nicht: Man muss grün sein, man muss die Früchte senkrecht zu Boden fallen lassen, man muss mit den Blättern rauschen, wenn der Wind durchgeht."(12/504) Hier trifft sich Brecht wieder mit Nietzsche, der das gleiche Bild knapper, aber auch abstrakter gebraucht hat: Ein Mensch wie er sein soll: das klingt uns so abgeschmackt wie: ’ein Baum, wie er sein soll. (25) Brecht ruft mit dem Hinweis aufs Newtonsche Gravitationsgesetz (Newtons berühmter Apfel!) und die Bewegung des Windes zugleich die natürlichen Determinanten anorganischer wie organischer Natur ins Gedächtnis, um nur die "gröbsten" ins Auge fallenden zu nennen, die von da her schon ethische Normierungen fragwürdig machen. Es wird deutlich: so - als moralische - ist die Frage falsch gestellt. Die Geschichte der Verbreitung der Lehren der Klassiker, des wissenschaftlichen Sozialismus, ist ziemlich von den Anfängen an gekennzeichnet von den Versuchen frisch gewonnener Anhänger, vor allem aus den Reihen der Intellektuellen, einem vermeintlichen Mangel des Marxismus abzuhelfen, nämlich der fehlenden Sittenlehre, der Ethik. Von den Neukantianern der Marburger Schule, über Vertreter des Austromarxismus wie Max Adler bis zu den Programmschreibern der KPdSU, die unter Chruschtschow Grundsätze kommunistischer Moral ins Parteiprogramm aufnahmen, reicht die sehr heterogene und von den verschiedensten Motiven zeugende Liste der Versuche, die "schmerzlich empfundene" Lücke im Werk von Marx und Engels zu schließen. Als Brecht nun in der Emigration einen deutschen Schauspieler namens Greid traf, der wie etliche vor ihm, sich darum bemühte, den Marxismus um eine Ethik zu bereichern, sah sich Brecht veranlasst, sich explizit und ausführlich mit Fragen der Ethik zu befassen. Die Diskussionen gaben für Brecht einiges her für das Me-ti-Projekt, und diesem Umstand verdanken wir auch ein Kabinettstück materialistischer Kritik von Ethik(en), das Brecht im Arbeitsjournal notierte: ”wir untersuchen einige dieser soll- und darf-sätze, gesellschaftliches verhalten betreffend, die aus alten ethiken (ihm den plural aufzuzwingen war schwer) stammen oder in ihnen jedenfalls vorkommen. am schluss schlage ich ihm eine praktische formel vor. im interesse des klassenkampfs sind vorkommende soll- und darf-sätze, die ein ’du schwein’ enthalten, zu verwandeln in sätze, die ein ’du ochs’ enthalten. Sätze, welche ein ’du schwein’ enthalten und nicht in ’du ochs’-sätze überführt werden können, müssen ausgeschaltet werden. beispiel: der satz ’du sollst nicht mit deiner mutter schlafen’ war einst ein ’du-ochs’-satz, denn in einer frühen gesellschaftsordnung bedeutete er große verwirrung in den besitz- und produktionsbedingungen. was das betrifft, ist er heute kein ’du ochs’-satz mehr, nur noch ein ’du schwein’-satz. im grunde müsste also der satz fallengelassen werden. das kämpfende proletariat wird ihn jedoch unter umständen verwenden als einen ‘du ochs’-satz, und zwar etwa so: ’du ochs sollst nicht mit deiner mutter schlafen, weil deine mitkämpfer hier vorurteile haben und dein kampf dadurch gefährdet sein kann, auch weil die gerichte dich sonst einsperren.’ man sieht schnell, wie verhältnismäßig unsittlich diese formulierungen sind, da ihnen eigentümliche unsachlichkeit anhaftet, die den ethiker abstößt. der grund ist natürlich der, dass die sache, von der aus argumentiert werden könnte, verschwunden ist (die besitzund produktionsbeziehungen) und nunmehr die ’sache’ einfach ethisch geworden ist. (26) Hier wird, so hoffe ich, auch deutlich, was Brecht damit meint, wenn er von "praktikablen Definitionen" spricht, zu denen zu gelangen es gelte. Zugleich aber kehren wir mit einer praktikablen Definition zum Ausgangspunkt zurück: "Unter sittlichem Verhalten kann ich nur ein produktives Verhalten verstehen. Die Produktionsverhältnisse sind die Quellen aller Sittlichkeit und Unsittlichkeit."