Was heißt heute links? - Heinrich-Böll

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Das Magazin der
Heinrich-Böll-Stiftung
Ausgabe 2, 2008
böll
Mit wem geht die neue Zeit?
THEMA
2
Inhalt
Stimmen
4
Was heißt heute links?
Kleine Umfrage in der grünen Heimat. Von Michaela Wunderle
Herausgeber
Was den linken Diskurs mit der Ozonschicht verbindet.
Heinrich-Böll-Stiftung
Schumannstraße 8
10117 Berlin
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Fax 030 – 2 85 34 – 109
E-Mail: [email protected]
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45 Jahre lang die Frage: «What’s left?» Eine Relektüre. Von Ulrike Baureithel
Redaktionsleitung
Geschichte eines Begriffs
6
Links Mitte Rechts
Kleine Geschichte der politischen Geographie Europas. Von Joscha Schmierer
9
Impressum
Elisabeth Kiderlen
Gebetsraum für unsortierte Glaubensbekenntnisse. Von Christian Schneider
14
Freiheit, Gleichheit, Schönheit
Frauenemanzipation gehört in keine Schublade. Von Waltraud Schwab
16
«Inszenieren heißt kritisieren»
Der Dramaturg und Wegbereiter des neuen Regietheaters Bernd Stegemann
im Gespräch mit Henrike Thomsen
Zahlen verstehen
19
Links ist da, wo die Regierung rechts ist.
Zwischen einem gesellschaftlichen Linkstrend und einer Politik der Mitte
besteht kein Widerspruch. Von Dieter Rulff
Positionen: Was können wir wissen? Was können wir tun? Was können wir hoffen?
22
Mut zum Wandel
Plädoyer für eine Agenda 2020 Von Ralf Fücks
26
Yes, they could!
Warum eine intakte Sozialdemokratie in Deutschland heute nicht bloß
gebraucht wird, sondern sogar erfolgreich wäre. Von Tobias Dürr
28
«Wir sollten nicht zimperlich sein.»
Soziale Umverteilung in den privaten Konsum oder Investitionen in
öffentliche Güter? Von Sibyll Klotz
30
Links Mitte Rechts ist gestern.
Die grünen Themen sind im Zentrum angekommen. Von Kai Klose
31
Dem Wandel eine Richtung geben.
Grün als Orientierungsfarbe einer Politik, die Gerechtigkeitsanspruch mit
Veränderungswillen verbindet. Von Peter Siller
Heinrich-Böll-Stiftung
35
Hinweise, Projekte, Publikationen
Redaktionsassistenz
Susanne Dittrich
Mitarbeit
Ralf Fücks
Annette Maennel (V.i.S.d.P.)
Peter Siller
Artconcept
Büro Hamburg
Jürgen Kaffer, Sandra Klostermeyer
Gestaltung
blotto design, Lydia Sperber
Druck
agit-Druck, Berlin
Papier
Inhalt: Envirotop, matt
hochweiß, Recyclingpapier
aus 100 % Altpapier
Umschlag: Enzocoat
Bezugsbedingungen
zu bestellen bei oben genannter Adresse
Hinweis
In Partnerschaft mit der Firma
Grammer Solar wurde
auf dem Dach des Neubaus der
Heinrich-Böll-Stiftung eine
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Titelbild und S. 2: Reiner Dieckhoff. Das Kölner SDS-Zentrum nach der «Machtübernahme» durch die antiautoritäre Fraktion. Aus: «1968 am Rhein».
Hrsg. von Kurt Holl und Claudia Glunz, Emons Verlag, Köln 2008
Lebenswelten
12
Der Container mit der Aufschrift «links»:
Editorial
3
What’s left?
1990 ergab eine Meinungsumfrage, dass dreißig Prozent der Deutschen glaubten, der Sozialismus
sei «eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde». Das war schon damals, noch mitten in den
Freiheitsrevolutionen in Mittel-Osteuropa, eine erstaunlich hohe Zahl. Heute sind es 45 Prozent. Zu
ihnen gehört offenbar auch Franziska Augstein, die diese Umfrage in einem Text für das Magazin der
Süddeutschen Zeitung zitiert, in dem sie die Realgeschichte des Sozialismus von 1917 bis 1989 als
bloße Abirrung abtut, die man ad acta legen kann, um seinen guten, wahren Kern wieder freizulegen: das Streben nach sozialer Gerechtigkeit. Die Autorin gehört mitnichten zur intellektuellen Boheme des «radical chic» vom Schlage eines Slavoj Zizek, der sich schon mal an der Rehabilitation
Lenins versucht, bevor er den Apostel Paulus als Prototyp eines aufrührerischen Messianismus
entdeckt.
Die bürgerlichen Freunde des Sozialismus sind vielmehr beredte Zeugen dafür, dass der Zeitgeist
in Deutschland die Windrichtung gewechselt hat. Neoliberalismus ist out, und mit ihm alles, was in
diese Schublade gepackt wird: von der Privatisierung öffentlicher Unternehmen bis zu den Steuerund Sozialreformen der rot-grünen Koalition, die für die wachsende Schere zwischen Arm und Reich
verantwortlich gemacht werden. Dass es darum ging, die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen, die
galoppierenden Lohnzusatzkosten einzudämmen, die Rentenversicherung demographiefest zu machen und die Last einer aus dem Ruder gelaufenen Staatsverschuldung für die nächsten Generationen zu erleichtern: aus den Augen, aus dem Sinn. Dass zugleich der Eintritt von zwei Milliarden
Menschen in den Weltmarkt, die bereit sind, hart für die Verbesserung ihrer Lage zu arbeiten und
großen Bildungshunger an den Tag legen, den Kosten- und Innovationsdruck am «Standort Deutschland» verschärft hat, erscheint nur noch als Ausrede für Billiglöhne auf der einen, schamlose Bereicherung auf der anderen Seite.
Selbstverständlich reden weder die Edel-Sozialisten des Feuilletons noch der Trommler Oskar Lafontaine einer sozialistischen Revolution das Wort. Ihr Utopia liegt nicht in der Zukunft, sondern in
der Vergangenheit, im Wohlfahrtsstaat der achtziger Jahre – in der Ära von Helmut Schmidt und Helmut Kohl. Es geht um staatsverbürgte soziale Sicherheit und um größtmögliche Stabilität der Lebensverhältnisse. Das ist nachvollziehbar. Der Fehler ist nur, zu glauben, es könne Sicherheit ohne
Veränderung geben, Wohlstand ohne Risiko, Umverteilung ohne Wettbewerbsfähigkeit, Solidarität
ohne Selbstverantwortung.
Eine Linke, die sich auf die Umverteilung durch den Staat zurückzieht, hat keine Zukunft. Die
Debatte um den «Dritten Weg» und «New Labour», die in den 90ern mit dem Anspruch einer Selbsterneuerung geführt wurde, bevor sie im Regierungspragmatismus Blairs und Schröders versandete,
hat immerhin drei grundlegende Ideen aufgenommen: Die moderne Linke braucht ein emphatisches Verhältnis zur Freiheit; sie braucht eine ökonomische Politik, die Wettbewerbsfähigkeit und
Innovationskraft sichert; und sie muss eine kosmopolitische, weltoffene Haltung einnehmen, statt
sich hinter Protektionismus und nationaler Engstirnigkeit zu verschanzen. Nimmt man noch als
zentrales Element die ökologische Frage hinzu, dann könnte das die Blaupause für die Grünen sein.
Foto: Ludwig Rauch
Wir wollen mit diesem Heft erkunden, was «links» heute noch oder wieder bedeutet, was anachronistisch scheint und was aktuell. So wenig es die eine Linke gibt, so vielfältig fallen die Antworten
darauf aus. Eine anregende Lektüre wünscht
Ralf Fücks Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung
— —
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Der besondere Tipp
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Möglichkeiten, die Nutzung erneuerbarer Energiequellen im europäischen Verbund zu erhöhen, und skizzieren den Weg in ein
Europa ohne fossile und nukleare Stromversorgung. Zu bestellen unter [email protected], Download unter www.boell.de
Ist da wer? Kongress zur Zukunft der Demokratie am 2. und 3. Oktober 2008, Hochschule für Künste, Bremen. Mit Workshops zu Demokratie in Wirtschaft, Ökologie, Medien und Kommunen Info: www.boell.de, [email protected]
Tourwebsite www.sonnewindundwir.de – die Seite zur Klimatour 2008 der Heinrich-Böll-Stiftung. Mit Tourdaten, Musik,
Infos und Tipps für individuelles Handeln in Sachen Klimaschutz
4
Stimmen
Was heißt heute links?
Kleine Umfrage in der grünen Heimat
Gesammelt und aufgeschrieben von Michaela Wunderle
«Linkspartei» verdient, so eine Frankfurter
Sonntagszeitung, «zéro points»
Peter Zollinger, Redakteur
Lichtung
manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht velwechsern
werch ein illtum.
ernst jandl
Frank Wolff, Cellist
Mit Blick auf Italien kann ich nur sagen:
Links, das bedeutet Lähmung, Orientierungslosigkeit, Depression, Zerfall, auch
viel Opportunismus. Als Hoffnung bedeutet es für mich Gerechtigkeit, Solidarität,
Partizipation und Pluralismus.
Sandra D’Oliv, Konsulatsangestellte
«Vorwärts, und nicht vergessen, worin eure
Stärke besteht. Beim Hungern und beim
Essen, vorwärts, und nicht vergessen: die
Solidarität!»
Ede Fischer, Unternehmerin
Links bedeutet für mich: eine Lebenshaltung, Utopie, Orientierung. Die Vorstellung
einer Gesellschaft, geprägt von Gleichberechtigung, Verteilungsgerechtigkeit, Respekt, Solidarität und Kritik- und
Veränderungsbereitschaft.
Ute Szebedits, Therapeutin
Links muss überholt werden. Denn Lafontaine, Chavez oder Alice Schwarzer sind nicht
links. Genau sowenig wie es die Jakobiner
waren, auf deren Sitzordnung in der französischen Nationalversammlung der Begriff zurückgehen soll. Wenn die Illusion
der Gleichheit auf Kosten der Freiheit triumphiert, droht die Guillotine oder der
Mindestlohn. Links ist heute mehr eine
Haltung als ein politisches Projekt. Links
ist mehr Frechheit, Kultur und Kommunikation. Links ist weniger Angst, Staat und
Superstars. Und ein «Sozialismus» à la
Links bedeutet für mich: Einsatz für eine
humane, solidarische, gerechte und repressionsfreie Zivilgesellschaft und das
Beharren auf Utopien.
Ernst Szebedits, Filmproduzent
Links denkt und handelt, wer davon ausgeht, dass der Mensch dem Menschen immer auch Zweck und niemals nur Mittel
sein darf, d.h. wer die Würde jedes einzelnen Menschen auch im politischen Konflikt achtet und diese nie um angeblich höherer, gemeinsamer Ziele wegen preisgibt.
Links denkt und handelt darüber hinaus,
wer für eine gerechte Gesellschaft eintritt,
d.h eine Gesellschaft, in der allen Bürgern
und Bürgerinnen die gleichen Grundrech-
Vita & Publikationen
Michaela Wunderle ist Autorin und Übersetzerin.
Jüngste
Veröffentlichung: Übersetzung von und Nachwort zu «Der blaue
Cinquecento. Italiens bleierne Jahre» von Mario Calabresi. Verlag SchirmerGraf, München 2008.
te und Grundfreiheiten im Sinne einer
westlichen Verfassung effektiv zustehen
sowie (und das unterscheidet die «Linken»
von den Liberalen) die materielle Verfasstheit der Gesellschaft so gestaltet ist, dass
diese Grundrechte und -freiheiten für alle
auch den gleichen Wert haben.
Micha Brumlik, Erziehungswissenschaftler
Auch wenn «Die Linke» samt wachsendem
Anhang in die Gegenrichtung marschiert:
Links sein heißt, für die Freiheit zu sein –
nie zu akzeptieren, dass ein Mehr an
Gleichheit und Gerechtigkeit gegen einen
Verlust an Freiheit aufgerechnet wird.
Harald Lüders, Journalist
Was ist heute links? Gegen Grenzen und nationale Abschottung – «kosmopolitische
Produktion und Konsumtion durch den
Weltmarkt» (Komm. Manifest); gegen Antisemitismus, Rassismus, Antifeminismus –
«die Internationale erkämpft das Menschenrecht»! Für universale transnationale
Institutionen. «Durch rasche Verbesserung
aller Produktionsinstrumente, durch die
unendlich erleichterte Kommunikation
das Hereinziehen aller, auch der barbarischsten Nationen in die Zivilisation»
(Marx/Engels), daher Ablehnung aller Faschisten, nationalistischer «Sozialisten»,
terroristischer Heilsbewegungen, theokratischer Ideologien und Regime, korrupter Militärherrscher. Unterstützung der
Zivilgesellschaft gegen etatistische Entmündigung.
Albert Christian Sellner, Autor, Herausgeber
Foto: privat
Links? Das ist eine sich ständig erneuernde
Demokratie, eine zur Selbstkritik fähige
Gesellschaft, die den Einzelnen ermuntert,
seine sozialen und geistigen Fähigkeiten
zu entfalten. Es ist eine Weltanschauung,
die stets nach neuen Erkenntnissen sucht,
die nichts so verabscheut wie das Erstarren
in einmal gültigen Formen.
Renate Wiggershaus, Schriftstellerin
5
Foto: Josef Koudelka
War der Prager Frühling 1968, diese große, die gesamte tschechoslowakische Gesellschaft aufrührende Bewegung gegen den Stalinismus, den eigenen wie den der Sowjetunion, links? War er rechts? Je
nach Standpunkt fallen die Antworten verschieden aus. Die außerparlamentarische Opposition Westdeutschlands (APO) war gespalten. Für die einen konnte ein Aufstand im Namen der Freiheit, konnte der Widerstand dieses kleinen Staates gegen die geballte
Militärmaschinerie der Warschauer Paktstaaten, nur links sein.
Und war nicht «Sozialismus mit menschlichem Gesicht» die Parole
dieser sanften Revolte? Für die anderen deuteten die reformerischen
Ansätze dieser Liberalisierungs- und Demokratisierungsbewegung
in Richtung Sozialdemokratie und bewiesen damit den konterrevolutionären Charakter dieses Aufstands.
An der Parteinahme für oder gegen den Prager Frühling zeigte
sich, wie wenig aussagekräftig der Begriff «links» ist: das Linke –
ein zum Hauptwort erklärtes Eigenschaftswort, das spätestens seit
der Niederschlagung des Prager Frühlings selbst des verdeutlichenden Adjektivs bedarf. Also setzte sich die freiheitliche Linke ab von
der dogmatischen und orthodoxen Linken. Ohne jedes Attribut, senza niente, ganz nackt, ist «links» eine Luftnummer, es ist unklar,
verbindet sich das Wort mit einer Macht und dann mit welcher, mit
einer Idee und dann von wem?
Die tschechische Reformbewegung platzierte in ihren Parolen
das Linke, also den Sozialismus, zwischen Freiheit und Souveränität und stellte «links» somit in einen Kontext: «In ganz Prag hängen
Aufrufe einzelner Organisationen oder Betriebe. Alle sind inspiriert
vom Motto der vergangenen Wochen: ‹Freiheit, Sozialismus, Souveränität.›» So der Bericht der Nachrichtensendung der Tschechoslowakischen Station vom 22. August 1968, 08.15.
Die russische Invasion in Prag jährt sich am 21. August 2008 zum
vierzigsten Mal. Der Münchner Verlag Schirmer/Mosel hat aus diesem Anlass einen eindrücklichen Band des Magnum-Fotografen Josef Koudelka herausgebracht: «Invasion Prag 1968». Auf unserem
Bild gehen Hoffnung und Widerstand noch Hand in Hand, die Straße ist zum Schlachtfeld geworden und die Menschen sind an den
Rand gedrängt.
Elisabeth Kiderlen
Die wachsende soziale Ungerechtigkeit zu bekämpfen, die die Gesellschaft zu spalten
droht, das muss das Hauptthema der heutigen Linken sein – womit auf gar keinen
Fall die Partei gemeint ist, sondern alle, die
gegen soziale Ungerechtigkeit angehen.
Inga Buhmann, Autorin
Links sein bedeutet für mich, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, dass es zu-
mindest einmal den Gedanken gab, der
Mensch könne Subjekt seiner Geschichte
sein. Links sein bedeutet nicht, eine universelle Wahrheit zu postulieren. Vielmehr
ist in allen möglichen Teilbereichen zu
prüfen, welche Subjektivität sich dort manifestiert. Links sein bedeutet auf jeden
Fall, weder in zynischen Hedonismus zu
verfallen noch gesellschaftliche Unterschiede als naturgegeben zu feiern. Die
Frage besteht, ob die drängenden globalen
Probleme überhaupt unter den traditionellen Kategorien von Rechts / Mitte /
Links betrachtet und angegangen werden
können. Die Gegenfrage lautet, ob überhaupt eine andere als eine «linke» Perspektive denkbar ist.
Paul Ruhnau, Lehrer
6
Begriffsgeschichte
Mitte
Links
Kleine Geschichte der politischen
Geographie Europas.
Von Joscha Schmierer
Wenn eine Partei sich «Die Linke» nennen kann, ohne homerisches
Gelächter hervorzurufen, sind wir definitiv in der Postmoderne angekommen. Weder kommunistisch noch revolutionär definiert sich
«Die Linke» allein durch den Abstand zu anderen. Links als politische Ortsbezeichnung drückt ein Verhältnis aus, aber keinen Inhalt und kein Programm. Die Linke ist das Gegenteil der Rechten.
Aber was ist die Rechte? Beide bilden nicht die Mitte. Man müsste
also nach der Mitte fragen, von der sie sich unterscheiden.
Doch eine Mitte gab’s ja nicht bei der Entstehung der parlamentarischen Geopolitik im britischen Parlament. Auf der einen
Seite saßen die eher Liberalen, auf der anderen Seite die eher Konservativen. Auf beiden Seiten saßen Aristokraten. Die Vertreter
beider Parteien standen oben und über der Gesellschaft, als ihre
Repräsentanten aber auch mitten drin. Der Unterschied zwischen
ihnen: die politischen Vorlieben. Da können politische Leidenschaften aufkommen, aber keine existentiellen Gegensätze.
Im englischen Parlament geht es um die Art und Geschwindigkeit der Evolution, keinesfalls aber, und das auch dann nicht, als
«Labour» und «New Labour» auf der Linken den Platz der «Whigs»
einnahmen, um Revolution. Es waren gerade die grundlegenden
Gemeinsamkeiten auf beiden Seiten des Parlaments, die die strikte räumliche Polarisierung ermöglichten, ohne das Parlament zu
sprengen. So waren stets Regierungswechsel möglich, ohne je das
Regime zu wechseln. Die Auseinandersetzungen zwischen den
beiden Seiten folgen noch heute einem gemeinsamen Ritual.
Links und rechts entstand als politische Ortsbestimmung in einer
Konstellation, in der die Mitte leer bleiben konnte, weil beide Seiten gemeinsam das Ganze ausmachten. Der politische Grundkonsens war die gemeinsame Basis der parteilichen Auseinandersetzung, nicht deren Ziel. Das Ziel der Auseinandersetzung war
Regierungserhalt oder Regierungsbildung. Das parlamentarische
Wechselspiel von Regierung und Opposition zwischen sich entgegengesetzt verortenden Parteien funktioniert nur, wenn sie ziemlich enge Nachbarn sind und einige Grundstücke gemeinsam verwalten. In den USA, in denen es große Probleme der Segregation
gab, eine landesweite Klassenkonfrontation sich jedoch nicht
«Im englischen Parlament geht es um die Art und Geschwindigkeit der Evolution,
keinesfalls aber um Revolution.»
7
Rechts
herausbildete, funktionierte das Wechsel- und Zusammenspiel
von zwei Parteien über Jahrhunderte hinweg, ohne dass es sich im
Links-Rechts-Schema definieren und polarisieren ließ.
