Das Magazin der Heinrich-Böll-Stiftung Ausgabe 2, 2008 böll Mit wem geht die neue Zeit? THEMA 2 Inhalt Stimmen 4 Was heißt heute links? Kleine Umfrage in der grünen Heimat. Von Michaela Wunderle Herausgeber Was den linken Diskurs mit der Ozonschicht verbindet. Heinrich-Böll-Stiftung Schumannstraße 8 10117 Berlin Fon 030 – 2 85 34 – 0 Fax 030 – 2 85 34 – 109 E-Mail: [email protected] www.boell.de/thema 45 Jahre lang die Frage: «What’s left?» Eine Relektüre. Von Ulrike Baureithel Redaktionsleitung Geschichte eines Begriffs 6 Links Mitte Rechts Kleine Geschichte der politischen Geographie Europas. Von Joscha Schmierer 9 Impressum Elisabeth Kiderlen Gebetsraum für unsortierte Glaubensbekenntnisse. Von Christian Schneider 14 Freiheit, Gleichheit, Schönheit Frauenemanzipation gehört in keine Schublade. Von Waltraud Schwab 16 «Inszenieren heißt kritisieren» Der Dramaturg und Wegbereiter des neuen Regietheaters Bernd Stegemann im Gespräch mit Henrike Thomsen Zahlen verstehen 19 Links ist da, wo die Regierung rechts ist. Zwischen einem gesellschaftlichen Linkstrend und einer Politik der Mitte besteht kein Widerspruch. Von Dieter Rulff Positionen: Was können wir wissen? Was können wir tun? Was können wir hoffen? 22 Mut zum Wandel Plädoyer für eine Agenda 2020 Von Ralf Fücks 26 Yes, they could! Warum eine intakte Sozialdemokratie in Deutschland heute nicht bloß gebraucht wird, sondern sogar erfolgreich wäre. Von Tobias Dürr 28 «Wir sollten nicht zimperlich sein.» Soziale Umverteilung in den privaten Konsum oder Investitionen in öffentliche Güter? Von Sibyll Klotz 30 Links Mitte Rechts ist gestern. Die grünen Themen sind im Zentrum angekommen. Von Kai Klose 31 Dem Wandel eine Richtung geben. Grün als Orientierungsfarbe einer Politik, die Gerechtigkeitsanspruch mit Veränderungswillen verbindet. Von Peter Siller Heinrich-Böll-Stiftung 35 Hinweise, Projekte, Publikationen Redaktionsassistenz Susanne Dittrich Mitarbeit Ralf Fücks Annette Maennel (V.i.S.d.P.) Peter Siller Artconcept Büro Hamburg Jürgen Kaffer, Sandra Klostermeyer Gestaltung blotto design, Lydia Sperber Druck agit-Druck, Berlin Papier Inhalt: Envirotop, matt hochweiß, Recyclingpapier aus 100 % Altpapier Umschlag: Enzocoat Bezugsbedingungen zu bestellen bei oben genannter Adresse Hinweis In Partnerschaft mit der Firma Grammer Solar wurde auf dem Dach des Neubaus der Heinrich-Böll-Stiftung eine Photovoltaikanlage installiert. Bitte beachten Sie die Anzeige auf Seite 34. Titelbild und S. 2: Reiner Dieckhoff. Das Kölner SDS-Zentrum nach der «Machtübernahme» durch die antiautoritäre Fraktion. Aus: «1968 am Rhein». Hrsg. von Kurt Holl und Claudia Glunz, Emons Verlag, Köln 2008 Lebenswelten 12 Der Container mit der Aufschrift «links»: Editorial 3 What’s left? 1990 ergab eine Meinungsumfrage, dass dreißig Prozent der Deutschen glaubten, der Sozialismus sei «eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde». Das war schon damals, noch mitten in den Freiheitsrevolutionen in Mittel-Osteuropa, eine erstaunlich hohe Zahl. Heute sind es 45 Prozent. Zu ihnen gehört offenbar auch Franziska Augstein, die diese Umfrage in einem Text für das Magazin der Süddeutschen Zeitung zitiert, in dem sie die Realgeschichte des Sozialismus von 1917 bis 1989 als bloße Abirrung abtut, die man ad acta legen kann, um seinen guten, wahren Kern wieder freizulegen: das Streben nach sozialer Gerechtigkeit. Die Autorin gehört mitnichten zur intellektuellen Boheme des «radical chic» vom Schlage eines Slavoj Zizek, der sich schon mal an der Rehabilitation Lenins versucht, bevor er den Apostel Paulus als Prototyp eines aufrührerischen Messianismus entdeckt. Die bürgerlichen Freunde des Sozialismus sind vielmehr beredte Zeugen dafür, dass der Zeitgeist in Deutschland die Windrichtung gewechselt hat. Neoliberalismus ist out, und mit ihm alles, was in diese Schublade gepackt wird: von der Privatisierung öffentlicher Unternehmen bis zu den Steuerund Sozialreformen der rot-grünen Koalition, die für die wachsende Schere zwischen Arm und Reich verantwortlich gemacht werden. Dass es darum ging, die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen, die galoppierenden Lohnzusatzkosten einzudämmen, die Rentenversicherung demographiefest zu machen und die Last einer aus dem Ruder gelaufenen Staatsverschuldung für die nächsten Generationen zu erleichtern: aus den Augen, aus dem Sinn. Dass zugleich der Eintritt von zwei Milliarden Menschen in den Weltmarkt, die bereit sind, hart für die Verbesserung ihrer Lage zu arbeiten und großen Bildungshunger an den Tag legen, den Kosten- und Innovationsdruck am «Standort Deutschland» verschärft hat, erscheint nur noch als Ausrede für Billiglöhne auf der einen, schamlose Bereicherung auf der anderen Seite. Selbstverständlich reden weder die Edel-Sozialisten des Feuilletons noch der Trommler Oskar Lafontaine einer sozialistischen Revolution das Wort. Ihr Utopia liegt nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit, im Wohlfahrtsstaat der achtziger Jahre – in der Ära von Helmut Schmidt und Helmut Kohl. Es geht um staatsverbürgte soziale Sicherheit und um größtmögliche Stabilität der Lebensverhältnisse. Das ist nachvollziehbar. Der Fehler ist nur, zu glauben, es könne Sicherheit ohne Veränderung geben, Wohlstand ohne Risiko, Umverteilung ohne Wettbewerbsfähigkeit, Solidarität ohne Selbstverantwortung. Eine Linke, die sich auf die Umverteilung durch den Staat zurückzieht, hat keine Zukunft. Die Debatte um den «Dritten Weg» und «New Labour», die in den 90ern mit dem Anspruch einer Selbsterneuerung geführt wurde, bevor sie im Regierungspragmatismus Blairs und Schröders versandete, hat immerhin drei grundlegende Ideen aufgenommen: Die moderne Linke braucht ein emphatisches Verhältnis zur Freiheit; sie braucht eine ökonomische Politik, die Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft sichert; und sie muss eine kosmopolitische, weltoffene Haltung einnehmen, statt sich hinter Protektionismus und nationaler Engstirnigkeit zu verschanzen. Nimmt man noch als zentrales Element die ökologische Frage hinzu, dann könnte das die Blaupause für die Grünen sein. Foto: Ludwig Rauch Wir wollen mit diesem Heft erkunden, was «links» heute noch oder wieder bedeutet, was anachronistisch scheint und was aktuell. So wenig es die eine Linke gibt, so vielfältig fallen die Antworten darauf aus. Eine anregende Lektüre wünscht Ralf Fücks Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung — — — Der besondere Tipp Studie: ERENE. Eine Europäische Gemeinschaft für Erneuerbare Energien. Michaele Schreyer und Lutz Mez analysieren die Möglichkeiten, die Nutzung erneuerbarer Energiequellen im europäischen Verbund zu erhöhen, und skizzieren den Weg in ein Europa ohne fossile und nukleare Stromversorgung. Zu bestellen unter [email protected], Download unter www.boell.de Ist da wer? Kongress zur Zukunft der Demokratie am 2. und 3. Oktober 2008, Hochschule für Künste, Bremen. Mit Workshops zu Demokratie in Wirtschaft, Ökologie, Medien und Kommunen Info: www.boell.de, [email protected] Tourwebsite www.sonnewindundwir.de – die Seite zur Klimatour 2008 der Heinrich-Böll-Stiftung. Mit Tourdaten, Musik, Infos und Tipps für individuelles Handeln in Sachen Klimaschutz 4 Stimmen Was heißt heute links? Kleine Umfrage in der grünen Heimat Gesammelt und aufgeschrieben von Michaela Wunderle «Linkspartei» verdient, so eine Frankfurter Sonntagszeitung, «zéro points» Peter Zollinger, Redakteur Lichtung manche meinen lechts und rinks kann man nicht velwechsern werch ein illtum. ernst jandl Frank Wolff, Cellist Mit Blick auf Italien kann ich nur sagen: Links, das bedeutet Lähmung, Orientierungslosigkeit, Depression, Zerfall, auch viel Opportunismus. Als Hoffnung bedeutet es für mich Gerechtigkeit, Solidarität, Partizipation und Pluralismus. Sandra D’Oliv, Konsulatsangestellte «Vorwärts, und nicht vergessen, worin eure Stärke besteht. Beim Hungern und beim Essen, vorwärts, und nicht vergessen: die Solidarität!» Ede Fischer, Unternehmerin Links bedeutet für mich: eine Lebenshaltung, Utopie, Orientierung. Die Vorstellung einer Gesellschaft, geprägt von Gleichberechtigung, Verteilungsgerechtigkeit, Respekt, Solidarität und Kritik- und Veränderungsbereitschaft. Ute Szebedits, Therapeutin Links muss überholt werden. Denn Lafontaine, Chavez oder Alice Schwarzer sind nicht links. Genau sowenig wie es die Jakobiner waren, auf deren Sitzordnung in der französischen Nationalversammlung der Begriff zurückgehen soll. Wenn die Illusion der Gleichheit auf Kosten der Freiheit triumphiert, droht die Guillotine oder der Mindestlohn. Links ist heute mehr eine Haltung als ein politisches Projekt. Links ist mehr Frechheit, Kultur und Kommunikation. Links ist weniger Angst, Staat und Superstars. Und ein «Sozialismus» à la Links bedeutet für mich: Einsatz für eine humane, solidarische, gerechte und repressionsfreie Zivilgesellschaft und das Beharren auf Utopien. Ernst Szebedits, Filmproduzent Links denkt und handelt, wer davon ausgeht, dass der Mensch dem Menschen immer auch Zweck und niemals nur Mittel sein darf, d.h. wer die Würde jedes einzelnen Menschen auch im politischen Konflikt achtet und diese nie um angeblich höherer, gemeinsamer Ziele wegen preisgibt. Links denkt und handelt darüber hinaus, wer für eine gerechte Gesellschaft eintritt, d.h eine Gesellschaft, in der allen Bürgern und Bürgerinnen die gleichen Grundrech- Vita & Publikationen Michaela Wunderle ist Autorin und Übersetzerin. Jüngste Veröffentlichung: Übersetzung von und Nachwort zu «Der blaue Cinquecento. Italiens bleierne Jahre» von Mario Calabresi. Verlag SchirmerGraf, München 2008. te und Grundfreiheiten im Sinne einer westlichen Verfassung effektiv zustehen sowie (und das unterscheidet die «Linken» von den Liberalen) die materielle Verfasstheit der Gesellschaft so gestaltet ist, dass diese Grundrechte und -freiheiten für alle auch den gleichen Wert haben. Micha Brumlik, Erziehungswissenschaftler Auch wenn «Die Linke» samt wachsendem Anhang in die Gegenrichtung marschiert: Links sein heißt, für die Freiheit zu sein – nie zu akzeptieren, dass ein Mehr an Gleichheit und Gerechtigkeit gegen einen Verlust an Freiheit aufgerechnet wird. Harald Lüders, Journalist Was ist heute links? Gegen Grenzen und nationale Abschottung – «kosmopolitische Produktion und Konsumtion durch den Weltmarkt» (Komm. Manifest); gegen Antisemitismus, Rassismus, Antifeminismus – «die Internationale erkämpft das Menschenrecht»! Für universale transnationale Institutionen. «Durch rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation das Hereinziehen aller, auch der barbarischsten Nationen in die Zivilisation» (Marx/Engels), daher Ablehnung aller Faschisten, nationalistischer «Sozialisten», terroristischer Heilsbewegungen, theokratischer Ideologien und Regime, korrupter Militärherrscher. Unterstützung der Zivilgesellschaft gegen etatistische Entmündigung. Albert Christian Sellner, Autor, Herausgeber Foto: privat Links? Das ist eine sich ständig erneuernde Demokratie, eine zur Selbstkritik fähige Gesellschaft, die den Einzelnen ermuntert, seine sozialen und geistigen Fähigkeiten zu entfalten. Es ist eine Weltanschauung, die stets nach neuen Erkenntnissen sucht, die nichts so verabscheut wie das Erstarren in einmal gültigen Formen. Renate Wiggershaus, Schriftstellerin 5 Foto: Josef Koudelka War der Prager Frühling 1968, diese große, die gesamte tschechoslowakische Gesellschaft aufrührende Bewegung gegen den Stalinismus, den eigenen wie den der Sowjetunion, links? War er rechts? Je nach Standpunkt fallen die Antworten verschieden aus. Die außerparlamentarische Opposition Westdeutschlands (APO) war gespalten. Für die einen konnte ein Aufstand im Namen der Freiheit, konnte der Widerstand dieses kleinen Staates gegen die geballte Militärmaschinerie der Warschauer Paktstaaten, nur links sein. Und war nicht «Sozialismus mit menschlichem Gesicht» die Parole dieser sanften Revolte? Für die anderen deuteten die reformerischen Ansätze dieser Liberalisierungs- und Demokratisierungsbewegung in Richtung Sozialdemokratie und bewiesen damit den konterrevolutionären Charakter dieses Aufstands. An der Parteinahme für oder gegen den Prager Frühling zeigte sich, wie wenig aussagekräftig der Begriff «links» ist: das Linke – ein zum Hauptwort erklärtes Eigenschaftswort, das spätestens seit der Niederschlagung des Prager Frühlings selbst des verdeutlichenden Adjektivs bedarf. Also setzte sich die freiheitliche Linke ab von der dogmatischen und orthodoxen Linken. Ohne jedes Attribut, senza niente, ganz nackt, ist «links» eine Luftnummer, es ist unklar, verbindet sich das Wort mit einer Macht und dann mit welcher, mit einer Idee und dann von wem? Die tschechische Reformbewegung platzierte in ihren Parolen das Linke, also den Sozialismus, zwischen Freiheit und Souveränität und stellte «links» somit in einen Kontext: «In ganz Prag hängen Aufrufe einzelner Organisationen oder Betriebe. Alle sind inspiriert vom Motto der vergangenen Wochen: ‹Freiheit, Sozialismus, Souveränität.›» So der Bericht der Nachrichtensendung der Tschechoslowakischen Station vom 22. August 1968, 08.15. Die russische Invasion in Prag jährt sich am 21. August 2008 zum vierzigsten Mal. Der Münchner Verlag Schirmer/Mosel hat aus diesem Anlass einen eindrücklichen Band des Magnum-Fotografen Josef Koudelka herausgebracht: «Invasion Prag 1968». Auf unserem Bild gehen Hoffnung und Widerstand noch Hand in Hand, die Straße ist zum Schlachtfeld geworden und die Menschen sind an den Rand gedrängt. Elisabeth Kiderlen Die wachsende soziale Ungerechtigkeit zu bekämpfen, die die Gesellschaft zu spalten droht, das muss das Hauptthema der heutigen Linken sein – womit auf gar keinen Fall die Partei gemeint ist, sondern alle, die gegen soziale Ungerechtigkeit angehen. Inga Buhmann, Autorin Links sein bedeutet für mich, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, dass es zu- mindest einmal den Gedanken gab, der Mensch könne Subjekt seiner Geschichte sein. Links sein bedeutet nicht, eine universelle Wahrheit zu postulieren. Vielmehr ist in allen möglichen Teilbereichen zu prüfen, welche Subjektivität sich dort manifestiert. Links sein bedeutet auf jeden Fall, weder in zynischen Hedonismus zu verfallen noch gesellschaftliche Unterschiede als naturgegeben zu feiern. Die Frage besteht, ob die drängenden globalen Probleme überhaupt unter den traditionellen Kategorien von Rechts / Mitte / Links betrachtet und angegangen werden können. Die Gegenfrage lautet, ob überhaupt eine andere als eine «linke» Perspektive denkbar ist. Paul Ruhnau, Lehrer 6 Begriffsgeschichte Mitte Links Kleine Geschichte der politischen Geographie Europas. Von Joscha Schmierer Wenn eine Partei sich «Die Linke» nennen kann, ohne homerisches Gelächter hervorzurufen, sind wir definitiv in der Postmoderne angekommen. Weder kommunistisch noch revolutionär definiert sich «Die Linke» allein durch den Abstand zu anderen. Links als politische Ortsbezeichnung drückt ein Verhältnis aus, aber keinen Inhalt und kein Programm. Die Linke ist das Gegenteil der Rechten. Aber was ist die Rechte? Beide bilden nicht die Mitte. Man müsste also nach der Mitte fragen, von der sie sich unterscheiden. Doch eine Mitte gab’s ja nicht bei der Entstehung der parlamentarischen Geopolitik im britischen Parlament. Auf der einen Seite saßen die eher Liberalen, auf der anderen Seite die eher Konservativen. Auf beiden Seiten saßen Aristokraten. Die Vertreter beider Parteien standen oben und über der Gesellschaft, als ihre Repräsentanten aber auch mitten drin. Der Unterschied zwischen ihnen: die politischen Vorlieben. Da können politische Leidenschaften aufkommen, aber keine existentiellen Gegensätze. Im englischen Parlament geht es um die Art und Geschwindigkeit der Evolution, keinesfalls aber, und das auch dann nicht, als «Labour» und «New Labour» auf der Linken den Platz der «Whigs» einnahmen, um Revolution. Es waren gerade die grundlegenden Gemeinsamkeiten auf beiden Seiten des Parlaments, die die strikte räumliche Polarisierung ermöglichten, ohne das Parlament zu sprengen. So waren stets Regierungswechsel möglich, ohne je das Regime zu wechseln. Die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Seiten folgen noch heute einem gemeinsamen Ritual. Links und rechts entstand als politische Ortsbestimmung in einer Konstellation, in der die Mitte leer bleiben konnte, weil beide Seiten gemeinsam das Ganze ausmachten. Der politische Grundkonsens war die gemeinsame Basis der parteilichen Auseinandersetzung, nicht deren Ziel. Das Ziel der Auseinandersetzung war Regierungserhalt oder Regierungsbildung. Das parlamentarische Wechselspiel von Regierung und Opposition zwischen sich entgegengesetzt verortenden Parteien funktioniert nur, wenn sie ziemlich enge Nachbarn sind und einige Grundstücke gemeinsam verwalten. In den USA, in denen es große Probleme der Segregation gab, eine landesweite Klassenkonfrontation sich jedoch nicht «Im englischen Parlament geht es um die Art und Geschwindigkeit der Evolution, keinesfalls aber um Revolution.» 