(12/477) Brecht fruktifiziert also den von Nietzsche her stammenden Verdacht gegenüber aller mit überzeitlichem Geltungsanspruch auftretenden Morallehren, auch er fragt nach dem Nutzen, den dahinter stehenden Absichten und Wertungen, nun aber nicht im Sinne einer Menschenzüchtung (contra Herdenmoral!), sondern im Sinne der Produktionsverhältnisse, welche Eigentumsverhältnisse und damit Klasseninteressen einschließen. Dennoch laufen solche Definitionen in ihrem großen Abstraktionsgrad Gefahr, sich für den Einzelnen wiederum als nicht "praktikabel" zu erweisen, da der Einzelne als Einzelner nicht imstande ist, etwa Produktionsverhältnisse weltweiten Ausmaßes, denen er ausgesetzt ist, so ohne weiteres umzuwälzen, d.h. auf Grund solcher Definitionen sein Handeln, sein Verhalten zu bestimmen. So geht es Brecht auch darum, aus diesen Erkenntnissen Fingerzeige für das Verhalten des Einzelnen abzuleiten. So reflektiert er auch die Auswirkungen der heute herrschenden Produktionsweise auf die Produktivität der Einzelnen: Die Produktion wird durch die Arbeitsteilung, wie sie bei uns herrscht, zu einem System, das die Produktivität hemmt. Die Menschen behalten sich nichts mehr vor. Sie lassen sich abstempeln. Die Zeit wird ausgenutzt, da bleibt keine Minute für das Unvorhergesehene. Man verlangt viel. Aber das Nichtverlangte bekämpft man. Die Menschen haben so nichts Unbestimmtes, Fruchtbares, Unbeherrschbares mehr an sich. Man macht sie bestimmt, festumrissen, verlässlich, damit sie beherrschbar sein sollen.(12/528 f) Brecht spricht hier ausdrücklich nicht von den Eigentumsverhältnissen, also von kapitalistischer Produktion, sondern von der Arbeitsteilung., die ja auch nach der Machtergreifung des Proletariats und seiner Partei zunächst beibehalten, ja in Ländern wie Russland erst mit der Industrialisierung enorm vorangetrieben werden musste. Anders als in den frühen Zwanzigerjahren, wo er die Ford’sche Fließbandproduktion als bolschewistische Organisation ansah und die vor sich gehende Kollektivierung (auch unter dem Kapitalismus) rückhaltlos unterstützt hatte, formuliert er hier Zweifel, die erst auf Grund der Enttäuschungen revolutionärer Hoffnungen angesichts der Entwicklung in der Sowjetunion und der akuten Probleme ökologischer Natur in allen Industriestaaten in den letzten Jahren langsam auch in Diskussionen der Linken eindringen, Zweifel nämlich daran, ob man alles der gesellschaftlichen Produktion unterordnen dürfe, bzw. wie im Entfalten der Produktivität im großen auch die Produktivität der Einzelnen zu ihrem Recht kommt: wenn man alle sittlichkeit von der produktivität ableitet und das höchste darin sieht, dass die produktivität der ganzen menschheit groß entfaltet wird, muss man achtgeben, dass der bann von der bloßen existenz, ja vom widerstand gegen die verwertung genommen wird. ich liebe: ich mache die geliebte person produktiv; ich baue an einem auto: ich mache die fahrer fahren; ich singe: ich veredle das gehör des hörers usw. usw. aber dann muss die gesellschaft begabt sein, alles zu verwerten, sie muss ein solches ’Kapital’ von schon produzierten, eine solche fälle von angeboten haben, dass die produktion des einzelnen gleichsam ein übriges, sozusagen unerwartetes ist. ist die produktivität das höchste, dann behält der streik seine ehre (im ästhetischen bereich ist es bereits so. der asoziale erfreut ebenfalls; es wird als genügend angesehen, dass er ‘sichproduziert’.(27) Man könnte zusammenfassend formulieren: der Satz "Du sollst produzieren" erlangt nur dann seine volle Gültigkeit, wenn er ein "Du sollst dich produzieren" im obigen Sinne miteinschließt, und die Produktion nicht als fremde Macht gegenüber dem Einzelnen fixiert bleibt. Denn nur dann schließt er auch die Güte mit ein: Keinen verderben zu lassen, auch nicht sich selber Jeden mit Glück zu erfüllen, auch sich, das Ist gut.