Das Gegenüber von links und rechts, das die dramatisierende,
aber selten dramatische Geopolitik des britischen Parlaments beschreibt, erhielt auf dem europäischen Kontinent mit dem Gegensatz von Republik und Monarchie, von Sozialismus und Kapitalismus und immer wieder von Revolution und Reaktion eine
ganz andere Spannung. Es wurde antagonistisch aufgeladen. In
den Kriegen wurden die Gegensätze durch nationalistischen
Kurzschluss überbrückt. Burgfrieden hieß das in Deutschland im
I. Weltkrieg, Volksgemeinschaft hieß es im Dritten Reich.
Das gemeinsame Ganze, das die britischen Parlamentsparteien auf ihren entgegengesetzten Seiten zusammenhielt, gab es auf
dem Festland nicht und sollte es auch nicht geben. Die Mitte, die
beim britischen parlamentarischen Gegenüber im gemeinsamen
Ganzen kein Problem war, wurde auf dem Kontinent oft als Hindernis in den Entscheidungsschlachten zwischen Revolution und
Konterrevolution, zwischen Rechts und Links verstanden. Die
Mitte, das waren die, die sich nicht entscheiden konnten. Nach
der Logik des «Wer nicht für mich ist, ist wider mich» waren die in
der Mitte die Schlimmsten, weil sie sich nicht als Feinde offen zu
erkennen gaben. In dieser Logik wurden die Sozialdemokraten für
die Kommunisten der Weimarer Republik zu «Sozialfaschisten»,
gegen die der erste Schlag zu führen war, um dann im Zusammenstoß Klasse gegen Klasse, die Entscheidung zu suchen.
Links und rechts waren auf dem Kontinent keine Begriffe, die
Relationen innerhalb eines politischen Kontinuums ausdrückten,
sondern fundamentale Alternativen. In einem Zeitalter der Kriege
und der Revolutionen schien es oft nur eine Frage zu geben: Wer
gegen wen? Wer schaltet wen aus oder wird vom anderen umgebracht. Diese Vorstellung war insofern nicht aus der Luft gegriffen,
als Republik und parlamentarische Demokratie bis in die zweite
Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht gesichert waren. Ihren sicheren
Boden fanden sie erst in der Verallgemeinerung der Lohnabhängigkeit und der Verbürgerlichung der Arbeiterklasse. An die Stelle
sich ablösender Gegensätze traten differenzierte Lebenslagen in
einer mehr oder weniger offenen Gesellschaft und politischer Pluralismus. In einer solchen Situation kann auch ein Revolutionär
aus Prinzip wie Toni Negri nur noch die Multitude als politisches
Subjekt ausmachen. War die Links-Rechts-Polarisierung zunächst
durch den Gegensatz von Feudalherrschaft und Bourgeoisie, von
Monarchie und Demokratie und dann durch den Gegensatz von
Bourgeoisie und Proletariat, von Kapitalismus und Sozialismus
unterfüttert, wird sie nun immer mehr zum Wolkenverschieben
am leeren Ideenhimmel.
In der Europäischen Union herrschen heute auch auf dem
Kontinent mehr oder weniger «britische», beziehungsweise «amerikanische» Verhältnisse. Die Parteien sind in dem Sinn Volksparteien, dass sie interessierte Individuen aus allen Schichten organisieren und ansprechen wollen, und zur Verwirklichung ihrer
Programmatik auf parlamentarische Mehrheitsbildung zielen.
Die politischen Leidenschaften und die politische Rhetorik bleiben aber weiterhin von alternativen Fundamentalismen geprägt.
Einen tieferen Grund gibt es dafür nicht. «Die Linke» will alles, nur
keine kommunistische Plattform sein. Ihre Führung weiß warum.
Die FDP begründet ihre Steuervorschläge damit, dass sie allen
nützten. Jede Partei betont, auf dem Boden des Grundgesetzes zu
stehen. «Die Linke» beschwert sich, dass sie immer noch vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Außer der Vergangenheit gibt es
dafür auch keinen Grund. Populistischer Schwindel ist nicht
verfassungswidrig.
Heute machen sich fast alle lustig über Francis Fukuyamas
«Das Ende der Geschichte» (1992). Doch fällt niemandem im Westen, aber auch anderswo in der Welt, eine bessere Form für den
Umgang mit den Problemen der Moderne ein als eine durch Republiken regulierte kapitalistische Marktwirtschaft. Im Zentrum
steht die Frage, wie ein gesellschaftlicher Zusammenhalt zu errei-
«Die Mitte wurde auf dem europäischen Kontinent oft nur als Hindernis in den Entscheidungsschlachten
zwischen Revolution und Konterrevolution, zwischen Rechts und Links verstanden.»
Begriffsgeschichte
chen ist, ohne den die Durchsetzung der wichtigsten, vor allem
auch ökologischen Veränderungen unmöglich ist. Und wie diese
Veränderungen stabilisiert werden können.
Links und rechts sind zu Schattierungen in dieser durchaus gemeinsamen Bemühung geworden. Rechts nennt sich heute fast
niemand mehr freiwillig. Als «eher links» bezeichnen sich dagegen viele. Aus diesem Gefühl ihren Vorteil zu ziehen, ist die usurpatorische, aber auch realitätsblinde Bemühung einer Partei, die
sich ohne Wenn und Aber «Die Linke» nennt. So hofft sie, maximale programmatische Verschwommenheit mit der Vortäuschung
strikter Prinzipientreue vereinbaren zu können.
Die Dankbarkeit, die Scheidemann den Kommunisten auf dem
SPD-Parteitag von 1919 zollte, will sich «Die Linke» auf keinen Fall
verdienen. Scheidemann sagte damals: «Nicht zufällig nennen wir
uns von alters her Sozialdemokraten. Wir haben uns niemals die
Verwirklichung des Sozialismus anders vorstellen können als auf
dem Wege der Demokratie.» Er fuhr dann fort: «Ich bin der äußersten Linken dafür dankbar, dass sie auf diesen Namen verzichtet, dass sie sich Kommunisten nennen.» Das Festhalten der Sozialdemokraten am Ziel des «demokratischen Sozialismus» ist dabei
heute so hilflos traditionstreu, wie umgekehrt der Verzicht auf das
kommunistische Vorzeichen zeigt, wie zeitgemäß opportunistisch
sich die «Die Linke» in der deutschen Parteienlandschaft zu bewegen versteht. Mit ihrem Namen täuscht sie eine scharfe Scheidelinie vor, die zu benennen sie gleichzeitig vermeidet.
Ein grundsätzlicher Formwandel in Politik und Gesellschaft ist
heute weder absehbar noch überzeugend zu begründen. Außer
den Neonazis, der verbliebenen «Systemopposition», scheint ihn
auch niemand zu verkünden und anzustreben. Aber innerhalb
dieser Formen, Republik und Marktwirtschaft, sind ziemlich
gigantische Veränderungen erforderlich. Wie heute fast alle wissen, betreffen sie neben der Bildungspolitik und dem Kampf gegen Verarmung und Ausschluss, eine ganze Reihe von Problemen,
die sich unter dem Rubrum ökologische Frage zusammenfassen
lassen.
Westerwelle wendet sich mit den Steuervorschlägen der FDP
polemisch gegen die «roten und schwarzen Sozialdemokraten» in
der Großen Koalition und zeigt in aller Grobschlächtigkeit eine
gewisse Sensibilität dafür, dass das tatsächliche Engagement für
die Lösung bestimmter Probleme heute nicht mehr in dieser oder
jener Partei ihren Ort hat, wie ja auch das zivilgesellschaftliche
Engagement Parteigrenzen überschreitet.
In modernen Gesellschaften gibt es heute große Spannungen
durch die Kumulation von alten und neuen Problemen und zugleich gibt es die Chance, ihre Lösung nicht in der Spaltung der
Gesellschaft suchen zu müssen, sondern in ihrem bewussten Zusammenschluss zu finden. Pluralismus ist die Chance, Polarisierung die Gefahr.|
Vita
Joscha Schmierer, freier Publizist, war von 1999 – 2007
Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.
Kleines Glossar aus der linken Begriffswelt.
Zeichnungen: Gerhard Seyfried
Re|vo|lu|tion, die; große Sache, was schon daran zu erken-
nen ist, dass der Begriff auch in der Astronomie Anwendung findet, etwa für die Bewegung der Sonne um die Erde; die Vorsilbe
«re» des lat. Ursprungsworts (revolutio = zurückdrehen, umdrehen) deutet an, dass es sich anfangs um eine restaurative Angelegenheit gehandelt hat; siehe: Glorious R. in England 1688/89,
mit der die endgültige Niederlage des Absolutismus markiert
wird nach zeitweisem Intermezzo des Königshauses in der Folge
des Bürgerkriegs; R. ist als Begriff seitdem salonfähig für weltweite Umsturzbewegungen (Französische R., Märzr. u.a.), die
neue politische Verhältnisse mit sich bringen; marxistisch-leninistisch aufgefasst führt die R. zwangsläufig zu Höherem, was
durch die Praxis allerdings widerlegt wurde (Oktoberrevolution,
Zusammenbruch der Sowjetunion); China lehrt, dass die R. nicht
immer von den benachteiligten Schichten ausgehen muss (Kulturrevolution); Zweifel an der Tiefgründigkeit des Begriffs nährt
die Inflation seiner Verwendung in zahllosen Disziplinen (Soziologie, Technik, Sexualität usw.); daher macht es die Geisteswissenschaft seit einiger Zeit ein paar Nummern kleiner, indem sie
ihre wechselnden Moden turn oder schlichter Paradigmenwechsel nennt; zuletzt eher folkloristisch-poetische Verwendung bei
jedem Machtwechsel in demokratisch weniger avancierten Ländern (Nelkenr., Rosenr., Orangene R.).
Matthias Dell
Foto: B.Borstelmann / argum
8
9
Was den linken
Diskurs mit
der Ozonschicht
verbindet.
45 Jahre lang die Frage: «What’s left?»
Eine Relektüre. Von Ulrike Baureithel
Im Sommer 1991 – die Linke zerfetzte sich sche Denkübung, ordne sich «rechts» und tertitel «an alle» wandte. Eingeladen hatte
gerade im Für und Wider um den zweiten «links» um ein «leeres Zentrum», und jede der Publizist Horst Krüger, und im Vorwort
Golfkrieg – fand sich in Kassel eine kleine Seite stifte, gleichgültig wie und wohin sie gab er seinen Diskutanten mit auf den Weg,
illustre Runde aus Wissenschaft und Publi- sich bewegt, jeweils die Identität der ande- «links» könne immer «nur in Bezug zu etzistik zusammen, um Wege aus dem de- ren, ohne aus der Kollaboration mit dem was anderem stehen: zu einer Mitte und
saströsen Freund-Feind-Denken zu su- «System» ausbrechen zu können.
zu rechts.» «Links» sei also nichts «Primächen. Seitdem der Linken ihr Links-Sein
res», sondern etwas «Reaktives». Implizit
problematisch geworden und ihre Identi- Was als politisches Entlastungsversprechen den Soziologen Karl Mannheim im Gepäck,
tät in die Konkursmasse des dahingeschie- daherkam und im Clinch zwischen «Pazifis- nannte Krüger das relationale Modell zeitdenen Realsozialismus eingegangen war, ten» und «Bellizisten» keine nennenswer- bedingt noch «dialektisch», und er vermehrten sich Ansätze, über die Funktion ten praktischen Spuren hinterlassen hat, band seine Frage mit der Aufforderung an
des Rechts-links-Gegensatzes im politi- überrascht, wiederentdeckt in einem Band, die «heimatlose Intelligenz», sich neu zu
schen Raum nachzudenken. In einem der sich fast zwanzig Jahre zuvor mit der verorten. Damit war der Auftakt gemacht
amorphen Kontinuum, so die akademi- Frage «Was ist heute links?» (1963) im Un- für eine bis heute andauernde linke Selbst-
«Was links ist, lässt sich nicht ein für alle Male festlegen» (André Gorz).
Begriffsgeschichte
«Nach über einem Jahrzehnt politischer Irrtümer und persönlicher
Selbstverleugnung theoriemüde, älter geworden und
neuen Verhältnissen ausgesetzt, öffnete sich die Linke nun lebens­
weltlicheren Problemen.»
reflexion und der damit verbundenen
«Hoffnung», wie der Schriftsteller HansWerner Richter damals formulierte, «dass
der Begriff ‹links› jene Klärung erfährt, die
für unsere Zeit notwendig ist, eine Klärung
nach vorn».
«Was heißt heute links?» und «Ist die Linke
heute noch links?», fährt Richter fort, um
sofort festzustellen, wie «verschwommen»
die Begriffe nach dem Godesberger Programm der SPD geworden seien. 1963 –
mitten im Kalten Krieg und in Ludwig Erhards Wirtschaftswunderland – war der
Begriff «Klasse» so anstößig wie der Gedanke an eine reale deutsche Wiedervereinigung. Dagegen hatte die von Helmut
Schelsky in Umlauf gebrachte «nivellierte
Mittelstandsgesellschaft», in der alle sozialen Gegensätze befriedet seien, Konjunktur. «Irrig», nannte der «konservative Linke» Walter Dirks diese Vorstellung; der
Klassencharakter der BRD sei nur «verschleiert», sekundierte der Philosoph Hans
Heinz Holz.
Die «heimatlose Linke» stand sichtlich mit
dem Rücken zur Wand, die verlorenen Utopien wehmütig im Blick: «Der Versuch ihrer Wiedererweckung in einer so genannten neuen Linken», dekretierte Ralf
Dahrendorf aber unmissverständlich, sei
«ebenso krampfhaft wie hoffnungslos.»
Eingeschwenkt auf Marktwirtschaft und
NATO, hatte 1961 die SPD die Mitgliedschaft in der Partei und im SDS für «unvereinbar» erklärt. Doch von den jungen radikaleren Linken – einer Ulrike Meinhof
etwa, 1963 immerhin schon Chefredakteurin von «konkret» – und von Frauen überhaupt ist in diesem Brainstorming nichts
zu lesen. Dagegen Erinnerungen an die
zwanziger Jahre, die Helmuth Plessner ein
Jahr zuvor so gründlich entmystifiziert
hatte. «Die heimatlose Mitte wärmt ihren
verhängnisvollen Traum von den goldenen
Zwanziger Jahren auf … sie ist nur noch
weinerlich», spottete Heinrich Böll.
Es sind die Engagierten und politisch Gebeutelten – Walter Dirks und Hans-Werner
Richter, Gerhard Zwerenz mit seiner DDRErfahrung und der NS-Verfolgte Wolfgang
Abendroth –, die den «Anschluss an die
Massen» (Dirks) forderten oder das «kulturelle Partisanentum» (Zwerenz) propagierten. Eine regelrechte «Generallinie» entwarf
Abendroth in seinem noch heute lesenswerten historischen Abriss, wenn er der
bundesrepublikanischen Linken die Verantwortung für die DDR auferlegt und ihr
eine linke «Gesamtkonzeption» abverlangt.
Bekanntlich hatten der SDS – und später seine verschiedenen organisatorischen Ausläufer – die «nationale Frage» auf jeweils
eigene Weise lösen wollen. In den Bruderkämpfen des «roten Jahrzehnts» zwischen
1967 und 1977 war dann aber keine Zeit für
und kein Bedürfnis nach Selbstreflexion,
zu dringend war, das wiederentdeckte revolutionäre Subjekt von seiner historischen Mission zu überzeugen. Erst mit
dem endgültigen Abgesang der «neuen
Linken», den Flügel-Kämpfen zwischen
«Realos» (parlamentarischer Durchmarsch)
und «Fundis» (Fundamentalopposition) in
der neu gegründeten grünen Sammlungspartei und der konservativen Wende der
Kohl-Republik erhob sich die Notwendigkeit «Die Linke neu (zu) denken» (Wagenbach, 1984). Nach über einem Jahrzehnt
politischer Irrtümer und persönlicher
Selbstverleugnung theoriemüde, älter geworden und neuen Verhältnissen ausge-
Vita
Ulrike Baureithel ist seit 1990 Redakteurin der Wochenzeitung
Freitag, Lehrbeauftragte an der Berliner Humboldt-Universität
und freie Autorin.
setzt, öffnete sich die Linke nun lebensweltlicheren Problemen. In acht politisch
durchaus konträr positionierten «Lockerungsübungen» nähern sich die Autoren –
und, nun satisfaktionsfähig!, auch zwei
Autorinnen – den neu auf die Agenda gerückten Themen: Technologiekritik, ökologisches Wirtschaften, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung.
Jochen Reiches Kritik an den «natürlichen
Kreisläufen» und am Terror einer zur «Politik» erklärten einsinnigen «Natur» liest sich
immer noch luzide und kündigt die «ökolibertäre» Wende der Grünen an. «Die Natur
des Menschen ist die Kultur», erklärt er
und fordert die grünen Abgeordneten auf:
«Sie müssen den Baum ins Parlament bringen, nicht weil das aus den Kreisläufen der
Natur abgeleitet werden sollte …, sondern
weil es um die Zukunft der menschlichen
Gesellschaft geht.» In Lothar Baiers Polemik gegen eine ehemals kulturfeindliche
Linke, die sich nun in eine biedere Stadtteil-Kulturseligkeit rette und sich kritiklos
dem «Kulturbetrieb» verschreibe, begegnet
einem der 2004 verstorbene Essayist in seiner scharfzüngigsten Lesart. Dass es 1984
immerhin auch feministische Fragestellungen in die linken Denkkartelle schafften, war ein Fortschritt, doch, ach, es bleibt
bei dem, was Frauen so umtreibt: Familienpolitik und Vereinbarkeitsproblem, auch
wenn Barbara Sichtermann das feministische Paradox von Gleichheit und Differenz
– Emanzipation vom Weiblich-Besonderen
oder Emanzipation als Weiblich-Besonderes – scharfsinnig umkreist.
Interessant ist, dass gerade sie und auch
Gisela Erler, die später das umstrittene
grüne «Müttermanifest» mit aus der Taufe
hob, für die politischen «Umwertungen»
der damaligen Linken stehen. Es ginge darum, schreibt Sichtermann, dass die «unbezahlte Arbeit (der Mütter/UB) ihre Respektierlichkeit zurückgewinnt». Statt
schwedischem Sozialstaat, der die Frauen
dort «heimatlos» mache, weil er ihnen den
weiblichen Ort verwehre, versuchen die
Foto: Connie Uschtrin
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Pro|le|ta|riat, das; unterste Schublade in der gesellschaftlichen Kommode; niedriger
geht’s dennoch immer, im alten Rom etwa dank der Unfreien (Sklaven); anders als diese
verfügte das landlose P. über seine Nachkommen (lat. proles); nach K. Marx die Gruppe der
Lohnarbeiter, zu Zeiten der Industrialisierung häufig mit Migrationshintergrund (Verstädterung); das P. schafft Mehrwert qua Arbeitskraft mit Produktionsmitteln, die nicht seine
sind, wird dafür mies bezahlt; Distinktion auch hier am Start: das sog. Lumpenproletariat
(Bettler, Kesselflicker, Sexarbeiterinnen), das nur recycelt, dient der Abgrenzung nach unten; prominentester Gegenspieler: die Bourgeoisie, die Produktionsmittel besitzt; wirksamstes Instrument im Kampf gegen ebendiese: Klassenbewusstsein, das über die Vereinigung der
Entfremdeten zur Diktatur des Proletariats führt; eingelöst zumindest auf dem Papier etwa
in Gestalt E. Honeckers, der als Dachdecker aus Neunkirchen (Saar) Gen.sekretär des ZK
der SED und Staatsratsvorsitz. der späten DDR wird, im Ganzen eher traurige Vorstellung;
vermutlich nicht unschuldig daran, dass P. im Folgenden seiner emanzipatorischen Kraft
beraubt zur soziologischen Konstante (Prolet, Proll) billigen Überlegenheitsdünkels sich alltagskulturell (Bierkonsum, Fernsehverhalten, Arschgeweih) höher gestellt wähnender
Schnösel verkommt; zuletzt vorsichtige politische Renaissance in der begrifflichen Ausgründung Prekariat.