7 Rechts herausbildete, funktionierte das Wechsel- und Zusammenspiel von zwei Parteien über Jahrhunderte hinweg, ohne dass es sich im Links-Rechts-Schema definieren und polarisieren ließ. Das Gegenüber von links und rechts, das die dramatisierende, aber selten dramatische Geopolitik des britischen Parlaments beschreibt, erhielt auf dem europäischen Kontinent mit dem Gegensatz von Republik und Monarchie, von Sozialismus und Kapitalismus und immer wieder von Revolution und Reaktion eine ganz andere Spannung. Es wurde antagonistisch aufgeladen. In den Kriegen wurden die Gegensätze durch nationalistischen Kurzschluss überbrückt. Burgfrieden hieß das in Deutschland im I. Weltkrieg, Volksgemeinschaft hieß es im Dritten Reich. Das gemeinsame Ganze, das die britischen Parlamentsparteien auf ihren entgegengesetzten Seiten zusammenhielt, gab es auf dem Festland nicht und sollte es auch nicht geben. Die Mitte, die beim britischen parlamentarischen Gegenüber im gemeinsamen Ganzen kein Problem war, wurde auf dem Kontinent oft als Hindernis in den Entscheidungsschlachten zwischen Revolution und Konterrevolution, zwischen Rechts und Links verstanden. Die Mitte, das waren die, die sich nicht entscheiden konnten. Nach der Logik des «Wer nicht für mich ist, ist wider mich» waren die in der Mitte die Schlimmsten, weil sie sich nicht als Feinde offen zu erkennen gaben. In dieser Logik wurden die Sozialdemokraten für die Kommunisten der Weimarer Republik zu «Sozialfaschisten», gegen die der erste Schlag zu führen war, um dann im Zusammenstoß Klasse gegen Klasse, die Entscheidung zu suchen. Links und rechts waren auf dem Kontinent keine Begriffe, die Relationen innerhalb eines politischen Kontinuums ausdrückten, sondern fundamentale Alternativen. In einem Zeitalter der Kriege und der Revolutionen schien es oft nur eine Frage zu geben: Wer gegen wen? Wer schaltet wen aus oder wird vom anderen umgebracht. Diese Vorstellung war insofern nicht aus der Luft gegriffen, als Republik und parlamentarische Demokratie bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht gesichert waren. Ihren sicheren Boden fanden sie erst in der Verallgemeinerung der Lohnabhängigkeit und der Verbürgerlichung der Arbeiterklasse. An die Stelle sich ablösender Gegensätze traten differenzierte Lebenslagen in einer mehr oder weniger offenen Gesellschaft und politischer Pluralismus. In einer solchen Situation kann auch ein Revolutionär aus Prinzip wie Toni Negri nur noch die Multitude als politisches Subjekt ausmachen. War die Links-Rechts-Polarisierung zunächst durch den Gegensatz von Feudalherrschaft und Bourgeoisie, von Monarchie und Demokratie und dann durch den Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat, von Kapitalismus und Sozialismus unterfüttert, wird sie nun immer mehr zum Wolkenverschieben am leeren Ideenhimmel. In der Europäischen Union herrschen heute auch auf dem Kontinent mehr oder weniger «britische», beziehungsweise «amerikanische» Verhältnisse. Die Parteien sind in dem Sinn Volksparteien, dass sie interessierte Individuen aus allen Schichten organisieren und ansprechen wollen, und zur Verwirklichung ihrer Programmatik auf parlamentarische Mehrheitsbildung zielen. Die politischen Leidenschaften und die politische Rhetorik bleiben aber weiterhin von alternativen Fundamentalismen geprägt. Einen tieferen Grund gibt es dafür nicht. «Die Linke» will alles, nur keine kommunistische Plattform sein. Ihre Führung weiß warum. Die FDP begründet ihre Steuervorschläge damit, dass sie allen nützten. Jede Partei betont, auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen. «Die Linke» beschwert sich, dass sie immer noch vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Außer der Vergangenheit gibt es dafür auch keinen Grund. Populistischer Schwindel ist nicht verfassungswidrig. Heute machen sich fast alle lustig über Francis Fukuyamas «Das Ende der Geschichte» (1992). Doch fällt niemandem im Westen, aber auch anderswo in der Welt, eine bessere Form für den Umgang mit den Problemen der Moderne ein als eine durch Republiken regulierte kapitalistische Marktwirtschaft. Im Zentrum steht die Frage, wie ein gesellschaftlicher Zusammenhalt zu errei- «Die Mitte wurde auf dem europäischen Kontinent oft nur als Hindernis in den Entscheidungsschlachten zwischen Revolution und Konterrevolution, zwischen Rechts und Links verstanden.» Begriffsgeschichte chen ist, ohne den die Durchsetzung der wichtigsten, vor allem auch ökologischen Veränderungen unmöglich ist. Und wie diese Veränderungen stabilisiert werden können. Links und rechts sind zu Schattierungen in dieser durchaus gemeinsamen Bemühung geworden. Rechts nennt sich heute fast niemand mehr freiwillig. Als «eher links» bezeichnen sich dagegen viele. Aus diesem Gefühl ihren Vorteil zu ziehen, ist die usurpatorische, aber auch realitätsblinde Bemühung einer Partei, die sich ohne Wenn und Aber «Die Linke» nennt. So hofft sie, maximale programmatische Verschwommenheit mit der Vortäuschung strikter Prinzipientreue vereinbaren zu können. Die Dankbarkeit, die Scheidemann den Kommunisten auf dem SPD-Parteitag von 1919 zollte, will sich «Die Linke» auf keinen Fall verdienen. Scheidemann sagte damals: «Nicht zufällig nennen wir uns von alters her Sozialdemokraten. Wir haben uns niemals die Verwirklichung des Sozialismus anders vorstellen können als auf dem Wege der Demokratie.» Er fuhr dann fort: «Ich bin der äußersten Linken dafür dankbar, dass sie auf diesen Namen verzichtet, dass sie sich Kommunisten nennen.» Das Festhalten der Sozialdemokraten am Ziel des «demokratischen Sozialismus» ist dabei heute so hilflos traditionstreu, wie umgekehrt der Verzicht auf das kommunistische Vorzeichen zeigt, wie zeitgemäß opportunistisch sich die «Die Linke» in der deutschen Parteienlandschaft zu bewegen versteht. Mit ihrem Namen täuscht sie eine scharfe Scheidelinie vor, die zu benennen sie gleichzeitig vermeidet. Ein grundsätzlicher Formwandel in Politik und Gesellschaft ist heute weder absehbar noch überzeugend zu begründen. Außer den Neonazis, der verbliebenen «Systemopposition», scheint ihn auch niemand zu verkünden und anzustreben. Aber innerhalb dieser Formen, Republik und Marktwirtschaft, sind ziemlich gigantische Veränderungen erforderlich. Wie heute fast alle wissen, betreffen sie neben der Bildungspolitik und dem Kampf gegen Verarmung und Ausschluss, eine ganze Reihe von Problemen, die sich unter dem Rubrum ökologische Frage zusammenfassen lassen. Westerwelle wendet sich mit den Steuervorschlägen der FDP polemisch gegen die «roten und schwarzen Sozialdemokraten» in der Großen Koalition und zeigt in aller Grobschlächtigkeit eine gewisse Sensibilität dafür, dass das tatsächliche Engagement für die Lösung bestimmter Probleme heute nicht mehr in dieser oder jener Partei ihren Ort hat, wie ja auch das zivilgesellschaftliche Engagement Parteigrenzen überschreitet. In modernen Gesellschaften gibt es heute große Spannungen durch die Kumulation von alten und neuen Problemen und zugleich gibt es die Chance, ihre Lösung nicht in der Spaltung der Gesellschaft suchen zu müssen, sondern in ihrem bewussten Zusammenschluss zu finden. Pluralismus ist die Chance, Polarisierung die Gefahr.| Vita Joscha Schmierer, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts. Kleines Glossar aus der linken Begriffswelt. Zeichnungen: Gerhard Seyfried Re|vo|lu|tion, die; große Sache, was schon daran zu erken- nen ist, dass der Begriff auch in der Astronomie Anwendung findet, etwa für die Bewegung der Sonne um die Erde; die Vorsilbe «re» des lat. Ursprungsworts (revolutio = zurückdrehen, umdrehen) deutet an, dass es sich anfangs um eine restaurative Angelegenheit gehandelt hat; siehe: Glorious R. in England 1688/89, mit der die endgültige Niederlage des Absolutismus markiert wird nach zeitweisem Intermezzo des Königshauses in der Folge des Bürgerkriegs; R. ist als Begriff seitdem salonfähig für weltweite Umsturzbewegungen (Französische R., Märzr. u.a.), die neue politische Verhältnisse mit sich bringen; marxistisch-leninistisch aufgefasst führt die R. zwangsläufig zu Höherem, was durch die Praxis allerdings widerlegt wurde (Oktoberrevolution, Zusammenbruch der Sowjetunion); China lehrt, dass die R. nicht immer von den benachteiligten Schichten ausgehen muss (Kulturrevolution); Zweifel an der Tiefgründigkeit des Begriffs nährt die Inflation seiner Verwendung in zahllosen Disziplinen (Soziologie, Technik, Sexualität usw.); daher macht es die Geisteswissenschaft seit einiger Zeit ein paar Nummern kleiner, indem sie ihre wechselnden Moden turn oder schlichter Paradigmenwechsel nennt; zuletzt eher folkloristisch-poetische Verwendung bei jedem Machtwechsel in demokratisch weniger avancierten Ländern (Nelkenr., Rosenr., Orangene R.). Matthias Dell Foto: B.Borstelmann / argum 8 9 Was den linken Diskurs mit der Ozonschicht verbindet. 45 Jahre lang die Frage: «What’s left?» Eine Relektüre. Von Ulrike Baureithel Im Sommer 1991 – die Linke zerfetzte sich sche Denkübung, ordne sich «rechts» und tertitel «an alle» wandte. Eingeladen hatte gerade im Für und Wider um den zweiten «links» um ein «leeres Zentrum», und jede der Publizist Horst Krüger, und im Vorwort Golfkrieg – fand sich in Kassel eine kleine Seite stifte, gleichgültig wie und wohin sie gab er seinen Diskutanten mit auf den Weg, illustre Runde aus Wissenschaft und Publi- sich bewegt, jeweils die Identität der ande- «links» könne immer «nur in Bezug zu etzistik zusammen, um Wege aus dem de- ren, ohne aus der Kollaboration mit dem was anderem stehen: zu einer Mitte und saströsen Freund-Feind-Denken zu su- «System» ausbrechen zu können. zu rechts.» «Links» sei also nichts «Primächen. Seitdem der Linken ihr Links-Sein res», sondern etwas «Reaktives». Implizit problematisch geworden und ihre Identi- Was als politisches Entlastungsversprechen den Soziologen Karl Mannheim im Gepäck, tät in die Konkursmasse des dahingeschie- daherkam und im Clinch zwischen «Pazifis- nannte Krüger das relationale Modell zeitdenen Realsozialismus eingegangen war, ten» und «Bellizisten» keine nennenswer- bedingt noch «dialektisch», und er vermehrten sich Ansätze, über die Funktion ten praktischen Spuren hinterlassen hat, band seine Frage mit der Aufforderung an des Rechts-links-Gegensatzes im politi- überrascht, wiederentdeckt in einem Band, die «heimatlose Intelligenz», sich neu zu schen Raum nachzudenken. In einem der sich fast zwanzig Jahre zuvor mit der verorten. Damit war der Auftakt gemacht amorphen Kontinuum, so die akademi- Frage «Was ist heute links?» (1963) im Un- für eine bis heute andauernde linke Selbst- «Was links ist, lässt sich nicht ein für alle Male festlegen» (André Gorz). Begriffsgeschichte «Nach über einem Jahrzehnt politischer Irrtümer und persönlicher Selbstverleugnung theoriemüde, älter geworden und neuen Verhältnissen ausgesetzt, öffnete sich die Linke nun lebens­ weltlicheren Problemen.» reflexion und der damit verbundenen «Hoffnung», wie der Schriftsteller HansWerner Richter damals formulierte, «dass der Begriff ‹links› jene Klärung erfährt, die für unsere Zeit notwendig ist, eine Klärung nach vorn». «Was heißt heute links?» und «Ist die Linke heute noch links?», fährt Richter fort, um sofort festzustellen, wie «verschwommen» die Begriffe nach dem Godesberger Programm der SPD geworden seien. 1963 – mitten im Kalten Krieg und in Ludwig Erhards Wirtschaftswunderland – war der Begriff «Klasse» so anstößig wie der Gedanke an eine reale deutsche Wiedervereinigung. Dagegen hatte die von Helmut Schelsky in Umlauf gebrachte «nivellierte Mittelstandsgesellschaft», in der alle sozialen Gegensätze befriedet seien, Konjunktur. «Irrig», nannte der «konservative Linke» Walter Dirks diese Vorstellung; der Klassencharakter der BRD sei nur «verschleiert», sekundierte der Philosoph Hans Heinz Holz. Die «heimatlose Linke» stand sichtlich mit dem Rücken zur Wand, die verlorenen Utopien wehmütig im Blick: «Der Versuch ihrer Wiedererweckung in einer so genannten neuen Linken», dekretierte Ralf Dahrendorf aber unmissverständlich, sei «ebenso krampfhaft wie hoffnungslos.» Eingeschwenkt auf Marktwirtschaft und NATO, hatte 1961 die SPD die Mitgliedschaft in der Partei und im SDS für «unvereinbar» erklärt. Doch von den jungen radikaleren Linken – einer Ulrike Meinhof etwa, 1963 immerhin schon Chefredakteurin von «konkret» – und von Frauen überhaupt ist in diesem Brainstorming nichts zu lesen. Dagegen Erinnerungen an die zwanziger Jahre, die Helmuth Plessner ein Jahr zuvor so gründlich entmystifiziert hatte. «Die heimatlose Mitte wärmt ihren verhängnisvollen Traum von den goldenen Zwanziger Jahren auf … sie ist nur noch weinerlich», spottete Heinrich Böll. Es sind die Engagierten und politisch Gebeutelten – Walter Dirks und Hans-Werner Richter, Gerhard Zwerenz mit seiner DDRErfahrung und der NS-Verfolgte Wolfgang Abendroth –, die den «Anschluss an die Massen» (Dirks) forderten oder das «kulturelle Partisanentum» (Zwerenz) propagierten. Eine regelrechte «Generallinie» entwarf Abendroth in seinem noch heute lesenswerten historischen Abriss, wenn er der bundesrepublikanischen Linken die Verantwortung für die DDR auferlegt und ihr eine linke «Gesamtkonzeption» abverlangt. Bekanntlich hatten der SDS – und später seine verschiedenen organisatorischen Ausläufer – die «nationale Frage» auf jeweils eigene Weise lösen wollen. In den Bruderkämpfen des «roten Jahrzehnts» zwischen 1967 und 1977 war dann aber keine Zeit für und kein Bedürfnis nach Selbstreflexion, zu dringend war, das wiederentdeckte revolutionäre Subjekt von seiner historischen Mission zu überzeugen. Erst mit dem endgültigen Abgesang der «neuen Linken», den Flügel-Kämpfen zwischen «Realos» (parlamentarischer Durchmarsch) und «Fundis» (Fundamentalopposition) in der neu gegründeten grünen Sammlungspartei und der konservativen Wende der Kohl-Republik erhob sich die Notwendigkeit «Die Linke neu (zu) denken» (Wagenbach, 1984). Nach über einem Jahrzehnt politischer Irrtümer und persönlicher Selbstverleugnung theoriemüde, älter geworden und neuen Verhältnissen ausge- Vita Ulrike Baureithel ist seit 1990 Redakteurin der Wochenzeitung Freitag, Lehrbeauftragte an der Berliner Humboldt-Universität und freie Autorin. setzt, öffnete sich die Linke nun lebensweltlicheren Problemen. In acht politisch durchaus konträr positionierten «Lockerungsübungen» nähern sich die Autoren – und, nun satisfaktionsfähig!, auch zwei Autorinnen – den neu auf die Agenda gerückten Themen: Technologiekritik, ökologisches Wirtschaften, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Jochen Reiches Kritik an den «natürlichen Kreisläufen» und am Terror einer zur «Politik» erklärten einsinnigen «Natur» liest sich immer noch luzide und kündigt die «ökolibertäre» Wende der Grünen an. «Die Natur des Menschen ist die Kultur», erklärt er und fordert die grünen Abgeordneten auf: «Sie müssen den Baum ins Parlament bringen, nicht weil das aus den Kreisläufen der Natur abgeleitet werden sollte …, sondern weil es um die Zukunft der menschlichen Gesellschaft geht.» In Lothar Baiers Polemik gegen eine ehemals kulturfeindliche Linke, die sich nun in eine biedere Stadtteil-Kulturseligkeit rette und sich kritiklos dem «Kulturbetrieb» verschreibe, begegnet einem der 2004 verstorbene Essayist in seiner scharfzüngigsten Lesart. Dass es 1984 immerhin auch feministische Fragestellungen in die linken Denkkartelle schafften, war ein Fortschritt, doch, ach, es bleibt bei dem, was Frauen so umtreibt: Familienpolitik und Vereinbarkeitsproblem, auch wenn Barbara Sichtermann das feministische Paradox von Gleichheit und Differenz – Emanzipation vom Weiblich-Besonderen oder Emanzipation als Weiblich-Besonderes – scharfsinnig umkreist. Interessant ist, dass gerade sie und auch Gisela Erler, die später das umstrittene grüne «Müttermanifest» mit aus der Taufe hob, für die politischen «Umwertungen» der damaligen Linken stehen. Es ginge darum, schreibt Sichtermann, dass die «unbezahlte Arbeit (der Mütter/UB) ihre Respektierlichkeit zurückgewinnt». Statt schwedischem Sozialstaat, der die Frauen dort «heimatlos» mache, weil er ihnen den weiblichen Ort verwehre, versuchen die Foto: Connie Uschtrin 10 11 Pro|le|ta|riat, das; unterste Schublade in der gesellschaftlichen Kommode; niedriger geht’s dennoch immer, im alten Rom etwa dank der Unfreien (Sklaven); anders als diese verfügte das landlose P. über seine Nachkommen (lat. proles); nach K. Marx die Gruppe der Lohnarbeiter, zu Zeiten der Industrialisierung häufig mit Migrationshintergrund (Verstädterung); das P. schafft Mehrwert qua Arbeitskraft mit Produktionsmitteln, die nicht seine sind, wird dafür mies bezahlt; Distinktion auch hier am Start: das sog. Lumpenproletariat (Bettler, Kesselflicker, Sexarbeiterinnen), das nur recycelt, dient der Abgrenzung nach unten; prominentester Gegenspieler: die Bourgeoisie, die Produktionsmittel besitzt; wirksamstes Instrument im Kampf gegen ebendiese: Klassenbewusstsein, das über die Vereinigung der Entfremdeten zur Diktatur des Proletariats führt; eingelöst zumindest auf dem Papier etwa in Gestalt E. Honeckers, der als Dachdecker aus Neunkirchen (Saar) Gen.sekretär des ZK der SED und Staatsratsvorsitz. der späten DDR wird, im Ganzen eher traurige Vorstellung; vermutlich nicht unschuldig daran, dass P. im Folgenden seiner emanzipatorischen Kraft beraubt zur soziologischen Konstante (Prolet, Proll) billigen Überlegenheitsdünkels sich alltagskulturell (Bierkonsum, Fernsehverhalten, Arschgeweih) höher gestellt wähnender Schnösel verkommt; zuletzt vorsichtige politische Renaissance in der begrifflichen Ausgründung Prekariat. Matthias Dell Autorinnen, der neuen konservativen So- 1993er Bilanz «What's left», sei als «historizialpolitik – Heiner Geißler plante damals sche Niederlage der Linken» zu begreifen. gerade die erste Stufe des Erziehungsgel- Dies muss