(4/1553) Als Brecht dies schrieb, befand er sich im siebenten Land des Exils, seit ihn die Machtergreifung des Hitlerfaschismus aus Deutschland vertrieben hatte. Der Anstreicher eilte von Sieg zu Sieg ... ... Im Lautsprecher Höre ich die Siegesmeldungen des Abschaums. Neugierig betrachte ich die Karte des Erdteils. Hoch oben in Lappland Nach dem nördlichen Eismeer zu Sehe ich noch eine kleine Tür. (9/819) Den hier im Interesse der überkommenen Eigentumsverhältnisse zur Macht gekommenen destruktiven Mächten in den Arm zu fallen, war die Aufgabe, der Brecht seine und nicht nur die eigenen Produktivität unterordnete. Benjamin berichtet aus Svendborg, dass Brecht im August 1938 an eine geschichtslose Epoche (denkt), deren Eintreten er für wahrscheinlicher hielt als den Sieg über den Faschismus. (28) Der Kampf um die Überwindung der Hitlerherrschaft war für ihn weltgeschichtlich Voraussetzung sine qua non für die weitere Entfaltung menschlicher Produktivität: "In dem Kampf gegen sie darf nichts ausgelassen werden. Sie haben nichts Kleines im Sinn. Sie planen auf dreißigtausend Jahre hinaus. Ungeheures. Ungeheure Verbrechen. Sie machen vor nichts halt. Sie schlagen auf alles ein. Jede Zelle zuckt unter ihrem Schlag zusammen. Darum darf keine von uns vergessen werden. Sie verkrümmen das Kind im Mutterleib. Wir dürfen die Kinder auf keinen Fall auslassen." (29) Und Benjamin notiert dazu: Während er sprach, fühlte ich eine Gewalt auf mich wirken, die der des Faschismus gewachsen ist; ich will sagen eine Gewalt, die in nicht minder tiefen Tiefen der Geschichte entspringt als die faschistische. Es war ein sehr merkwürdiges mir neues Gefühl. (30) B) Sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen Inhalte folgen demnächst C) Interruptus und Schluss Und dennoch: wir machen Kunst. Wir werfen das Fleisch auf den Hauptplatz. Wir retten unsere Phantasie. Robert Schindel: Die Geschichte des Onan (76) Als ich mit meiner Arbeit bis zum Beginn des Kapitels über Faschismuskritik und TUIProblematik bei Brecht gekommen war, geriet sie nachhaltig ins Stocken. Die (geplanten) letzten dreißig Seiten vor Augen, schien alles bis dahin zusammengetragene und formulierte mir nur mehr als ein Herauszupfen einiger weniger Fäden aus dem Riesenknäuel der verschlungenen, sich immer noch als differenzierter erweisenden, sich ständig in wechselndem Licht zeigenden philosophischen Überlegungen und Experimente Brechts. Diese Fäden hatte ich nur unsystematisch, so schien es mir und fast zufällig aufgegriffen und dann gleich wieder fallengelassen. Fast ein Jahr lang brauchte ich, um das Material, das sich zu einem neuen Projekt auszuwachsen drohte, einigermaßen zu strukturieren und meinem ursprünglichen Plan folgend, die Kapitel über Faschismus und TUI-Kritik fertigzustellen. In diesem Zusammenhang wurde mir unter anderem deutlich, dass ich eigentlich, ohne es so geplant zu haben, bei den Versuchen, dem Dialektiker Brecht auf die Schliche zu kommen, die Querverbindungen zu dem "großen Humoristen", als den er gelegentlich Hegel apostrophiert, zwischen Nietzsche, Marx und Lenin aus den Augen verloren bzw. weitgehend ausgespart hatte. Eine im Rahmen meiner Vorlesungen aufgenommene, intensivere Beschäftigung mit Hegels Rechtsphilosophie bestärkt mich inzwischen darin, den im Rahmen dieser Arbeit nur gestreiften Fragen zur Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und des modernen Staates, der Rolle der Intellektuellen in spätkapitalistischen und Übergangsgesellschaften, dem Verhältnis der Wissenschaften zur Entfaltung und Befreiung von Produktivität, in einer nächsten, an diese anschließende Untersuchung nachzugehen. Eine vorläufige These wäre, dass Brecht sich experimentell vortastend, gerade in der extremsten Verflüssigung des Denkens, der ans Paradoxe streifenden Geschmeidigkeit der Begriffe, mehr intuitiv als durchs exakte Studium, sich Hegel annäherte. Von solchen Überlegungen ist in die vorliegende Arbeit noch kaum etwas eingegangen. Natürlich kam ich auf Hegel bei Brecht zu sprechen, aber mehr gelegentlich und eigentlich stand er mehr hinter dem systematischen bzw. kategorialen Gerüst dieser Versuche. An dieser Stelle sollte, nach meinem ursprünglichen Plan, die Negation der Negation auf die Darstellung der destruktiven Kräfte, welche der Entfaltung gesellschaftlicher Produktivität hinderlich im Wege stehen, ein "positives" Schlusskapitel folgen, in welchem auch bisher unberücksichtigt gebliebene Auseinandersetzungen mit der Philosophie Brechts behandelt werden sollten.