Matthias Dell
Autorinnen, der neuen konservativen So- 1993er Bilanz «What's left», sei als «historizialpolitik – Heiner Geißler plante damals sche Niederlage der Linken» zu begreifen.
gerade die erste Stufe des Erziehungsgel- Dies muss die FAZ derart in Schrecken verdes – auch positive Seiten abzugewinnen. setzt haben, dass sie diese «Prognosen zur
Ähnlich argumentiert Thomas Schmid ge- Linken» selbst in Auftrag gab.
gen die 35-Stunden-Woche-Kampagne der
Gewerkschaften und verweist auf das le- Wo Gattungsfragen nach Lösung schreien
bensweltliche Bedürfnis nach flexibleren und Menschheitsprobleme unter den NäArbeitszeitmodellen. Wo sich diese von geln brennen, scheint der alte Streit zwiden «sozialdemokratischen Rockschößen» schen «rechts» und «links» beigelegt,
und der «heiligen Einfalt der Grünen» (Co- grundlegende Revisionen kündigen sich an.
vertext des Wagenbach-Buchs) abgestoße- «Was links ist, lässt sich nicht ein für alle
nen Linken nun selbst verorten, wird in- Male festlegen», konzedierte denn auch
dessen so wenig klar wie in der gebundenen André Gorz. Nun steht das fortschrittsgläuRatlosigkeit bei Horst Krüger: Nur dass bige Verhältnis der Technik zur Disposition
«freischwebend» nun weniger soziologisch (Konrad Adam), und es werden Versäumals habituell gemeint sein dürfte.
nisse anerkannt, etwa die linke Ignoranz
gegenüber den osteuropäischen DissidenIm wahrsten Sinne des Wortes «heimatlos» ten (Henning Ritter und André Gorz).
wurde die intellektuelle Linke erst mit dem Drohten 1984 «Entropie» und Wärmetod,
Fall der Mauer und der sich ankündigenden zieht zehn Jahre später die soziale VergletGlobalisierung. Die damit ausgelöste Läh- scherung ein in den Diskurs, gegen die
mung war so groß, dass die linke Selbstre- kommunitaristische Wärmehallen instalflexion dieses Mal sogar vom «feindlichen liert werden sollen (Michael Walzer). Das
Lager» angestoßen werden musste und «Gesamtkonzept», von dem Abendroth
dieses sich auch selbst daran beteiligte. noch träumte, hat sich – zusammen mit
Die Koinzidenz des Zusammenbruchs von der Ozonschicht – fast ohne Rückstände
realem Sozialismus und Krise des Sozial- aufgelöst. Dies nun als Chance zu begreifen
staats, so der italienische Politikwissen- und ein «gewisses Maß an Entfremdung»
schaftler Norbert Bobbio einleitend in der zu ertragen, mahnte Elmar Altvater an.
Dass mit der Entladung der Rechts-linksSpannung sich auch neue nationale und
religiöse Konflikte ankündigen könnten,
schwante wohl manchem der Autoren. Am
Ende der Aufklärung könnte möglicherweise eine bedrohliche Leerstelle entstehen, die neu mit Sinn gefüllt werden muss.
«Die Demokratie brauche eben ihr Gegenüber, um sich zu definieren», schreibt Cora
Stephan. Und Antje Vollmer schließt ihren
Beitrag mit der Beobachtung: «Ich habe
den Eindruck, das nachdrückliche konservative Fragen ‹Was bleibt denn von den
Linken›, hat damit zu tun, dass sie (die
Konservativen/UB) mit dieser kulturellen
Leerstelle nicht gern allein gelassen werden möchten.» |
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Lebenswelten
Der Container mit der Aufschrift «links»:
Gebetsraum für unsortierte Glaubensbekenntnisse.
Nahezu zwei Drittel der Deutschen, so kann man aus Umfragen erfahren, würden Barack Obama wählen. Klar, dass unter den Qualitäten,
die ihn papabile machen, sein jugendliches Charisma an erster
Stelle steht. Überraschend indes, dass viele unserer heimischen
Barack-Fans als Grund ihrer Sympathie seine «Orientierung an
linken Positionen» nennen. Ist der künftige amerikanische Präsident etwa links? Die Frage muss, wenn man sie aus der deutschen
Perspektive stellt, in erster Linie aus den Projektionen und Idealisierungen derer beantwortet werden, die in ihm das role­model
eines neuen linken Heros sehen.
«Links» ist, was immer sich dahinter inhaltlich verbirgt, zunächst ein polarisierender Topos. Wer sich als links erklärt, steckt
einen Claim ab, dessen Grenzen scharfäugig bewacht werden. So
gesehen ist der «Synkretist» Obama alles andere als ein Linker: Er
denkt nicht nur zusammen, was er für zusammengehörig hält, er
möchte erklärtermaßen Konfrontationen aufbrechen und Gegensätze unter einen Hut bringen.
Der Grund dieses überwältigenden synagogischen Wunsches
liegt, so die Botschaft der beiden Bücher, die er geschrieben hat,
in seiner Biografie. Wir alle kennen mittlerweile die Story vom
schwarzen, ihm beinahe unbekannten kenianischen Vater und
der weißen amerikanischen Mutter, der Geburt in Hawaii, dem
Leben in Indonesien und Baracks spätem umwegigen Ankommen in den Vereinigten Staaten – eine Patchwork-Lebensgeschichte, in der vom ersten Moment an das Private vom Politischen dramatisch umschlossen zu sein scheint.
«Das Private ist das Politische» lautete eine Spätparole von 68:
eine Losung, die das Ende der politischen Orientierung an revolutionstrunkenen linken Zirkeln und Parteien einläutete und den
Beginn eines New Age ankündigte. Zur selben Zeit, als die Radikalsten der von der versandenden Revolte Enttäuschten sich dem
Konzept Stadtguerilla verschrieben, begann in der lebensweltlichen Fraktion die Stadtflucht: Nicht mehr die – ausbildungsgemäße – urbane, d. h. Uni-nahe Wohngemeinschaft war angesagt,
sondern Landkommune. Neue libertäre, ja romantisch getönte
Orientierungen bildeten sich, die nicht zuletzt die Niederlage im
«eigentlichen» Feld des Politischen zu verarbeiten suchten. Anstelle der erwarteten Revolution hatte es halt nur eine Hochschulreform gegeben.
Vita & Publikationen
Christian Schneider ist Soziologe und Forschungsanalytiker und
lehrt psychoanalytische Sozialpsychologie an der Universität
Kassel.
Jüngste Veröffentlichung: Zusammen mit M.
Frölich und K. Visarius, «Projektionen des Fundamentalismus.
Reflexionen und Gegenbilder im Film», Marburg 2008.
Irgendwann in den 70ern standen viele «68er» mit einem Haufen
halb verlorener, halbherzig verteidigter Illusionen inmitten unerwarteter Realitäten da. Mit einer abgeschlossenen Lehrerausbildung z.B., aber zugleich einem Berufsverbot oder wenigstens
einem gewissen Ekel vor dem Schulalltag. Über wirkliches politisches Talent, gar den politischen Zwangscharakter, der ohne das
Gefühl der Macht nicht leben kann, verfügten die wenigsten. Je
dröger, drückender und kälter der Alltag wurde, desto mehr wärmten die alten Identifikationen mit den unterdrückten Minderheiten, den Entrechteten und Beleidigten, die einem «zur Aktionszeit» halfen, sich als Teil der großen anti-imperialistischen Front
zu fühlen.
In diesen Post-68er-Jahren koexistierten in vielen Köpfen die
unwahrscheinlichsten Phantasien friedlich neben den ödesten
Alltagsrealitäten. Der Container, in dem all diese Lebenssplitter,
die Illusionen und Wünsche des vergangenen Aufbruchs ungeordnet beieinander lagen, trug die Aufschrift LINKS. Diese Melange war, eben weil so unspezifisch, in vielfältiger Weise anschlussfähig. Unter der Parole vom Privaten als des (eigentlich)
Politischen konnten sich Friedensbewegte ebenso sammeln wie
Frauengruppen, die Schwulen- und Lesbenbewegung oder diejenigen, die sich einer besseren Kindererziehung verschrieben hatten. Der Container LINKS war eigentlich so etwas wie ein Gebetsraum für ein seltsam unsortiertes Glaubensbekenntnis: das
Bekenntnis gegen eine «Mehrheit», die kaum mehr exakt politisch
zu bestimmen war, aber wenigstens einen verlässlichen Grenzwert zum eigenen Existenzentwurf markierte. Wer sich damals
diesem Bekenntnis anschloss, schwamm, ohne sich darüber im
Klaren zu sein, indes längst in einem neuen Mainstream.
Als sich gegen Ende der siebziger Jahre weltweit religiös motivierte Protestbewegungen zu Wort meldeten, war die Mehrzahl
der Zeitdiagnostiker sprachlos. Religiöse Artikulationsformen von
Dissidenz fielen aus ihrem Analyseraster, das «Religion» als puren
Gegensatz zu jener Vorstellung «des Politischen» sah, die sich im
Westen nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hatte. Spätestens
in den sechziger Jahren schien die Religion vollends zu einer reinen Privatangelegenheit geworden zu sein. Doch genau da, wo
das Private das Politische zu werden begann, fand beides, das inexplizierte Glaubensbekenntnis und das Politische, zu neuen For-
Foto: privat
Von Christian Schneider
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Bour|geoi|sie, die; (frz. Bourgeoisie, zu bourgeois (bildungs-
spr. abwertend) = Bürger, zu: bourg = Marktflecken, aus dem
Germ., verw. mit Burg); never forget where you're coming from, leider zu häufig passiert; im revolutionären Frankreich am Ende des
18. Jh.s kurze Zeit Hoffnungsträger der bürgerlichen Umgestaltung,
weil Bezeichnung für das Milieu zwischen Adel und Bauernschaft,
das eine führende Rolle bei der gewaltsamen Beendigung des Absolutismus spielte; dann aber nicht minder gewaltsam die neu gewonnene Macht verteidigte (Jakobinischer Terror); ob seiner Rolle zwischen oben und unten auf der gesellschaftl. Skala (Sandwichstellung)
später auch als Juste Milieu bezeichnet (Julirevolution) und in der
Folge diffamiert als halbgare Schicht von Besitzstandswahrern; daran hat sich bis heute nichts geändert; K. Marx diagnostizierte unüberwindbare Gegensätze zwischen der Klasse der Ausbeuter (B.)
und der Klasse der Ausgebeuteten (siehe auch: Proletariat) und
empfahl den Klassenkampf; kam mehrfach zum Ausbruch (Oktoberrevolution, DDR), hat aber letztlich wenig an den Verhältnissen geändert (Kapitalismus); das Versagen des Bürgertums (deutscher
Begriff) kennt viele Beispiele (Drittes Reich); die B. ist trotzdem
(oder gerade deshalb) gesellschaftlicher Leistungsträger geblieben
(Mittelstand), der unverdrossen seine Abstiegsangst (H. Müller: «Für
alle reicht’s nicht») mit Konservatismus behandelt; immerhin: Der
Begriff ist selbst in der neobürgerlichen Gegenwart desavouiert; Citoyen kommt cooler.
Matthias Dell
men – und einem unerwarteten Mischungsverhältnis. Nicht reli- verstockten «rechten» religiösen Fundamentalismus repräsengiös in irgendeinem organisierten, gar kirchlichen Sinne, aber in tiert, macht uns Obama öffentlich zu Zeugen des äquilibristiForm eines bemerkenswerten Osmoseprozesses, mauserte sich schen Akts, eine ebenso stark christlich fundierte Überzeugung
der linke Glaube klassischer Prägung zu einer neuen Weltan- unter Einbeziehung linker utopischer Elemente sozialpolitisch zu
schauung sui generis. Seither jedenfalls ist es mit dem «wissen- reformulieren.
Obama verkörpert – auch hier ein Musterbeispiel einer Patchworkschaftlichen» Sozialismus, auf den die alte Arbeiterbewegung so
Identity – das Paradox eines liberalen Fundamentalisten: Er verstolz war, endgültig vorbei.
In dem Jahrzehnt zwischen dem Fall des Schahs und dem der bindet bei seinen Auftritten das Erweckungspathos eines Ghetto
Berliner Mauer hat sich das Konzept «Links» wieder in Richtung preachers gekonnt mit der liberalen Gestik, dem modischen Outfit
auf eine heilsgeschichtliche Botschaft verändert, die nach dem und der sprachlichen Suavität eines Oberklassen-OstküstenEnde des «realen Sozialismus» desto heftiger zum Tragen kommt. Rechtsanwalts. Wenn wir nur fest genug daran glauben, ist alles –
Und heute erstaunlicherweise von Leuten wie Barack Obama ver- mein 2000-Dollar Anzug beweist es – möglich: Yes, we can! Dies ist
körpert wird. Er führt in der für unseren Geschmack manchmal in der Tat genuin «links», denn ein utopischer Entwurf, der mit
leicht bizarren US-Kulisse öffentlich auf, was hierzulande noch der Idee der sozialen Gerechtigkeit und des Aufstiegs verknüpft
ist, gehört zu den unverzichtbaren «Quellen und Bestandteilen»
keine klare Artikulation gefunden hat.
Obama ist dezidiert links, wenn man darunter die Vermählung linker Weltanschauung. Obama präsentiert das, was sich alle ervon basalen sozialen Überzeugungen mit einer kollektiven Stim- sehnen, die versuchen, eine «idealistische» linke Jugend mit einer
mung versteht, die Aufbruch und Bewegung verheißt. Er hat eini- weitgehend desillusionierten Gegenwart unter einen Hut zu bringe voluntaristische Glaubensderivate der Linken aus der Versen- gen. Seine Idealisierung hierzulande kündet von dem starken
kung geholt und auf erstaunliche Weise flott gemacht. Mag er Wunsch nach Bewegung, nach Aufbruch – und dem unstillbaren
programmatisch der Gegentypus zu Bush sein, so ist er ihm min- Hunger nach einer Glaubwürdigkeit, hinter dem sich die Sehndestens in einer Hinsicht ähnlich: der grundlegenden Orientie- sucht nach einem (möglicherweise nicht nur) politischen Glaurung im Glauben. Wo Bush als bekennender Evangelikaler den ben verbirgt. |
«Obama präsentiert das, was sich alle ersehnen, die versuchen, eine idealistische linke Jugend
mit einer weitgehend desillusionierten Gegenwart unter einen Hut zu bringen.»
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Lebenswelten
Freiheit,
Gleichheit,
Schönheit
«Brüderlichkeit» braucht niemand mehr.
Stattdessen kann «Schönheit» die dritte
Säule der französischen Revolutionsbotschaft ersetzen. So steht es auf einem Werbeplakat des Kosmetikkonzerns Yves Rocher mit dem Slogan «Freiheit, Gleichheit,
Schönheit – für alle», der auch am 75. Jahrestag der Bücherverbrennung im Mai
2008 großflächig an der Fassade der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität
am Bebelplatz in Berlin hing.
Für Frauenbewegte steckt viel Stoff zum
Grübeln in dieser Begebenheit. Und dass
Siemens neuerdings Frauenklassen für die
Ausbildung von Mechatronikern einrichtet, also solchen Menschen, die sich mit
der Verknüpfung mechanischer und elektronischer Komponenten befassen, liefert
Material zum Nachdenken dazu. Denn was
in 200 Jahren Frauenbewegung – von der
Französischen Revolution bis heute – gefordert und erreicht wurde, das spiegelt
sich in beidem.
Von politisch links indes ist weder beim
Werbekonzern noch bei Siemens die Rede.
Der Ausbildungsleiter von Siemens in Berlin hat eben festgestellt, dass die Forderung
«Frauen in Männerberufe» zwar richtig ist,
allein es funktioniert für die weiblichen
Auszubildenden nicht. «Deshalb geht der
Konzern neue Wege und richtet Frauenausbildungsgänge ein», sagt er.
Dass diese Wege nicht neu sind, wird
niemanden stören. Vielmehr wurden Frauenbildungsklassen in den letzten 200 Jah-
Vita & Publikationen
Waltraud Schwab ist Berlin-Repor-
terin der taz. 2005 erhielt sie den
Theodor-Wolff-Preis. Jüngste
Publikation: «Berlin ist eine Frau»,
Jaron-Verlag, Berlin 2005
ren mal von der bürgerlich ausgerichteten,
konservativen Frauenbewegung am Ende
des 19. Jahrhunderts gefordert. Dann wieder von der sich als fortschrittlich und links
verstehenden zweiten Welle der Frauenbewegung in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts.
Die Französische Revolution war der politische
Aufbruch in die Neuzeit. Die Menschenrechte, die damals proklamiert wurden, ziehen
sich als Idee durch staatliche Verfassungen
von demokratischen Staaten. Die Begriffe
«links» und «rechts» als politische Positionierungen gab es damals indes noch nicht.
Sie wurden erst vierzig Jahre später, nach
der Julirevolution 1830, in Frankreich etabliert. Im neugegründeten Parlament saßen
die konservativ orientierten Abgeordneten
rechts und die im revolutionären Sinne als
liberal geltenden Abgeordneten links. Vermutlich allerdings wären die französischen
Revolutionäre Linke gewesen. Links
schließt Terror nicht aus.
Eine wichtige Streiterin für die Rechte
der Frau während der Französischen Revolution war die Schriftstellerin Olympe de
Gouges. Sie proklamierte 1791 «die Rechte
der Frau und Bürgerin». Sie wollte die
Gleichheit, die für die Männer aller Stände
gefordert war, auch für die Frauen. Undenkbar für ihre Kampfgefährten. Sie wurde als Gegenrevolutionärin 1793 verurteilt
und starb unter der Guillotine.
Erst mit der Industrialisierung, der Entstehung des Proletariats und der Etablierung
von Arbeiter- und Arbeiterinnenorganisationen wurde die Situation von Frauen in
organisierten Zusammenhängen zum
Thema. Wer immer eine Verbesserung der
Lebens- und Arbeitsumstände der Arbeiterinnen forderte, sei es Bildung, sei es
Mutterschutz, sei es Strafe bei Gewalt gegen Frauen, stellte die gesellschaftlich
akzeptierte Ungleichheit der Frauen in
Frage.
Dabei gab es immer mehrere Fronten,
an denen die Situation der Frau zum Thema gemacht wurde. An der Klassenfront
wurde der Schutz der Arbeiterinnen, aber
auch die Gleichbehandlung von Männern
und Frauen gefordert. Sozialistinnen wie
Clara Zetkin, Rosa Luxemburg, die klassenbezogen argumentierten, deckten Anfang des 20. Jahrhunderts im politischen
Spektrum die linke Seite ab.
In der bürgerlichen Frauenbewegung
hingegen, die es nahezu gleichzeitig gab,
wurde das Selbstbestimmungsrecht stärker in den Vordergrund gerückt. Denn gesellschaftliche Konventionen hielten die
bürgerlichen Frauen in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter gefangen. Bildung galt für
sie als unnötig. Erst ab Ende des 19. Jahrhunderts wurde es Frauen allmählich erlaubt zu studieren. Für ihr Wahlrecht
mussten sie weiter kämpfen.
Für alle aber, die sich in der Vergangenheit für die Verbesserung der Situation der
Frauen stark machten, gilt: Sie setzten
Denk- und Handlungsanstöße in Gang, die
Foto: privat
Frauenemanzipation
gehört in keine Schublade. Von Waltraud Schwab
15
nicht nur das Leben der Frauen verbesserten, sondern Umdenkungsprozesse in der
ganzen Gesellschaft einleiteten.
Egal ob konservativ oder links, ob bürgerlich,
sozialistisch oder aus der Negation der bestehenden Kräfteverhältnisse heraus entstanden, die Frauenbewegung hat vor allem im
letzten Jahrhundert enorme gesellschaftliche Veränderungen mit sich gebracht. Sexuelle Gewalt, strukturelle Ausgrenzung
von Frauen qua Gesetz, die Dominanz des
Mannes in der Familie und im Beruf wurden zu öffentlichen Themen. Auch die Tradierung von Ausgrenzung von Frauen
durch Frauen wurde diskutiert. Das Familienrecht, das Scheidungsrecht, das Erbrecht, das Recht auf Selbstbestimmung
über den eigenen Körper – durch die verschiedenen Frauenbewegungen wurden
Verbesserungen in all diesen Bereichen
und noch viel mehr gefordert und erreicht
– gegen die Beharrungskräfte eines Systems, das Männern Vorteile brachte.