die FAZ derart in Schrecken verdes – auch positive Seiten abzugewinnen. setzt haben, dass sie diese «Prognosen zur Ähnlich argumentiert Thomas Schmid ge- Linken» selbst in Auftrag gab. gen die 35-Stunden-Woche-Kampagne der Gewerkschaften und verweist auf das le- Wo Gattungsfragen nach Lösung schreien bensweltliche Bedürfnis nach flexibleren und Menschheitsprobleme unter den NäArbeitszeitmodellen. Wo sich diese von geln brennen, scheint der alte Streit zwiden «sozialdemokratischen Rockschößen» schen «rechts» und «links» beigelegt, und der «heiligen Einfalt der Grünen» (Co- grundlegende Revisionen kündigen sich an. vertext des Wagenbach-Buchs) abgestoße- «Was links ist, lässt sich nicht ein für alle nen Linken nun selbst verorten, wird in- Male festlegen», konzedierte denn auch dessen so wenig klar wie in der gebundenen André Gorz. Nun steht das fortschrittsgläuRatlosigkeit bei Horst Krüger: Nur dass bige Verhältnis der Technik zur Disposition «freischwebend» nun weniger soziologisch (Konrad Adam), und es werden Versäumals habituell gemeint sein dürfte. nisse anerkannt, etwa die linke Ignoranz gegenüber den osteuropäischen DissidenIm wahrsten Sinne des Wortes «heimatlos» ten (Henning Ritter und André Gorz). wurde die intellektuelle Linke erst mit dem Drohten 1984 «Entropie» und Wärmetod, Fall der Mauer und der sich ankündigenden zieht zehn Jahre später die soziale VergletGlobalisierung. Die damit ausgelöste Läh- scherung ein in den Diskurs, gegen die mung war so groß, dass die linke Selbstre- kommunitaristische Wärmehallen instalflexion dieses Mal sogar vom «feindlichen liert werden sollen (Michael Walzer). Das Lager» angestoßen werden musste und «Gesamtkonzept», von dem Abendroth dieses sich auch selbst daran beteiligte. noch träumte, hat sich – zusammen mit Die Koinzidenz des Zusammenbruchs von der Ozonschicht – fast ohne Rückstände realem Sozialismus und Krise des Sozial- aufgelöst. Dies nun als Chance zu begreifen staats, so der italienische Politikwissen- und ein «gewisses Maß an Entfremdung» schaftler Norbert Bobbio einleitend in der zu ertragen, mahnte Elmar Altvater an. Dass mit der Entladung der Rechts-linksSpannung sich auch neue nationale und religiöse Konflikte ankündigen könnten, schwante wohl manchem der Autoren. Am Ende der Aufklärung könnte möglicherweise eine bedrohliche Leerstelle entstehen, die neu mit Sinn gefüllt werden muss. «Die Demokratie brauche eben ihr Gegenüber, um sich zu definieren», schreibt Cora Stephan. Und Antje Vollmer schließt ihren Beitrag mit der Beobachtung: «Ich habe den Eindruck, das nachdrückliche konservative Fragen ‹Was bleibt denn von den Linken›, hat damit zu tun, dass sie (die Konservativen/UB) mit dieser kulturellen Leerstelle nicht gern allein gelassen werden möchten.» | 12 Lebenswelten Der Container mit der Aufschrift «links»: Gebetsraum für unsortierte Glaubensbekenntnisse. Nahezu zwei Drittel der Deutschen, so kann man aus Umfragen erfahren, würden Barack Obama wählen. Klar, dass unter den Qualitäten, die ihn papabile machen, sein jugendliches Charisma an erster Stelle steht. Überraschend indes, dass viele unserer heimischen Barack-Fans als Grund ihrer Sympathie seine «Orientierung an linken Positionen» nennen. Ist der künftige amerikanische Präsident etwa links? Die Frage muss, wenn man sie aus der deutschen Perspektive stellt, in erster Linie aus den Projektionen und Idealisierungen derer beantwortet werden, die in ihm das role­model eines neuen linken Heros sehen. «Links» ist, was immer sich dahinter inhaltlich verbirgt, zunächst ein polarisierender Topos. Wer sich als links erklärt, steckt einen Claim ab, dessen Grenzen scharfäugig bewacht werden. So gesehen ist der «Synkretist» Obama alles andere als ein Linker: Er denkt nicht nur zusammen, was er für zusammengehörig hält, er möchte erklärtermaßen Konfrontationen aufbrechen und Gegensätze unter einen Hut bringen. Der Grund dieses überwältigenden synagogischen Wunsches liegt, so die Botschaft der beiden Bücher, die er geschrieben hat, in seiner Biografie. Wir alle kennen mittlerweile die Story vom schwarzen, ihm beinahe unbekannten kenianischen Vater und der weißen amerikanischen Mutter, der Geburt in Hawaii, dem Leben in Indonesien und Baracks spätem umwegigen Ankommen in den Vereinigten Staaten – eine Patchwork-Lebensgeschichte, in der vom ersten Moment an das Private vom Politischen dramatisch umschlossen zu sein scheint. «Das Private ist das Politische» lautete eine Spätparole von 68: eine Losung, die das Ende der politischen Orientierung an revolutionstrunkenen linken Zirkeln und Parteien einläutete und den Beginn eines New Age ankündigte. Zur selben Zeit, als die Radikalsten der von der versandenden Revolte Enttäuschten sich dem Konzept Stadtguerilla verschrieben, begann in der lebensweltlichen Fraktion die Stadtflucht: Nicht mehr die – ausbildungsgemäße – urbane, d. h. Uni-nahe Wohngemeinschaft war angesagt, sondern Landkommune. Neue libertäre, ja romantisch getönte Orientierungen bildeten sich, die nicht zuletzt die Niederlage im «eigentlichen» Feld des Politischen zu verarbeiten suchten. Anstelle der erwarteten Revolution hatte es halt nur eine Hochschulreform gegeben. Vita & Publikationen Christian Schneider ist Soziologe und Forschungsanalytiker und lehrt psychoanalytische Sozialpsychologie an der Universität Kassel. Jüngste Veröffentlichung: Zusammen mit M. Frölich und K. Visarius, «Projektionen des Fundamentalismus. Reflexionen und Gegenbilder im Film», Marburg 2008. Irgendwann in den 70ern standen viele «68er» mit einem Haufen halb verlorener, halbherzig verteidigter Illusionen inmitten unerwarteter Realitäten da. Mit einer abgeschlossenen Lehrerausbildung z.B., aber zugleich einem Berufsverbot oder wenigstens einem gewissen Ekel vor dem Schulalltag. Über wirkliches politisches Talent, gar den politischen Zwangscharakter, der ohne das Gefühl der Macht nicht leben kann, verfügten die wenigsten. Je dröger, drückender und kälter der Alltag wurde, desto mehr wärmten die alten Identifikationen mit den unterdrückten Minderheiten, den Entrechteten und Beleidigten, die einem «zur Aktionszeit» halfen, sich als Teil der großen anti-imperialistischen Front zu fühlen. In diesen Post-68er-Jahren koexistierten in vielen Köpfen die unwahrscheinlichsten Phantasien friedlich neben den ödesten Alltagsrealitäten. Der Container, in dem all diese Lebenssplitter, die Illusionen und Wünsche des vergangenen Aufbruchs ungeordnet beieinander lagen, trug die Aufschrift LINKS. Diese Melange war, eben weil so unspezifisch, in vielfältiger Weise anschlussfähig. Unter der Parole vom Privaten als des (eigentlich) Politischen konnten sich Friedensbewegte ebenso sammeln wie Frauengruppen, die Schwulen- und Lesbenbewegung oder diejenigen, die sich einer besseren Kindererziehung verschrieben hatten. Der Container LINKS war eigentlich so etwas wie ein Gebetsraum für ein seltsam unsortiertes Glaubensbekenntnis: das Bekenntnis gegen eine «Mehrheit», die kaum mehr exakt politisch zu bestimmen war, aber wenigstens einen verlässlichen Grenzwert zum eigenen Existenzentwurf markierte. Wer sich damals diesem Bekenntnis anschloss, schwamm, ohne sich darüber im Klaren zu sein, indes längst in einem neuen Mainstream. Als sich gegen Ende der siebziger Jahre weltweit religiös motivierte Protestbewegungen zu Wort meldeten, war die Mehrzahl der Zeitdiagnostiker sprachlos. Religiöse Artikulationsformen von Dissidenz fielen aus ihrem Analyseraster, das «Religion» als puren Gegensatz zu jener Vorstellung «des Politischen» sah, die sich im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hatte. Spätestens in den sechziger Jahren schien die Religion vollends zu einer reinen Privatangelegenheit geworden zu sein. Doch genau da, wo das Private das Politische zu werden begann, fand beides, das inexplizierte Glaubensbekenntnis und das Politische, zu neuen For- Foto: privat Von Christian Schneider 13 Bour|geoi|sie, die; (frz. Bourgeoisie, zu bourgeois (bildungs- spr. abwertend) = Bürger, zu: bourg = Marktflecken, aus dem Germ., verw. mit Burg); never forget where you're coming from, leider zu häufig passiert; im revolutionären Frankreich am Ende des 18. Jh.s kurze Zeit Hoffnungsträger der bürgerlichen Umgestaltung, weil Bezeichnung für das Milieu zwischen Adel und Bauernschaft, das eine führende Rolle bei der gewaltsamen Beendigung des Absolutismus spielte; dann aber nicht minder gewaltsam die neu gewonnene Macht verteidigte (Jakobinischer Terror); ob seiner Rolle zwischen oben und unten auf der gesellschaftl. Skala (Sandwichstellung) später auch als Juste Milieu bezeichnet (Julirevolution) und in der Folge diffamiert als halbgare Schicht von Besitzstandswahrern; daran hat sich bis heute nichts geändert; K. Marx diagnostizierte unüberwindbare Gegensätze zwischen der Klasse der Ausbeuter (B.) und der Klasse der Ausgebeuteten (siehe auch: Proletariat) und empfahl den Klassenkampf; kam mehrfach zum Ausbruch (Oktoberrevolution, DDR), hat aber letztlich wenig an den Verhältnissen geändert (Kapitalismus); das Versagen des Bürgertums (deutscher Begriff) kennt viele Beispiele (Drittes Reich); die B. ist trotzdem (oder gerade deshalb) gesellschaftlicher Leistungsträger geblieben (Mittelstand), der unverdrossen seine Abstiegsangst (H. Müller: «Für alle reicht’s nicht») mit Konservatismus behandelt; immerhin: Der Begriff ist selbst in der neobürgerlichen Gegenwart desavouiert; Citoyen kommt cooler. Matthias Dell men – und einem unerwarteten Mischungsverhältnis. Nicht reli- verstockten «rechten» religiösen Fundamentalismus repräsengiös in irgendeinem organisierten, gar kirchlichen Sinne, aber in tiert, macht uns Obama öffentlich zu Zeugen des äquilibristiForm eines bemerkenswerten Osmoseprozesses, mauserte sich schen Akts, eine ebenso stark christlich fundierte Überzeugung der linke Glaube klassischer Prägung zu einer neuen Weltan- unter Einbeziehung linker utopischer Elemente sozialpolitisch zu schauung sui generis. Seither jedenfalls ist es mit dem «wissen- reformulieren. Obama verkörpert – auch hier ein Musterbeispiel einer Patchworkschaftlichen» Sozialismus, auf den die alte Arbeiterbewegung so Identity – das Paradox eines liberalen Fundamentalisten: Er verstolz war, endgültig vorbei. In dem Jahrzehnt zwischen dem Fall des Schahs und dem der bindet bei seinen Auftritten das Erweckungspathos eines Ghetto Berliner Mauer hat sich das Konzept «Links» wieder in Richtung preachers gekonnt mit der liberalen Gestik, dem modischen Outfit auf eine heilsgeschichtliche Botschaft verändert, die nach dem und der sprachlichen Suavität eines Oberklassen-OstküstenEnde des «realen Sozialismus» desto heftiger zum Tragen kommt. Rechtsanwalts. Wenn wir nur fest genug daran glauben, ist alles – Und heute erstaunlicherweise von Leuten wie Barack Obama ver- mein 2000-Dollar Anzug beweist es – möglich: Yes, we can! Dies ist körpert wird. Er führt in der für unseren Geschmack manchmal in der Tat genuin «links», denn ein utopischer Entwurf, der mit leicht bizarren US-Kulisse öffentlich auf, was hierzulande noch der Idee der sozialen Gerechtigkeit und des Aufstiegs verknüpft ist, gehört zu den unverzichtbaren «Quellen und Bestandteilen» keine klare Artikulation gefunden hat. Obama ist dezidiert links, wenn man darunter die Vermählung linker Weltanschauung. Obama präsentiert das, was sich alle ervon basalen sozialen Überzeugungen mit einer kollektiven Stim- sehnen, die versuchen, eine «idealistische» linke Jugend mit einer mung versteht, die Aufbruch und Bewegung verheißt. Er hat eini- weitgehend desillusionierten Gegenwart unter einen Hut zu bringe voluntaristische Glaubensderivate der Linken aus der Versen- gen. Seine Idealisierung hierzulande kündet von dem starken kung geholt und auf erstaunliche Weise flott gemacht. Mag er Wunsch nach Bewegung, nach Aufbruch – und dem unstillbaren programmatisch der Gegentypus zu Bush sein, so ist er ihm min- Hunger nach einer Glaubwürdigkeit, hinter dem sich die Sehndestens in einer Hinsicht ähnlich: der grundlegenden Orientie- sucht nach einem (möglicherweise nicht nur) politischen Glaurung im Glauben. Wo Bush als bekennender Evangelikaler den ben verbirgt. | «Obama präsentiert das, was sich alle ersehnen, die versuchen, eine idealistische linke Jugend mit einer weitgehend desillusionierten Gegenwart unter einen Hut zu bringen.» 14 Lebenswelten Freiheit, Gleichheit, Schönheit «Brüderlichkeit» braucht niemand mehr. Stattdessen kann «Schönheit» die dritte Säule der französischen Revolutionsbotschaft ersetzen. So steht es auf einem Werbeplakat des Kosmetikkonzerns Yves Rocher mit dem Slogan «Freiheit, Gleichheit, Schönheit – für alle», der auch am 75. Jahrestag der Bücherverbrennung im Mai 2008 großflächig an der Fassade der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität am Bebelplatz in Berlin hing. Für Frauenbewegte steckt viel Stoff zum Grübeln in dieser Begebenheit. Und dass Siemens neuerdings Frauenklassen für die Ausbildung von Mechatronikern einrichtet, also solchen Menschen, die sich mit der Verknüpfung mechanischer und elektronischer Komponenten befassen, liefert Material zum Nachdenken dazu. Denn was in 200 Jahren Frauenbewegung – von der Französischen Revolution bis heute – gefordert und erreicht wurde, das spiegelt sich in beidem. Von politisch links indes ist weder beim Werbekonzern noch bei Siemens die Rede. Der Ausbildungsleiter von Siemens in Berlin hat eben festgestellt, dass die Forderung «Frauen in Männerberufe» zwar richtig ist, allein es funktioniert für die weiblichen Auszubildenden nicht. «Deshalb geht der Konzern neue Wege und richtet Frauenausbildungsgänge ein», sagt er. Dass diese Wege nicht neu sind, wird niemanden stören. Vielmehr wurden Frauenbildungsklassen in den letzten 200 Jah- Vita & Publikationen Waltraud Schwab ist Berlin-Repor- terin der taz. 2005 erhielt sie den Theodor-Wolff-Preis. Jüngste Publikation: «Berlin ist eine Frau», Jaron-Verlag, Berlin 2005 ren mal von der bürgerlich ausgerichteten, konservativen Frauenbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts gefordert. Dann wieder von der sich als fortschrittlich und links verstehenden zweiten Welle der Frauenbewegung in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Die Französische Revolution war der politische Aufbruch in die Neuzeit. Die Menschenrechte, die damals proklamiert wurden, ziehen sich als Idee durch staatliche Verfassungen von demokratischen Staaten. Die Begriffe «links» und «rechts» als politische Positionierungen gab es damals indes noch nicht. Sie wurden erst vierzig Jahre später, nach der Julirevolution 1830, in Frankreich etabliert. Im neugegründeten Parlament saßen die konservativ orientierten Abgeordneten rechts und die im revolutionären Sinne als liberal geltenden Abgeordneten links. Vermutlich allerdings wären die französischen Revolutionäre Linke gewesen. Links schließt Terror nicht aus. Eine wichtige Streiterin für die Rechte der Frau während der Französischen Revolution war die Schriftstellerin Olympe de Gouges. Sie proklamierte 1791 «die Rechte der Frau und Bürgerin». Sie wollte die Gleichheit, die für die Männer aller Stände gefordert war, auch für die Frauen. Undenkbar für ihre Kampfgefährten. Sie wurde als Gegenrevolutionärin 1793 verurteilt und starb unter der Guillotine. Erst mit der Industrialisierung, der Entstehung des Proletariats und der Etablierung von Arbeiter- und Arbeiterinnenorganisationen wurde die Situation von Frauen in organisierten Zusammenhängen zum Thema. Wer immer eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsumstände der Arbeiterinnen forderte, sei es Bildung, sei es Mutterschutz, sei es Strafe bei Gewalt gegen Frauen, stellte die gesellschaftlich akzeptierte Ungleichheit der Frauen in Frage. Dabei gab es immer mehrere Fronten, an denen die Situation der Frau zum Thema gemacht wurde. An der Klassenfront wurde der Schutz der Arbeiterinnen, aber auch die Gleichbehandlung von Männern und Frauen gefordert. Sozialistinnen wie Clara Zetkin, Rosa Luxemburg, die klassenbezogen argumentierten, deckten Anfang des 20. Jahrhunderts im politischen Spektrum die linke Seite ab. In der bürgerlichen Frauenbewegung hingegen, die es nahezu gleichzeitig gab, wurde das Selbstbestimmungsrecht stärker in den Vordergrund gerückt. Denn gesellschaftliche Konventionen hielten die bürgerlichen Frauen in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter gefangen. Bildung galt für sie als unnötig. Erst ab Ende des 19. Jahrhunderts wurde es Frauen allmählich erlaubt zu studieren. Für ihr Wahlrecht mussten sie weiter kämpfen. Für alle aber, die sich in der Vergangenheit für die Verbesserung der Situation der Frauen stark machten, gilt: Sie setzten Denk- und Handlungsanstöße in Gang, die Foto: privat Frauenemanzipation gehört in keine Schublade. Von Waltraud Schwab 15 nicht nur das Leben der Frauen verbesserten, sondern Umdenkungsprozesse in der ganzen Gesellschaft einleiteten. Egal ob konservativ oder links, ob bürgerlich, sozialistisch oder aus der Negation der bestehenden Kräfteverhältnisse heraus entstanden, die Frauenbewegung hat vor allem im letzten Jahrhundert enorme gesellschaftliche Veränderungen mit sich gebracht. Sexuelle Gewalt, strukturelle Ausgrenzung von Frauen qua Gesetz, die Dominanz des Mannes in der Familie und im Beruf wurden zu öffentlichen Themen. Auch die Tradierung von Ausgrenzung von Frauen durch Frauen wurde diskutiert. Das Familienrecht, das Scheidungsrecht, das