Wenn Martin schon mal wissenschaftlich arbeitet

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Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Institut für Ethik und Geschichte der Medizin
Hauptseminar „Körperbilder“
WiSe 2007/08, DI 10–12
PD Dr. med. Cay-Rüdiger Prüll
28.01.08
Martin Jost
[email protected]
Protokoll
Sitzung vom 22. Januar 2008
zum Thema „Die Contergan-Katastrophe“
Die Referentinnen Rebecca Esenwein und Christine Lindemann ergänzen die Hintergrundinformationen aus dem Aufsatz »Ungewollte Politisierung durch die Medien? Die Contergan-Affäre« von Willibald Steinmetz um Eindrücke vom Zeitgeist aus der
Bundesrepublik in den 60-er und 70-er-Jahren. Stichworte aus dem Zusammenhang wie „Pillengläubigkeit“, „Fortschrittsglauben“, „Wirtschaftswunder“ und „Westanschluss“ machen deutlich, dass die Zeit der Atomtests, der ersten Ostermärsche und
der neuen Leistungsgesellschaft eine ganz andere ist als die Jahre aus der Zwischenkriegsphase, die bisher im Fokus des Seminars standen. Als sich Behinderungen bei neu geborenen Kindern seinerzeit häuften, vermuteten die Gegner der Nutzung der
Atomenergie zunächst Folgen radioaktiver Strahlung als Ursache, bis der Arzt Dr. Lenz den Wirkstoff Thalidomid als Verursacher der Missbildungen identifizierte.
Die Geschichte der Behinderung ist bis heute weltweit noch nicht konzentriert und systematisch erforscht. Literatur,
die sich selbst den Modenamen „Disability Studies“ gibt und den Gender-Humbug über kulturelle Konstruktionen von gesellschaftlichen Tatsachen auf Behinderungen überträgt, rollt gerade erst aus den USA, von wo alles Gute kommt, auf uns zu.
Umso größer waren Unkenntnis und Berührungsängste in den 60-ern, als Behinderungen zum größten Teil ein erworbenes Phänomen waren. Körperbehinderungen resultierten aus Unfällen oder, wie die vorangegangene Sitzung demonstrierte, aus Kriegsverletzungen. Behindert geborene Kinder kamen selten zur Welt und wurden der Öffentlichkeit vorenthalten. Im Unterschied
zu Kriegsbeschädigten waren sie keine Nutznießer medizinischer Prothetik. Als nun mit den Contergan-Kindern genug Betroffene geboren wurden um der Öffentlichkeit nicht länger zu entgehen, wurde die Gesellschaft für das Thema Behinderungen
sensibilisiert.
Viele Verständnisfragen nach dem Referat spiegeln den Unglauben, dass ein Wirkstoff mit so schwerwiegenden Nebenwirkungen überhaupt auf den Markt kommen konnte. Tatsächlich waren aber die Tierversuche, die die Firma Grünenthal
vor der Markteinführung von Contergan Ende 1957 vornahm sogar mehr, als das Gesetz oder das öffentliche Umfeld von ihr
verlangten. An schwangeren Patientinnen und Kindern wurden aus ethischen Gründen keine spezifischen Tests vorgenommen.
Dabei war es noch nicht so gängig wie heutzutage, Schwangeren den Konsum von Drogen und Medikamenten mit moralischem
Druck weitgehend zu verwehren. Zusätzlich gab es keine historischen Standards für die Testung von neuen Präparaten, keine
strengen Gesetze und keine besonders abgestimmte Behandlung, die auf andere als 30-jährige männliche Idealpatienten eingegangen wäre.
Warum nahmen Schwangere überhaupt massenhaft Schlafmittel? Die Kinder der Weltkriegsteilnehmer hatten ein
Massentrauma zu betäuben. Sie standen unter Wirtschaftswunderstress. Die Hausfrau mit der Pflicht zum heimeligen Heim baute an der Wohlstandsgesellschaft mit und folgte gleichzeitig einem persönlichen Leistungsideal. Ausstellungen und Küchenseminare politisierten Familienbilder, die jetzt ausgerechnet aus dem Kaiserreich herübergerettet wurden und Kriegsheimkehrer bauten mit Frauen, die an Wohlstand durch Malochen glaubten, langsam Familie um Familie auf. Der menschliche Körper wurde
zu einer Maschine, die man mit Tabletten statt Hebeln und Knöpfen bediente und nach jedem Wirtschaftswundertag übergangslos auf Schlafmodus stellen wollte. An der „Managerkrankheit“ leidende Ausgebrannte mussten wieder hochgepeppelt werden,
gegen kurzfristige Erschöpfungszustände sollten „Hallo, wach!“-Tabletten helfen und Appetitzügler gegen ungebührliches Essbedürfnis.
Thalidomid-Opfer erhalten nach einer ursprünglichen Einmalzahlung heute eine monatliche Rente, für die inzwischen allein die Bundesrepublik aufkommt. Mediziner mussten, ausgehend von ähnlichen Anwendungen auf Kriegsversehrte,
prozentuale Bemessungen von Behinderungsschwere erstellen um zu definieren, welcher Patient gemäß welcher Schädigung entschädigt wird. Die Konfrontation der westdeutschen Gesellschaft mit Contergan-Behinderungen hatte auf einer anderen Grundlage gefußt als die mit verletzten Soldaten. Unschuldige Kinder, die durch Fremdverschulden, wie es den Anschein hatte, schon
benachteiligt auf die Welt kamen, erregten Mitleid. Ausdruck der weitgehenden Politisierung der Gesellschaft war die Gründung
von vielen Selbsthilfegruppen aus dem Kreis der betoffenen Eltern heraus, die im Gerichtsverfahren gegen die Verantwortlichen
von Grünenthal als Kläger auftraten und schlussendlich auch den Vergleich unterzeichneten.
Was kam zusammen, damit sich der Fall Contergan zu einem so umfassenden Skandal auswachsen konnte? Da war
einmal die Massenpresse, die erstmals in Deutschland Privatpersonen in diesem Umfang ein Forum bot. Hinzu kam die Häufung der Fälle: 5 000 Betroffene waren genug, um in jeder größeren Stadt aufzutreten. Die Betroffenen waren außerdem medial
inszenierbar und schuldlos, wohingegen sich die Verursacherfirma augenscheinlich fahrlässig verhalten hatte.
Die Frage, ob wir Bundesbürger durch den Contergan-Skandal menschlicher geworden sind, muss offen bleiben.
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