(77) Vermittelt und entfaltet werden sollte die Brechtsche Kategorie der Produktivität mit seinem, ihn vielleicht am deutlichsten von Adorno und den anderen "Frankfurtisten" unterscheidenden historischem Optimismus, seinem Vertrauen in die Kraft der einfachen Leute, der "Niederen", der "Untengehaltenen". Als mögliche Titel für diesen Abschnitt boten sich alternativ "Alles Neue ist besser als alles Alte" und "Man lebt für das Extra", letzteres ein Zitat aus: "Die Tage der Commune", wo der alte Revolutionär "Papa" eine Rede hält über die Frage: "Denn wozu lebt man eigentlich?"(5/2148) Das "Extra", die "Wachteln zum Frühstück", und der "Schnittlauch auf dem Salat", der Anspruch auf Luxus, bisher den Herrschenden vorbehalten, wird für alle eingefordert und verbindet sich als "überschießende und überschüssige Produktivität" mit Brechts Begriff von Kunst als einem "ursprünglichen Vermögen der Menschheit", welches durch revolutionäre Praxis erst umfassend freizusetzen wäre. Kunst als übers "Reich der Notwendigkeit", der bloßen Reproduktion der Gattung hinauszielende, überquellende Produktion und zugleich nicht mehr als Privileg einiger Weniger deformierte und entstellte Selbstreflexion der Gattung, als "fröhliche Kritik" und "eingreifendes Denken" umfassende Ausdrucksform des "wissenschaftlichen Zeitalters", sollte sich im Fortgang der Darstellung als Resultat der Entwicklung der Kategorie der Produktivität in Brechts Philosophieren ergeben. Die Gestalt des kleinen, dicken Glücksgottes Baal als nicht zufällig fragmentarisch gebliebene, von Brecht nur mehr skizzierte, letzte Metamorphose, der das gesamte Werk durchziehenden dionysischen Baalsfigur, sollte ebenso die Erlösung des Denkens von der Abstraktion der reinen Gedanken, sein Herabsteigen in die niederen Regionen der Sinnlichkeit demonstrieren: Ich bin der Gott der Niedrigkeit Der Gaumen und der Hoden Denn das Glück liegt nun einmal, tut mir leid Ziemlich niedrig am Boden.(10/892) - habe ich voraus laufend schon am Anfang der Arbeit zitiert, wie Brechts Vertrauen in das "unvertilgbare Glücksverlangen der Menschen". Der Baalsfigur zur Seite gestellt werden sollte als quasi symmetrisches Pendant die Figur der Lai-tu, der Schwester und Schülerin Kin-jehs und Me-tis, aus dem "Buch der Wendungen", gleichsam stellvertretend für so viele Figuren spezifisch weiblicher Produktivität bei Brecht. Im "Buch der Wendungen" bilden die "Lai-tu-Geschichten" einen eigenen Komplex, der sich mit Winken für die Einzelnen im Verhalten zueinander innerhalb der Entfaltung der Kategorie der Produktivität beschäftigt. Programmatisch heißt es an einer Stelle: Freiheit, Güte, Gerechtigkeit, Geschmack und Großzügigkeit sind Produktionsfragen, sagte Me-ti zuversichtlich. (12/478) Brechts Vorschlägen und Überlegungen über die "dritte Sache" und "die Liebe als große Produktion" wäre hier nachzugehen, um abschließend die Frage aufzuwerfen: "Wie heute produktiv von Brecht lernen?", die ich mit einem Exkurs über die Arbeit von Jean-Luc Godard beantworten wollte. Der als francophoner (Westschweizer) Filmemacher viellreicht leichter als deutschsprachige Schriftsteller oder Dichter mit Brecht sich auseinandersetzen konnte, ohne seinem Sog zu erliegen, wie es bei Brechts treuesten Schülern oftmals geschah, (bei einem Vergleich Godards etwa mit Alexander Kluge wird das deutlich) - Aber "alles das kann ich nicht" ausführen. Zu den sachlichen, aus