Erbrecht, das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper – durch die verschiedenen Frauenbewegungen wurden Verbesserungen in all diesen Bereichen und noch viel mehr gefordert und erreicht – gegen die Beharrungskräfte eines Systems, das Männern Vorteile brachte. Bis heute ist die Frauenbewegung in diesem Sinne eine Aufbruchsbewegung. Sie stellt Herrschaftsstrukturen in Frage. Als Aufbruchsbewegung gebührt ihr im Schema von Links und Rechts die linke Seite, die Herzseite. Auch wenn derzeit nicht von einer starken Frauenbewegung gesprochen wird, gehen von ihr weiterhin Impulse aus. Vergewaltigung in der Ehe ist seit 1997 in Deutschland strafbar. Und erst 2002 etwa wurde die Prostitution als Beruf legalisiert. Die Auswirkungen der Globalisierung und der aggressiven Sicherheitspolitik der letzten Dekade sind neue Herausforderungen, der sich die Frauenbewegung stellen müsste. Allein, die Frauenbewegung ist derzeit nicht sichtbar. Die Genderdebatte, die die Geschlechterpolarität in Frage stellt und neben Mann und Frau als Drittes auf die geschlechtliche Uneindeutigkeit verweist, ist stattdessen en vogue. Wer sich parteiisch für Frauen äußert, läuft Gefahr, als überholt zu gelten. An dieser Stelle spielen die jungen Frauen, die sich neuerdings Feministinnen nennen, ohne gesellschaftliche Veränderungen einzufordern, eine Rolle des Aufbruchs. Sie nehmen das Wort Feministin, mit dem man die letzten Jahre nicht punkten konnte, wieder in den Mund. Damit geben sie immerhin den Blick auf die Geschlechterproblematik erneut frei. Zurück zu «Freiheit, Gleichheit, Schönheit – für alle.» Eine geballte Frauenhand mit rot lackiertem Daumennagel illustriert das Motto am Bebelplatz in Berlin. Das Plakat ist genial. Auf «Freiheit» und «Gleichheit», so die Werbebotschaft, möchten die Akteure des internationalen Kosmetikkonzerns nicht verzichten. Auf Brüderlichkeit – ohnehin im Sinne von Fraternité eher als Synonym für den nationalen Zusammenhalt gedacht – schon. Damit nicht genug. Das Plakat nimmt auch die Bedeutung des Platzes, der nach August Bebel benannt ist, auf. Den Sozia- listen grüßen die Faust und das grelle Rot. Obwohl die Farbe zudem für Feuer stehen kann. Auf dem Bebelplatz verbrannten die Nazis Bücher, die ihnen nicht passten, weil sie der Moderne Gestalt gaben. Mehr als 300 Autoren standen auf dem Index. Nicht nur Werke von Gesellschaftskritikern wie Marx, Lenin, Liebknecht flogen ins Feuer. Auch Schriften der Sozialistinnen Rosa Luxemburg und Clara Zetkin, der bürgerlichen Frauenrechtlerin Lida Gustava Heymann, der Sozialdemokratin Marie Juchacz, der Friedensaktivistin Bertha von Suttner verbrannten. Mit ihrer aller Bücher verbrannte die Freiheit. Auch Bebels Werke landeten in den Flammen. Darunter der Satz: «Es gibt keine Befreiung der Menschheit ohne die soziale Unabhängigkeit und Gleichstellung der Geschlechter.» Schon dem alten Sozialistenführer also war Brüderlichkeit verdächtig. Wenngleich ihm als Ersatz kaum das Recht auf Schönheit – und damit im Sinne des Werbeplakats natürlich das Recht auf Konsum – vorschwebte. In dem Kontext ist unübersehbar, dass es die juristische Fakultät ist, an der diese Forderung hängt. Nun spricht nichts gegen Schönheit. Die neuen Feministinnen machen dies in ihren Büchern sehr deutlich. Wichtig allerdings ist, dass Schönheit kein Diktat global operierender Kosmetikkonzerne sein darf. Sonst steht die Selbstbestimmung der Frau – wenn nicht gar Freiheit und Gleichheit – erneut auf dem Spiel. | Foto: © Yves Rocher Brüderlichkeit perdu? Werbeplakat des Kosmetikkonzerns Yves Rocher an einer Fassade der Berliner Humboldt-Universität im Mai 2008 16 Lebenswelten Inszenieren heißt kritisieren. Bernd Stegemann ist ein Wegbereiter des neuen Regietheaters. Als Dramaturg begleitet er die Arbeit von Nicolas Stemann, Falk Richter und Tom Kühnel. Henrike Thomsen sprach mit ihm über die starke linke Tradition des deutschen Theaters Böll.Thema: Herr Stegemann, welche Rolle spielt der Begriff «links» heute im Theater? Bernd Stegemann: Ein Regisseur wie Volker Lösch, der Hauptmanns «Weber» mit Chören aus Laien und Arbeitslosen inszeniert, würde sich höchstwahrscheinlich als links bezeichnen. Das ist eine Art, in der das Theater politische Haltung zeigt, fast schon als Propaganda in der Tradition von Piscator. Dann gibt es Regisseure wie René Pollesch oder Nicolas Stemann, die den Begriff des Linksseins problematisieren. Sie stellen die Frage: Wie komme ich überhaupt zu einer politischen Haltung in einer Welt, in der vieles geht, aber nichts gehen muss? Wie komme ich zu einem Auftrag und einer Notwendigkeit, etwas zu tun? Das Gestrüpp der Kontingenz, das Stemann abbildet, hat in den besten Momenten eine emanzipatorische Wirkung und das wiederum ist originär linkes Gedankengut. Wie ist es mit dem Gegenbegriff «rechts»? Ein Theaterkünstler würde sich im Zweifelsfall immer lieber links nennen lassen, weil das mit Fortschritt, Kreativität, Freiheit, Gleichberechtigung verbunden ist. Rechts dagegen wird mit Faschismus gleichgesetzt oder mit einer verstaubten Adenauer-Zeit. Das sind emotionale Resonanzen, mit denen keiner gern zu tun haben möchte, schon gar nicht Künstler. Dabei findet man bei bekennenden Linken oft sehr rückwärtsgewandte, veteranenhafte Züge. Die «Linkspartei» hat ein Menschenbild direkt aus dem 19. Jahrhundert und möchte sich gegen die Globalisierung abschotten. Damit kann man sich als Theatermacher nicht identifizieren. Also könnte es sein, dass eine neue RegieGeneration begeistert Kai Diekmann und Matthias Matussek liest? Nein, ich glaube, rechts ist politisch einfach verbrannt in Deutschland. Es ist auch nicht das Gleiche wie konservativ. Für einen guten Konservativen gilt, dass er zugleich ein großer Stilist ist. Matussek kann gar nicht schreiben, insofern ist sein Buch über das Konservative ein Paradox in sich. Der Dichter Martin Mosebach hingegen ist ein großer Stilist und ein bekennender Konservativer, er würde sich aber nicht als rechts bezeichnen. Wie einflussreich sind heutige linke Denker wie Giorgio Agamben? Der einflussreiche Autor und Regisseur René Pollesch beruft sich gerne auf ihn. Pollesch stellt mit Agamben die Frage, was der Mensch sei. Ist er die Menge seiner Zuschreibungen, das Sozialpartikelchen in den Sozialsystemen oder ist er das, was er über sich selbst erzählt? Damit arbeitet er gegen Fundamentalismus, Biologismus und alte Rollen- und Geschlechterbilder. Man darf sich Agambens Rezeption im Theater aber nicht wie ein Theorie-Semi- «Rechts ist politisch einfach verbrannt in Deutschland. Es ist auch nicht das Gleiche wie konservativ.» 17 nar vorstellen. Theaterleute sind große Eklektiker. Sie klauen sich, was zu ihnen passt, und das ist auch ihr gutes Recht. Manchmal wird nur ein Satz, ein inspirierender Gedanke genommen. Foto: Henrike Thomsen Dieses Lehrstück war von Brecht für Laienspieler gemeint. Wir haben es parallelisiert mit Rollenspielen aus Seminaren für Führungskräfte, in denen es auch immer darum geht, ob es richtig ist, sich dem Bestehenden zu verschreiben oder seinen eiDas Theater der sechziger Jahre war in der genen, vielleicht dann erfolglosen Weg zu Bundesrepublik programmatisch links und gehen. Bezeichnenderweise konnten sich stark von der Brecht-Schule beeinflusst, be- besonders die Angestellten über die Rolsonders in der frühen Schaubühne und bei lenspiele gut mit dem Brechtschen LehrClaus Peymann. Was bedeutet dieses Erbe stück und dem darin verhandelten Zwang für Regisseure heute, auch im ästhetischen zur brutalen Entscheidung identifizieren. Sinne? Aber die Brecht-Erben haben die InszenieDer Startpunkt damals war bewunderns- rung verboten und wir mussten sie unter wert. Es hat sich eine neue Ästhetik entwi- einem anderen Titel weiterspielen. Man ckelt, die wir heute unter dem Stichwort sieht daran, glaube ich, ein Grundproblem «Regietheater» verstehen. Das heißt, das linker Ideologien: Sie bringen einen Geist nicht einfach ein pathetisch deklamieren- hervor, der von der nachfolgenden Geneder Schauspieler den Klassiker spielt, sondern dass man sich ein Regiekonzept überlegt, warum der Klassiker in der Gegenwart überhaupt Relevanz hat. Allerdings gibt es auch hier genügend Paradoxien: Der größte konservative Regisseur der Nachkriegszeit, Rudolf Noelte, war ein erklärtes Vorbild für Peter Stein. Heute trifft auf Leute wie Peymann die Haltung der «Linkspartei» zu: Man ist stark verhaftet in der Vergangenheit. Das ist so ein Veteranen-Links, ein Veteranen-Wohlfühlfaktor, das hat mit der Gegenwart wenig zu tun. Eine linke Theater-Ästhetik besteht dennoch weiterhin darin, dass man die Zeichen auf der Bühne – den Text, das Spiel des Schauspielers – deutlich als Zeichen hervorhebt und unterwandert, so wie es die Brechtsche Theatertheorie vorsah. Brecht hat gesagt: Inszenieren heißt kritisieren. Und zwar alles, sowohl das Dargestellte als auch die Mittel der Darstellung. Das ist das explizit Linke daran. Es wird aber von den Nachfolgern abgelehnt. Der Regisseur Tom Kühnel hat am Theater am Turm in Frankfurt mal ein Experiment mit Brechts Lehrstück «Der Jasager und der Neinsager» gemacht. Da geht es um die Frage, ob es richtig ist, Einverständnis mit einer brutalen Ideologie zu zeigen, oder ob man sie in Frage stellen soll. ration dogmatisiert und damit total negiert wird. Bei den Erben von Heiner Müller ist es inzwischen das gleiche Problem wie bei den Brecht-Erben. Ein weiteres wichtiges Mittel linker Ästhetik ist die Satire, wie sie an Frank Castorfs Volksbühne gepflegt wird. Das kommt aus der Tradition des Volkstheaters, des Karnevals und der Burleske. Es geht um ein grundsätzliches Infragestellen von allen Hierarchien. Indem der Bettler sich zum König macht und der König zum Bettler, ist alles auf den Kopf gestellt. Es ist ein hochgradig befreiendes Moment und sei es auch nur für zwei Stunden, dass man einmal lachen darf über das, wovor man sonst Angst haben muss. In dieser Traditi- «Theater ist seinem Wesen nach Aufklärung» (Bernd Stegemann) Vita & Publikationen Bernd Stegemann ist Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. 1999 – 2002 war er Chefdramaturg am TAT in Frankfurt / Main, 2004 – 2007 Dramaturg am Deutschen Theater, Berlin. Er ist Mitherausgeber der «Blätter des Deutschen Theaters». Jüngste Publikationen: «Die Gemeinschaft als Drama. Eine Systemtheoretische Dramaturgie» (2001), «Stanislawski-Reader» (2007) und «Dramaturgie der Gegenwart» (im Erscheinen). Lebenswelten on bewegt sich die Volksbühne seit Erwin Piscators Revuen und Benno Bessons Theaterspektakeln bis hin zu Castorf. Früher haben linke Künstler nicht nur kritische Fragen gestellt, sondern die ideologischen Antworten gleich mitinszeniert. Sie nahmen die Rolle von Ingenieuren der Gesellschaft an. Ja, sogar von «Ingenieuren der Seele», wie Lenin die jungen Autoren in der Sowjetunion nannte. Das war eine hybride Haltung, die in der Nachfolge zum Gulag und zu schrecklichen Exzessen des Totalitären führte. Diese Anmaßung ist ein gefährliches Denken der Vergangenheit, auch wenn es jetzt vielleicht in Südamerika wieder aufflammt. Dafür ist die Kraft, Dinge in Frage zu stellen und vielleicht auch einzureißen, ehe man weiß, was darauf folgen wird, eine Kraft, die bewahrt werden muss. Seltsamerweise ist sie realpolitisch in traditionell linken Parteien heute weniger vorhanden als in konservativen Kreisen und Parteien, die eher rechts der Mitte eingeordnet werden. Es gibt starke beharrende, wertkonservative Elemente in einer Partei wie der «Linkspartei» und zukunftsorientierte, offene Elemente auf der anderen Seite des Spektrums. He|ge|mo|nie, die; äußerst kipplige Angelegenheit, leider gern als festgezurrte Machtposition missverstanden; vom buckligen Sarden Antonio Gramsci (1891-1937) entwickeltes Konzept, um Herrschaftskonstellationen zu deuten, die nicht nur auf der staatlichen Ausübung von Zwang, sondern auch auf der Zustimmung der Beherrschten beruhen; so wird Konsensbildung zur wichtigsten politischen Technologie; für Gramsci sind sämtliche Mittler der Zivilgesellschaft und kulturelle Praxen in politische Kämpfe um Definitionsmacht verstrickt, d.h. arbeiten an der diskursiven Durchsetzung von Werten und Überzeugungen mit; von diesem Bruch mit der mechanistischen Denkart des Marxismus profitieren heute Spin Doktoren, Think Tanks und Meinungsforschungsinstitute; der Kunst hingegen erwies die H.theorie einen Bärendienst: So kann der Vorwurf, «zu politisch» zu sein, schnell eine Zweitkarriere als Wahlhelfer oder Akademie-Präsident einleiten; neogramscianische Politiker von rechts und links (Haider, Chavez) wissen besser denn je, dass man im Kampf um H. die «Leute abholen muss» und begründen damit populistische Politikentwürfe; nur in Deutschland reklamierten Helmut Kohl («Geistig-moralische Wende») und Olaf Scholz («Lufthoheit über die Kinderbetten») erfolglos einen Nimbus als gewiefte Stellungskrieger. Was die beiden Volksparteien nämlich nicht verhindern konnten: Heute gelten allenfalls Nichtraucher und Nichtwähler als hegemonial – noch. Jan Engelmann Erwächst dem Theater aus diesen Paradoxien eine neue Rolle? Das Theater ist von seinem Wesen her Aufklärung. Es ist im bürgerlichen Sinne Spiegel der Gesellschaft und im volkstheatralischen Sinne ein Spaß über die traurigen Zustände. Jemand, der an der Perfektionierung und dem wohlgefälligen Fortgang der Gesellschaft arbeitet, wird nicht primär zum Theater gehen. Aber das Theater kann aus sich heraus nicht eine gesellschaftliche Welle wie 1968 produzieren. Es kann sie als Resonanzraum nur vergrößern und momentan ist die Zeitströmung so diffus, wie es die herrschende Praxis auf der Bühne widerspiegelt. | Vita & Publikationen Henrike Thomsen ist freie Journalistin für Die Zeit, Neue Zürcher Zeitung, Berliner Zeitung, Spiegel Online, Deutschlandradio, RBB Kulturradio u.a.; Trägerin des Wächterpreises der Tagespresse. 2004 – 2007 Pressesprecherin des Deutschen Theaters Berlin; Herausgeberin der Buchreihe «Blätter des Deutschen Theaters» mit Roland Koberg und Bernd Stegemann. April 2008 erschien in der Reihe der Doppelband «Deutsches Theater 2001 – 2008». Foto: Bettina Keller 18 Zahlen verstehen 19 Links ist da, wo die Regierung rechts ist. Goggelmoggel im Wunderland der Berliner Republik mit einem wachsenden Zuspruch. Von einem Linkstrend der Bevölkerung ist allenthalben die Rede, umfragegesättigt fühlt sich der Vorsitzende der Partei «Die Linke» auf der Höhe der neuen Zeit. Die zog einst mit der SPD, doch nun rennen die Sozialdemokraten ihr hinterher und fragen sich mit Alice erstaunt, wieso das Linke nicht mehr sozialdemokratisch heißt, und was dann noch das Sozialdemokratische ist, wenn die Linke die Partei «Die Linke» ist. Und wer noch Zweifel an Lafontaines Definitionsmacht hatte, wurde spätestens mit dem Hamburger Parteitag der SPD eines anderen belehrt. Denn seitdem ist die SPD bemüht, wieder eine linke Politik im Sinne ihres früheren Vorsitzenden zu machen. Womit erwiesen wäre, dass Goggelmoggel recht hatte. Bleibt noch die Frage zu klären, was die Stärke Oskar Lafontaines ausmacht, und wo sie ihre Grenze findet. Die Rede vom Linkstrend ist zu einer self­fulfilling prophecy geworden, seit sie mit der Bundestagswahl 2005 eine erste vermeintliche Bestätigung fand. Seitdem liefert der anhaltende Richtungsstreit in der SPD fast täglich neue Belege für ein Erstarken dieses Trends, der wiederum seinerseits den Streit befeuert. Auch die Grünen kehren seit Neuem wieder ihr linkes Wesen hervor. Und mit der Diskussion über eine rot-rot-grüne Koalition auf Bundesebene zeichnet sich bereits ein erster Höhepunkt des Trends am Horizont ab. Professionelle Beobachter werden nicht müde, die politische Landschaft nach Indizien für diese Entwicklung umzugraben. Von Dieter Rulff Vor einigen Wochen veröffentlichte Die Zeit eine Umfrage des Emnid-Instituts, die eine satte Mehrheit bei Anhängern aller Parteien für linke Positionen ergab. Ob Mindestlohn, Rücknahme der Rente mit 67 oder mehr Staatsintervention, das Votum war eindeutig. Dem Land wurde eine tiefe Gerechtigkeitslücke attestiert und der Regierung vorgehalten, zu wenig für deren Schließung zu tun. Auch in ihrer Selbstwahrnehmung sind die Deutschen nach «Wenn ich ein Wort gebrauche», sagte Goggelmoggel in recht hoch­ links gerückt. Das Erstaunliche an diesem Trend ist allerdings, mütigem Ton, «dann heißt es genau, was ich für richtig halte – nicht dass er bereits zur Jahrtausendwende einsetzte, zu einer Zeit also, mehr und nicht weniger.» «Es frage sich nur», sagte Alice, «ob man als der verfemte Neoliberalismus an den Börsen noch fröhliche Worte einfach etwas anderes heißen lassen kann.» «Es fragt sich Urstände feierte, Gerhard Schröder die «neue Mitte» für sich renur», sagte Goggelmoggel, «wer der Stärkere ist, weiter nichts.» klamierte und alle dahin drängelten. Von der Partei «Die Linke» Lewis Carroll, Alice im Wunderland war noch keine Rede und die PDS wurde seinerzeit auf dem Weg nach rechts, wenn man so will, Richtung «neue Mitte» gesehen. Oskar Lafontaine ist augenscheinlich der derzeit Stärkere, denn er Der Rückblick zeigt, dass zwischen den langwelligen Grundkann die Worte heißen lassen, was er für richtig hält. In dem ihm schwingungen der normativen Orientierung und des Institutioeigenen hochmütigen Ton dekretiert er seiner Partei und dem nenverständnisses, den damit verkoppelten, mittelfristigen Erganzen Land, was links und wer Feind ist, und lässt keinen Zweifel wartungen an die operative Politik und