Bis heute ist die Frauenbewegung in
diesem Sinne eine Aufbruchsbewegung.
Sie stellt Herrschaftsstrukturen in Frage.
Als Aufbruchsbewegung gebührt ihr im
Schema von Links und Rechts die linke
Seite, die Herzseite.
Auch wenn derzeit nicht von einer starken Frauenbewegung gesprochen wird,
gehen von ihr weiterhin Impulse aus. Vergewaltigung in der Ehe ist seit 1997 in
Deutschland strafbar. Und erst 2002 etwa
wurde die Prostitution als Beruf legalisiert.
Die Auswirkungen der Globalisierung und
der aggressiven Sicherheitspolitik der letzten Dekade sind neue Herausforderungen,
der sich die Frauenbewegung stellen müsste. Allein, die Frauenbewegung ist derzeit
nicht sichtbar. Die Genderdebatte, die die
Geschlechterpolarität in Frage stellt und
neben Mann und Frau als Drittes auf die
geschlechtliche Uneindeutigkeit verweist,
ist stattdessen en vogue. Wer sich parteiisch für Frauen äußert, läuft Gefahr, als
überholt zu gelten.
An dieser Stelle spielen die jungen Frauen,
die sich neuerdings Feministinnen nennen,
ohne gesellschaftliche Veränderungen einzufordern, eine Rolle des Aufbruchs. Sie
nehmen das Wort Feministin, mit dem
man die letzten Jahre nicht punkten konnte, wieder in den Mund. Damit geben sie
immerhin den Blick auf die Geschlechterproblematik erneut frei.
Zurück zu «Freiheit, Gleichheit, Schönheit – für alle.» Eine geballte Frauenhand
mit rot lackiertem Daumennagel illustriert
das Motto am Bebelplatz in Berlin. Das
Plakat ist genial. Auf «Freiheit» und
«Gleichheit», so die Werbebotschaft, möchten die Akteure des internationalen Kosmetikkonzerns nicht verzichten. Auf Brüderlichkeit – ohnehin im Sinne von
Fraternité eher als Synonym für den nationalen Zusammenhalt gedacht – schon.
Damit nicht genug. Das Plakat nimmt
auch die Bedeutung des Platzes, der nach
August Bebel benannt ist, auf. Den Sozia-
listen grüßen die Faust und das grelle Rot.
Obwohl die Farbe zudem für Feuer stehen
kann. Auf dem Bebelplatz verbrannten die
Nazis Bücher, die ihnen nicht passten, weil
sie der Moderne Gestalt gaben. Mehr als
300 Autoren standen auf dem Index. Nicht
nur Werke von Gesellschaftskritikern wie
Marx, Lenin, Liebknecht flogen ins Feuer.
Auch Schriften der Sozialistinnen Rosa Luxemburg und Clara Zetkin, der bürgerlichen Frauenrechtlerin Lida Gustava Heymann, der Sozialdemokratin Marie
Juchacz, der Friedensaktivistin Bertha von
Suttner verbrannten. Mit ihrer aller Bücher
verbrannte die Freiheit.
Auch Bebels Werke landeten in den
Flammen. Darunter der Satz: «Es gibt keine Befreiung der Menschheit ohne die soziale Unabhängigkeit und Gleichstellung
der Geschlechter.» Schon dem alten Sozialistenführer also war Brüderlichkeit verdächtig. Wenngleich ihm als Ersatz kaum
das Recht auf Schönheit – und damit im
Sinne des Werbeplakats natürlich das Recht
auf Konsum – vorschwebte. In dem Kontext
ist unübersehbar, dass es die juristische
Fakultät ist, an der diese Forderung hängt.
Nun spricht nichts gegen Schönheit.
Die neuen Feministinnen machen dies in
ihren Büchern sehr deutlich. Wichtig allerdings ist, dass Schönheit kein Diktat global
operierender Kosmetikkonzerne sein darf.
Sonst steht die Selbstbestimmung der Frau
– wenn nicht gar Freiheit und Gleichheit –
erneut auf dem Spiel. |
Foto: © Yves Rocher
Brüderlichkeit perdu? Werbeplakat des Kosmetikkonzerns Yves Rocher an einer Fassade der Berliner Humboldt-Universität im Mai 2008
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Lebenswelten
Inszenieren heißt
kritisieren.
Bernd Stegemann ist ein Wegbereiter des neuen Regietheaters. Als Dramaturg
begleitet er die Arbeit von Nicolas Stemann, Falk Richter und Tom Kühnel.
Henrike Thomsen sprach mit ihm über die starke linke Tradition des deutschen Theaters
Böll.Thema: Herr Stegemann, welche Rolle
spielt der Begriff «links» heute im Theater?
Bernd Stegemann: Ein Regisseur wie Volker
Lösch, der Hauptmanns «Weber» mit Chören aus Laien und Arbeitslosen inszeniert,
würde sich höchstwahrscheinlich als links
bezeichnen. Das ist eine Art, in der das
Theater politische Haltung zeigt, fast schon
als Propaganda in der Tradition von Piscator. Dann gibt es Regisseure wie René Pollesch oder Nicolas Stemann, die den Begriff des Linksseins problematisieren. Sie
stellen die Frage: Wie komme ich überhaupt zu einer politischen Haltung in einer
Welt, in der vieles geht, aber nichts gehen
muss? Wie komme ich zu einem Auftrag
und einer Notwendigkeit, etwas zu tun?
Das Gestrüpp der Kontingenz, das Stemann abbildet, hat in den besten Momenten eine emanzipatorische Wirkung und
das wiederum ist originär linkes
Gedankengut.
Wie ist es mit dem Gegenbegriff «rechts»?
Ein Theaterkünstler würde sich im Zweifelsfall immer lieber links nennen lassen,
weil das mit Fortschritt, Kreativität, Freiheit, Gleichberechtigung verbunden ist.
Rechts dagegen wird mit Faschismus
gleichgesetzt oder mit einer verstaubten
Adenauer-Zeit. Das sind emotionale Resonanzen, mit denen keiner gern zu tun haben möchte, schon gar nicht Künstler. Dabei findet man bei bekennenden Linken
oft sehr rückwärtsgewandte, veteranenhafte Züge. Die «Linkspartei» hat ein Menschenbild direkt aus dem 19. Jahrhundert
und möchte sich gegen die Globalisierung
abschotten. Damit kann man sich als Theatermacher nicht identifizieren.
Also könnte es sein, dass eine neue RegieGeneration begeistert Kai Diekmann und Matthias Matussek liest?
Nein, ich glaube, rechts ist politisch einfach verbrannt in Deutschland. Es ist auch
nicht das Gleiche wie konservativ. Für einen guten Konservativen gilt, dass er zugleich ein großer Stilist ist. Matussek kann
gar nicht schreiben, insofern ist sein Buch
über das Konservative ein Paradox in sich.
Der Dichter Martin Mosebach hingegen ist
ein großer Stilist und ein bekennender
Konservativer, er würde sich aber nicht als
rechts bezeichnen.
Wie einflussreich sind heutige linke Denker
wie Giorgio Agamben? Der einflussreiche Autor und Regisseur René Pollesch beruft sich
gerne auf ihn.
Pollesch stellt mit Agamben die Frage, was
der Mensch sei. Ist er die Menge seiner Zuschreibungen, das Sozialpartikelchen in
den Sozialsystemen oder ist er das, was er
über sich selbst erzählt? Damit arbeitet er
gegen Fundamentalismus, Biologismus
und alte Rollen- und Geschlechterbilder.
Man darf sich Agambens Rezeption im
Theater aber nicht wie ein Theorie-Semi-
«Rechts ist politisch einfach verbrannt in Deutschland. Es ist auch nicht das Gleiche wie konservativ.»
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nar vorstellen. Theaterleute sind große Eklektiker. Sie klauen sich, was zu ihnen passt,
und das ist auch ihr gutes Recht. Manchmal wird nur ein Satz, ein inspirierender
Gedanke genommen.
Foto: Henrike Thomsen
Dieses Lehrstück war von Brecht für Laienspieler gemeint. Wir haben es parallelisiert mit Rollenspielen aus Seminaren für
Führungskräfte, in denen es auch immer
darum geht, ob es richtig ist, sich dem Bestehenden zu verschreiben oder seinen eiDas Theater der sechziger Jahre war in der genen, vielleicht dann erfolglosen Weg zu
Bundesrepublik programmatisch links und gehen. Bezeichnenderweise konnten sich
stark von der Brecht-Schule beeinflusst, be- besonders die Angestellten über die Rolsonders in der frühen Schaubühne und bei lenspiele gut mit dem Brechtschen LehrClaus Peymann. Was bedeutet dieses Erbe stück und dem darin verhandelten Zwang
für Regisseure heute, auch im ästhetischen zur brutalen Entscheidung identifizieren.
Sinne?
Aber die Brecht-Erben haben die InszenieDer Startpunkt damals war bewunderns- rung verboten und wir mussten sie unter
wert. Es hat sich eine neue Ästhetik entwi- einem anderen Titel weiterspielen. Man
ckelt, die wir heute unter dem Stichwort sieht daran, glaube ich, ein Grundproblem
«Regietheater» verstehen. Das heißt, das linker Ideologien: Sie bringen einen Geist
nicht einfach ein pathetisch deklamieren- hervor, der von der nachfolgenden Geneder Schauspieler den Klassiker spielt, sondern dass man sich ein Regiekonzept überlegt, warum der Klassiker in der Gegenwart
überhaupt Relevanz hat. Allerdings gibt es
auch hier genügend Paradoxien: Der größte konservative Regisseur der Nachkriegszeit, Rudolf Noelte, war ein erklärtes Vorbild für Peter Stein. Heute trifft auf Leute
wie Peymann die Haltung der «Linkspartei» zu: Man ist stark verhaftet in der Vergangenheit. Das ist so ein Veteranen-Links,
ein Veteranen-Wohlfühlfaktor, das hat mit
der Gegenwart wenig zu tun.
Eine linke Theater-Ästhetik besteht dennoch
weiterhin darin, dass man die Zeichen auf der
Bühne – den Text, das Spiel des Schauspielers
– deutlich als Zeichen hervorhebt und unterwandert, so wie es die Brechtsche Theatertheorie vorsah.
Brecht hat gesagt: Inszenieren heißt kritisieren. Und zwar alles, sowohl das Dargestellte als auch die Mittel der Darstellung.
Das ist das explizit Linke daran. Es wird
aber von den Nachfolgern abgelehnt. Der
Regisseur Tom Kühnel hat am Theater am
Turm in Frankfurt mal ein Experiment
mit Brechts Lehrstück «Der Jasager und
der Neinsager» gemacht. Da geht es um
die Frage, ob es richtig ist, Einverständnis mit einer brutalen Ideologie zu zeigen, oder ob man sie in Frage stellen soll.
ration dogmatisiert und damit total negiert
wird. Bei den Erben von Heiner Müller ist
es inzwischen das gleiche Problem wie bei
den Brecht-Erben.
Ein weiteres wichtiges Mittel linker Ästhetik
ist die Satire, wie sie an Frank Castorfs Volksbühne gepflegt wird.
Das kommt aus der Tradition des Volkstheaters, des Karnevals und der Burleske. Es
geht um ein grundsätzliches Infragestellen
von allen Hierarchien. Indem der Bettler
sich zum König macht und der König zum
Bettler, ist alles auf den Kopf gestellt. Es ist
ein hochgradig befreiendes Moment und
sei es auch nur für zwei Stunden, dass man
einmal lachen darf über das, wovor man
sonst Angst haben muss. In dieser Traditi-
«Theater ist seinem Wesen nach Aufklärung» (Bernd Stegemann)
Vita & Publikationen
Bernd Stegemann ist Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst
Ernst Busch in Berlin. 1999 – 2002 war er Chefdramaturg am TAT in Frankfurt / Main, 2004 – 2007 Dramaturg
am Deutschen Theater, Berlin. Er ist Mitherausgeber der «Blätter des Deutschen Theaters».
Jüngste Publikationen: «Die Gemeinschaft als Drama. Eine Systemtheoretische Dramaturgie» (2001), «Stanislawski-Reader»
(2007) und «Dramaturgie der Gegenwart» (im Erscheinen).
Lebenswelten
on bewegt sich die Volksbühne seit Erwin
Piscators Revuen und Benno Bessons Theaterspektakeln bis hin zu Castorf.
Früher haben linke Künstler nicht nur kritische Fragen gestellt, sondern die ideologischen Antworten gleich mitinszeniert. Sie
nahmen die Rolle von Ingenieuren der Gesellschaft an.
Ja, sogar von «Ingenieuren der Seele», wie
Lenin die jungen Autoren in der Sowjetunion nannte. Das war eine hybride Haltung, die in der Nachfolge zum Gulag und
zu schrecklichen Exzessen des Totalitären
führte. Diese Anmaßung ist ein gefährliches Denken der Vergangenheit, auch
wenn es jetzt vielleicht in Südamerika wieder aufflammt. Dafür ist die Kraft, Dinge in
Frage zu stellen und vielleicht auch einzureißen, ehe man weiß, was darauf folgen
wird, eine Kraft, die bewahrt werden muss.
Seltsamerweise ist sie realpolitisch in traditionell linken Parteien heute weniger
vorhanden als in konservativen Kreisen
und Parteien, die eher rechts der Mitte eingeordnet werden. Es gibt starke beharrende, wertkonservative Elemente in einer
Partei wie der «Linkspartei» und zukunftsorientierte, offene Elemente auf der anderen Seite des Spektrums.
He|ge|mo|nie, die; äußerst kipplige Angelegenheit, leider gern als festgezurrte
Machtposition missverstanden; vom buckligen Sarden Antonio Gramsci (1891-1937)
entwickeltes Konzept, um Herrschaftskonstellationen zu deuten, die nicht nur auf der
staatlichen Ausübung von Zwang, sondern auch auf der Zustimmung der Beherrschten
beruhen; so wird Konsensbildung zur wichtigsten politischen Technologie; für Gramsci
sind sämtliche Mittler der Zivilgesellschaft und kulturelle Praxen in politische Kämpfe
um Definitionsmacht verstrickt, d.h. arbeiten an der diskursiven Durchsetzung von Werten und Überzeugungen mit; von diesem Bruch mit der mechanistischen Denkart des Marxismus profitieren heute Spin Doktoren, Think Tanks und Meinungsforschungsinstitute;
der Kunst hingegen erwies die H.theorie einen Bärendienst: So kann der Vorwurf, «zu politisch» zu sein, schnell eine Zweitkarriere als Wahlhelfer oder Akademie-Präsident einleiten; neogramscianische Politiker von rechts und links (Haider, Chavez) wissen besser
denn je, dass man im Kampf um H. die «Leute abholen muss» und begründen damit populistische Politikentwürfe; nur in Deutschland reklamierten Helmut Kohl («Geistig-moralische Wende») und Olaf Scholz («Lufthoheit über die Kinderbetten») erfolglos einen Nimbus als gewiefte Stellungskrieger. Was die beiden Volksparteien nämlich nicht verhindern
konnten: Heute gelten allenfalls Nichtraucher und Nichtwähler als hegemonial – noch.
Jan Engelmann
Erwächst dem Theater aus diesen Paradoxien
eine neue Rolle?
Das Theater ist von seinem Wesen her Aufklärung. Es ist im bürgerlichen Sinne Spiegel der Gesellschaft und im volkstheatralischen Sinne ein Spaß über die traurigen
Zustände. Jemand, der an der Perfektionierung und dem wohlgefälligen Fortgang der
Gesellschaft arbeitet, wird nicht primär
zum Theater gehen. Aber das Theater kann
aus sich heraus nicht eine gesellschaftliche
Welle wie 1968 produzieren. Es kann sie als
Resonanzraum nur vergrößern und momentan ist die Zeitströmung so diffus, wie
es die herrschende Praxis auf der Bühne
widerspiegelt. |
Vita & Publikationen
Henrike Thomsen ist freie Journalistin für Die Zeit, Neue Zürcher Zeitung, Berliner Zeitung,
Spiegel Online, Deutschlandradio, RBB Kulturradio u.a.; Trägerin des Wächterpreises der Tagespresse. 2004 – 2007 Pressesprecherin des Deutschen Theaters Berlin; Herausgeberin der
Buchreihe «Blätter des Deutschen Theaters» mit Roland Koberg und Bernd Stegemann. April
2008 erschien in der Reihe der Doppelband «Deutsches Theater 2001 – 2008».
Foto: Bettina Keller
18
Zahlen verstehen
19
Links ist da,
wo die
Regierung
rechts ist.
Goggelmoggel im Wunderland der Berliner Republik mit einem
wachsenden Zuspruch. Von einem Linkstrend der Bevölkerung ist
allenthalben die Rede, umfragegesättigt fühlt sich der Vorsitzende
der Partei «Die Linke» auf der Höhe der neuen Zeit.
Die zog einst mit der SPD, doch nun rennen die Sozialdemokraten ihr hinterher und fragen sich mit Alice erstaunt, wieso das
Linke nicht mehr sozialdemokratisch heißt, und was dann noch
das Sozialdemokratische ist, wenn die Linke die Partei «Die Linke»
ist. Und wer noch Zweifel an Lafontaines Definitionsmacht hatte,
wurde spätestens mit dem Hamburger Parteitag der SPD eines
anderen belehrt. Denn seitdem ist die SPD bemüht, wieder eine
linke Politik im Sinne ihres früheren Vorsitzenden zu machen. Womit erwiesen wäre, dass Goggelmoggel recht hatte. Bleibt noch
die Frage zu klären, was die Stärke Oskar Lafontaines ausmacht,
und wo sie ihre Grenze findet.
Die Rede vom Linkstrend ist zu einer self­fulfilling prophecy geworden, seit sie mit der Bundestagswahl 2005 eine erste vermeintliche Bestätigung fand. Seitdem liefert der anhaltende Richtungsstreit in der SPD fast täglich neue Belege für ein Erstarken dieses
Trends, der wiederum seinerseits den Streit befeuert. Auch die
Grünen kehren seit Neuem wieder ihr linkes Wesen hervor. Und
mit der Diskussion über eine rot-rot-grüne Koalition auf Bundesebene zeichnet sich bereits ein erster Höhepunkt des Trends am
Horizont ab. Professionelle Beobachter werden nicht müde, die
politische Landschaft nach Indizien für diese Entwicklung
umzugraben.
Von Dieter Rulff
Vor einigen Wochen veröffentlichte Die Zeit eine Umfrage des
Emnid-Instituts, die eine satte Mehrheit bei Anhängern aller Parteien für linke Positionen ergab. Ob Mindestlohn, Rücknahme der
Rente mit 67 oder mehr Staatsintervention, das Votum war eindeutig. Dem Land wurde eine tiefe Gerechtigkeitslücke attestiert
und der Regierung vorgehalten, zu wenig für deren Schließung zu
tun.
Auch in ihrer Selbstwahrnehmung sind die Deutschen nach
«Wenn ich ein Wort gebrauche», sagte Goggelmoggel in recht hoch­ links gerückt. Das Erstaunliche an diesem Trend ist allerdings,
mütigem Ton, «dann heißt es genau, was ich für richtig halte – nicht dass er bereits zur Jahrtausendwende einsetzte, zu einer Zeit also,
mehr und nicht weniger.» «Es frage sich nur», sagte Alice, «ob man als der verfemte Neoliberalismus an den Börsen noch fröhliche
Worte einfach etwas anderes heißen lassen kann.» «Es fragt sich Urstände feierte, Gerhard Schröder die «neue Mitte» für sich renur», sagte Goggelmoggel, «wer der Stärkere ist, weiter nichts.»
klamierte und alle dahin drängelten. Von der Partei «Die Linke»
Lewis Carroll, Alice im Wunderland
war noch keine Rede und die PDS wurde seinerzeit auf dem Weg
nach rechts, wenn man so will, Richtung «neue Mitte» gesehen.