der Einsicht ins prinzipiell "unfertige", offene, das Fertigwerden vermeidende der Brechtschen Arbeits- und Denkweise sich ergebenden Beweggründen, hier diese Versuche einer Annäherung an Brechts Philosophieren abzubrechen, kommt ein persönlicher: Einer der Herausgeber der "Klagenfurter Beiträge zur Philosophie", mein Kollege Jakob Huber, ist kurz nach der Fertigstellung seiner Habilitationsschrift und Beendigung des Habilitationsverfahrens, noch nicht 35 Jahre alt, am Beginn des Jahres 1982 an einer verborgenen - wie man dann hilflos sagt: "heimtückischen" - Krankheit gestorben. Warum ich an dieser Stelle davon spreche: Es ist, weil ich eine Dankesschuld an ihn anders nicht mehr abstatten kann: Als die Reihe der "Klagenfurter Beiträge zur Philosophie" gerade erst konzipiert wurde, machte er mir den Vorschlag zu dieser Veröffentlichung und bis zuletzt hat er mir diese Arbeit mit freundlichem Nachdruck abverlangt. Dafür möchte ich ihm hier danken. Auch hier nochmals ein kurzes Postscriptum. Die 1982 angekündigte weitere Arbeit zu Brecht hat nach weiteren vier Jahren 1986 nicht gerade das Licht der Welt erblickt, aber immerhin das der universitären Öffentlichkeit als meine Klagenfurter Habilitationsschrift unter dem Titel "Philosophieren als Theater. Neue Versuche über die Philosophie Bertolt Brechts". Zum 100. Geburtstag Brechts wollte ich auch mit der Umarbeitung dieser Rohfassung in ein lesbares Buch fertig werden, eigentlich wollte ich beide nun schon gut abgelegenen Versuche gemeinsam ins Internet stellen; ich fürchte ich muss nun froh sein, wenn ich die deadline des 14. August 1998 einhalten kann; das Schlussgedicht des Bandes von 1982 passt - wie gute Literatur überhaupt - noch immer: Einmal, wenn da Zeit sein wird Werden wir die Gedanken aller Denker aller Zeiten bedenken Alle Bilder aller Meister besehen Alle Spaßmacher belachen Alle Frauen hofieren Alle Männer belehren. (10/1027) Literaturverzeichnis Ich begnüge mich auf die Angabe der von mir verwendeten, zitierten oder erwähnten Literatur. Ich habe an einigen Stellen darauf hingewiesen, dass ich es nicht für sinnvoll halte, was den Apparat betrifft, enzyklopädische Vollständigkeit anzustreben. A) Verwendete Brechtausgaben Brecht Bertolt. Gesammelte Werke in 20 Bänden. Werkausgabe Edition Suhrkamp. Ffm. 1967 zitiert Bandzahl/Seitenzahl Brecht Bertolt. Arbeitsjournal in 2 Bänden und 1 Anmerkungsband. Hrsg. von W. Hecht. Ffm. 1973 Brecht Bertolt. Tagebücher 1920 - 1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920 - 1954. Hrsg. von Herta Ramthun. Ffm. 1975 Brecht Bertolt. Texte für Filme. 2 Supplementbände zur Werkausgabe. Ffm. 1969 Brecht Bertolt. Versuche 1 - 37. Reprint 1977 Ffm. Brecht Bertolt. Hundert Gedichte. Berlin 1951 Brecht Bertolt und Mitarbeiter. Theaterarbeit. Berlin 1952 Brecht Bertolt. Briefe. Hrsg. und kommentiert von Günter Glaeser. Ffm. 1981 Bertolt-Brecht-Archiv. Mappen. Vgl. H. Ramthun. Bestandsverzeichnisse Brecht Bertolt. Baal. Drei Fassungen. Kritisch ediert und kommentiert von Dieter Schmidt. Ffm. 1966 Brecht Bertolt. Baal. Der böse Baal der asoziale. Texte, Varianten, Materialien. Kritisch ediert und kommentiert von Dieter Schmidt. Brecht Bertolt. Die Maßnahme. Texte und Materialien. Kritische Ausgabe. Hrsg. Reiner Steinweg. Ffm. 1972 B) Sekundärliteratur zum Thema Philosophie Brechts bzw. bei Brecht Anders Günter. Bertolt Brecht. Gespräche und Erinnerungen. Zürich 1962 Arendt Hannah. Benjamin, Brecht. Zwei Essays. München 1971. Vgl. Anm. 362 Benjamin Walter. Versuche über Brecht. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Ffm. 1966 Benjamin Walter. Einbahnstraße. Ffm. 1955 Benjamin Walter. Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Mit einem Nachwort von Herbert Marcuse. Ffm. 1965. Darin: die sogenannten "Geschichtsphilosophischen Thesen", wie Brecht vermutete, aus den letzten Gesprächen zu Brechts Cäsarroman hervorgegangen, oder davon inspiriert (vgl. AJ. Bd. 1. S. vom August 41) Bloch Ernst. Ein Leninist der Schaubühne. 