den kurzfristigen daran aufkommen, dass der Rest des politischen Personals von Erregungskurven medial befeuerter Personal- und Sachkonflikte neoliberalen Ideen benebelt ist und intellektuell von den Wirt- ein komplexerer Zusammenhang besteht, als dass sie sich umschaftsverbänden an der kurzen Leine geführt wird. Einzig «das standslos über den Kamm eines Trends oder gar einer ParteipräVolk» sieht er im Aufstand gegen diesen neoliberalen Irrweg und ferenz scheren ließen. In ihren Leitvorstellungen war und ist die das solchermaßen ob seines Durchblicks geadelte dankt es dem deutsche Gesellschaft eher links geprägt, gewählt hat sie meist Foto: privat Zwischen einem gesellschaftlichen Linkstrend und einer Politik der Mitte besteht kein Widerspruch. Vita Dieter Rulff ist freier Publizist und lebt in Berlin. Nach vielen Jahren bei der taz war der Politologe zuletzt leitender Redakteur der Wochenzeitung Die Woche. Er ist verantwortlicher Redakteur von Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik. 20 Zahlen verstehen Fort|schritt, der; positive Zukunftserwartung geschichtlicher Entwicklung; lange Geschichte, die lange Zeit gut ausging; als Denkfigur schon im Christentum bekannt (Teleologie) und von M. Luther mustergültig vertreten (bei Ankunft des Weltendes: Apfelbaum pflanzen); mit dem 18. Jh. (Aufklärung, industrielle Revolution) auf weltliche Bahnen gesetzt und im Idealismus über die Vervollkommnung des Menschen vorzeitig als Sieg der Vernunft gefeiert; in der Geschichtsphilosophie G.W.F. Hegels wird als Ziel des F. die Philosophie ausgegeben, bei der Revision durch K. Marx («auf den Kopf gestellt») die klassenlose Gesellschaft (Kommunismus); nah dran an deren Erwartung, aber dennoch gescheitert: die DDR («Faust III»); nicht nur deshalb hat der F.sglauben in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s kleinere Brötchen gebacken, etwa als rein technische Erscheinung in den 60er-Jahren (Weltraumflug, Automobilisierung); rasch (Ölkrise) und wiederholt (Peak Oil) gedämpft, daher haftet dem Begriff zur Zeit etwas Altmodisches an; erfreut sich im Freizeitvereinsfußball (Fortschritt Friedrichshain) größerer Beliebtheit als im zeitgenössischen Denken und der Politik (Reform); muss überdies mit Renaissance des religiösen Pragmatismus nach Leibniz («die beste aller möglichen Welten») und verbreitetem romantisch inspirierten Vulgokulturpessimismus konkurrieren (früher war alles besser). Matthias Dell Fördern Sie mit uns weltweit die Grundwerte Ökologie und Nachhaltigkeit, Demokratie und Menschenrechte, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit. Werden Sie Mitglied der Freundinnen und Freunde der Heinrich-Böll-Stiftung und unterstützen Sie Menschenrechtsaktivisten in Not sowie Künstler und Kunstprojekte. Der Jahresbeitrag beträgt 92 Euro, ermäßigt 46 Euro, für Studierende 25 Euro. Als Freundin oder Freund der Heinrich-Böll-Stiftung sind Sie Teil unserer grünen Ideenwerkstatt und unseres internationalen Politik-Netzwerkes. Ihnen werden mit Veranstaltungen zu Kultur & Politik und einer jährlichen Reise ins Ausland aufschlussreiche Gespräche und exklusive Informationen geboten. Außerdem erhalten Sie den Infobrief, unser Magazin Böll. Thema, den Jahresbericht und das Angebot für einen Link von unserer Homepage auf Ihre eigene. Ihre Ansprechpartnerin: Janina Bach, T 030.285 34-112 F -119, [email protected], www.boell.de/alt/foerderkreis «Im Gegensatz zur Labour Party der Ära Blair war die Schröder­SPD programmatisch sprachlos und in ihrer Praxis über weite Strecken erratisch.» konservativ. Sie war mehr gerechtigkeits- denn freiheitsorientiert und voller Vertrauen in die korporative und institutionelle Gewährleistung von Sicherheit und Teilhabe. Dieses Selbstverständnis wurde seit 1998 aufgebrochen. Die Wähler nahmen das als einen relativ scharfen Rechtsruck der SPD wahr, der damals allerdings im Einklang stand mit der politischen Selbstverortung. Das lässt den Schluss zu, dass seinerzeit die rotgrüne Reformpolitik zunächst den Vorstellungen weiter Teile der Bevölkerung entsprach. Der SPD ist es in ihrer Regierungszeit allerdings nicht gelungen, ihre begrenzten exekutiven Möglichkeiten mit den eigenen normativen Orientierungen so in Einklang zu bringen und weiter zu entwickeln, dass daraus zeitgemäße sozialdemokratische Begriffe von gesellschaftlichem Fortschritt und politischer Reform erwachsen wären. Im Gegensatz zur Labour Party der Ära Blair war die Schröder-SPD programmatisch sprachlos und in ihrer Praxis über weite Strecken erratisch. Das rächt sich, seit mit der Partei «Die Linke» ein Akteur die politische Bühne betreten hat, der virtuos die alte sozialdemokratische Klaviatur beherrscht. Eine Allensbach-Umfrage aus dem Sommer des letzten Jahres attestiert dieser Partei denn auch weit mehr Engagement beim Kampf für soziale Gerechtigkeit als der SPD. Diese sozialdemokratische Kernkompetenz wird von den Wählern noch genau so definiert, wie vor der Ära Schröder. Gemessen daran musste seine Politik sich notwendigerweise als defizitär erweisen. Politikrelevante Normen beziehen ihre Kraft nicht aus sich heraus, sie gewinnen ihre Stärke aus dem institutionellen Setting, das ihre Realisierung ermöglicht. Zum Setting des Schröderschen Reformprojektes wurde von der SPD kein adäquater Gerechtigkeitsbegriff entwickelt, wesentliche Versprechen seiner am Standort orientierten Politik haben sich zudem im Nachhinein als trügerisch erwiesen. Die daraus resultierende Enttäuschung verstärkt sich angesichts eines Finanzkapitals und einer wirtschaftlichen Elite, die sich staatlicher Kontrolle und gesellschaftlicher Verpflichtung entziehen. Deshalb agiert die SPD nur noch situativ und erweist sich als hilflos, wo ihr die Partei «Die Linke» das eigene frühere keynesianische Erfolgsmodell als auch künftig machbar entgegen hält. Nicht wenige in der SPD sind von dieser Annahme gleichfalls überzeugt. Dass sie zu deren Beweis die bisherige Politik als falsch deklarieren müssen, macht den programmatischen Riss der Partei aus, der nur oberflächlich als Personaldebatte um zwei schwache Protagonisten und als Kampf um zwei unattraktive Koalitionsoptionen ausgetragen wird. 21 Angesichts der Vorherrschaft der bürgerlichen Parteien in den Ländern und angesichts des Überdrusses an der Großen Koalition im Bund wird die Bereitschaft zu rot-rot-grünen Bündnissen in den kommenden Monaten eher noch wachsen. In der SPD wie bei den Grünen werden die Stimmen lauter, die die größeren gemeinsamen Schnittmengen der drei Partner betonen. Doch in der Größe dieser Schnittmengen liegt das Problem eines Linksbündnisses. Denn es würden zwei Parteien koalieren, die identische Kernkompetenzen aber keine klaren Komplementärkompetenzen aufweisen, die zudem historisch in einer Weise miteinander verwoben sind, die genug Stoff für ein Drama abwirft, aber keine Aussicht auf eine arbeitsfähige Regierung bietet. Eine solche Koalition wäre durchsetzt vom Begehren, sich wechselweise zu dominieren und zu minimieren. Schon die bisherigen Wahlen haben gezeigt, dass die Konkurrenz zwischen SPD und der Partei «Die Linke» auf ein Nullsummenspiel hinaus läuft, bei dem sich zumeist die Gewinne der Letzteren aus den Verlusten der Ersteren speisen. Es gehört zu den verbreiteten Fehlannahmen, dass sich der Linkstrend bei der Selbstwahrnehmung der Bürger, ihren normativen Vorstellungen und politischen Erwartungen in entsprechende Parteipräferenzen niederschlägt. Schaut man sich die Umfragen an, so ist nicht nur die Selbstwahrnehmung der Wähler, sondern auch die Verortung der Parteien (außer der NPD) in einem Geleitzug nach links gewandert. Wobei die Partei «Die Linke», diesem vorauseilend, mittlerweile an den äußeren linken Rand des Spektrums gerückt ist. Schaut man sich die Wahlergebnisse an, so findet man auch in ihnen keinen Beleg für einen Trend zu den linken Parteien. Von 1998 bis 2005 sank dieses Lager von fast 26 Millionen Wahlberechtigten auf 24,2, hingegen stieg das bürgerliche Lager zur gleichen Zeit von 20,4 Millionen auf 21,3 Millionen Wahlberechtigten. In den neun Landtagswahlen seit 2005 sackte der Anteil der Wahlberechtigten, die für SPD, Grüne und die Partei «Die Linke» stimmten, nochmals um 35 Prozent. Dabei verlor auch «Die Linke» bei allen Wahlen mit Ausnahme der niedersächsischen. In der gleichen Zeit waren die Verluste von CDU/CSU und FDP nur halb so groß. Beide Lager liegen derzeit fast gleichauf. Nur 25 Prozent der Bürger rechnen sich linken Positionen zu. 53 Prozent hingegen verorten sich in der politischen Mitte. Der vermeintliche Linkstrend erweist sich bei näherer Betrachtung als Wiedereinbettung linker Normen und Einstellungen in den gesellschaftlichen Mainstream. Von daher täuscht sich womöglich die Partei, die meint, Wahlen zu gewinnen, indem sie sich links verortet. Wahlen gewinnt, wer diese Mitte überzeugt. Und wie 1998 der Sieg der rot-grünen Regierung mit einem Drift der gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung nach rechts verbunden war, so könnte der aktuelle Linksschwenk mit einer Vorherrschaft der bürgerlichen Parteien einhergehen. | Spricht es für oder gegen eine Partei, wenn man von ihr behauptet, sie sei eine Partei der Mitte? 27% Spricht für sie Unentschieden Spricht gegen sie 9% 64% Welche Partei ist für Sie die Partei der Mitte? CDU/CSU 27 47 FDP 20 48 SPD 19 39 Linke 3 19 Bündnis 90/Grüne Gesamtbevölkerung Parteiangehörige 3 7 Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach, veröffentlicht am 20.2.2008 22 In|ter|na|tio|na|lis|mus, der; im Gefühlshaushalt der Linken für die großen Sentimente zuständig: «Was ihr auch unsern Brüdern getan, von Chile bis nach Vietnam…» Das gab feuchte Augen, die im Schlussrefrain zu Metall in der Stimme umgegossen wurden: «Die letzte Schlacht gewinnen wir.» Für die Neuen Linken bildete der Int. das ideologische Zentrum ihres Weltbilds. Nach der sozialdemokr. Pazifizierung oder «revisionistischen» Degenerierung der alten prolet. Internationale (s. Proletariat) bedurfte es einer «Dritten Welt» als neues, globales revolutionäres Subjekt: Vorhang auf für den finalen Aufstand der «Verdammten dieser Erde», in Cinemascope und Hi-Fi. Nie war die Welt eine solche Synästhesie von Bildern, Musik, Losungen, Texten wie 1968, als alle Ereignisse der Welt und der Geschichte «zu sprechen» schienen. Es war schön. Bis die Heroen des Zeitalters (u.a. Fidel, Kim, Ho, Mao oder Mugabe) blutig klarstellten, dass ihr flammender Inter-Nationalismus nur eine ideologische Steigerungsform des Letzteren war. Wahrer Int. hätte sich jetzt um Liquidierte, Lagerinsassen, Boatpeople und andere Opfer siegreicher «Befreiungsbewegungen» zu kümmern gehabt. Aber das hieß: beklemmende statt großer Gefühle, was für Amnesty und Ärzte ohne Grenzen. Heute auch radikal reformulierter Int. der Djihadisten, die uns lehren, dass die idealisierte Internationale (oder Umma) der Unterdrückten und Gläubigen von jeher auch dem radikalen Ausschluss der Unterdrücker, Ungläubigen, Verräter etc.pp. aus der Menschheit gedient hat. Gerd Koenen Im|pe|ri|a|lis|mus, der; im Gefühlshaushalt der Linken für die richtig bösen Sen- timente zuständig. Für die Neuen Linken von 1968 der eigentliche Rahmen ihres Weltbilds. Man wurde Sozialist, Kommunist, jedenfalls Revolutionär über den Antiimp., der sich ideell auf die Seite der Unterdrückten dieser Erde stellte. Der Imp. war theoretisch nichts anderes als der räuberische, bewaffnete (u.a. mit Napalm, Atomwaffen), die Welt bedrohende Gesamtkapitalismus. Sein Hauptsitz: Wall Street, Weißes Haus, Pentagon. Seine bevorzugten Nebenwohnsitze (u.a.) Bonn und Tel-Aviv. In der Brust des Imp. hatten die Metropolenlinken nach dem Vermächtnis des Ché den Kampf aufzunehmen. Für einige nahm der Imp. später die Gestalt eines «Welt-Zionismus» an. Im Hass auf die USA-SA-SS kamen subtil revanchistische Motive ins Spiel, nicht nur in Deutschland. Dann ließ Maos China dem altbösen US-Imp. einen sowjetischen «Sozialimp.» zur Seite treten. Und was war China selbst, das Vietnam 1980 kurz mal eine blutige «Lektion» erteilte? Schließlich schälte sich heraus, dass es den alle Weltübel vereinigenden Überfeind nicht gibt. Gerd Koenen Mut Ein Gespenst geht um in Deutschland, das Gespenst vom Linksdrall der Republik. Worin manifestiert sich dieses Phänomen? In der Dominanz der «sozialen Frage», den immer neuen Hiobsbotschaften über Armut in einem wohlhabenden Land, in den steigenden Umfragewerten der «Linkspartei» oder in der Selbsteinschätzung einer Mehrheit der Bevölkerung? Fühlt man dieser Entwicklung auf den Zahn, stellen sich Zweifel an einer Linksverschiebung der politischen Achse ein. In Wahlergebnissen lässt sich ein solcher Trend jedenfalls nicht messen, wenn man die kumulierten Stimmen für die Parteien links von Union und FDP als Maßstab nimmt. Aus dem öffentlichen Übergewicht sozialer Themen lässt sich erst recht nicht ableiten, dass die Republik nach links rückt. Die «soziale Frage» lässt viele Antworten zu, sie mündet nicht per se in eine emanzipatorische Politik. Das gilt auch für das beliebte Manager-Prügeln und die Wut auf die «Gier der Reichen». Es gibt linken und rechten Antikapitalismus, und es gibt autoritäre und libertäre Linke. Man muss also genauer hinsehen, ob der Zeitgeist tatsächlich von links weht – und um welche Art von links es sich dabei handelt. Wenn links eine zukunftsgerichtete Haltung meint, die von einem Optimismus der Veränderung getragen wird, ist davon in der aktuellen Befindlichkeit der Deutschen recht wenig zu finden. Stattdessen herrscht ein Diskurs der Angst: Angst vor sozialem Abstieg, vor den Folgen der Globalisierung, vor steigenden Gesundheitskosten und Energiepreisen oder, je nach Was können wir wissen? 23 zum Wandel Plädoyer für eine Agenda 2020 Von Ralf Fücks Gemütslage, vor einem allgegenwärtigen Überwachungsstaat. Ein Klima diffuser Ängste befördert aber nicht die Bereitschaft zu Reformen, sondern führt eher zur Verhärtung und Abschottung. Das zeigt sich bis in die vorherrschende Einstellung zu Migrationsfragen, die nach wie vor von Konkurrenzangst und Abwehr geprägt ist. Nicht Aufbruch zu neuen Ufern ist die Devise des Tages, sondern Verteidigung der Besitzstände; nicht Mut zum Wandel, sondern Abwehr von Veränderungen. Auch die Auslandseinsätze der Bundeswehr werden unter dem Blickwinkel beurteilt, möglichst keine Risiken für andere zu übernehmen – ein eng definiertes «nationales Interesse» schlägt die Bereitschaft, internationale Verantwortung zu übernehmen. schlafender Riese. Für die Linke sind die rot-grünen Reformen der letzten Jahre schlicht überflüssig. Von der Einführung des demographischen Faktors in die Rentenformel bis zur Reform der Grundsicherung, die unter dem abstrusen Titel «Hartz IV» so schlecht wie möglich verkauft wurde: alles nur mutwillige Demontage des Sozialstaats. Das Mantra dieser Linken ist die Rückkehr zum Status quo ante. Sie appelliert an die niedrigsten Instinkte der Massen: den Hass auf «die Reichen», das Ressentiment gegen «die da oben» und den Rückzug auf die nationale Wagenburg. Niemand verkörpert diesen linken Nationalismus skrupelloser als Lafontaine, wenn er der Bundesregierung vorwirft, sie ziehe mit der Entsendung deutscher Truppen nach Afghanistan den Terror ins Land. Eine strukturkonservative Linke... … und eine reformmüde Große Koalition Im politischen Spektrum repräsentiert – und verstärkt – ausgerechnet jene Partei diese Haltung, die sich selbst «Die Linke» nennt. In Wahrheit ist sie von allen die strukturkonservativste. Ihre Botschaft heißt: Vorwärts in die Vergangenheit, in die vermeintlich heile Welt der achtziger Jahre, als der westdeutsche Sozialstaat noch nicht von den Unbilden der Globalisierung, des demographischen Wandels und der Überschuldung der öffentlichen Hand angefochten war. Sie will zurück in die Zeit, als die Aufgabe der Bundeswehr darin bestand, im Windschatten der Amerikaner das Gleichgewicht des Schreckens zu sichern; als der internationale Wettbewerb noch überschaubar war und China ein Die Abkehr von einer Politik, die sich den Herausforderungen der neuen Zeit stellt, ist aber kein Monopol der «Linkspartei». Die SPD ist davon ebenso erfasst wie die Union. Kaum hatten die rot-grünen Weichenstellungen erste positive Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt und bei den öffentlichen Finanzen gezeitigt, wechselten die Regierungsparteien wieder in den Verteilungsmodus. Sie sind dabei, die Reformrenditen bei Renten, Arbeitsmarkt und Staatsfinanzen zu verspielen, die Rot-Grün so mühsam auf den Weg gebracht hat. Dabei ist keiner der Gründe verschwunden, die einen Umbau des Sozialstaats und eine andere Arbeitsmarktpolitik erfordern. Wer der Bevölkerung vermittelt «Alles kann so bleiben, wie es war», verkennt die Zeichen der Zeit. Die Exporterfolge der deutschen Wirtschaft sind kein Ruhekissen. Tatsächlich sind sie teuer erkauft, nämlich mit einem anhaltenden Rationalisierungsdruck, mit dem die Unternehmen die hohen Arbeitskosten kompensieren. In der Industrie sind Wachstum und Arbeitsplätze weitgehend abgekoppelt. Sie lebt von der überdurchschnittlichen Produktivität und Innovationskraft der Betriebe. Für die Zukunft ist dieser «Vorsprung durch Technik» aber keineswegs gesichert. Forschung und Entwicklung, hochqualifizierte Arbeitskräfte, innovative Produkte sind kein Monopol Westeuropas, der USA und Japans mehr. China bildet inzwischen mehr Ingenieure aus als jedes andere Land, Indien forciert massiv seine