Oskar Lafontaine ist augenscheinlich der derzeit Stärkere, denn er
Der Rückblick zeigt, dass zwischen den langwelligen Grundkann die Worte heißen lassen, was er für richtig hält. In dem ihm schwingungen der normativen Orientierung und des Institutioeigenen hochmütigen Ton dekretiert er seiner Partei und dem nenverständnisses, den damit verkoppelten, mittelfristigen Erganzen Land, was links und wer Feind ist, und lässt keinen Zweifel wartungen an die operative Politik und den kurzfristigen
daran aufkommen, dass der Rest des politischen Personals von Erregungskurven medial befeuerter Personal- und Sachkonflikte
neoliberalen Ideen benebelt ist und intellektuell von den Wirt- ein komplexerer Zusammenhang besteht, als dass sie sich umschaftsverbänden an der kurzen Leine geführt wird. Einzig «das standslos über den Kamm eines Trends oder gar einer ParteipräVolk» sieht er im Aufstand gegen diesen neoliberalen Irrweg und ferenz scheren ließen. In ihren Leitvorstellungen war und ist die
das solchermaßen ob seines Durchblicks geadelte dankt es dem deutsche Gesellschaft eher links geprägt, gewählt hat sie meist
Foto: privat
Zwischen einem gesellschaftlichen Linkstrend und einer
Politik der Mitte besteht kein
Widerspruch.
Vita
Dieter Rulff ist freier Publizist und lebt in Berlin. Nach vielen Jahren bei der taz war der Politologe zuletzt leitender Redakteur der
Wochenzeitung Die Woche. Er ist verantwortlicher Redakteur von
Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik.
20
Zahlen verstehen
Fort|schritt,
der; positive Zukunftserwartung geschichtlicher Entwicklung; lange Geschichte, die lange Zeit gut ausging;
als Denkfigur schon im Christentum bekannt (Teleologie) und
von M. Luther mustergültig vertreten (bei Ankunft des Weltendes: Apfelbaum pflanzen); mit dem 18. Jh. (Aufklärung, industrielle Revolution) auf weltliche Bahnen gesetzt und im Idealismus über die Vervollkommnung des Menschen vorzeitig als
Sieg der Vernunft gefeiert; in der Geschichtsphilosophie G.W.F.
Hegels wird als Ziel des F. die Philosophie ausgegeben, bei der
Revision durch K. Marx («auf den Kopf gestellt») die klassenlose
Gesellschaft (Kommunismus); nah dran an deren Erwartung,
aber dennoch gescheitert: die DDR («Faust III»); nicht nur deshalb hat der F.sglauben in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s kleinere Brötchen gebacken, etwa als rein technische Erscheinung in
den 60er-Jahren (Weltraumflug, Automobilisierung); rasch (Ölkrise) und wiederholt (Peak Oil) gedämpft, daher haftet dem Begriff zur Zeit etwas Altmodisches an; erfreut sich im Freizeitvereinsfußball (Fortschritt Friedrichshain) größerer Beliebtheit
als im zeitgenössischen Denken und der Politik (Reform); muss
überdies mit Renaissance des religiösen Pragmatismus nach
Leibniz («die beste aller möglichen Welten») und verbreitetem
romantisch inspirierten Vulgokulturpessimismus konkurrieren
(früher war alles besser).
Matthias Dell
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«Im Gegensatz zur Labour Party der Ära Blair war
die Schröder­SPD programmatisch sprachlos und
in ihrer Praxis über weite Strecken erratisch.»
konservativ. Sie war mehr gerechtigkeits- denn freiheitsorientiert
und voller Vertrauen in die korporative und institutionelle Gewährleistung von Sicherheit und Teilhabe.
Dieses Selbstverständnis wurde seit 1998 aufgebrochen. Die
Wähler nahmen das als einen relativ scharfen Rechtsruck der SPD
wahr, der damals allerdings im Einklang stand mit der politischen
Selbstverortung. Das lässt den Schluss zu, dass seinerzeit die rotgrüne Reformpolitik zunächst den Vorstellungen weiter Teile der
Bevölkerung entsprach.
Der SPD ist es in ihrer Regierungszeit allerdings nicht gelungen, ihre begrenzten exekutiven Möglichkeiten mit den eigenen
normativen Orientierungen so in Einklang zu bringen und weiter
zu entwickeln, dass daraus zeitgemäße sozialdemokratische Begriffe von gesellschaftlichem Fortschritt und politischer Reform
erwachsen wären. Im Gegensatz zur Labour Party der Ära Blair
war die Schröder-SPD programmatisch sprachlos und in ihrer
Praxis über weite Strecken erratisch.
Das rächt sich, seit mit der Partei «Die Linke» ein Akteur die politische Bühne betreten hat, der virtuos die alte sozialdemokratische Klaviatur beherrscht. Eine Allensbach-Umfrage aus dem
Sommer des letzten Jahres attestiert dieser Partei denn auch weit
mehr Engagement beim Kampf für soziale Gerechtigkeit als der
SPD.
Diese sozialdemokratische Kernkompetenz wird von den Wählern noch genau so definiert, wie vor der Ära Schröder. Gemessen
daran musste seine Politik sich notwendigerweise als defizitär erweisen. Politikrelevante Normen beziehen ihre Kraft nicht aus
sich heraus, sie gewinnen ihre Stärke aus dem institutionellen
Setting, das ihre Realisierung ermöglicht. Zum Setting des Schröderschen Reformprojektes wurde von der SPD kein adäquater Gerechtigkeitsbegriff entwickelt, wesentliche Versprechen seiner am
Standort orientierten Politik haben sich zudem im Nachhinein als
trügerisch erwiesen. Die daraus resultierende Enttäuschung verstärkt sich angesichts eines Finanzkapitals und einer wirtschaftlichen Elite, die sich staatlicher Kontrolle und gesellschaftlicher
Verpflichtung entziehen.
Deshalb agiert die SPD nur noch situativ und erweist sich als
hilflos, wo ihr die Partei «Die Linke» das eigene frühere keynesianische Erfolgsmodell als auch künftig machbar entgegen hält.
Nicht wenige in der SPD sind von dieser Annahme gleichfalls
überzeugt. Dass sie zu deren Beweis die bisherige Politik als falsch
deklarieren müssen, macht den programmatischen Riss der Partei aus, der nur oberflächlich als Personaldebatte um zwei schwache Protagonisten und als Kampf um zwei unattraktive Koalitionsoptionen ausgetragen wird.
21
Angesichts der Vorherrschaft der bürgerlichen Parteien in den
Ländern und angesichts des Überdrusses an der Großen Koalition im Bund wird die Bereitschaft zu rot-rot-grünen Bündnissen
in den kommenden Monaten eher noch wachsen. In der SPD wie
bei den Grünen werden die Stimmen lauter, die die größeren gemeinsamen Schnittmengen der drei Partner betonen. Doch in der
Größe dieser Schnittmengen liegt das Problem eines Linksbündnisses. Denn es würden zwei Parteien koalieren, die identische
Kernkompetenzen aber keine klaren Komplementärkompetenzen aufweisen, die zudem historisch in einer Weise miteinander
verwoben sind, die genug Stoff für ein Drama abwirft, aber keine
Aussicht auf eine arbeitsfähige Regierung bietet. Eine solche Koalition wäre durchsetzt vom Begehren, sich wechselweise zu dominieren und zu minimieren. Schon die bisherigen Wahlen haben
gezeigt, dass die Konkurrenz zwischen SPD und der Partei «Die
Linke» auf ein Nullsummenspiel hinaus läuft, bei dem sich zumeist die Gewinne der Letzteren aus den Verlusten der Ersteren
speisen.
Es gehört zu den verbreiteten Fehlannahmen, dass sich der
Linkstrend bei der Selbstwahrnehmung der Bürger, ihren normativen Vorstellungen und politischen Erwartungen in entsprechende Parteipräferenzen niederschlägt. Schaut man sich die Umfragen an, so ist nicht nur die Selbstwahrnehmung der Wähler,
sondern auch die Verortung der Parteien (außer der NPD) in einem Geleitzug nach links gewandert. Wobei die Partei «Die Linke»,
diesem vorauseilend, mittlerweile an den äußeren linken Rand
des Spektrums gerückt ist.
Schaut man sich die Wahlergebnisse an, so findet man auch in
ihnen keinen Beleg für einen Trend zu den linken Parteien. Von
1998 bis 2005 sank dieses Lager von fast 26 Millionen Wahlberechtigten auf 24,2, hingegen stieg das bürgerliche Lager zur gleichen
Zeit von 20,4 Millionen auf 21,3 Millionen Wahlberechtigten. In
den neun Landtagswahlen seit 2005 sackte der Anteil der Wahlberechtigten, die für SPD, Grüne und die Partei «Die Linke» stimmten, nochmals um 35 Prozent. Dabei verlor auch «Die Linke» bei
allen Wahlen mit Ausnahme der niedersächsischen. In der gleichen Zeit waren die Verluste von CDU/CSU und FDP nur halb so
groß. Beide Lager liegen derzeit fast gleichauf.
Nur 25 Prozent der Bürger rechnen sich linken Positionen zu.
53 Prozent hingegen verorten sich in der politischen Mitte. Der
vermeintliche Linkstrend erweist sich bei näherer Betrachtung als
Wiedereinbettung linker Normen und Einstellungen in den gesellschaftlichen Mainstream. Von daher täuscht sich womöglich
die Partei, die meint, Wahlen zu gewinnen, indem sie sich links
verortet. Wahlen gewinnt, wer diese Mitte überzeugt. Und wie
1998 der Sieg der rot-grünen Regierung mit einem Drift der gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung nach rechts verbunden war, so
könnte der aktuelle Linksschwenk mit einer Vorherrschaft der
bürgerlichen Parteien einhergehen. |
Spricht es für oder gegen eine Partei,
wenn man von ihr behauptet, sie sei eine
Partei der Mitte?
27%
Spricht für sie
Unentschieden
Spricht gegen sie
9%
64%
Welche Partei ist für Sie
die Partei der Mitte?
CDU/CSU
27
47
FDP
20
48
SPD
19
39
Linke
3
19
Bündnis 90/Grüne
Gesamtbevölkerung
Parteiangehörige
3
7
Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach, veröffentlicht am 20.2.2008
22
In|ter|na|tio|na|lis|mus, der; im Gefühlshaushalt der Linken für die großen
Sentimente zuständig: «Was ihr auch unsern Brüdern getan, von Chile bis nach Vietnam…» Das gab feuchte Augen, die im Schlussrefrain zu Metall in der Stimme umgegossen wurden: «Die letzte Schlacht gewinnen wir.» Für die Neuen Linken bildete der Int.
das ideologische Zentrum ihres Weltbilds. Nach der sozialdemokr. Pazifizierung oder
«revisionistischen» Degenerierung der alten prolet. Internationale (s. Proletariat) bedurfte es einer «Dritten Welt» als neues, globales revolutionäres Subjekt: Vorhang auf für den
finalen Aufstand der «Verdammten dieser Erde», in Cinemascope und Hi-Fi. Nie war die
Welt eine solche Synästhesie von Bildern, Musik, Losungen, Texten wie 1968, als alle
Ereignisse der Welt und der Geschichte «zu sprechen» schienen. Es war schön. Bis die
Heroen des Zeitalters (u.a. Fidel, Kim, Ho, Mao oder Mugabe) blutig klarstellten, dass
ihr flammender Inter-Nationalismus nur eine ideologische Steigerungsform des Letzteren war. Wahrer Int. hätte sich jetzt um Liquidierte, Lagerinsassen, Boatpeople und andere Opfer siegreicher «Befreiungsbewegungen» zu kümmern gehabt. Aber das hieß: beklemmende statt großer Gefühle, was für Amnesty und Ärzte ohne Grenzen. Heute auch
radikal reformulierter Int. der Djihadisten, die uns lehren, dass die idealisierte Internationale (oder Umma) der Unterdrückten und Gläubigen von jeher auch dem radikalen Ausschluss der Unterdrücker, Ungläubigen, Verräter etc.pp. aus der Menschheit gedient hat.
Gerd Koenen
Im|pe|ri|a|lis|mus, der; im Gefühlshaushalt der Linken für die richtig bösen Sen-
timente zuständig. Für die Neuen Linken von 1968 der eigentliche Rahmen ihres Weltbilds. Man wurde Sozialist, Kommunist, jedenfalls Revolutionär über den Antiimp., der
sich ideell auf die Seite der Unterdrückten dieser Erde stellte. Der Imp. war theoretisch
nichts anderes als der räuberische, bewaffnete (u.a. mit Napalm, Atomwaffen), die Welt
bedrohende Gesamtkapitalismus. Sein Hauptsitz: Wall Street, Weißes Haus, Pentagon.
Seine bevorzugten Nebenwohnsitze (u.a.) Bonn und Tel-Aviv. In der Brust des Imp. hatten die Metropolenlinken nach dem Vermächtnis des Ché den Kampf aufzunehmen. Für
einige nahm der Imp. später die Gestalt eines «Welt-Zionismus» an. Im Hass auf die
USA-SA-SS kamen subtil revanchistische Motive ins Spiel, nicht nur in Deutschland.
Dann ließ Maos China dem altbösen US-Imp. einen sowjetischen «Sozialimp.» zur Seite
treten. Und was war China selbst, das Vietnam 1980 kurz mal eine blutige «Lektion» erteilte? Schließlich schälte sich heraus, dass es den alle Weltübel vereinigenden Überfeind
nicht gibt.
Gerd Koenen
Mut Ein Gespenst geht um in Deutschland, das
Gespenst vom Linksdrall der Republik. Worin
manifestiert sich dieses Phänomen? In der
Dominanz der «sozialen Frage», den immer neuen Hiobsbotschaften über Armut
in einem wohlhabenden Land, in den steigenden Umfragewerten der «Linkspartei»
oder in der Selbsteinschätzung einer Mehrheit der Bevölkerung?
Fühlt man dieser Entwicklung auf den
Zahn, stellen sich Zweifel an einer Linksverschiebung der politischen Achse ein. In
Wahlergebnissen lässt sich ein solcher
Trend jedenfalls nicht messen, wenn man
die kumulierten Stimmen für die Parteien
links von Union und FDP als Maßstab
nimmt. Aus dem öffentlichen Übergewicht
sozialer Themen lässt sich erst recht nicht
ableiten, dass die Republik nach links
rückt. Die «soziale Frage» lässt viele Antworten zu, sie mündet nicht per se in eine
emanzipatorische Politik. Das gilt auch für
das beliebte Manager-Prügeln und die Wut
auf die «Gier der Reichen». Es gibt linken
und rechten Antikapitalismus, und es gibt
autoritäre und libertäre Linke. Man muss
also genauer hinsehen, ob der Zeitgeist
tatsächlich von links weht – und um welche Art von links es sich dabei handelt.
Wenn links eine zukunftsgerichtete Haltung meint, die von einem Optimismus
der Veränderung getragen wird, ist davon
in der aktuellen Befindlichkeit der Deutschen recht wenig zu finden. Stattdessen
herrscht ein Diskurs der Angst: Angst vor
sozialem Abstieg, vor den Folgen der Globalisierung, vor steigenden Gesundheitskosten und Energiepreisen oder, je nach
Was können wir wissen?
23
zum Wandel
Plädoyer für eine Agenda 2020
Von Ralf Fücks
Gemütslage, vor einem allgegenwärtigen
Überwachungsstaat. Ein Klima diffuser
Ängste befördert aber nicht die Bereitschaft zu Reformen, sondern führt eher
zur Verhärtung und Abschottung. Das zeigt
sich bis in die vorherrschende Einstellung
zu Migrationsfragen, die nach wie vor von
Konkurrenzangst und Abwehr geprägt ist.
Nicht Aufbruch zu neuen Ufern ist die Devise des Tages, sondern Verteidigung der
Besitzstände; nicht Mut zum Wandel, sondern Abwehr von Veränderungen. Auch die
Auslandseinsätze der Bundeswehr werden
unter dem Blickwinkel beurteilt, möglichst
keine Risiken für andere zu übernehmen –
ein eng definiertes «nationales Interesse»
schlägt die Bereitschaft, internationale
Verantwortung zu übernehmen.
schlafender Riese. Für die Linke sind die
rot-grünen Reformen der letzten Jahre
schlicht überflüssig. Von der Einführung
des demographischen Faktors in die Rentenformel bis zur Reform der Grundsicherung, die unter dem abstrusen Titel «Hartz
IV» so schlecht wie möglich verkauft wurde: alles nur mutwillige Demontage des
Sozialstaats. Das Mantra dieser Linken ist
die Rückkehr zum Status quo ante. Sie appelliert an die niedrigsten Instinkte der
Massen: den Hass auf «die Reichen», das
Ressentiment gegen «die da oben» und
den Rückzug auf die nationale Wagenburg.
Niemand verkörpert diesen linken Nationalismus skrupelloser als Lafontaine,
wenn er der Bundesregierung vorwirft, sie
ziehe mit der Entsendung deutscher Truppen nach Afghanistan den Terror ins Land.
Eine strukturkonservative Linke...
… und eine reformmüde Große Koalition
Im politischen Spektrum repräsentiert –
und verstärkt – ausgerechnet jene Partei
diese Haltung, die sich selbst «Die Linke»
nennt. In Wahrheit ist sie von allen die
strukturkonservativste. Ihre Botschaft
heißt: Vorwärts in die Vergangenheit, in die
vermeintlich heile Welt der achtziger Jahre,
als der westdeutsche Sozialstaat noch
nicht von den Unbilden der Globalisierung,
des demographischen Wandels und der
Überschuldung der öffentlichen Hand angefochten war. Sie will zurück in die Zeit,
als die Aufgabe der Bundeswehr darin bestand, im Windschatten der Amerikaner
das Gleichgewicht des Schreckens zu sichern; als der internationale Wettbewerb
noch überschaubar war und China ein
Die Abkehr von einer Politik, die sich den
Herausforderungen der neuen Zeit stellt,
ist aber kein Monopol der «Linkspartei».
Die SPD ist davon ebenso erfasst wie die
Union. Kaum hatten die rot-grünen Weichenstellungen erste positive Wirkungen
auf dem Arbeitsmarkt und bei den öffentlichen Finanzen gezeitigt, wechselten die
Regierungsparteien wieder in den Verteilungsmodus. Sie sind dabei, die Reformrenditen bei Renten, Arbeitsmarkt und
Staatsfinanzen zu verspielen, die Rot-Grün
so mühsam auf den Weg gebracht hat. Dabei ist keiner der Gründe verschwunden,
die einen Umbau des Sozialstaats und eine
andere Arbeitsmarktpolitik erfordern.
Wer der Bevölkerung vermittelt «Alles
kann so bleiben, wie es war», verkennt die
Zeichen der Zeit. Die Exporterfolge der
deutschen Wirtschaft sind kein Ruhekissen. Tatsächlich sind sie teuer erkauft,
nämlich mit einem anhaltenden Rationalisierungsdruck, mit dem die Unternehmen die hohen Arbeitskosten kompensieren. In der Industrie sind Wachstum und
Arbeitsplätze weitgehend abgekoppelt. Sie
lebt von der überdurchschnittlichen Produktivität und Innovationskraft der Betriebe. Für die Zukunft ist dieser «Vorsprung
durch Technik» aber keineswegs gesichert.
Forschung und Entwicklung, hochqualifizierte Arbeitskräfte, innovative Produkte
sind kein Monopol Westeuropas, der USA
und Japans mehr. China bildet inzwischen
mehr Ingenieure aus als jedes andere Land,
Indien forciert massiv seine Software-Industrie, und auch die anderen Schwellenländer wechseln längst von billiger
Massenproduktion auf hochwertige Produkte und Dienstleistungen.