1938 abgedruckt in Aufbau 12. 1956 Bloch Ernst. Lied der Seeräuberjenny in der Dreigroschenoper (1929) in: Ästhetik des Vorscheins. Hrsg. von Gert Ueding. Ffm. 1974 Bloch Ernst. Erbschaft dieser Zeit. 1935 erstmals erschienen. Böckmann Paul. Provokation und Dialektik in der Dramatik Bertolt Brechts. Köln 1961 Brandt Thomas. Die Vieldeutigkeit Bertolt Brechts. Heidelberg 1968. Sammlung von Bibelzitaten Brechts Brenner Hildegard. Die Fehldeutung der Lehrstücke. In: Alternative 78/79. Berlin 1971. Unterstützung für Steinwegs Lehrstückthesen. Brüggemann Heinz. Literarische Technik und soziale Revolution. Versuche über das Verhältnis von Kunstproduktion, Marxismus und literarischer Tradition in den theoretischen Schriften Bertolt Brechts. Hamburg 1973. Bunge Hans. Fragen Sie mehr über Brecht. Hanns Eisler im Gespräch. München 1970 Buck Theo. Brecht und Diderot oder Schwierigkeiten mit der Nationalität in Deutschland. Tübingen 1971 Buono Franco. Zur Prosa Brechts. Ffm. 1973 Celan Paul. Gedichte I und II. Ffm. 1975 Claas Herbert. Die politische Ästhetik Bertolt Brechts vom Baal zum Cäsar. Ffm. 1977 Duerr Hans-Peter. Traumzeit. Ffm. 1978; hat mit Brecht als Philosophen nur indirekt zu tun; immerhin hat mich der Gebrauch des Terminus Verfremdung bei ihm wieder zu Brecht zurückgeführt. (Retourfahrkarte!) Eisler Hanns. Gespräche mit Hans Bunge. Fragen Sie mehr über Brecht. Schriften und Dokumente Bd. 6. München 1976 Esslin Martin. Bertolt Brecht. Das Paradox des politischen Dichters. 2. Auflage. München 1972 Frisch Werner/K.W.Obermeier unter Mitarbeit von Gerhard Schneider. Brecht in Augsburg. Erinnerungen, Texte, Fotos, Berlin und Weimar 1975. Vgl. Anm. Grimm Reinhold. Bertolt Brecht. Bibliographie. 3. Auflage. Stuttgart 1971 Grimm Reinhold. Brecht und Nietzsche. Geständnisse eines Dichters. Fünf Essays und ein Bruchstück. Ffm. 1979 Grimm Reinhold. Dionysos und Sokrates. Nietzsche und der Entwurf eines neuen politischen Theaters. In: Karl Marx und Friedrich Nietzsche. Acht Beiträge. Hrsg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand. Königstein/Ts. 1978. (Es wäre müßig, sämtliche Publikationen Grimms zu Brecht hier aufzählen oder referieren zu wollen. Soweit es das Thema direkt betrifft, ist es im Text geschehen. Indirekt sind auch etliche frühere Arbeiten Grimms mit hineinverarbeitet.) Guillemin Bernard. Was arbeiten Sie? Gespräch mit Bertolt Brecht; in Erinnerungen an Brecht. Leipzig 1964 Haug Wolfgang Fritz. Brechts Beitrag zum Marxismus. In: Argumente Sonderband (AS 50). S. 7 Hecht Werner. Brechts Weg zum epischen Theater. Berlin 1962 Heinrich Klaus. Versuch über die Schwierigkeit Nein zu sagen. Ffm. 1964; die dort entfaltete Analyse der Figur und Problematik des Herrn Keuner ist leider hier viel zu kurz gekommen Kesting Marianne. Bertolt Brecht. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1959 Knopf Jan. Bertolt Brecht. Ein kritischer Forschungsbericht. Fragwürdiges in der Brechtforschung. Ffm. 1974 Knopf Jan. Bertolt Brecht Handbuch. Theater. Stuttgart 1980 Knopf Jan. Eingreifendes Denken als Realdialektik. In: Argument Sonderband "Zur Aktualität Bertolt Brechts" AS 50. S. 57 Kaufmann Hans. Bertolt Brecht. Geschichtsdrama und Parabelstück. Berlin 1962 Koch Hans. Marxismus und Ästhetik. Zur ästhetischen Theorie von Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Iljitsch Lenin. Berlin 1962 Korsch Karl. Marxismus und Philosophie. Ffm. und Wien 1966 Lacis Asja. Revolutionär im Beruf. Berichte über proletarisches Theater, über Meyerhold, Brecht, Benjamin und Piscator. München 1971 Lehmann Hans-Thies/Lethen Helmut. Bertolt Brechts Hauspostille. Text und kollektives Lernen. Stuttgart 1978 Ludwig Karl-Heinz. Bertolt Brecht. Philosophische Grundlagen und Implikationen seiner Dramaturgie. Bonn 1975 Lukacs Georg. Die Zerstörung der Vernunft. Berlin 1954 Lukacs