Software-Industrie, und auch die anderen Schwellenländer wechseln längst von billiger Massenproduktion auf hochwertige Produkte und Dienstleistungen. Wenn Deutschland und die EU ihren hohen Lebensstandard halten wollen, müssen sie erheblich mehr in Bildung, Forschung und Innovation investieren als das gegenwärtig der Fall ist. Und sie müssen sich stärker für die Einwanderung talentierter, leistungsbereiter Menschen aus anderen Kulturen öffnen. Es ist ein Alarmsignal erster Güte, dass die deutsche Wanderungsbilanz für qualifizierte Arbeitskräfte negativ ist: Es wandern mehr Wissenschaftler, Akademiker, gut ausgebildete Facharbeiter aus als ein. Das gilt mittlerweile auch für junge Deutsch-Türken Was können wir wissen? der zweiten und dritten Generation, die subventionierten Frühverrentung wieder Politik der Erneuerung. So bedrohlich die hier den hürdenreichen Weg durch das hö- aufblühen lassen. Dabei ist es genau das Szenarien eines außer Kontrolle geratenen here Bildungssystem zurückgelegt haben falsche Signal, Unternehmen für die Aus- Klimas auch sind, so fatal wäre es, vor alund jetzt in die Türkei auswandern, weil steuerung älterer Arbeitnehmer noch zu lem Katastrophenangst zu verbreiten. Eine sie dort bessere berufliche Perspektiven belohnen, statt die innerbetriebliche Per- Inflation von Horrorszenarien lähmt eher, sonalpolitik so zu verändern, dass die Leis- als dass sie zum Handeln ermutigt. Wir für sich sehen. Die Proportionen zwischen Sozial- und tungsfähigkeit und Kompetenz von Mitar- werden die Gefahren des Treibhauseffekts Bildungsausgaben stimmen nicht. Der beitern möglichst lange erhalten bleibt. und eines darwinistischen Kampfs um Bund zahlt allein für die Bezuschussung Angesichts des bereits heute bestehenden knapper werdende Ressourcen nur einder Renten jährlich rund achtzig Milliar- Fachkräftemangels in ganzen Branchen dämmen können, wenn der Übergang zu den Euro an Steuermitteln; dagegen neh- und Regionen und der wachsenden finan- einer nachhaltigen Wirtschaftsweise nicht men sich die öffentlichen Ausgaben für ziellen Lasten des Rentensystems ist die als Notprogramm erscheint, sondern als Wissenschaft, Forschung und Entwicklung Verkürzung der Lebensarbeitszeit ein teu- Aufbruch zu neuen Ufern. «Going green» bedeutet nicht das Ende geradezu kümmerlich aus. Der Ausbau der rer Irrweg. Daraus folgt nicht «schuften bis frühkindlichen Erziehung geht viel zu ins Grab», sondern Verknüpfung von al- des Wohlstands, sondern einen großen langsam voran, ebenso der Aufbau von tersgerechter Arbeit, familienfreundlichen Sprung aus der Kohlenstoffzeit ins SolarGanztagsschulen. Die Universitäten sind Arbeitszeiten und lebenslangem Lernen, zeitalter. Im Abschied von Öl und Kohle unterfinanziert. Aber die öffentliche De- wie es vor allem in skandinavischen Län- liegen jede Menge Chancen – für neue Technologien, neue Märkte, neue Jobs und batte wie die Ankündigungen der Parteien dern bereits geschieht. Kaum ein Sozialdemokrat (den legen- für ein besseres Leben. Vierzig Prozent wesind nach wie vor auf die Erhöhung von Sozialleistungen fixiert, statt die Prioritä- dären Franz Müntefering ausgenommen), niger Kohlendioxid-Emissionen bis 2020, ten auf Bildung und Innovation zu setzen. der noch die rot-grüne Reformpolitik im neunzig Prozent weniger bis zur Mitte des Dabei hängen die Lebenschancen von Kin- Grundsatz verteidigt – bei aller Kritik an Jahrhunderts, das ist nichts weniger als dern aus sozial benachteiligten Familien der konkreten Umsetzung und der Art und eine neue industrielle Revolution. Wir stevor allem davon ab, ob sie in einem gut Weise, wie diese Reformen erarbeitet und hen vor einer Zeit großer Erfindungen und ausgebauten Bildungssystem vom Kinder- kommuniziert wurden. Dabei war die rascher Innovationen in allen Bereichen – garten bis zur Hochschule optimal geför- «Agenda 2010» eines der mutigsten und eine großartige Gelegenheit für junge wichtigsten Reformvorhaben, denen sich Menschen, die die Welt von morgen mitgedert werden. Auch die Alterung der Gesellschaft und eine Bundesregierung seit den achtziger stalten wollen. Wir dürfen weder die Herausforderung der Rückgang des Erwerbstätigen-Potenti- Jahren gestellt hat. Wo der Bundespräsials wirken in diese Richtung. Nach einer dent recht hat, hat er recht: Wir brauchen noch die Chancen kleinreden, die in einer kurzen Hochkonjunktur ist der demogra- keine Abkehr von dieser Politik, sondern solchen Transformation liegen. Es gilt, daphische Wandel wieder weitgehend aus einen neuen Reformanlauf, eine «Agenda für eine Sprache des Aufbruchs zu finden, der öffentlichen Debatte verschwunden; 2020». Wer sollte die Rolle des Vorreiters für wie sie auf ihre Weise John F. Kennedy, Wilals politisches Querschnittsthema kommt eine solche Politik in der deutschen Partei- ly Brandt, Petra Kelly, der späte Al Gore er nicht vor. Ein klassischer Fall von Ver- enlandschaft übernehmen, wenn nicht die und jetzt Barack Obama gefunden haben. drängung. Nähme man die Herausforde- Grünen? SPD und Union wollen nicht; die Politik, die den Bürgern nichts abverlangt, rungen ernst, die damit auf die Gesell- FDP kann es nicht, weil sie das soziale Ver- ist Politikversagen. Die Kunst besteht darschaft zukommen, würde der Reformdruck trauen verspielt hat; die «Linkspartei» ver- in, den Mut zum Wandel zu mobilisieren. Er kann nur entstehen in einem Klima des auf das Bildungs-, Gesundheits- und Ren- teidigt den Status quo von gestern. demokratischen und sozialen Vertrauens. tensystem sowie auf die EinwanderungsReformpolitik, die sich nicht auf die aktive politik weiter steigen. Stattdessen werden Aufbruch zu neuen Ufern Mitarbeit der Gesellschaft stützen kann, ist sogar die bereits beschlossenen Umbaumaßnahmen im Rentensystem wieder ver- Den Grünen fällt die Rolle des Reform- zum Scheitern verurteilt. Diese Bereitwässert, und die Gesundheitsreform ist in motors auch deshalb zu, weil sie wie nie- schaft zu mobilisieren, den notwendigen einem ebenso teuren wie ineffizienten mand sonst mit der ökologischen Frage Wandel mit Mut und Augenmaß anzugeKompromiss zwischen den Regierungspar- verbunden sind. Noch mehr als die rau- hen, dafür sollten wir die Wahlen des komteien gestrandet. Derweil steigen die Kran- hen Winde der Globalisierung und die de- menden Jahres nutzen.| kenkassenbeiträge munter weiter. Damit mographischen Umwälzungen erfordern nicht genug, will die SPD den Unsinn der Klimawandel und Ressourcenkrise eine Vita Ralf Fücks ist seit 1996 Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung. 1991–1995 Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz in Bremen und Bürgermeister der damals regierenden Ampelkoaliton. Er ist Mitglied der Grundsatzkommission von Bündnis 90/Die Grünen. Foto: Ludwig Rauch 24 Foto: ullstein bild – Perez (L) 25 Agenda ’68 (Sorbonne, Paris) 26 Was können wir wissen? Yes, they Warum eine intakte Sozialdemokratie in Deutschland heute nicht bloß gebraucht wird, sondern sogar erfolgreich wäre. Warum kommt die SPD derzeit bloß so unattraktiv daher? Liegt es nur an den offensichtlichen Defiziten ihrer politischen Führung? Oder sind die ständigen Querelen in der sozialdemokratischen Chefetage umgekehrt Ausdruck einer viel tiefer reichenden, die sozialdemokratischen Fundamen­ tals betreffenden Misere? Tatsächlich bedingen sich beide Faktoren gegenseitig. Auswege stehen der SPD trotzdem offen. Die Frage ist nur, ob sie noch rechtzeitig imstande sein wird, diese einzuschlagen. Zunächst: Allzu wahrscheinlich ist es sowieso nicht, dass eine politische Partei, deren Ursprünge tief im 19. Jahrhundert liegen, auch noch 150 Jahre später erfolgreich ist. Man muss sich schon ab und zu klarmachen, mit welchen historischen Ereignissen und Prozessen sich die Partei seit ihren Anfängen herumzuschlagen hatte: Industrialisierung und erste Globalisierung; ein Weltkrieg, Inflation und Depression; totalitäre Diktatur, ein weiterer Weltkrieg, verbunden mit beispiellosem Völkermord; deutsche Teilung und Kalter Krieg, dazu in Ostdeutschland die nächste totalitäre Diktatur; westdeutsches Wirtschaftswunder und fortschreitende Europäisierung; innere Liberalisierung und Übergang zur wissensintensiven Dienstleistungsgesellschaft; ökologische Frage und neue soziale Bewegungen; Zusammenbruch des diktatorischen Staatssozialismus und deutsche Einheit. Vom «Ende der Geschichte» (Francis Fukuyama) war dann vor knapp zwei Jahrzehnten viel die Rede. Zur kollektiven Gemütslage der deutschen Sozialdemokratie passten solche beruhigenden Zeitdiagnosen ganz gut, doch es kam sehr anders. Längst erleben wir die dynamische «Rückkehr der Geschichte» (Robert Kagan). Fast alle internationalen Rahmenbedingungen verändern sich in dramatischem Tempo. Was das frühe 21. Jahrhundert prägt, sind die – erfreulichen und weniger erfreulichen – Folgen der zweiten Globalisierung, der «Aufstieg der Anderen» (Fareed Zakaria) von China und Indien bis nach Russland, Ostmitteleuropa oder Südamerika, dazu eine globale «Rezession der Demokratie» (Larry Diamond), also die aggressive Wiederkehr autoritärer Herrschaftssysteme. Zudem zeichnen sich globale Klima-, Energie- und Ernährungskrisen ab. Als erfolgreiche Exportnation konnte Deutschland vielfach von den Veränderungen der jüngeren Zeit profitieren. Zugleich jedoch liegt auf der Hand, dass das altbundesrepublikanische Wirtschafts- und Sozialmodell dringend der ebenso entschlossenen wie kontinuierlichen Erneuerung bedarf, Vita Tobias Dürr ist Chefredakteur der Zeitschrift Berliner Republik (www.b-republik.de) und Mitbegründer des Think Tanks «Das Progressive Zentrum» (www.progressives-zentrum.de). um angesichts der Umbrüche und Gefährdungen unserer Zeit nicht aus den Angeln gehoben zu werden. In solcher Lage bedarf der Diskurs der Sozialdemokratie dringend einer auf die Zukunft gerichteten «Verzeitlichung», wie sie jüngst der Historiker Jürgen Kocka gefordert hat. Weniger die Verteilung bereits erarbeiteter Leistungen oder Produkte in der Gegenwart gehört heute in den Vordergrund sozialdemokratischer Politik als die aktive Herstellung von Lebenschancen, Zivilität und Wohlstand unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts. Auf der Ebene des programmatischen Bekenntnisses ist die SPD hiermit einverstanden; das Prinzip des «vorsorgenden Sozialstaats» jedenfalls, der energisch in alle Menschen und ihre Fähigkeiten investiert, hat sie in ihrem neuen Hamburger Grundsatzprogramm verankert. Aber Parteien sind immer auch Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaften. Gerade die angeblich so programmversessene SPD ist in Wirklichkeit ermattet und steckt tief in der psychodemographischen Falle: Die Mehrheit ihrer bereits vor Jahrzehnten in die Partei geströmten Mitglieder und Funktionäre will den offensiven Aufbruch nach vorne im Grunde nicht. Voller Tücke verklären deshalb Lafontaines Foto: [email protected] Von Tobias Dürr 27 could! Populisten die westdeutsche Republik der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zum Sonnenstaat aller rechtgläubigen Sozialdemokraten. Dass der Vorsitzende der SPD, wenngleich selbst durchaus kein «Altlinker», die defensive, am Status quo ante orientierte Mentalität der sozialdemokratischen Traditionskohorten kongenial repräsentiert (und sich politisch auf diese stützt), erweist sich als zusätzlicher Bremsklotz. So könnte die SPD die beträchtlichen Chancen verspielen, die sie besitzt. Ihre in die Jahre gekommenen Kerntruppen und Funktionäre mögen dem progressiven Narrativ einer sozialdemokratischen Lebenschancenpolitik nicht viel abgewinnen, die wirtschaftliche Dynamik, hochwertige Bildungs- und Aufstiegschancen für alle sowie ökologische Nachhaltigkeit als zusammengehörig begreift. Paradox ist nur, dass sich der SPD in jüngerer Zeit neue Wähler geradezu aufdrängen, die ganz offensichtlich gerade nicht träumerische Nostalgie an die Wahlurne treibt. Bei allen drei Landtagswahlen des vergangenen Winters verzeichnete die SPD erstaunliche (und bemerkenswert unkommentiert gebliebene) Erfolge unter jungen Wählern zwischen 18 und 24 Jahren. In Hessen legten die Sozialdemokraten in dieser Gruppe um volle 15 Prozentpunkte zu, unter Frauen dieses Alters sogar um sagenhafte zwanzig Punkte. In Hamburg belief sich der Zuwachs der SPD in dieser Altersgruppe auf neun Prozentpunkte, bei den niedersächsischen Frauen unter 25 Jahren immerhin auf sieben. In Hessen und in Hamburg setzt sich der Positivtrend auch in der nächst höheren Altersgruppe fort: plus 15 Prozentpunkte bei den 25- bis 34-jährigen Frauen in Hessen, plus sechs Punkte in Hamburg. Unter Schülern, Auszubildenden und Studenten verzeichnete die SPD in Hessen einen Zugewinn von zwölf Punkten, in Hamburg sogar von 17 Punkten. Damit entschied sich in der Hansestadt jeder zweite Wähler in Ausbildung für die SPD. Offensichtlich ist: In den jüngeren Gruppen unserer Gesellschaft wächst die Nachfrage nach einer modernen und dynamischen Interpretation sozialer Demokratie für das 21. Jahrhundert. Eine aktive Politik der Lebens-, Bildungs- und Aufstiegschancen für alle besäße beträchtliche Attraktivität, die Idee des vorsorgenden Investierens in Menschen und ihre Fähigkeiten genießt wachsende Zustimmung. Was fehlt, ist das dazu passende Politikangebot. Bemüht hat sich die SPD in letzter Zeit zu wenig um die Jüngeren und Bewegungsfreudigen, die Aufstiegswilligen und Bildungshungrigen, die Tatendurstigen und Zuversichtlichen. Im Zentrum sozialdemokratischer Aufmerksamkeit stehen allzu oft vor allem die älteren und männlichen Wähler mit ihren Besitzständen und Verlustängsten. Auch um sie müssen sich Sozialdemokraten kümmern – aber eben nicht nur um sie. Die SPD wäre erfolgreicher, wenn sie zugleich als dynamische Partei des Fortschritts, der Emanzipation und der Erneuerung agieren würde. Jedenfalls zeigt das Wahlverhalten der Jüngeren: Der Zeitgeist in Deutschland weht progressiv. Ob allerdings von diesem Zeitgeist die real existierende SPD profitieren wird, hängt vom kreativen Agieren ihrer Parteieliten ab. Es ist die Aufgabe wacher Politiker, gesellschaftliche Veränderungen zu beobachten, neue Bedürfnisse aufzuspüren und zu politisieren. Mehrheiten werden von Parteien niemals einfach vorgefunden, sondern immer bis zu einem gewissen Grade politisch geschaffen. Nichts anderes tat 1998 Gerhard Schröder, als er mit Erfolg die «Neue Mitte» ausrief, nichts anderes tut Barack Obama derzeit in den USA. Mehrheits- oder auch nur überlebensfähig wird die SPD erst wieder, wenn sie sich Zustimmung jenseits ihrer Stammwähler und Funktionäre erarbeitet. Je heftiger sie sich als defensive Traditionspartei aufführt, desto mehr legitimiert sie die Lafontaine-Populisten. Nötig sind Neugier und Zuversicht, Öffnung und Zuwendung, statt Abgrenzung, Reihenschließen und Nostalgie. Kurz, nötig ist Bewegung und nicht Beharrung. Sucht die SPD ihre Zukunft weiter mürrisch im vorigen Jahrhundert, statt mit Leidenschaft an einer neuen sozialdemokratischen Mehrheit für unsere Zeit zu bauen, wird ihr irgendwann niemand mehr folgen. «Yes, we can» – es ist lange her, seit man Barack Obamas zupackendes Motto so oder ähnlich von deutschen Sozialdemokraten gehört hat. Vor allem deshalb ergeht es dieser großen alten Partei heute so, wie es ihr ergeht. Sie könnte auch anders. | «Paradox ist, dass sich der SPD in jüngerer Zeit neue Wähler geradezu aufdrängen, die ganz offensichtlich gerade nicht träumerische Nostalgie an die Wahlurne treibt.» 