Wenn Deutschland und die EU ihren
hohen Lebensstandard halten wollen,
müssen sie erheblich mehr in Bildung,
Forschung und Innovation investieren
als das gegenwärtig der Fall ist. Und sie
müssen sich stärker für die Einwanderung
talentierter, leistungsbereiter Menschen
aus anderen Kulturen öffnen. Es ist ein
Alarmsignal erster Güte, dass die deutsche Wanderungsbilanz für qualifizierte
Arbeitskräfte negativ ist: Es wandern mehr
Wissenschaftler, Akademiker, gut ausgebildete Facharbeiter aus als ein. Das gilt mittlerweile auch für junge Deutsch-Türken
Was können wir wissen?
der zweiten und dritten Generation, die subventionierten Frühverrentung wieder Politik der Erneuerung. So bedrohlich die
hier den hürdenreichen Weg durch das hö- aufblühen lassen. Dabei ist es genau das Szenarien eines außer Kontrolle geratenen
here Bildungssystem zurückgelegt haben falsche Signal, Unternehmen für die Aus- Klimas auch sind, so fatal wäre es, vor alund jetzt in die Türkei auswandern, weil steuerung älterer Arbeitnehmer noch zu lem Katastrophenangst zu verbreiten. Eine
sie dort bessere berufliche Perspektiven belohnen, statt die innerbetriebliche Per- Inflation von Horrorszenarien lähmt eher,
sonalpolitik so zu verändern, dass die Leis- als dass sie zum Handeln ermutigt. Wir
für sich sehen.
Die Proportionen zwischen Sozial- und tungsfähigkeit und Kompetenz von Mitar- werden die Gefahren des Treibhauseffekts
Bildungsausgaben stimmen nicht. Der beitern möglichst lange erhalten bleibt. und eines darwinistischen Kampfs um
Bund zahlt allein für die Bezuschussung Angesichts des bereits heute bestehenden knapper werdende Ressourcen nur einder Renten jährlich rund achtzig Milliar- Fachkräftemangels in ganzen Branchen dämmen können, wenn der Übergang zu
den Euro an Steuermitteln; dagegen neh- und Regionen und der wachsenden finan- einer nachhaltigen Wirtschaftsweise nicht
men sich die öffentlichen Ausgaben für ziellen Lasten des Rentensystems ist die als Notprogramm erscheint, sondern als
Wissenschaft, Forschung und Entwicklung Verkürzung der Lebensarbeitszeit ein teu- Aufbruch zu neuen Ufern.
«Going green» bedeutet nicht das Ende
geradezu kümmerlich aus. Der Ausbau der rer Irrweg. Daraus folgt nicht «schuften bis
frühkindlichen Erziehung geht viel zu ins Grab», sondern Verknüpfung von al- des Wohlstands, sondern einen großen
langsam voran, ebenso der Aufbau von tersgerechter Arbeit, familienfreundlichen Sprung aus der Kohlenstoffzeit ins SolarGanztagsschulen. Die Universitäten sind Arbeitszeiten und lebenslangem Lernen, zeitalter. Im Abschied von Öl und Kohle
unterfinanziert. Aber die öffentliche De- wie es vor allem in skandinavischen Län- liegen jede Menge Chancen – für neue
Technologien, neue Märkte, neue Jobs und
batte wie die Ankündigungen der Parteien dern bereits geschieht.
Kaum ein Sozialdemokrat (den legen- für ein besseres Leben. Vierzig Prozent wesind nach wie vor auf die Erhöhung von
Sozialleistungen fixiert, statt die Prioritä- dären Franz Müntefering ausgenommen), niger Kohlendioxid-Emissionen bis 2020,
ten auf Bildung und Innovation zu setzen. der noch die rot-grüne Reformpolitik im neunzig Prozent weniger bis zur Mitte des
Dabei hängen die Lebenschancen von Kin- Grundsatz verteidigt – bei aller Kritik an Jahrhunderts, das ist nichts weniger als
dern aus sozial benachteiligten Familien der konkreten Umsetzung und der Art und eine neue industrielle Revolution. Wir stevor allem davon ab, ob sie in einem gut Weise, wie diese Reformen erarbeitet und hen vor einer Zeit großer Erfindungen und
ausgebauten Bildungssystem vom Kinder- kommuniziert wurden. Dabei war die rascher Innovationen in allen Bereichen –
garten bis zur Hochschule optimal geför- «Agenda 2010» eines der mutigsten und eine großartige Gelegenheit für junge
wichtigsten Reformvorhaben, denen sich Menschen, die die Welt von morgen mitgedert werden.
Auch die Alterung der Gesellschaft und eine Bundesregierung seit den achtziger stalten wollen.
Wir dürfen weder die Herausforderung
der Rückgang des Erwerbstätigen-Potenti- Jahren gestellt hat. Wo der Bundespräsials wirken in diese Richtung. Nach einer dent recht hat, hat er recht: Wir brauchen noch die Chancen kleinreden, die in einer
kurzen Hochkonjunktur ist der demogra- keine Abkehr von dieser Politik, sondern solchen Transformation liegen. Es gilt, daphische Wandel wieder weitgehend aus einen neuen Reformanlauf, eine «Agenda für eine Sprache des Aufbruchs zu finden,
der öffentlichen Debatte verschwunden; 2020». Wer sollte die Rolle des Vorreiters für wie sie auf ihre Weise John F. Kennedy, Wilals politisches Querschnittsthema kommt eine solche Politik in der deutschen Partei- ly Brandt, Petra Kelly, der späte Al Gore
er nicht vor. Ein klassischer Fall von Ver- enlandschaft übernehmen, wenn nicht die und jetzt Barack Obama gefunden haben.
drängung. Nähme man die Herausforde- Grünen? SPD und Union wollen nicht; die Politik, die den Bürgern nichts abverlangt,
rungen ernst, die damit auf die Gesell- FDP kann es nicht, weil sie das soziale Ver- ist Politikversagen. Die Kunst besteht darschaft zukommen, würde der Reformdruck trauen verspielt hat; die «Linkspartei» ver- in, den Mut zum Wandel zu mobilisieren.
Er kann nur entstehen in einem Klima des
auf das Bildungs-, Gesundheits- und Ren- teidigt den Status quo von gestern.
demokratischen und sozialen Vertrauens.
tensystem sowie auf die EinwanderungsReformpolitik, die sich nicht auf die aktive
politik weiter steigen. Stattdessen werden Aufbruch zu neuen Ufern
Mitarbeit der Gesellschaft stützen kann, ist
sogar die bereits beschlossenen Umbaumaßnahmen im Rentensystem wieder ver- Den Grünen fällt die Rolle des Reform- zum Scheitern verurteilt. Diese Bereitwässert, und die Gesundheitsreform ist in motors auch deshalb zu, weil sie wie nie- schaft zu mobilisieren, den notwendigen
einem ebenso teuren wie ineffizienten mand sonst mit der ökologischen Frage Wandel mit Mut und Augenmaß anzugeKompromiss zwischen den Regierungspar- verbunden sind. Noch mehr als die rau- hen, dafür sollten wir die Wahlen des komteien gestrandet. Derweil steigen die Kran- hen Winde der Globalisierung und die de- menden Jahres nutzen.|
kenkassenbeiträge munter weiter. Damit mographischen Umwälzungen erfordern
nicht genug, will die SPD den Unsinn der Klimawandel und Ressourcenkrise eine
Vita
Ralf Fücks ist seit 1996 Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung. 1991–1995 Senator
für Stadtentwicklung und Umweltschutz in Bremen und Bürgermeister der damals regierenden Ampelkoaliton. Er ist Mitglied der Grundsatzkommission von Bündnis 90/Die Grünen.
Foto: Ludwig Rauch
24
Foto: ullstein bild – Perez (L)
25
Agenda ’68 (Sorbonne, Paris)
26
Was können wir wissen?
Yes, they
Warum eine intakte Sozialdemokratie in Deutschland heute
nicht bloß gebraucht wird, sondern sogar erfolgreich wäre.
Warum kommt die SPD derzeit bloß so unattraktiv daher? Liegt es nur an den offensichtlichen Defiziten ihrer politischen Führung? Oder sind die ständigen Querelen in
der sozialdemokratischen Chefetage umgekehrt Ausdruck einer viel tiefer reichenden, die sozialdemokratischen Fundamen­
tals betreffenden Misere? Tatsächlich
bedingen sich beide Faktoren gegenseitig.
Auswege stehen der SPD trotzdem offen.
Die Frage ist nur, ob sie noch rechtzeitig
imstande sein wird, diese einzuschlagen.
Zunächst: Allzu wahrscheinlich ist es
sowieso nicht, dass eine politische Partei,
deren Ursprünge tief im 19. Jahrhundert
liegen, auch noch 150 Jahre später erfolgreich ist. Man muss sich schon ab und zu
klarmachen, mit welchen historischen Ereignissen und Prozessen sich die Partei
seit ihren Anfängen herumzuschlagen
hatte: Industrialisierung und erste Globalisierung; ein Weltkrieg, Inflation und Depression; totalitäre Diktatur, ein weiterer
Weltkrieg, verbunden mit beispiellosem
Völkermord; deutsche Teilung und Kalter
Krieg, dazu in Ostdeutschland die nächste
totalitäre Diktatur; westdeutsches Wirtschaftswunder und fortschreitende Europäisierung; innere Liberalisierung und
Übergang zur wissensintensiven Dienstleistungsgesellschaft; ökologische Frage
und neue soziale Bewegungen; Zusammenbruch des diktatorischen Staatssozialismus und deutsche Einheit.
Vom «Ende der Geschichte» (Francis
Fukuyama) war dann vor knapp zwei Jahrzehnten viel die Rede. Zur kollektiven Gemütslage der deutschen Sozialdemokratie
passten solche beruhigenden Zeitdiagnosen ganz gut, doch es kam sehr anders.
Längst erleben wir die dynamische «Rückkehr der Geschichte» (Robert Kagan). Fast
alle internationalen Rahmenbedingungen
verändern sich in dramatischem Tempo.
Was das frühe 21. Jahrhundert prägt, sind
die – erfreulichen und weniger erfreulichen – Folgen der zweiten Globalisierung,
der «Aufstieg der Anderen» (Fareed Zakaria) von China und Indien bis nach Russland, Ostmitteleuropa oder Südamerika,
dazu eine globale «Rezession der Demokratie» (Larry Diamond), also die aggressive Wiederkehr autoritärer Herrschaftssysteme. Zudem zeichnen sich globale Klima-,
Energie- und Ernährungskrisen ab. Als erfolgreiche Exportnation konnte Deutschland vielfach von den Veränderungen der
jüngeren Zeit profitieren. Zugleich jedoch
liegt auf der Hand, dass das altbundesrepublikanische Wirtschafts- und Sozialmodell dringend der ebenso entschlossenen
wie kontinuierlichen Erneuerung bedarf,
Vita
Tobias Dürr ist Chefredakteur der Zeitschrift Berliner Republik (www.b-republik.de) und Mitbegründer des Think Tanks «Das Progressive Zentrum» (www.progressives-zentrum.de).
um angesichts der Umbrüche und Gefährdungen unserer Zeit nicht aus den Angeln
gehoben zu werden.
In solcher Lage bedarf der Diskurs der Sozialdemokratie dringend einer auf die Zukunft gerichteten «Verzeitlichung», wie sie
jüngst der Historiker Jürgen Kocka gefordert hat. Weniger die Verteilung bereits erarbeiteter Leistungen oder Produkte in der
Gegenwart gehört heute in den Vordergrund sozialdemokratischer Politik als die
aktive Herstellung von Lebenschancen, Zivilität und Wohlstand unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts. Auf der Ebene
des programmatischen Bekenntnisses ist
die SPD hiermit einverstanden; das Prinzip des «vorsorgenden Sozialstaats» jedenfalls, der energisch in alle Menschen und
ihre Fähigkeiten investiert, hat sie in ihrem
neuen Hamburger Grundsatzprogramm
verankert.
Aber Parteien sind immer auch Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaften.
Gerade die angeblich so programmversessene SPD ist in Wirklichkeit ermattet und
steckt tief in der psychodemographischen
Falle: Die Mehrheit ihrer bereits vor Jahrzehnten in die Partei geströmten Mitglieder und Funktionäre will den offensiven
Aufbruch nach vorne im Grunde nicht.
Voller Tücke verklären deshalb Lafontaines
Foto: [email protected]
Von Tobias Dürr
27
could!
Populisten die westdeutsche Republik der
siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zum Sonnenstaat aller rechtgläubigen Sozialdemokraten. Dass der Vorsitzende der SPD, wenngleich selbst durchaus
kein «Altlinker», die defensive, am Status
quo ante orientierte Mentalität der sozialdemokratischen Traditionskohorten kongenial repräsentiert (und sich politisch auf
diese stützt), erweist sich als zusätzlicher
Bremsklotz.
So könnte die SPD die beträchtlichen
Chancen verspielen, die sie besitzt. Ihre in
die Jahre gekommenen Kerntruppen und
Funktionäre mögen dem progressiven
Narrativ einer sozialdemokratischen Lebenschancenpolitik nicht viel abgewinnen,
die wirtschaftliche Dynamik, hochwertige
Bildungs- und Aufstiegschancen für alle
sowie ökologische Nachhaltigkeit als zusammengehörig begreift. Paradox ist nur,
dass sich der SPD in jüngerer Zeit neue
Wähler geradezu aufdrängen, die ganz offensichtlich gerade nicht träumerische
Nostalgie an die Wahlurne treibt.
Bei allen drei Landtagswahlen des vergangenen Winters verzeichnete die SPD erstaunliche (und bemerkenswert unkommentiert gebliebene) Erfolge unter jungen
Wählern zwischen 18 und 24 Jahren. In
Hessen legten die Sozialdemokraten in
dieser Gruppe um volle 15 Prozentpunkte
zu, unter Frauen dieses Alters sogar um sagenhafte zwanzig Punkte. In Hamburg belief sich der Zuwachs der SPD in dieser Altersgruppe auf neun Prozentpunkte, bei
den niedersächsischen Frauen unter 25
Jahren immerhin auf sieben. In Hessen
und in Hamburg setzt sich der Positivtrend
auch in der nächst höheren Altersgruppe
fort: plus 15 Prozentpunkte bei den 25- bis
34-jährigen Frauen in Hessen, plus sechs
Punkte in Hamburg. Unter Schülern, Auszubildenden und Studenten verzeichnete
die SPD in Hessen einen Zugewinn von
zwölf Punkten, in Hamburg sogar von 17
Punkten. Damit entschied sich in der Hansestadt jeder zweite Wähler in Ausbildung
für die SPD.
Offensichtlich ist: In den jüngeren Gruppen unserer Gesellschaft wächst die Nachfrage nach einer modernen und dynamischen Interpretation sozialer Demokratie
für das 21. Jahrhundert. Eine aktive Politik
der Lebens-, Bildungs- und Aufstiegschancen für alle besäße beträchtliche Attraktivität, die Idee des vorsorgenden Investierens
in Menschen und ihre Fähigkeiten genießt
wachsende Zustimmung. Was fehlt, ist das
dazu passende Politikangebot. Bemüht hat
sich die SPD in letzter Zeit zu wenig um die
Jüngeren und Bewegungsfreudigen, die
Aufstiegswilligen und Bildungshungrigen,
die Tatendurstigen und Zuversichtlichen.
Im Zentrum sozialdemokratischer Aufmerksamkeit stehen allzu oft vor allem
die älteren und männlichen Wähler mit
ihren Besitzständen und Verlustängsten.
Auch um sie müssen sich Sozialdemokraten kümmern – aber eben nicht nur um
sie. Die SPD wäre erfolgreicher, wenn sie
zugleich als dynamische Partei des Fortschritts, der Emanzipation und der Erneuerung agieren würde.
Jedenfalls zeigt das Wahlverhalten der
Jüngeren: Der Zeitgeist in Deutschland
weht progressiv. Ob allerdings von diesem
Zeitgeist die real existierende SPD profitieren wird, hängt vom kreativen Agieren ihrer
Parteieliten ab. Es ist die Aufgabe wacher
Politiker, gesellschaftliche Veränderungen
zu beobachten, neue Bedürfnisse aufzuspüren und zu politisieren. Mehrheiten
werden von Parteien niemals einfach vorgefunden, sondern immer bis zu einem gewissen Grade politisch geschaffen. Nichts
anderes tat 1998 Gerhard Schröder, als er
mit Erfolg die «Neue Mitte» ausrief, nichts
anderes tut Barack Obama derzeit in den
USA.
Mehrheits- oder auch nur überlebensfähig wird die SPD erst wieder, wenn sie
sich Zustimmung jenseits ihrer Stammwähler und Funktionäre erarbeitet. Je heftiger sie sich als defensive Traditionspartei
aufführt, desto mehr legitimiert sie die Lafontaine-Populisten. Nötig sind Neugier
und Zuversicht, Öffnung und Zuwendung,
statt Abgrenzung, Reihenschließen und
Nostalgie. Kurz, nötig ist Bewegung und
nicht Beharrung. Sucht die SPD ihre Zukunft weiter mürrisch im vorigen Jahrhundert, statt mit Leidenschaft an einer neuen
sozialdemokratischen Mehrheit für unsere
Zeit zu bauen, wird ihr irgendwann niemand mehr folgen. «Yes, we can» – es ist
lange her, seit man Barack Obamas zupackendes Motto so oder ähnlich von deutschen Sozialdemokraten gehört hat. Vor
allem deshalb ergeht es dieser großen alten Partei heute so, wie es ihr ergeht. Sie
könnte auch anders. |
«Paradox ist, dass sich der SPD in jüngerer Zeit neue Wähler geradezu aufdrängen,
die ganz offensichtlich gerade nicht träumerische Nostalgie an die Wahlurne treibt.»
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Was können wir tun?
«Wir sollten
nicht
zimperlich
sein.»
Soziale Umverteilung in den privaten
Konsum oder Investitionen in öffentliche
Güter?
Von Sibyll Klotz
«Hungern muss hier keiner, ein Land redet sich arm» war der Titel der
Talkshow von Anne Will kurz nach der Veröffentlichung des neuen
Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung. Dabei bedeutet Armut mehr als fehlendes Geld. Mit Armut geht oft ein gesellschaftlicher Ausschluss einher, Armut erschwert die Teilhabe
an Bildung, Mobilität, Kultur, aber auch an einem gesunden Leben. Soziale Exklusion engt die Wahlmöglichkeiten ein, führt zu
Perspektivlosigkeit, zu einem Verlust an Selbstvertrauen und Würde, begleitet von der Angst, all diese Nachteile an die eigenen Kinder weiterzugeben.
Das dramatische Ausmaß an Armut und sozialem Ausschluss,
das wir mittlerweile erreicht haben, ist nicht nur auf das Einbrechen der Gehälter im unteren und mittleren Einkommensbereich
und auf die zu geringen Arbeitslosengeld II-Regelsätze zurückzuführen. Auch zehn Jahre Sparpolitik der öffentlichen Haushalte
haben ihre Spuren hinterlassen und die Kluft zwischen Arm und
Reich oder besser zwischen denen, die «dazu gehören», und denen, die «draußen vor» stehen, vergrößert.
Wir haben es, vor allem in den städtischen Ballungsräumen,
nicht nur mit gespaltenen Einkommensverhältnissen zu tun, son-
dern mit gespaltenen Lebenswelten. Wer arm ist, besucht nicht
nur andere Kitas und Schulen, wohnt in anderen Stadtvierteln, ist
in anderen Sportvereinen, geht zu anderen Ärzten, kauft andere
Lebensmittel als die Wohlhabenden. Wer arm ist, hat auch deutlich schlechtere Chancen, einen guten Schulabschluss zu machen
und einen Beruf zu finden. Es sind die Ärmeren, die auf öffentlich
finanzierte Gemeinschaftsgüter und Institutionen angewiesen
sind. Eltern, die über finanzielle Mittel, Energie und Kontakte verfügen, schicken ihre Kinder immer öfter auf Privatschulen, die
zurzeit überall wie Pilze aus dem Boden schießen. Von 826 Schulen insgesamt sind in Berlin 104 Privatschulen, von insgesamt 328
380 Schülern und Schülerinnen sind 23 100 privat eingeschult –
Tendenz steigend. Nichts gegen eine Trägervielfalt bei Kitas und
Schulen, aber wenn der Grund für deren Boom vor allem die Unzulänglichkeiten der staatlichen Schulen sind, dann läuft etwas
deutlich schief.
Eine wirksame Sozialpolitik darf sich nicht vor die Alternative
stellen lassen, entweder die Regelsätze zu erhöhen oder in Gemeinschaftsgüter zu investieren. Sie muss die öffentlichen Institutionen stärken und reformieren, existenzsichernde Löhne und
«Eine wirksame Sozialpolitik darf sich nicht vor die Alternative stellen lassen,
entweder die Regelsätze zu erhöhen oder in Gemeinschaftsgüter zu investieren.»