Georg. Probleme des Realismus. Berlin 1955 Lukrez (Titus Lucretius Carus). De rerum natura. Lat. u. dt. Hrsg. u. übers. v. Karl Büchner. Zürich 1956 Lüthy Georg. Vom armen Bert Brecht. In: Der Monat 1952, 44. S. 115 f Marsch Edgar. Brecht-Kommentar zum lyrischen Werk. München 1974 Mayer Hans. Brecht in der Geschichte. Ffm. 1971 Mennemeier Franz Norbert. Modernes Deutsches Drama I. München 1973 Mittenzwei Werner. Bertolt Brecht. Von der "Maßnahme" zu "Leben des Galilei". Berlin und Weimar 1965. Mittenzwei Werner. Brechts Verhältnis zur Tradition. Berlin 1973. Müller Klaus-Detlef. Die Funktion der Geschichte im Werk Bertolt Brechts Müller Klaus-Detlef. Der Philosoph auf dem Theater. Ideologiekritik und "Linksabweichung" in Bertolt Brechts "Messingkauf". In: Zu Bertolt Brecht. Parabel und episches Theater. Hrsg. von Theo Buck. Stuttgart 1979. S. 84 ff Müller Klaus Detlef. Brecht Kommentar zur erzählenden Prosa. München 1980 Münsterer Hans-Otto. Bert Brecht. Erinnerungen und Gespräche aus den Jahren 1917- 1922. Zürich 1963 Ramthun Herta. Bertolt Brecht Archiv. Bestandsverzeichnis des literarischen Nachlasses. Bearb. v. Herta Ramthun. Berlin und Weimar 1969. Bd. 1-3 Rasch Wolfdietrich. Bertolt Brechts marxistischer Lehrer. In: Merkur 1963. 10. S. 988 ff Riedel Manfred. Brecht und die Philosophie. In: Neue Rundschau. 82. Jg. 1971. 1. Ffm. 1971. S. 65 ff Ritschbieter Henning. Bertolt Brecht. 2 Bände. Velber 1968 Rosenbauer Hansjürgen. Brecht und der Behaviorismus. Bad Homburg 1970 Rühle Jürgen. Literatur und Revolution. Die Schriftsteller und der Kommunismus. Ffm. Wien, Zürich 1963 Rülicke-Weiler Käthe. Die Dramaturgie Brechts. Theater als Mittel der Veränderung. Berlin 1968 Schindel Robert. Bertolt Brecht, der Dichter und Volksbildner. Unveröff.Masch.Manuskript. Wien 1979 Schuhmann Klaus. Der Lyriker Bertolt Brecht 1913 - 1933. Berlin 1964 Schumacher Ernst. Die dramatischen Versuche Bertolt Brechts 1918 - 1933. Berlin 1955 Schumacher Ernst. Drama und Geschichte. Bertolt Brechts "Leben des Galilei" und andere Stücke. Berlin 1968 Schwarz Peter Paul. Brechts frühe Lyrik 1914 - 1922. Nihilismus als Werkzusammenhang der frühen Lyrik Brechts. Bonn 1971 Steinweg Reiner. Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung. Stuttgart 1972 (und viele Einzelartikel, angefangen von der Kontroverse um das Lehrstück in der "alternative" (siehe auch Brenner Hildegard) bis zur Herausgabe von Diskussionsmaterial zu Theorie und Praxis des Lehrstücks, welches ich aber nicht explizit für die vorliegende Arbeit verwendet habe und daher hier ausspare) Sternberg Fritz. Der Dichter und die Ratio. Göttingen 1963 Šubik Christof. Einverständnis und Produktivität. Studien zur Philosophie Bertolt Brechts. Diss.masch. 1973 Šubik Christof. Brechts pädagogische Maske oder sein Gesicht. In: Informationen zur Deutschdidaktik 3/77. Klagenfurt 1977 Šubik Christof. Brecht das Schweigen - der Text muss entziffert werden. Zur textanalytischen Konzeption "Kollektives Lesen". In: Informationen zur Deutschdidaktik 7/79. Klagenfurt 1979 Šubik Christof. Mann ist Mann. Identitätsproblematische Gedanken bei Brecht. In: Hegel- Jahrbuch 1979. Hrsg. von Raimund Wilhelm Beyer. Köln 1980. S. 118 ff Šubik Christof. Brecht - eine Ästhetik der Widersprüche. In: Informationen zur Deutschdidaktik 1/82. Klagenfurt 1982 Voigts Manfred. Brechts Theaterkonzeptionen. Entstehung und Entwicklung bis 1931. München 1977 Völker Klaus. Brecht-Chronik-Daten zu Leben und Werk. München 1971 Völker Klaus. Bertolt Brecht. Eine Biographie. München, Wien 1976 Wekwerth Manfred. Schriften. Arbeit mit Brecht. Berlin 1975. Auch Wekwerth wird hier nur mit einem Titel angeführt, obwohl seine in vielen Artikeln, Berichten und Überlegungen zur Arbeit mit Brecht niedergelegten Gedanken mich immer wieder beeinflusst haben. Willett John. Das Theater Bertolt Brechts. Hamburg 1964 C) Sammelwerke Episches Theater. Hrsg. v. Reinhold Grimm. Köln und Berlin 1966 Bertolt Brecht Sonderbände Text und Kritik I und II. München 1972, 1973 Brecht-Jahrbuch 1974, 1975, 1976, 1977, 1978, 1979, 1980. Hrsg. v. Reinhold Grimm und Jost Hermand. Ffm. 1975 ff Brecht heute - Brecht today. (Brecht Jahrbuch 1970 - 73) Hrsg. von John Fuegi. Ffm. 1971. Das Argument. Sonderbände. Brechts TUI-Kritik (AS 11. 