28 Was können wir tun? «Wir sollten nicht zimperlich sein.» Soziale Umverteilung in den privaten Konsum oder Investitionen in öffentliche Güter? Von Sibyll Klotz «Hungern muss hier keiner, ein Land redet sich arm» war der Titel der Talkshow von Anne Will kurz nach der Veröffentlichung des neuen Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung. Dabei bedeutet Armut mehr als fehlendes Geld. Mit Armut geht oft ein gesellschaftlicher Ausschluss einher, Armut erschwert die Teilhabe an Bildung, Mobilität, Kultur, aber auch an einem gesunden Leben. Soziale Exklusion engt die Wahlmöglichkeiten ein, führt zu Perspektivlosigkeit, zu einem Verlust an Selbstvertrauen und Würde, begleitet von der Angst, all diese Nachteile an die eigenen Kinder weiterzugeben. Das dramatische Ausmaß an Armut und sozialem Ausschluss, das wir mittlerweile erreicht haben, ist nicht nur auf das Einbrechen der Gehälter im unteren und mittleren Einkommensbereich und auf die zu geringen Arbeitslosengeld II-Regelsätze zurückzuführen. Auch zehn Jahre Sparpolitik der öffentlichen Haushalte haben ihre Spuren hinterlassen und die Kluft zwischen Arm und Reich oder besser zwischen denen, die «dazu gehören», und denen, die «draußen vor» stehen, vergrößert. Wir haben es, vor allem in den städtischen Ballungsräumen, nicht nur mit gespaltenen Einkommensverhältnissen zu tun, son- dern mit gespaltenen Lebenswelten. Wer arm ist, besucht nicht nur andere Kitas und Schulen, wohnt in anderen Stadtvierteln, ist in anderen Sportvereinen, geht zu anderen Ärzten, kauft andere Lebensmittel als die Wohlhabenden. Wer arm ist, hat auch deutlich schlechtere Chancen, einen guten Schulabschluss zu machen und einen Beruf zu finden. Es sind die Ärmeren, die auf öffentlich finanzierte Gemeinschaftsgüter und Institutionen angewiesen sind. Eltern, die über finanzielle Mittel, Energie und Kontakte verfügen, schicken ihre Kinder immer öfter auf Privatschulen, die zurzeit überall wie Pilze aus dem Boden schießen. Von 826 Schulen insgesamt sind in Berlin 104 Privatschulen, von insgesamt 328 380 Schülern und Schülerinnen sind 23 100 privat eingeschult – Tendenz steigend. Nichts gegen eine Trägervielfalt bei Kitas und Schulen, aber wenn der Grund für deren Boom vor allem die Unzulänglichkeiten der staatlichen Schulen sind, dann läuft etwas deutlich schief. Eine wirksame Sozialpolitik darf sich nicht vor die Alternative stellen lassen, entweder die Regelsätze zu erhöhen oder in Gemeinschaftsgüter zu investieren. Sie muss die öffentlichen Institutionen stärken und reformieren, existenzsichernde Löhne und «Eine wirksame Sozialpolitik darf sich nicht vor die Alternative stellen lassen, entweder die Regelsätze zu erhöhen oder in Gemeinschaftsgüter zu investieren.» Foto: Freia Königer 29 Gehälter durchsetzen und die individuelle Existenzsicherung verbessern, und zwar in dieser Reihenfolge! Die Sozialpolitik muss allerdings auch der Erkenntnis Rechnung tragen, dass ein Großteil der sozialen Probleme von heute (z. B. die Verwahrlosung und Vernachlässigung von Kindern oder das höhere Erkrankungsrisiko von Migranten und Migrantinnen) nicht durch höhere finanzielle Transfers zu lösen ist! Wir wissen, dass die Weichen für die Zukunft früh gestellt werden. Eine erfahrene Kinderärztin sagte mir, dass sie bereits heute wüsste, welchen Bildungsabschluss die fünfjährigen Kinder, deren sprachliche, motorische, soziale und emotionale Fähigkeiten sie vor der Einschulung untersucht, erreichen werden. Was ist notwendig, um diesen Kindern bessere Chancen zu eröffnen als die auf einen Hauptschulabschluss? Wichtig wäre ein ausdifferenziertes System der Frühförderung. Die Einrichtungen müssen in die Lage versetzt werden, gerade benachteiligte Kinder individuell zu unterstützen. Wichtig wäre ein Schulsystem, das nicht länger auf frühes Aussortieren, sondern auf Gemeinsamkeit und Integration setzt. Wichtig wäre, für jedes Kind die Möglichkeit zu schaffen, ein Instrument zu lernen, Sport zu treiben, an der Klassenfahrt teilzunehmen, in den Ferien schwimmen zu lernen, eine Zahnspange zu bekommen und täglich ein warmes kostenloses Mittagessen zu haben. Um dies zu verwirklichen, müssen wir neue Finanzierungsquellen erschließen. Dabei sollten wir nicht zimperlich sein: von der Abschaffung des Ehegattensplittings bis zur Wiedereinführung der Vermögenssteuer, vom Schließen vorhandener Steuerschlupflöcher bis zu einem neuen Investitionsbegriff im Haushaltsrecht sind Ansätze vorhanden. Starke öffentliche Institutionen entstehen allerdings nicht allein durch die Aufstockung finanzieller Mittel. Ebenso notwendig ist deren geistige Erneuerung. Dabei geht es um mehr als neue Schulstrukturen. Es geht um Schulen, die eigenständig und verantwortlich handeln, wo die Lehrerinnen und Lehrer nicht an einem starren Dienstrecht gemessen und von einer unflexiblen Schulbürokratie gesteuert werden. Sie sollten danach beurteilt werden, was sie für ihre Schülerinnen und Schüler leisten. Modernisierter öffentlicher Institutionen und guter, für alle zugänglicher Gemeinschaftsgüter bedarf es nicht nur im Bildungswesen und bei der Betreuung und Erziehung von Kindern, sondern auch bei der Pflege und Betreuung älterer Menschen, bei der gesundheitlichen Prävention, bei der Mobilität, beim Zugang zu Kunst, Kultur und sportlichen Aktivitäten. Eine Erneuerung des Sozialstaats muss individuelle Armut bekämpfen und Teilhabe für alle ermöglichen und deshalb den Ausbau und die Reform öffentlicher Güter und Dienste in den Mittelpunkt stellen. Die erforderlichen Investitionen sind nicht nur ein Gebot der Humanität, sondern auch der ökonomischen Vernunft, denn sie «rechnen» sich, in jeder Hinsicht! | Vita Sibyll Klotz ist seit 2006 Stadträtin für Gesundheit und Soziales in Berlin. Ab 1991 im Berliner Abgeordnetenhaus, zunächst als Vertreterin des Unabhängigen Frauenverbandes (UFV), ab 1995 als Mitglied für Bündnis 90 / Die Grünen. Die Philosophin war Fraktionsvorsitzende, arbeitsmarkt- und frauenpolitische Sprecherin und 2004/05 Vorsitzende der Enquetekommission «Eine Zukunft für Berlin». So|li|da|ri|tät, die; altes Lied, weil Grundlage menschlichen Zusammenlebens; schon bei Aristoteles ist der Mensch nicht gern allein und also ein geselliges Lebewesen (zoon politikon); als Forderung von Politik für die Neuzeit von der Französischen Revolution («Fraternité») entdeckt und von K. Marx und F. Engels zur politischen Waffe der Arbeiterbewegung umgeschmiedet («Proletarier aller Länder, vereinigt euch!»), die in ihrer international ausgerichteten Organisation (Internationale Arbeiterassoziation, Zweite Internationale) eine globalisierende Perspektive einnahm, bevor diese Perspektive modisch wurde (Globalisierung); in ihrer Institutionalisierung immer wieder umstritten («Wer hat uns verraten? – Sozialdemokraten») und attackiert durch partikulare Interessen; Herausbildung symbolischer (S.sadressen, etwa an Teilnehmer revolutionärer Kämpfe) und praktischer Formen (Streik) im 20. Jh.; zunehmend schwereres Los in Zeiten des internationalen Finanzkapitalismus, was das Überleben der S. selbst im Reservat der Gewerkschaften erschwert (Globalisierung); in der Ellenbogengesellschaft degradiert zum Werbeslogan des Versicherungswesens («Gemeinsam sind wir stark»); als Idee eigentlich nur noch beim geselligen Beisammensein von SPD-Mitgliedern in Form alter Lieder hochgehalten («Wann wir schreiten»). Matthias Dell Was können wir hoffen? Links Mitte Rechts ist gestern. «Was bedeutet heute links?» – mit dem Versuch einer Antwort ließen sich ganze Bücher füllen. «Wie links waren und sind die Grünen?» – darüber lassen sich zumindest inspirierende Streitgespräche inner- und außerhalb der Partei führen. Die Grünen waren zunächst ein Sammelbecken engagierter Menschen, die ihre Vorstellungen von Demokratie, einer sozialen, geschlechtergerechten und friedlichen Gesellschaft und einer radikalen Umweltpolitik in keiner der bestehenden Parteien wiederfanden. Es waren Herzensanliegen, die sie zusammenführten, nicht – wie in klassisch-linken Parteien üblich – eine gemeinsame Vorstellung von einem komplexen Gesellschaftssystem. Gleichzeitig waren die Grünen in ihrem Selbstverständnis nie eine Partei der Mitte. Ihre Forderungen und ihr Auftreten rückten sie zunächst eher an den Rand der Gesellschaft, ihr provozierender Habitus und ihre als extrem empfundenen Forderungen wurden als «links» interpretiert und medial transportiert (auch, weil wichtige Medien bürgerlich-konservativ verortet waren und ihr Feindbild pflegten). Dieses Image zog klassisch linke Mitglieder, Wähler und Wählerinnen an, während manch «bürgerlicher» Umweltschützer die Partei verließ. Die «Linkspartei» hingegen entstammt einer ganz anderen Tradition. Die legendären Flügeldebatten und Auseinandersetzungen innerhalb der Grünen legen Zeugnis davon ab, aus welch unterschiedlichen Perspektiven Herausforderungen angegangen wurden und es ist eine der Leistungen unserer Partei, dass sie diese schmerzhaften Konflikte ausgetragen und ausgehalten hat. Wer dagegen einen Parteitag der «Linkspartei» miterlebt hat, kennt die völlig andere, kaderparteigleiche Kultur, die dort herrscht. Gleichzeit mutet es absurd an, dass 19 Prozent der Mitglieder einer Partei, die die politische Gesäßgeographie bereits im Namen trägt, ihre Partei für eine «Partei der Mitte» halten. Dieser Verortung entziehen sich die Grünen. Nach wie vor binden sie Menschen mit sehr unterschiedlichen Grundsätzen und Weltanschauungen, die sich aber alle als «grün» definieren. Sie eint das Bekenntnis zu den gleichen Werten und diese durchbrechen das überkommene Rechts-Links-Schema.Weniger die Partei als ihre Themen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen: Unsere Interpretation von Umwelt- und Klimaschutz, von der Gleichstellung der Geschlechter und der Chancengerechtigkeit im Bildungssek- Vita Kai Klose ist seit 2004 Politischer Geschäftsführer der hessischen Grünen und war deren Weitere Informationen: Wahlkampfmanager im zurückliegenden Landtagswahlkampf. www.kai-klose.de Die grünen Themen sind im Zentrum ­­ angekommen Von Kai Klose tor werden von Menschen unterstützt, die aus unterschiedlichen Bereichen der klassischen Rechts-Links-Achse kommen. In vielen Kommunen, und jüngst auch in Hamburg, können wir uns souverän zu Koalitionen jenseits der politischen Lagerzugehörigkeit bekennen, um unsere Themen voranzubringen. Wenn «Es kommt auf die Inhalte an» mehr als ein Lippenbekenntnis ist, dann sind wir mit allen demokratischen Parteien koalitionsfähig. Gerade die Erfahrung des hessischen Landtagswahlkampfs, der seitens der SPD skrupellos auf grüne Kosten geführt wurde, zeigt, dass es uns nur anzuraten ist, die selbstgewählte Gefangenschaft im vermeintlich «linken Lager» durch selbstbewusstes Agieren entlang unserer Inhalte aufzubrechen: Unsere Traditionslinie ist es, an morgen zu denken, den anderen (mindestens) einen Schritt voraus zu sein, durchaus auch, heute radikal erscheinende Forderungen aufzustellen, wenn wir von ihrer Richtigkeit überzeugt sind. Verharrten wir darin, uns immer wieder der Zugehörigkeit zu einem politischen Lager zu vergewissern, so machten wir uns überflüssig. Die vierte Dimension der politischen Geometrie ist grün: Links, Mitte, Rechts ist gestern. Morgen ist grün. | Foto: Ludwig Rauch 30 31 Dem Wandel eine Richtung geben Grün als Orientierungsfarbe einer Politik, die Gerechtigkeitsanspruch mit Veränderungswillen verbindet. Foto : Ludwig Rauch Von Peter Siller Mit den dramatischen Veränderungen des Parteiengefüges, insbesondere durch den Einzug der «Linkspartei» in westdeutsche Landesparlamente, hat sich auch die Lage der Grünen drastisch geändert. Da es in vielen Fällen für keines der bislang «klassischen» Bündnisse – Rot-Grün oder Schwarz-Gelb – mehr reicht, kommt den Grünen einen Schlüsselrolle bei der Herstellung von Dreierbündnissen zu, ganz gleich ob Ampel, Rot-Rot-Grün oder Jamaica. Die Grünen geraten damit in die Rolle einer «Funktionspartei», des notwendigen Mehrheitsbeschaffers. So verwundert es nicht, dass der geschäftsführende Ministerpräsident Koch – schon kurz nach einem agressiven Wahlkampf gegen die «Al-Wazir-Grünen» – durch die Lande zog und die Nähe zu den Grünen beschwor, während zugleich die hessische «Linkspartei» beteuerte, eine rot-grüne Minderheitsregierung ohne Bedingungen zu wählen. Gleichzeitig koaliert in Hamburg eine CDU offenherzig mit den Grünen, die vor nicht allzu langer Zeit in der Schill-Partei den geeigneten Koalitionspartner sah. Neue Unübersichtlichkeit in der Politik und ein Ende ist nicht in Sicht. Die grüne Schlüsselposition ist dabei Segen und Fluch zugleich, denn zum einen ergeben sich neue Macht- und Gestal- tungsoptionen, zum anderen zieht sie einigen Klärungsbedarf nach sich. Status quo vadis? 1. Nebeneinanderstellen und Anordnen im Fünf-Parteien-System Es ist unvermeidbar, dass eine Partei, die sich in einem solch rasanten Transformationsprozess befindet, viele ihrer Anhänger verunsichert. Die große Frage ist deshalb nicht, wie sich Turbulenzen vermeiden lassen, sondern wie sich die Grünen auf mittlere Sicht in der neuen Situation beheimaten und stabilisieren können. Der Weg der strategischen Öffnung und der neuen Bündnisse lässt sich dabei nur erfolgreich bestehen, wenn sich zugleich deutlich machen lässt, worin das eigene inhaltliche Zentrum besteht. Nur wenn die Grünen keinen Zweifel an ihrem «ideellen Rückgrat» lassen, wenn ihre Grundposition transparent ist, kann die Entscheidung für die eine oder andere Bündnisoption als nachvollziehbarer, sinnvoller Kompromiss verstanden werden. Das Auseinander-Driften von «sozialkonservativem Flügel» und «Modernisierer-Flügel» ist in allen Parteien sichtbar und kein grünes Spezifikum. Alle Parteien stehen vor der Aufgabe, die wachsenden Vita & Pulikationen Peter Siller ist Leiter der Abteilung Inland der Heinrich-Böll-Stiftung. Zuvor Mitglied des Planungsstabes im Auswärtigen Amt. Er ist außerdem leitender Redakteur der Zeitschrift polar. Ausgewählte Veröffentlichungen: «Politik als Inszenierung» (2000), «Zukunft der Programmpartei» (2002), «Arbeit der Zukunft» (2006). Spannungen und Widersprüche auszubalancieren und gleichzeitig aus dem Zentrum eine kohärente und attraktive Position zu entwickeln. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach dem inhaltlichen Zentrum für die Grünen auf spezifische Art und Weise. Für kleinere Parteien kommt es mehr noch als für Volksparteien, die eine größere Spannbreite an gesellschaftlichen Milieus repräsentieren – darauf an, klare und pointierte Impulse zu geben, als Antreiber, als «Schnellboote» vor den großen «Tankern». Allerdings stehen die Grünen nach wie vor vor der großen Aufgabe – jenseits des Megakonsensus in der ökologischen Frage, der die Grünen seit den Gründungsjahren zusammenschweißt –, eine gemeinsame wirtschafts- und sozialpolitische Grundposition einzunehmen. Es besteht die Chance, das Label «grün» zur Signalfarbe einer Politik der ökologischen und sozialen Erneuerung zu machen. Aufgrund des wachsenden gesellschaftlichen Bewusstseins für die Dramatik des Klimawandels hat «grün» das Potenzial zu dieser Orientierung. Die spezifische grüne Aufgabe könnte darin liegen, den Zusammenhang von Sicherheit und Wandel zu vermitteln: Soziale Sicherheit lässt sich nur organisieren, wenn die Gesell- Was können wir hoffen? 3. schaft die Kraft zur Veränderung aufbringt «Linksruck» und Restauration – von der drängenden ökologischen Frage bis zum Bildungssystem. Diese Kraft lässt Mit Blick auf den allseits diagnostizierten sich jedoch nur aufbringen, wenn die Poli- «Linksruck» bestehen erhebliche Zweifel, tik die Gründe für die Veränderungen plau- ob all die dahinterstehenden Sicherheitssibel macht und die Sicherheit organisiert, bedürfnisse tatsächlich in einem emanzium diesen Weg der Veränderung beschrei- patorischen Sinn auf Gerechtigkeit zielen, oder nicht vielmehr zu einem Teil auf Reten zu können. «Der Ausgangspunkt auf der Suche nach dem ideellen Zentrum politischer Praxis kann nur die Gerechtigkeit sein.» 2. Der Ausgangspunkt auf der Suche nach dem ideellen Zentrum politischer Praxis kann nur die Gerechtigkeit sein. Gerechtigkeit verstanden als ein erster Orientierungspunkt, wie sich die Menschen als Freie in einem Gemeinwesen begegnen, welche Freiheiten sie reklamieren und welche Ansprüche sie erheben können. Gerechtigkeit ist dabei – auf Grund einer Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten – nur als interpretierter Begriff genießbar. Der grüne Ansatz der «Erweiterten Gerechtigkeit» steht für den Versuch einer solchen Interpretation. Gerechtigkeit kann sich in einer emanzipatorischen Lesart nur auf die Freiheit des Einzelnen und damit auf gleiche, reale Verwirklichungschancen für jeden beziehen. Gerechtigkeit ohne ein hohes Bewusstsein für den Wert von Freiheit und Selbstbestimmung ist nichts wert – und das unterscheidet die Grünen sichtbar von anderen Parteien. Gerechtigkeit meint Parteinahme für die sozial Benachteiligten und steht damit gegen soziale Exklusion. Die Aushandlung von Gerechtigkeit als gleicher Freiheit obliegt einer starken Demokratie. Und: In der Ökologie liegt eine entscheidende Voraussetzung für Gerechtigkeit und Selbstbestimmung der Zukunft. Die ökologische Frage ist eine der großen sozialen Fragen des 21. Jahrhunderts und es obliegt der Farbe «grün», dies zu signalisieren. Die Glossar-Autoren gression bis hin zu Xenophobie und Nationalchauvinismus. Zumindest fällt auf, dass die «Zeitgeist-Wende» der letzten Jahre eine Vielzahl an Elementen in sich trägt, die genauso dem Vokabular einer restaurativen und kulturpessimistischen Rechten entstammen könnten. Die Angst vor Veränderung, die der «Konservative» ja schon im Namen trägt, steht Pate für die Grundpsychologie der traditionellen Linken in Deutschland. Und so liest sich das Wahlprogramm der «Linkspartei» wie die große Restauration der bundesrepublikanischen Verhältnisse in den achtziger Jahren vor dem Zerfall der Blöcke. Die Reden von Kurt Beck klingen auch nicht viel anders. Wo die emanzipative Linke früher die Verhältnisse zum Tanzen bringen wollte, steht heute eine Linke, die aufpasst, dass sich keiner bewegt. Die Linke hatte in Deutschland – wie Zeit-Redakteur Jörg Lau zu Recht feststellt – immer ein Janusgesicht: emanzipatorisch und antiautoritär auf der einen Seite, protektionistisch und restaurativ auf der anderen. Heute haben wir es nicht in erster Linie mit einer Emanzipationslinken zu tun. Der neue Linksruck hat auffällig wenig mit Aufbruchsgeist und viel mit Verunsicherung und Restaurationsbedürfnis zu tun. Viele bewahrende, linkskonservative Motive mischen sich darin: die Sehnsucht nach dem alten Sozialstaat, die Angst vor Veränderung, die Versuchung des Rückzugs aus einer komplexen und als feindlich empfundenen Welt. 4. Veränderung und Orientierung Das Anwachsen dieses angstgetriebenen Sicherheitsbedürfnisses verwundert dabei nicht – weder mit Blick auf die ökonomische, technologische und kulturelle Beschleunigung der Verhältnisse im globalen Maßstab, noch mit Blick auf die wirtschaftsund arbeitsmarktpolitischen Reformerfahrungen in der Bundesrepublik. Unabhängig davon, welche Elemente der Agenda 2010 richtig waren und welche nicht: Es ist der Schröder-Regierung in der zweiten Legislatur der rot-grünen Koalition kaum gelungen, die angestrebten Veränderungen als Gerechtigkeitsanliegen deutlich zu machen. Stattdessen bezog man sich auf einen hohl drehenden Pragmatismus und verband das mit einer