Foto: Freia Königer
29
Gehälter durchsetzen und die individuelle Existenzsicherung verbessern, und zwar in dieser Reihenfolge! Die Sozialpolitik muss
allerdings auch der Erkenntnis Rechnung tragen, dass ein Großteil der sozialen Probleme von heute (z. B. die Verwahrlosung und
Vernachlässigung von Kindern oder das höhere Erkrankungsrisiko von Migranten und Migrantinnen) nicht durch höhere finanzielle Transfers zu lösen ist!
Wir wissen, dass die Weichen für die Zukunft früh gestellt werden. Eine erfahrene Kinderärztin sagte mir, dass sie bereits heute
wüsste, welchen Bildungsabschluss die fünfjährigen Kinder, deren sprachliche, motorische, soziale und emotionale Fähigkeiten
sie vor der Einschulung untersucht, erreichen werden.
Was ist notwendig, um diesen Kindern bessere Chancen zu eröffnen als die auf einen Hauptschulabschluss? Wichtig wäre ein
ausdifferenziertes System der Frühförderung. Die Einrichtungen
müssen in die Lage versetzt werden, gerade benachteiligte Kinder
individuell zu unterstützen. Wichtig wäre ein Schulsystem, das
nicht länger auf frühes Aussortieren, sondern auf Gemeinsamkeit
und Integration setzt. Wichtig wäre, für jedes Kind die Möglichkeit
zu schaffen, ein Instrument zu lernen, Sport zu treiben, an der
Klassenfahrt teilzunehmen, in den Ferien schwimmen zu lernen,
eine Zahnspange zu bekommen und täglich ein warmes kostenloses Mittagessen zu haben. Um dies zu verwirklichen, müssen
wir neue Finanzierungsquellen erschließen. Dabei sollten wir
nicht zimperlich sein: von der Abschaffung des Ehegattensplittings bis zur Wiedereinführung der Vermögenssteuer, vom Schließen vorhandener Steuerschlupflöcher bis zu einem neuen Investitionsbegriff im Haushaltsrecht sind Ansätze vorhanden.
Starke öffentliche Institutionen entstehen allerdings nicht allein durch die Aufstockung finanzieller Mittel. Ebenso notwendig
ist deren geistige Erneuerung. Dabei geht es um mehr als neue
Schulstrukturen. Es geht um Schulen, die eigenständig und verantwortlich handeln, wo die Lehrerinnen und Lehrer nicht an einem starren Dienstrecht gemessen und von einer unflexiblen
Schulbürokratie gesteuert werden. Sie sollten danach beurteilt
werden, was sie für ihre Schülerinnen und Schüler leisten.
Modernisierter öffentlicher Institutionen und guter, für alle zugänglicher Gemeinschaftsgüter bedarf es nicht nur im Bildungswesen und bei der Betreuung und Erziehung von Kindern, sondern auch bei der Pflege und Betreuung älterer Menschen, bei der
gesundheitlichen Prävention, bei der Mobilität, beim Zugang zu
Kunst, Kultur und sportlichen Aktivitäten. Eine Erneuerung des
Sozialstaats muss individuelle Armut bekämpfen und Teilhabe für
alle ermöglichen und deshalb den Ausbau und die Reform öffentlicher Güter und Dienste in den Mittelpunkt stellen. Die erforderlichen Investitionen sind nicht nur ein Gebot der Humanität, sondern auch der ökonomischen Vernunft, denn sie «rechnen» sich,
in jeder Hinsicht! |
Vita
Sibyll Klotz ist seit 2006 Stadträtin für Gesundheit und Soziales
in Berlin. Ab 1991 im Berliner Abgeordnetenhaus, zunächst als
Vertreterin des Unabhängigen Frauenverbandes (UFV), ab 1995
als Mitglied für Bündnis 90 / Die Grünen. Die Philosophin war
Fraktionsvorsitzende, arbeitsmarkt- und frauenpolitische Sprecherin und 2004/05 Vorsitzende der Enquetekommission «Eine
Zukunft für Berlin».
So|li|da|ri|tät,
die; altes Lied, weil Grundlage menschlichen Zusammenlebens; schon bei Aristoteles ist der Mensch nicht
gern allein und also ein geselliges Lebewesen (zoon politikon);
als Forderung von Politik für die Neuzeit von der Französischen
Revolution («Fraternité») entdeckt und von K. Marx und F. Engels zur politischen Waffe der Arbeiterbewegung umgeschmiedet
(«Proletarier aller Länder, vereinigt euch!»), die in ihrer international ausgerichteten Organisation (Internationale Arbeiterassoziation, Zweite Internationale) eine globalisierende Perspektive einnahm, bevor diese Perspektive modisch wurde
(Globalisierung); in ihrer Institutionalisierung immer wieder umstritten («Wer hat uns verraten? – Sozialdemokraten») und attackiert durch partikulare Interessen; Herausbildung symbolischer
(S.sadressen, etwa an Teilnehmer revolutionärer Kämpfe) und
praktischer Formen (Streik) im 20. Jh.; zunehmend schwereres
Los in Zeiten des internationalen Finanzkapitalismus, was das
Überleben der S. selbst im Reservat der Gewerkschaften erschwert (Globalisierung); in der Ellenbogengesellschaft degradiert zum Werbeslogan des Versicherungswesens («Gemeinsam
sind wir stark»); als Idee eigentlich nur noch beim geselligen Beisammensein von SPD-Mitgliedern in Form alter Lieder hochgehalten («Wann wir schreiten»).
Matthias Dell
Was können wir hoffen?
Links Mitte
Rechts
ist gestern.
«Was bedeutet heute links?» – mit dem Versuch einer Antwort ließen sich ganze Bücher füllen. «Wie links waren und sind die
Grünen?» – darüber lassen sich zumindest
inspirierende Streitgespräche inner- und
außerhalb der Partei führen.
Die Grünen waren zunächst ein Sammelbecken engagierter Menschen, die ihre
Vorstellungen von Demokratie, einer sozialen, geschlechtergerechten und friedlichen Gesellschaft und einer radikalen Umweltpolitik in keiner der bestehenden
Parteien wiederfanden. Es waren Herzensanliegen, die sie zusammenführten, nicht
– wie in klassisch-linken Parteien üblich –
eine gemeinsame Vorstellung von einem
komplexen Gesellschaftssystem.
Gleichzeitig waren die Grünen in ihrem
Selbstverständnis nie eine Partei der Mitte.
Ihre Forderungen und ihr Auftreten rückten sie zunächst eher an den Rand der Gesellschaft, ihr provozierender Habitus und
ihre als extrem empfundenen Forderungen
wurden als «links» interpretiert und medial transportiert (auch, weil wichtige Medien bürgerlich-konservativ verortet waren
und ihr Feindbild pflegten). Dieses Image
zog klassisch linke Mitglieder, Wähler und
Wählerinnen an, während manch «bürgerlicher» Umweltschützer die Partei verließ.
Die «Linkspartei» hingegen entstammt
einer ganz anderen Tradition. Die legendären Flügeldebatten und Auseinandersetzungen innerhalb der Grünen legen
Zeugnis davon ab, aus welch unterschiedlichen Perspektiven Herausforderungen
angegangen wurden und es ist eine der
Leistungen unserer Partei, dass sie diese
schmerzhaften Konflikte ausgetragen und
ausgehalten hat. Wer dagegen einen Parteitag der «Linkspartei» miterlebt hat,
kennt die völlig andere, kaderparteigleiche
Kultur, die dort herrscht. Gleichzeit mutet
es absurd an, dass 19 Prozent der Mitglieder einer Partei, die die politische Gesäßgeographie bereits im Namen trägt, ihre
Partei für eine «Partei der Mitte» halten.
Dieser Verortung entziehen sich die
Grünen. Nach wie vor binden sie Menschen mit sehr unterschiedlichen Grundsätzen und Weltanschauungen, die sich
aber alle als «grün» definieren. Sie eint das
Bekenntnis zu den gleichen Werten und
diese durchbrechen das überkommene
Rechts-Links-Schema.Weniger die Partei
als ihre Themen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen: Unsere Interpretation von Umwelt- und Klimaschutz, von
der Gleichstellung der Geschlechter und
der Chancengerechtigkeit im Bildungssek-
Vita
Kai Klose ist seit 2004 Politischer Geschäftsführer der hessischen Grünen und war deren
Weitere Informationen:
Wahlkampfmanager im zurückliegenden Landtagswahlkampf.
www.kai-klose.de
Die grünen Themen
sind im Zentrum
­­
angekommen
Von Kai Klose
tor werden von Menschen unterstützt, die
aus unterschiedlichen Bereichen der klassischen Rechts-Links-Achse kommen. In
vielen Kommunen, und jüngst auch in
Hamburg, können wir uns souverän zu Koalitionen jenseits der politischen Lagerzugehörigkeit bekennen, um unsere Themen
voranzubringen. Wenn «Es kommt auf die
Inhalte an» mehr als ein Lippenbekenntnis
ist, dann sind wir mit allen demokratischen Parteien koalitionsfähig.
Gerade die Erfahrung des hessischen
Landtagswahlkampfs, der seitens der SPD
skrupellos auf grüne Kosten geführt wurde,
zeigt, dass es uns nur anzuraten ist, die
selbstgewählte Gefangenschaft im vermeintlich «linken Lager» durch selbstbewusstes Agieren entlang unserer Inhalte
aufzubrechen: Unsere Traditionslinie ist es,
an morgen zu denken, den anderen (mindestens) einen Schritt voraus zu sein,
durchaus auch, heute radikal erscheinende Forderungen aufzustellen, wenn wir
von ihrer Richtigkeit überzeugt sind. Verharrten wir darin, uns immer wieder der
Zugehörigkeit zu einem politischen Lager
zu vergewissern, so machten wir uns überflüssig. Die vierte Dimension der politischen Geometrie ist grün: Links, Mitte,
Rechts ist gestern. Morgen ist grün. |
Foto: Ludwig Rauch
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31
Dem Wandel eine Richtung geben
Grün als Orientierungsfarbe einer Politik, die Gerechtigkeitsanspruch mit Veränderungswillen verbindet.
Foto : Ludwig Rauch
Von Peter Siller
Mit den dramatischen Veränderungen des
Parteiengefüges, insbesondere durch den
Einzug der «Linkspartei» in westdeutsche
Landesparlamente, hat sich auch die Lage der
Grünen drastisch geändert. Da es in vielen
Fällen für keines der bislang «klassischen»
Bündnisse – Rot-Grün oder Schwarz-Gelb –
mehr reicht, kommt den Grünen einen
Schlüsselrolle bei der Herstellung von Dreierbündnissen zu, ganz gleich ob Ampel,
Rot-Rot-Grün oder Jamaica. Die Grünen
geraten damit in die Rolle einer «Funktionspartei», des notwendigen Mehrheitsbeschaffers. So verwundert es nicht, dass
der geschäftsführende Ministerpräsident
Koch – schon kurz nach einem agressiven
Wahlkampf gegen die «Al-Wazir-Grünen» –
durch die Lande zog und die Nähe zu den
Grünen beschwor, während zugleich die
hessische «Linkspartei» beteuerte, eine
rot-grüne Minderheitsregierung ohne Bedingungen zu wählen. Gleichzeitig koaliert
in Hamburg eine CDU offenherzig mit den
Grünen, die vor nicht allzu langer Zeit in
der Schill-Partei den geeigneten Koalitionspartner sah. Neue Unübersichtlichkeit
in der Politik und ein Ende ist nicht in Sicht.
Die grüne Schlüsselposition ist dabei Segen und Fluch zugleich, denn zum einen
ergeben sich neue Macht- und Gestal-
tungsoptionen, zum anderen zieht sie einigen Klärungsbedarf nach sich. Status
quo vadis?
1.
Nebeneinanderstellen und Anordnen
im Fünf-Parteien-System
Es ist unvermeidbar, dass eine Partei, die
sich in einem solch rasanten Transformationsprozess befindet, viele ihrer Anhänger
verunsichert. Die große Frage ist deshalb
nicht, wie sich Turbulenzen vermeiden
lassen, sondern wie sich die Grünen auf
mittlere Sicht in der neuen Situation beheimaten und stabilisieren können. Der
Weg der strategischen Öffnung und der
neuen Bündnisse lässt sich dabei nur erfolgreich bestehen, wenn sich zugleich
deutlich machen lässt, worin das eigene
inhaltliche Zentrum besteht. Nur wenn die
Grünen keinen Zweifel an ihrem «ideellen
Rückgrat» lassen, wenn ihre Grundposition transparent ist, kann die Entscheidung
für die eine oder andere Bündnisoption als
nachvollziehbarer, sinnvoller Kompromiss
verstanden werden.
Das Auseinander-Driften von «sozialkonservativem Flügel» und «Modernisierer-Flügel» ist in allen Parteien sichtbar
und kein grünes Spezifikum. Alle Parteien
stehen vor der Aufgabe, die wachsenden
Vita & Pulikationen
Peter Siller ist Leiter der Abteilung Inland der Heinrich-Böll-Stiftung. Zuvor Mitglied des
Planungsstabes im Auswärtigen Amt. Er ist außerdem leitender Redakteur der Zeitschrift
polar.
Ausgewählte Veröffentlichungen: «Politik als Inszenierung» (2000), «Zukunft
der Programmpartei» (2002), «Arbeit der Zukunft» (2006).
Spannungen und Widersprüche auszubalancieren und gleichzeitig aus dem Zentrum eine kohärente und attraktive Position zu entwickeln. Gleichzeitig stellt sich
die Frage nach dem inhaltlichen Zentrum
für die Grünen auf spezifische Art und Weise. Für kleinere Parteien kommt es mehr
noch als für Volksparteien, die eine größere Spannbreite an gesellschaftlichen Milieus repräsentieren – darauf an, klare und
pointierte Impulse zu geben, als Antreiber,
als «Schnellboote» vor den großen «Tankern». Allerdings stehen die Grünen nach
wie vor vor der großen Aufgabe – jenseits
des Megakonsensus in der ökologischen
Frage, der die Grünen seit den Gründungsjahren zusammenschweißt –, eine gemeinsame wirtschafts- und sozialpolitische
Grundposition einzunehmen.
Es besteht die Chance, das Label «grün»
zur Signalfarbe einer Politik der ökologischen und sozialen Erneuerung zu machen. Aufgrund des wachsenden gesellschaftlichen Bewusstseins für die Dramatik
des Klimawandels hat «grün» das Potenzial
zu dieser Orientierung. Die spezifische
grüne Aufgabe könnte darin liegen, den
Zusammenhang von Sicherheit und Wandel zu vermitteln: Soziale Sicherheit lässt
sich nur organisieren, wenn die Gesell-
Was können wir hoffen?
3.
schaft die Kraft zur Veränderung aufbringt
«Linksruck» und
Restauration
– von der drängenden ökologischen Frage
bis zum Bildungssystem. Diese Kraft lässt Mit Blick auf den allseits diagnostizierten
sich jedoch nur aufbringen, wenn die Poli- «Linksruck» bestehen erhebliche Zweifel,
tik die Gründe für die Veränderungen plau- ob all die dahinterstehenden Sicherheitssibel macht und die Sicherheit organisiert, bedürfnisse tatsächlich in einem emanzium diesen Weg der Veränderung beschrei- patorischen Sinn auf Gerechtigkeit zielen,
oder nicht vielmehr zu einem Teil auf Reten zu können.
«Der Ausgangspunkt auf der Suche nach dem ideellen Zentrum
politischer Praxis kann nur die Gerechtigkeit sein.»
2.
Der Ausgangspunkt auf der Suche nach
dem ideellen Zentrum politischer Praxis
kann nur die Gerechtigkeit sein. Gerechtigkeit verstanden als ein erster Orientierungspunkt, wie sich die Menschen als
Freie in einem Gemeinwesen begegnen,
welche Freiheiten sie reklamieren und welche Ansprüche sie erheben können. Gerechtigkeit ist dabei – auf Grund einer Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten – nur als
interpretierter Begriff genießbar. Der grüne Ansatz der «Erweiterten Gerechtigkeit»
steht für den Versuch einer solchen
Interpretation.
Gerechtigkeit kann sich in einer emanzipatorischen Lesart nur auf die Freiheit
des Einzelnen und damit auf gleiche, reale
Verwirklichungschancen für jeden beziehen. Gerechtigkeit ohne ein hohes Bewusstsein für den Wert von Freiheit und
Selbstbestimmung ist nichts wert – und
das unterscheidet die Grünen sichtbar
von anderen Parteien. Gerechtigkeit meint
Parteinahme für die sozial Benachteiligten und steht damit gegen soziale Exklusion. Die Aushandlung von Gerechtigkeit
als gleicher Freiheit obliegt einer starken
Demokratie. Und: In der Ökologie liegt
eine entscheidende Voraussetzung für Gerechtigkeit und Selbstbestimmung der
Zukunft. Die ökologische Frage ist eine der
großen sozialen Fragen des 21. Jahrhunderts und es obliegt der Farbe «grün», dies
zu signalisieren.
Die Glossar-Autoren
gression bis hin zu Xenophobie und Nationalchauvinismus. Zumindest fällt auf, dass
die «Zeitgeist-Wende» der letzten Jahre
eine Vielzahl an Elementen in sich trägt,
die genauso dem Vokabular einer restaurativen und kulturpessimistischen Rechten
entstammen könnten. Die Angst vor Veränderung, die der «Konservative» ja schon
im Namen trägt, steht Pate für die Grundpsychologie der traditionellen Linken in
Deutschland. Und so liest sich das Wahlprogramm der «Linkspartei» wie die große
Restauration der bundesrepublikanischen
Verhältnisse in den achtziger Jahren vor
dem Zerfall der Blöcke. Die Reden von Kurt
Beck klingen auch nicht viel anders. Wo
die emanzipative Linke früher die Verhältnisse zum Tanzen bringen wollte, steht
heute eine Linke, die aufpasst, dass sich
keiner bewegt.
Die Linke hatte in Deutschland – wie
Zeit-Redakteur Jörg Lau zu Recht feststellt
– immer ein Janusgesicht: emanzipatorisch
und antiautoritär auf der einen Seite, protektionistisch und restaurativ auf der anderen. Heute haben wir es nicht in erster
Linie mit einer Emanzipationslinken zu
tun. Der neue Linksruck hat auffällig wenig mit Aufbruchsgeist und viel mit Verunsicherung und Restaurationsbedürfnis zu
tun. Viele bewahrende, linkskonservative
Motive mischen sich darin: die Sehnsucht
nach dem alten Sozialstaat, die Angst vor
Veränderung, die Versuchung des Rückzugs aus einer komplexen und als feindlich empfundenen Welt.
4.
Veränderung und
Orientierung
Das Anwachsen dieses angstgetriebenen
Sicherheitsbedürfnisses verwundert dabei
nicht – weder mit Blick auf die ökonomische, technologische und kulturelle Beschleunigung der Verhältnisse im globalen
Maßstab, noch mit Blick auf die wirtschaftsund arbeitsmarktpolitischen Reformerfahrungen in der Bundesrepublik. Unabhängig davon, welche Elemente der Agenda
2010 richtig waren und welche nicht: Es ist
der Schröder-Regierung in der zweiten Legislatur der rot-grünen Koalition kaum gelungen, die angestrebten Veränderungen
als Gerechtigkeitsanliegen deutlich zu machen. Stattdessen bezog man sich auf einen hohl drehenden Pragmatismus und
verband das mit einer McKinsey-Plastiksprache. Nur so ist zu verstehen, dass der
Begriff der «Reform» überhaupt zunehmend auf gesellschaftliche Ablehnung stieß
und Misstrauen gegen jede Veränderung
entstand.