1976). Zur Aktualität Bert Brechts (AS 50. 1980) Wer war Brecht? Wandlung und Entwicklung der Ansichten über Brecht im Spiegel von "Sinn und Form". Hrsg. von Werner Mittenzwei. Berlin 1977 D) Sonstige für diese Arbeit verwendete bzw. zitierte Literatur Adorno Theodor W. Ästhetische Theorie. Ffm. 1971 Adorno Theodor W. Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Ffm. 1964 Adorno Theodor W. gemeinsam mit Horkheimer Max. Dialektik der Aufklärung. Amsterdam 1965 Benjamin Walter. Gesammelte Schriften. Werkausgabe Suhrkamp. Ffm 197. Bertaux Pierre. Hölderlin und die französische Revolution. Ffm. 1968 Bloch Ernst. Erbschaft dieser Zeit. Bd. 4 der gesammelten Werke. Ffm Die Bibel oder die ganze Hl. Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Übersetzung von Dr. Martin Luther. Stuttgart 1965 Deleuze Gilles. Nietzsche und die Philosophie. München 1976 Deleuze Gilles. Ein Nietzschelesebuch. Berlin 1979 Deleuze Gilles / Felix Guattari. Anti-Ödipus, Schizophrenie und Kapitalismus 1. Ffm. 1974 Derrida Jaques. Sporen, Spurs, Sproni, Eperons, Venezia 1976 Engels Friedrich. Siehe Marx-Engels-Werke Foucault Michel. Die Ordnung der Dinge. Ffm. 1971 Foucault Michel. Von der Subversion des Wissens. München 1974 Habermas Jürgen. Erkenntnis und Interesse. Ffm. 1967 Hegel Georg Friedrich Wilhelm. Werke in 20 Bd. auf der Grundlage der Werke von 1832 - 1845 Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Ffm. 1970 Hegel Georg Friedrich Wilhelm. Ästhetik. Hrsg. Friedrich Bassenge. 2 Bde. Berlin/ Weimar 1965 Hegel Georg Friedrich Wilhelm. Jenaer Schriften. Eingeleitet von Gerd Irrlitz. Berlin 1972 Hegel Georg Friedrich Wilhelm. Phänomenologie des Geistes. Mit einem Nachwort von Georg Lukacs. Ffm. Berlin, Wien 1970 Hegel Georg Friedrich Wilhelm. Studienausgabe. Gymnasialreden, Aufsätze, Rezensionen. Ausgewählt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Karl Löwith und Manfred Riedel Heintel Peter. System und Ideologie. Der Austromarxismus im Spiegel der Philosophie Max Adlers. Wien und München 1967 Heintel Peter. Die Bedeutung der Kritik der ästhetischen Urteilskraft für die transzendentale Systematik. Kant-Studien 1969 Kreisler Georg. Purzelbäume (Schallplatte). Wien 1975 Kraus Karl. Die Fackel. Reprintausgabe Ffm. 1978 Lenin Wladimir Iljitsch. Werke. Berlin 1961 ff Lukacs Georg. Geschichte und Klassenbewusstsein. Neuwied-Berlin 1968 Mao-Tsetung. Über den Widerspruch. Peking 1968 Marx Karl. In: Marx-Engels-Werke (MEW). Berlin 1962 ff Marx Karl. Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie. Moskau 1939 Marx Karl. Marx-Engels; über Literatur und Kunst. Hrsg. von M. Lifschitz. Berlin 1949 Marx Karl. Texte zu Methode und Praxis. Hrsg. von Günter Hillmann. Reinbek 1966 Nietzsche Friedrich. Werke in drei Bänden. Hrsg. von Karl Schlechta. München 1970 Nietzsche Friedrich. Werke. Hrsg. Elisabeth Förster-Nietzsche. Peter Gast. 2. Abt. Nachgelassene Werke. Leipzig 1903 ff Nietzsche Friedrich. Die Umwertung aller Werte. Hrsg. von Friedrich Würzbach. München 1969 Schiller Friedrich. Über Kunst und Wirklichkeit. Schriften und Briefe zur Ästhetik. Leipzig 1959 Schindel Robert, Ernst Gustav und Murawatz Wolfgang. Drei Miniaturen. Wien 1970 Schulte Michael. Karl Valentin in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek o.J. Shaw Bernard. Die heilige Johanna. In: Gesammelte Dramatische Werke. Zürich 1962 Szondi Peter. Theorie des modernen Dramas. Ffm. 1970 Tomberg Friedrich. Mimesis der Praxis und abstrakte Kunst. Neuwied und Berlin 1970 Valentin Karl. Karl Valentins gesammelte Werke. München 1971