McKinsey-Plastiksprache. Nur so ist zu verstehen, dass der Begriff der «Reform» überhaupt zunehmend auf gesellschaftliche Ablehnung stieß und Misstrauen gegen jede Veränderung entstand. Nur: Das ändert nichts daran, dass aus der beschriebenen Perspektive von Gerechtigkeit und Selbstbestimmung einzelne Reformzumutungen der Agenda 2010 richtig waren und zahlreiche andere Veränderungen im Sinn einer Strategie der Parteinahme für Prekäre, Ausgeschlossene und Abgehängte notwendig gewesen wären. Das gilt auch heute: Eine Politik der Gerechtigkeit, der es auf eine Strategie der Teilhabe und sozialen Inklusion ankommt, kann weder in der Restauration noch in der Verteidigung des Status quo bestehen, sondern braucht den Mut zur Veränderung hin zu mehr Teilhabe und verbesserten realen Verwirklichungschancen, hin zu einer Lösung der ökologischen Frage, die sich als eine der großen sozialen Fragen dieses Jahrhunderts herausstellt. Gerechtigkeit verstanden als Parteinahme für die sozial Benachteiligten und Gefährdeten braucht eine dynamische und in diesem Sinne auch eine optimistische Grundhaltung, als sie an die Kraft der von ihr vorgeschlagenen Veränderungen zum Besseren glaubt. Vita & Publikationen Gert Koenen ist Historiker und Publizist. Zurzeit Fellow am Freiburg Institute of Advanced Veröffentlichung: Studies (FRIAS) mit einem Projekt zur Geschichte des Kommunismus. Im August 2008 erscheint bei Kiepenheuer & Witsch sein neues Buch «Traumpfade der Weltrevolution – Das Guevara-Projekt». Foto: privat 32 33 Klas|sen|kampf, der; Klassiker und Kassenschlager, insbe- Foto Mitte: Oliver Schmidt; Foto rechts: privat sondere für die Megaphon-Industrie und angeschlossene Sparten des Polit-Merchandisings; bei den Weißbärten des Weltwissens noch als historisch notwendiges Ärger-Management angesehen, das der ungleichen Verteilung von Produktionsmitteln mit einer entsprechenden Stressabfuhr begegnen sollte; 1968 gern als Parole benutzt, um die verdrängte Seite eines erstaunlich effizient operierenden Wohlfahrtsstaats in Erinnerung zu rufen; dabei verstieg sich der kultivierte Herkunftshass von Bürgerkindern nicht selten zu der Annahme, der Arbeiterklasse unbedingt zeigen zu müssen, wo der Bartel den Most holt; nach dem Wegfall der Systemopposition wurde der K. zeitweilig zum Ladenhüter – ein entsprechendes Klassenbewusstsein schien unter dem Primat modischer Distinktionen und Style Wars verzichtbar – selbst Polo war nun für den Pöbel erschwinglich; zur Jahrtausendwende begründen gelangweilte Soziologen neue revolutionäre Subjekte, darunter die «Kreative Klasse», die ihre Plug & Play-Welt gegen die Discounter-Tristesse der «Ausgeschlossenen» verteidigen muss; plötzlich wirkt das 21. wieder so kampfbereit wie das frühe 20. Jh., was aber die politische Klasse nicht von ihrem sozialhygienischen Pfad der permanenten «Nachbesserung» abbringen dürfte; insofern hatten jene Propheten recht, die dereinst dekredierten: «Klassen, die bellen, beißen nicht!» Jan Engelmann Nimmt man beides zusammen: den Gerechtigkeitsanspruch und die daraus abgeleiteten Veränderungsnotwendigkeiten, so lässt sich folgende Grundsequenz festhalten: Soziale Sicherheit für alle braucht Veränderung. Und Veränderung braucht soziale Sicherheit für alle, als Leitstern der Veränderung wie als Voraussetzung, den Wandel mittragen zu können. Leitsatz: «Wir geben dem ökologischen und sozialen Wandel eine Richtung.» Etwas vereinfachend: Hat der Stillstand der Kohl-Jahre und jetzt wieder der Großen Koalition gezeigt, dass es ohne Wandel keine Gerechtigkeit geben kann, so haben uns die rot-grünen Jahre gelehrt, dass Veränderung die klare und verständliche Bezugnahme auf Gerechtigkeit und Selbstbestimmung braucht. Das eine ist ohne das andere nicht sinnvoll zu haben. Und nur wem es gelingt, beides glaubhaft zu verbinden, kann für sich ernsthaft beanspruchen, etwas im Sinne von mehr Gerechtig- keit zu bewirken. Insoweit ist der Begriff der «Modernisierungslinken» als Orientierungsbegriff interessant. In ihm verbindet sich auf plakative Weise der Gerechtigkeitsanspruch mit dem Bewusstsein für notwendige Veränderungen. Im Rahmen einer solchen Strategie sollte es auch darum gehen, eine andere Form des Politischen zu verkörpern. Die politischen Protagonisten sollten nicht unterstellen, dass sie in jedem Fall die Lösung schon parat hätten. Vielmehr sollten sie den Bürgerinnen und Bürgern glaubhaft vermitteln, dass es sich um eine gemeinsame Suche nach und einen gemeinsamen Weg hin zu mehr Gerechtigkeit und Selbstbestimmung handelt. Auch sollte es einer Parteipolitik, die Gerechtigkeit mit Veränderung verbindet, darum gehen, ihre Selbstbezüglichkeit zu überwinden und ihren Fokus auf die Verstärkung eines «allgemeinen» gesellschaftlichen Anliegens zu richten. Eine Pointe des grünen Gerechtigkeitsanspruchs liegt darin, alle Betroffenen jenseits der bekannten Klientelpolitik ins Spiel zu bringen. Eine der entscheidenden Aufgaben ist es dabei, die Interessen ans Tageslicht zu bringen und zu unterstützen, die keine Lobby haben. Grüne Politik zielt in diesem Sinn auf das «Allgemeine». Parteien sind nach diesem Anspruch nicht einfach weitere Interessengruppen, sondern haben die Aufgabe, Interessen mit Blick auf Gerechtigkeit und Fairness zu transformieren. Parteien sollten ihren Streit nicht als Streit zwischen unterschiedlichen Interessengruppen, denen sie sich verpflichtet fühlen, begreifen, sondern als Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Konzeptionen von Gerechtigkeit und Gemeinwohl. Hier gibt es erhebliche Unterschiede, und es wäre wichtig, diese herauszuarbeiten. | Vita Vita & Publikationen Matthias Dell ist Kulturredakteur Jan Engelmann ist Kulturreferent der Heinrich-Böll-Stiftung. Berufliche Erfahrungen bei der Wochenzeitung Freitag. als Verlagslektor, Pressesprecher und Kommunikationsdienstleister im Bereich Corporate Publishing. Langjährige journalistische Tätigkeit für Spex, TAZ und Literaturen. Veröffentlichung: Herausgeber von «Die kleinen Unterschiede. Der Cultural-StudiesReader» (1999), «Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader zu Diskurs und Medien» (1999) sowie Mitherausgeber des «Kursbuch Arbeit» (2000). 34 Anzeige Sonne sorgt für warme Luft Geht es um solarthermische Anlagen, stehen wie selbstverständlich Solarkollektoren im Mittelpunkt, die ein WasserZirkulationssystem mit regenerativer Wärme versorgen. Doch seit Jahren sind ebenso Solar-Luft-Systeme im Einsatz, die vor allem in großvolumigen Gebäuden erstaunlich hohe Einsparungen im Bereich Heizung/Lüftung vorweisen können. Von Siegfried Schröpf Dabei ist die solare Lufterwärmung kein neuer Spleen im Reigen der Ideen zur effizienten Energieeinsparung: beispielsweise ist seit etwa 15 Jahren eine 180 m² große Solar-Luft-Kollektoranlage für den Turnhallenkomplex des Münchener Karlsgymnasiums in Betrieb, im Winter zum Heizen und Lüften, im Sommer zur Erwärmung des Duschwassers. Das Resultat ist eine beachtliche Halbierung des durchschnittlichen Verbrauchs um 22.400 m³ Erd- Siegfried Schröpf ist geschäftsführender Gesellschafter der GRAMMER SOLAR GmbH in Amberg, www.grammer-solar.de gas/Jahr. Weil es sich hier um ein vom Bund gefördertes mehrjähriges Forschungsprojekt handelt, wurden die Verbrauchs- und Leistungsdaten über diesen Zeitraum genau verfolgt. Besonders gut geeignet für den Einsatz von Luftkollektoren sind Schwimmhallen: 70 % des Wärmebedarfes eines Hallenbades werden für Erwärmung und Entfeuchtung der Hallenluft aufgewendet. Vor allem wegen der ganzjährig geforderten Lufttemperatur von 30°C können die Solargewinne auch im Sommer fast vollständig genutzt werden. Als Beispiel sei hier das Stadtbad in Plauen angeführt. Die notwendige Warmluft wird zum großen Teil über eine 110 m² große Solar-Luft-Kollektoranlage auf dem Dach der neuen Schwimmhalle erzeugt. Zusammen mit der nachgeschalteten Wärmerückgewinnung wird der Lüftungswärmebedarf weitestgehend abgedeckt. Der Wärmeverbrauch sank hier um 100.000 kWh. Insgesamt wird das Gebäude jetzt zu 32 % mit ökologisch erzeugter Energie versorgt. Prinzip der solaren Lufterwärmung Die Vorteile von Solar-Luft-Systemen liegen in der schnellen Anlaufzeit, der geringen Vorlauftemperatur – selbst bei bedecktem Himmel wird die für einen effektiven Heizbetrieb notwendige Temperatur bereits erreicht – sowie im Trägermedium selbst: Zwar ist Luft kein optimaler Wärmespeicher, aber sie erwärmt sich relativ schnell und lässt sich einfach verteilen; dabei friert sie weder ein, noch kann sie überkochen. In Sommer- und Übergangszeiten kann das notwendige Brauchwasser über einen Luft-Wasser-Wärmetauscher erwärmt werden. Solar-Lüftung auch fürs Eigenheim Die Technologie der Solar-Luft-Systeme beschränkt sich aber nicht nur auf große Zweckbauten, sondern kann ebenso in Einund Zweifamilienhäusern Verwendung finden. Dabei spielt es keine Rolle, mit welchem System das Gebäude konventionell beheizt wird. Vor allem im Zeitalter hermetisch dichter und hochgradig wärmegedämmter Gebäude gilt es die erforderlichen Luftwechselraten sicher zu stellen. Ein solares Zuluftsystem kann auch hier regenerativ erwärmte frische Luft in die Wohnräume bringen. Heinrich-Böll-Stiftung Die Behandlung zeitgeschichtlicher Themen in der Heinrich-Böll-Stiftung vermittelt historisches Wissen mit dem Anspruch, Gesellschaft, Politik und staatliche Verfasstheit als historisch bedingt zu begreifen. Wir fördern die Entwicklung individueller Freiheitsrechte, unterstützen Emanzipationsbewegungen und regen Debatten rund um das Thema «Gerechtigkeit» an. Jüngstes Thema waren die Wendezeiten 1968 und 1989. In mehreren internationalen Veranstaltungen ging die Stiftung der Frage nach den Folgen der Proteste und den Demokratiepotenzialen in Ost und West heute nach. Aktuelle Publikation: «1968 revisited – 40 years of protest movements.» Hrsg. vom Brüsseler Büro der Heinrich-Böll-Stiftung (in engl. und frz. Sprache). Mit Beiträgen u.a. von Marcelo Ridenti, Teresa Bogucka, Alexander Julijewitsch Daniel, Wolfgang Templin, Bill Nasson, Nebojša Popov, Benoît Lechat und Interviews mit Daniel Cohn-Bendit und Klaus Meschkat. Band 7 der Reihe Demokratie der Heinrich-Böll-Stiftung, Brüssel 2008, 67 Seiten, Download unter: www.boell.de Zeitgeschichte in der Heinrich-Böll-Stiftung Reihe: Religion und Politik Religion ist wieder ein öffentliches Thema und zu einer kulturellen Frage unserer Zeit geworden. Beeinflusst die Religion die Politik? Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen Demokratie und religiösen Gemeinschaften und Überzeugungen? Müssen gesellschaftlich verbindliche Normen religiös begründet werden? Und wie können moderne Gesellschaften religiös plural gestaltet werden? Fragen wie diese haben eine Flut von Kommentaren und Debattenrunden ausgelöst. Die Reihe «Religion und Politik» widmet sich dem Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Verfasstheit, religiösen Institutionen, Glaubensgemeinschaften und Glauben in pluralistischen modernen Gesellschaften. Reihe: Neue Stichworte zur geistigen Situation der Zeit 30 Jahre nach dem Erscheinen der «Stichworte zur geistigen Situation der Zeit» (hrsg. von Jürgen Habermas im Suhrkamp-Verlag) nimmt die Heinrich-Böll-Stiftung das Experiment wieder auf und fragt Intellektuelle nach den zentralen gesellschafts- und kulturdiagnostischen Stichworten unserer Zeit. Was im Einzelnen assoziativ sein mag, könnte als Ganzes Licht werfen in das Dunkel der gesellschaftlichen Situation. Nach den bereits gelaufenen Veranstaltungen zu den Stichworten Anerkennung (Axel Honneth), Beschleunigung (Hartmut Rosa), Chancen (Ulrich Beck), Differenz (Erol Yildiz), Eigentum (Rainer Kuhlen), Familie (Uta MeierGräwe) und Freundschaft (Martin Hecht) stehen als nächstes die Begriffe Gerechtigkeit, Herrschaft, Identität, Jetzt und Sicherheit auf dem Programm. Die Reihe läuft bereits seit einigen Jahren und greift in Kooperation mit Verlagen und anderen Institutionen aktuelle politische Kontroversen auf, die sich auf die Grundlagen von Gesellschaft und Politik beziehen. Jüngste Publikation: «Hannah Arendt: Verborgene Tradition – unzeitgemäße Aktualität?» Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung im Akademie Verlag, Berlin 2007, 372 Seiten, 49,– Euro Reihe: Zeitgeschichte im Gespräch Mehr Infos zu den Veranstaltungen der Heinrich-Böll-Stiftung unter www.boell.de 35 Veranstaltungen Sonne, Wind & Wir – Klimatour 2008 Die Heinrich-Böll-Stiftung und Motor Entertainment geben in den Sommermonaten dem Klimaschutz eine Bühne. Mit dabei Wir sind Helden, Mia, KLEE, Rainer von Vielen, Klima-Aktivisten, Wissenschaftler u.a.m. Termine, Musik, Spiele, Filme, Infos und mehr auf www.sonnewindundwir.de Außenpolitische Jahrestagung: Werte und Interessen in der Außenpolitik 11. – 12. September 2008 in der Beletage der Heinrich-Böll-Stiftung Info Marc Berthold, [email protected] Tagung: European Governance of Migration The Political Management of Mobility, Economy & Security 17.–19. September in der Beletage der Heinrich-Böll-Stiftung Info Mekonnen Mesghena, [email protected] Kongress: Zukunft der Demokratie 2.–3. Oktober, Hochschule für Künste, Bremen Info [email protected] Tagung: Ökologische Marktwirtschaft in Europa und in den USA – Perspektiven strategischer Allianzen 8.–9. Oktober in der Beletage der Heinrich-Böll-Stiftung Info Sebastian Wienges, [email protected] Reihe: Neue Stichworte zur geistigen Situation der Zeit #8 Gerechtigkeit Mit Rainer Forst, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte, Universität Frankfurt/Main 16. Oktober 2008, Berlin, Heinrich-Böll-Stiftung Info Michael Stognienko, [email protected] Website www.boell.de/parteiendemokratie – Debatte zur neuen politischen Farbenlehre. Mit Beiträgen von Hartmut Bäumer, Franziska Brantner, Tobias Dürr, Ralf Fücks, Antje Hermenau, Gero Neugebauer, Dieter Rulff, Jens König, Peter Siller und Helmut Wiesenthal. Publikationen Zur Lage der Welt 2008 Auf dem Weg zur nachhaltigen Marktwirtschaft? Hrsg. vom Worldwatch Institute in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch im Verlag Westfälisches Dampfboot Münster 2008, 336 Seiten, 19,90 Euro Schriften zu Europa, Band 3 ERENE – Eine Europäische Gemeinschaft für Erneuerbare Energien Eine Machbarkeitsstudie von Michaele Schreyer und Lutz Mez Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin, Mai 2008, 96 Seiten Kapitalismus 3.0 Ein Leitfaden zur Wiederaneignung der Gemeinschaftsgüter Von Peter Barnes. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung im VSA-Verlag Hamburg, September 2008, 208 Seiten, 18,80 Euro — — — — Bisher sind u. a. erschienen: Grüne Marktwirtschaft Die große Transformation China Volksrepublik China – Republik des Volkes? Die neue Welt(un)ordnung Außenpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges Biodiversität Bedrohung und Erhalt weitere Infos und zu bestellen unter: www.boell.de/thema Re|vo|lu|tion, die; große Sache, was schon daran zu erkennen ist, dass der Begriff auch in der Astronomie Anwendung findet, etwa für die Bewegung der Sonne um die Erde; die Vorsilbe «re» des lat. Ursprungsworts (revolutio = zurückdrehen, umdrehen) deutet an, dass es sich anfangs um eine restaurative Angelegenheit gehandelt hat; siehe: Glorious R. in England 1688/89; R. ist als Begriff seitdem salonfähig für weltweite Umsturzbewegungen (Französische R., Märzr. u.a.), die neue politische Verhältnisse mit sich bringen; marxistisch-leninistisch aufgefasst führt die R. zwangsläufig zu Höherem, was durch die Praxis allerdings widerlegt wurde (Oktoberrevolution, Zusammenbruch der Sowjetunion); China lehrt, dass die R. nicht immer von den benachteiligten Schichten ausgehen muss (Kulturrevolution); Zweifel an der Tiefgründigkeit des Begriffs nährt die Inflation seiner Verwendung in zahllosen Disziplinen (Soziologie, Technik, Sexualität usw.); daher macht es die Geisteswissenschaft seit einiger Zeit ein paar Nummern kleiner, indem sie ihre wechselnden Moden turn oder schlichter Paradigmenwechsel nennt; zuletzt eher folkloristisch-poetische Verwendung bei jedem Machtwechsel in demokratisch weniger avancierten Ländern (Nelkenr., Rosenr., Orangene R.). Matthias Dell Die Heinrich-Böll-Stiftung ist eine Agentur für grüne Ideen und Pro­ jekte, eine reformpolitische Zukunftswerkstatt und ein internationa­ les Netzwerk mit weit über hundert Partnerprojekten in rund sechzig Ländern. Demokratie und Menschenrechte durchsetzen, gegen die Zerstörung unseres globalen Ökosystems angehen, patriarchale Herr­ schaftsstrukturen überwinden, in Krisenzonen präventiv den Frieden sichern, die Freiheit des Individuums gegen staatliche und wirtschaft­ liche Übermacht verteidigen – das sind die Ziele, die Denken und Handeln der Heinrich­Böll­Stiftung bestimmen. Sie ist damit Teil der «grünen» politischen Grundströmung, die sich weit über die Bundes­ republik hinaus in Auseinandersetzung mit den traditionellen politi­ schen Richtungen des Sozialismus, des Liberalismus und des Konser­ vatismus herausgebildet hat. Organisatorisch ist die Heinrich­Böll­Stiftung unabhängig und steht für geistige Offenheit. Mit 27 Auslandsbüros verfügt sie über eine weltweit vernetzte Struktur. Sie kooperiert mit 16 Landesstiftun­ gen in allen Bundesländern und fördert begabte, gesellschaftspoli­ tisch engagierte Studierende und Graduierte im In­ und Ausland. Heinrich Bölls Ermunterung zur zivilgesellschaftlichen Einmischung in die Politik folgt sie gern und möchte andere anstiften mitzutun. www.boell.de