Nur: Das ändert nichts daran, dass aus
der beschriebenen Perspektive von Gerechtigkeit und Selbstbestimmung einzelne Reformzumutungen der Agenda 2010
richtig waren und zahlreiche andere Veränderungen im Sinn einer Strategie der
Parteinahme für Prekäre, Ausgeschlossene
und Abgehängte notwendig gewesen wären. Das gilt auch heute: Eine Politik der
Gerechtigkeit, der es auf eine Strategie der
Teilhabe und sozialen Inklusion ankommt,
kann weder in der Restauration noch in
der Verteidigung des Status quo bestehen,
sondern braucht den Mut zur Veränderung
hin zu mehr Teilhabe und verbesserten realen Verwirklichungschancen, hin zu einer
Lösung der ökologischen Frage, die sich als
eine der großen sozialen Fragen dieses
Jahrhunderts herausstellt.
Gerechtigkeit verstanden als Parteinahme für die sozial Benachteiligten und Gefährdeten braucht eine dynamische und in
diesem Sinne auch eine optimistische
Grundhaltung, als sie an die Kraft der von
ihr vorgeschlagenen Veränderungen zum
Besseren glaubt.
Vita & Publikationen
Gert Koenen ist Historiker und Publizist. Zurzeit Fellow am Freiburg Institute of Advanced
Veröffentlichung:
Studies (FRIAS) mit einem Projekt zur Geschichte des Kommunismus.
Im August 2008 erscheint bei Kiepenheuer & Witsch sein neues Buch «Traumpfade der Weltrevolution – Das Guevara-Projekt».
Foto: privat
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Klas|sen|kampf, der; Klassiker und Kassenschlager, insbe-
Foto Mitte: Oliver Schmidt; Foto rechts: privat
sondere für die Megaphon-Industrie und angeschlossene Sparten
des Polit-Merchandisings; bei den Weißbärten des Weltwissens
noch als historisch notwendiges Ärger-Management angesehen, das
der ungleichen Verteilung von Produktionsmitteln mit einer entsprechenden Stressabfuhr begegnen sollte; 1968 gern als Parole
benutzt, um die verdrängte Seite eines erstaunlich effizient operierenden Wohlfahrtsstaats in Erinnerung zu rufen; dabei verstieg
sich der kultivierte Herkunftshass von Bürgerkindern nicht selten
zu der Annahme, der Arbeiterklasse unbedingt zeigen zu müssen,
wo der Bartel den Most holt; nach dem Wegfall der Systemopposition wurde der K. zeitweilig zum Ladenhüter – ein entsprechendes
Klassenbewusstsein schien unter dem Primat modischer Distinktionen und Style Wars verzichtbar – selbst Polo war nun für den
Pöbel erschwinglich; zur Jahrtausendwende begründen gelangweilte Soziologen neue revolutionäre Subjekte, darunter die «Kreative
Klasse», die ihre Plug & Play-Welt gegen die Discounter-Tristesse
der «Ausgeschlossenen» verteidigen muss; plötzlich wirkt das 21.
wieder so kampfbereit wie das frühe 20. Jh., was aber die politische
Klasse nicht von ihrem sozialhygienischen Pfad der permanenten
«Nachbesserung» abbringen dürfte; insofern hatten jene Propheten
recht, die dereinst dekredierten: «Klassen, die bellen, beißen nicht!»
Jan Engelmann
Nimmt man beides zusammen: den Gerechtigkeitsanspruch und die daraus abgeleiteten Veränderungsnotwendigkeiten, so
lässt sich folgende Grundsequenz festhalten: Soziale Sicherheit für alle braucht Veränderung. Und Veränderung braucht soziale Sicherheit für alle, als Leitstern der
Veränderung wie als Voraussetzung, den
Wandel mittragen zu können. Leitsatz:
«Wir geben dem ökologischen und sozialen Wandel eine Richtung.»
Etwas vereinfachend: Hat der Stillstand der
Kohl-Jahre und jetzt wieder der Großen
Koalition gezeigt, dass es ohne Wandel keine Gerechtigkeit geben kann, so haben uns
die rot-grünen Jahre gelehrt, dass Veränderung die klare und verständliche Bezugnahme auf Gerechtigkeit und Selbstbestimmung braucht. Das eine ist ohne das
andere nicht sinnvoll zu haben. Und nur
wem es gelingt, beides glaubhaft zu verbinden, kann für sich ernsthaft beanspruchen, etwas im Sinne von mehr Gerechtig-
keit zu bewirken. Insoweit ist der Begriff
der «Modernisierungslinken» als Orientierungsbegriff interessant. In ihm verbindet
sich auf plakative Weise der Gerechtigkeitsanspruch mit dem Bewusstsein für
notwendige Veränderungen.
Im Rahmen einer solchen Strategie sollte es auch darum gehen, eine andere Form
des Politischen zu verkörpern. Die politischen Protagonisten sollten nicht unterstellen, dass sie in jedem Fall die Lösung
schon parat hätten. Vielmehr sollten sie
den Bürgerinnen und Bürgern glaubhaft
vermitteln, dass es sich um eine gemeinsame Suche nach und einen gemeinsamen
Weg hin zu mehr Gerechtigkeit und Selbstbestimmung handelt.
Auch sollte es einer Parteipolitik, die
Gerechtigkeit mit Veränderung verbindet,
darum gehen, ihre Selbstbezüglichkeit zu
überwinden und ihren Fokus auf die Verstärkung eines «allgemeinen» gesellschaftlichen Anliegens zu richten. Eine Pointe
des grünen Gerechtigkeitsanspruchs liegt
darin, alle Betroffenen jenseits der bekannten Klientelpolitik ins Spiel zu bringen. Eine der entscheidenden Aufgaben ist
es dabei, die Interessen ans Tageslicht zu
bringen und zu unterstützen, die keine
Lobby haben. Grüne Politik zielt in diesem
Sinn auf das «Allgemeine». Parteien sind
nach diesem Anspruch nicht einfach weitere Interessengruppen, sondern haben
die Aufgabe, Interessen mit Blick auf Gerechtigkeit und Fairness zu transformieren. Parteien sollten ihren Streit nicht als
Streit zwischen unterschiedlichen Interessengruppen, denen sie sich verpflichtet
fühlen, begreifen, sondern als Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen
Konzeptionen von Gerechtigkeit und Gemeinwohl. Hier gibt es erhebliche Unterschiede, und es wäre wichtig, diese herauszuarbeiten. |
Vita
Vita & Publikationen
Matthias Dell ist Kulturredakteur
Jan Engelmann ist Kulturreferent der Heinrich-Böll-Stiftung. Berufliche Erfahrungen
bei der Wochenzeitung Freitag.
als Verlagslektor, Pressesprecher und Kommunikationsdienstleister im Bereich Corporate Publishing. Langjährige journalistische Tätigkeit für Spex, TAZ und Literaturen. Veröffentlichung: Herausgeber von «Die kleinen Unterschiede. Der Cultural-StudiesReader» (1999), «Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader zu Diskurs und Medien»
(1999) sowie Mitherausgeber des «Kursbuch Arbeit» (2000).
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Anzeige
Sonne sorgt für
warme Luft
Geht es um solarthermische Anlagen, stehen wie selbstverständlich Solarkollektoren im Mittelpunkt, die ein WasserZirkulationssystem mit regenerativer Wärme versorgen. Doch
seit Jahren sind ebenso Solar-Luft-Systeme im Einsatz, die
vor allem in großvolumigen Gebäuden erstaunlich hohe Einsparungen im Bereich Heizung/Lüftung vorweisen können.
Von Siegfried Schröpf
Dabei ist die solare Lufterwärmung kein neuer Spleen im Reigen
der Ideen zur effizienten Energieeinsparung: beispielsweise ist
seit etwa 15 Jahren eine 180 m² große Solar-Luft-Kollektoranlage
für den Turnhallenkomplex des Münchener Karlsgymnasiums in
Betrieb, im Winter zum Heizen und Lüften, im Sommer zur Erwärmung des Duschwassers. Das Resultat ist eine beachtliche
Halbierung des durchschnittlichen Verbrauchs um 22.400 m³ Erd-
Siegfried Schröpf ist geschäftsführender Gesellschafter der
GRAMMER SOLAR GmbH in
Amberg, www.grammer-solar.de
gas/Jahr. Weil es sich hier um ein vom Bund gefördertes mehrjähriges Forschungsprojekt handelt, wurden die Verbrauchs- und
Leistungsdaten über diesen Zeitraum genau verfolgt.
Besonders gut geeignet für den Einsatz von Luftkollektoren
sind Schwimmhallen: 70 % des Wärmebedarfes eines Hallenbades werden für Erwärmung und Entfeuchtung der Hallenluft aufgewendet. Vor allem wegen der ganzjährig geforderten Lufttemperatur von 30°C können die Solargewinne auch im Sommer fast
vollständig genutzt werden.
Als Beispiel sei hier das Stadtbad in Plauen angeführt. Die notwendige Warmluft wird zum großen Teil über eine 110 m² große
Solar-Luft-Kollektoranlage auf dem Dach der neuen Schwimmhalle erzeugt. Zusammen mit der nachgeschalteten Wärmerückgewinnung wird der Lüftungswärmebedarf weitestgehend abgedeckt. Der Wärmeverbrauch sank hier um 100.000 kWh. Insgesamt
wird das Gebäude jetzt zu 32 % mit ökologisch erzeugter Energie
versorgt.
Prinzip der solaren Lufterwärmung
Die Vorteile von Solar-Luft-Systemen liegen in der schnellen Anlaufzeit, der geringen Vorlauftemperatur – selbst bei bedecktem
Himmel wird die für einen effektiven Heizbetrieb notwendige
Temperatur bereits erreicht – sowie im Trägermedium selbst: Zwar
ist Luft kein optimaler Wärmespeicher, aber sie erwärmt sich relativ schnell und lässt sich einfach verteilen; dabei friert sie weder
ein, noch kann sie überkochen. In Sommer- und Übergangszeiten
kann das notwendige Brauchwasser über einen Luft-Wasser-Wärmetauscher erwärmt werden.
Solar-Lüftung auch fürs Eigenheim
Die Technologie der Solar-Luft-Systeme beschränkt sich aber
nicht nur auf große Zweckbauten, sondern kann ebenso in Einund Zweifamilienhäusern Verwendung finden. Dabei spielt es
keine Rolle, mit welchem System das Gebäude konventionell beheizt wird. Vor allem im Zeitalter hermetisch dichter und hochgradig wärmegedämmter Gebäude gilt es die erforderlichen Luftwechselraten sicher zu stellen. Ein solares Zuluftsystem kann
auch hier regenerativ erwärmte frische Luft in die Wohnräume
bringen.
Heinrich-Böll-Stiftung
Die Behandlung zeitgeschichtlicher Themen in der Heinrich-Böll-Stiftung vermittelt historisches Wissen mit dem Anspruch, Gesellschaft, Politik und staatliche Verfasstheit als historisch bedingt zu begreifen. Wir
fördern die Entwicklung individueller Freiheitsrechte, unterstützen Emanzipationsbewegungen und regen Debatten rund um das Thema «Gerechtigkeit» an.
Jüngstes Thema waren die Wendezeiten 1968 und 1989. In mehreren internationalen
Veranstaltungen ging die Stiftung der Frage nach den Folgen der Proteste und den Demokratiepotenzialen in Ost und West heute nach. Aktuelle Publikation: «1968 revisited –
40 years of protest movements.» Hrsg. vom Brüsseler Büro der Heinrich-Böll-Stiftung (in
engl. und frz. Sprache). Mit Beiträgen u.a. von Marcelo Ridenti, Teresa Bogucka, Alexander Julijewitsch Daniel, Wolfgang Templin, Bill Nasson, Nebojša Popov, Benoît Lechat
und Interviews mit Daniel Cohn-Bendit und Klaus Meschkat. Band 7 der Reihe Demokratie der Heinrich-Böll-Stiftung, Brüssel 2008, 67 Seiten, Download unter: www.boell.de
Zeitgeschichte in der Heinrich-Böll-Stiftung
Reihe: Religion und Politik Religion ist wieder ein öffentliches Thema und zu einer kulturellen Frage unserer Zeit geworden. Beeinflusst die Religion die Politik? Wie gestaltet
sich das Verhältnis zwischen Demokratie und religiösen Gemeinschaften und Überzeugungen? Müssen gesellschaftlich verbindliche Normen religiös begründet werden? Und wie
können moderne Gesellschaften religiös plural gestaltet werden? Fragen wie diese haben
eine Flut von Kommentaren und Debattenrunden ausgelöst. Die Reihe «Religion und Politik» widmet sich dem Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Verfasstheit, religiösen
Institutionen, Glaubensgemeinschaften und Glauben in pluralistischen modernen Gesellschaften.
Reihe: Neue Stichworte zur geistigen Situation der Zeit 30 Jahre nach dem Erscheinen
der «Stichworte zur geistigen Situation der Zeit» (hrsg. von Jürgen Habermas im Suhrkamp-Verlag) nimmt die Heinrich-Böll-Stiftung das Experiment wieder auf und fragt Intellektuelle nach den zentralen gesellschafts- und kulturdiagnostischen Stichworten unserer Zeit. Was im Einzelnen assoziativ sein mag, könnte als Ganzes Licht werfen in das
Dunkel der gesellschaftlichen Situation. Nach den bereits gelaufenen Veranstaltungen zu
den Stichworten Anerkennung (Axel Honneth), Beschleunigung (Hartmut Rosa), Chancen
(Ulrich Beck), Differenz (Erol Yildiz), Eigentum (Rainer Kuhlen), Familie (Uta MeierGräwe) und Freundschaft (Martin Hecht) stehen als nächstes die Begriffe Gerechtigkeit,
Herrschaft, Identität, Jetzt und Sicherheit auf dem Programm.
Die Reihe läuft bereits seit einigen Jahren und greift
in Kooperation mit Verlagen und anderen Institutionen aktuelle politische Kontroversen
auf, die sich auf die Grundlagen von Gesellschaft und Politik beziehen. Jüngste Publikation: «Hannah Arendt: Verborgene Tradition – unzeitgemäße Aktualität?» Hrsg. von der
Heinrich-Böll-Stiftung im Akademie Verlag, Berlin 2007, 372 Seiten, 49,– Euro
Reihe: Zeitgeschichte im Gespräch
Mehr Infos zu den Veranstaltungen der Heinrich-Böll-Stiftung unter www.boell.de
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Veranstaltungen
Sonne, Wind & Wir – Klimatour 2008
Die Heinrich-Böll-Stiftung und Motor Entertainment
geben in den Sommermonaten dem Klimaschutz eine
Bühne. Mit dabei Wir sind Helden, Mia, KLEE,
Rainer von Vielen, Klima-Aktivisten, Wissenschaftler
u.a.m. Termine, Musik, Spiele, Filme, Infos und
mehr auf www.sonnewindundwir.de
Außenpolitische Jahrestagung:
Werte und Interessen in der Außenpolitik
11. – 12. September 2008 in der Beletage der
Heinrich-Böll-Stiftung
Info Marc Berthold, [email protected]
Tagung:
European Governance of Migration
The Political Management of Mobility,
Economy & Security 17.–19. September in der
Beletage der Heinrich-Böll-Stiftung
Info Mekonnen Mesghena, [email protected]
Kongress:
Zukunft der Demokratie
2.–3. Oktober, Hochschule für Künste, Bremen
Info [email protected]
Tagung:
Ökologische Marktwirtschaft in Europa und
in den USA – Perspektiven strategischer Allianzen
8.–9. Oktober in der Beletage der Heinrich-Böll-Stiftung Info Sebastian Wienges, [email protected]
Reihe: Neue Stichworte zur geistigen
Situation der Zeit #8
Gerechtigkeit
Mit Rainer Forst, Professor für Politische Theorie
und Ideengeschichte, Universität Frankfurt/Main
16. Oktober 2008, Berlin, Heinrich-Böll-Stiftung
Info Michael Stognienko, [email protected]
Website
www.boell.de/parteiendemokratie –
Debatte zur neuen politischen Farbenlehre.
Mit Beiträgen von Hartmut Bäumer, Franziska
Brantner, Tobias Dürr, Ralf Fücks, Antje Hermenau,
Gero Neugebauer, Dieter Rulff, Jens König, Peter
Siller und Helmut Wiesenthal.
Publikationen
Zur Lage der Welt 2008
Auf dem Weg zur nachhaltigen Marktwirtschaft?
Hrsg. vom Worldwatch Institute in Zusammenarbeit
mit der Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch im
Verlag Westfälisches Dampfboot
Münster 2008, 336 Seiten, 19,90 Euro
Schriften zu Europa, Band 3
ERENE – Eine Europäische Gemeinschaft
für Erneuerbare Energien
Eine Machbarkeitsstudie von Michaele Schreyer und
Lutz Mez Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung
Berlin, Mai 2008, 96 Seiten
Kapitalismus 3.0
Ein Leitfaden zur Wiederaneignung der
Gemeinschaftsgüter
Von Peter Barnes. Hrsg. von der
Heinrich-Böll-Stiftung im VSA-Verlag
Hamburg, September 2008, 208 Seiten, 18,80 Euro
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Bisher sind u. a. erschienen:
Grüne Marktwirtschaft Die große Transformation
China Volksrepublik China – Republik des Volkes?
Die neue Welt(un)ordnung Außenpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges
Biodiversität Bedrohung und Erhalt
weitere Infos und zu bestellen unter: www.boell.de/thema
Re|vo|lu|tion, die; große Sache, was schon daran zu erkennen ist, dass der Begriff auch in der Astronomie
Anwendung findet, etwa für die Bewegung der Sonne um die Erde; die Vorsilbe «re» des lat. Ursprungsworts (revolutio = zurückdrehen, umdrehen) deutet an, dass es sich anfangs um eine restaurative Angelegenheit gehandelt hat; siehe: Glorious R. in England 1688/89; R. ist als Begriff seitdem salonfähig für
weltweite Umsturzbewegungen (Französische R., Märzr. u.a.), die neue politische Verhältnisse mit sich
bringen; marxistisch-leninistisch aufgefasst führt die R. zwangsläufig zu Höherem, was durch die Praxis
allerdings widerlegt wurde (Oktoberrevolution, Zusammenbruch der Sowjetunion); China lehrt, dass die
R. nicht immer von den benachteiligten Schichten ausgehen muss (Kulturrevolution); Zweifel an der Tiefgründigkeit des Begriffs nährt die Inflation seiner Verwendung in zahllosen Disziplinen (Soziologie, Technik, Sexualität usw.); daher macht es die Geisteswissenschaft seit einiger Zeit ein paar Nummern kleiner,
indem sie ihre wechselnden Moden turn oder schlichter Paradigmenwechsel nennt; zuletzt eher folkloristisch-poetische Verwendung bei jedem Machtwechsel in demokratisch weniger avancierten Ländern
(Nelkenr., Rosenr., Orangene R.). Matthias Dell
Die Heinrich-Böll-Stiftung ist eine Agentur für grüne Ideen und Pro­
jekte, eine reformpolitische Zukunftswerkstatt und ein internationa­
les Netzwerk mit weit über hundert Partnerprojekten in rund sechzig
Ländern. Demokratie und Menschenrechte durchsetzen, gegen die
Zerstörung unseres globalen Ökosystems angehen, patriarchale Herr­
schaftsstrukturen überwinden, in Krisenzonen präventiv den Frieden
sichern, die Freiheit des Individuums gegen staatliche und wirtschaft­
liche Übermacht verteidigen – das sind die Ziele, die Denken und
Handeln der Heinrich­Böll­Stiftung bestimmen. Sie ist damit Teil der
«grünen» politischen Grundströmung, die sich weit über die Bundes­
republik hinaus in Auseinandersetzung mit den traditionellen politi­
schen Richtungen des Sozialismus, des Liberalismus und des Konser­
vatismus herausgebildet hat.
Organisatorisch ist die Heinrich­Böll­Stiftung unabhängig und
steht für geistige Offenheit. Mit 27 Auslandsbüros verfügt sie über
eine weltweit vernetzte Struktur. Sie kooperiert mit 16 Landesstiftun­
gen in allen Bundesländern und fördert begabte, gesellschaftspoli­
tisch engagierte Studierende und Graduierte im In­ und Ausland.
Heinrich Bölls Ermunterung zur zivilgesellschaftlichen Einmischung
in die Politik folgt sie gern und möchte andere anstiften mitzutun.
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