Bündnisveranstaltung „Köpfe gegen Kopfpauschale“ am 7.7.2010 in Berlin Co-Statement der ISL e.V. Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen verfolgen die Diskussionen um einen Systemwechsel in der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung sowie um weitere Einsparungen in der Versorgung, zur Mehrbelastung der gesetzlich Versicherten und die Privatisierungsbestrebungen von Gesundheits- und Pflegeleistungen seit langem mit großer Besorgnis. Beiträge der Versicherten und Zusatzbeiträge der Krankenkassen sollen nach dem Willen der schwarz-gelben Koalition steigen. Kopfpauschalen sind noch längst nicht vom Tisch. (Nur das Wort). Für uns als „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland“ heißt das, dass nicht nur die bestehenden Benachteiligungen und Versorgungsprobleme im Gesundheitssektor erhalten bleiben, sondern dass weiteren Verschärfungen Tür und Tor geöffnet ist. Von den bereits angekündigten Veränderungen sind wir als Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen, die auf eine kontinuierliche medizinische Versorgung und die Solidargemeinschaft der Versicherten angewiesen sind, unmittelbar, überdurchschnittlich und existenziell betroffen. Wir sind längst vielen Benachteiligungen im Gesundheitssystem ausgesetzt. So kämpfen wir vielfach um das medizinisch Notwendige. Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit – die wir generell befürworten – werden häufig ausgelegt als das Einfachste und Billigste – bei der Qualität werden Abstriche gemacht. Das Wunschund Wahlrecht, das wir uns mühsam erkämpft haben, wird zunehmend von Kostenträgern ausgehebelt, wenn sie restriktiv bestimmen, was für uns angemessen ist und was nicht. Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen verfügen von je her durch einen oft schlechteren Zugang zur Bildung, zum Ersten Arbeitsmarkt und infolge niedriger Renten mehrheitlich über geringe Einkommen und sind in der Regel gesetzlich krankenversichert. Daher bedeuten die derzeit zu entrichtenden Praxisgebühren, Zuzahlungen, Eigenanteile oder Eigenfinanzierungen oft schon unzumutbare Härten. Sogenannte „soziale Abfederungen“ greifen nach unseren bisherigen Erfahrungen nicht wirklich - sie erfordern hohe Eigenkompetenzen und machen uns letztlich doch nur zu Bittstellern. Der Chronikerregelung liegt z.B. das Brutto- und nicht das real verfügbare Einkommen zugrunde. Sie berücksichtigt auch nur Praxisgebühren und gesetzliche Zuzahlungen. Seh- und Hörhilfen, Zahnbehandlungen, präventive und kurative Maßnahmen können zum unerschwinglichen Luxus werden. Wer sich jedoch keine Brille oder geeignete Hörhilfen leisten kann, hat einen verminderten Zugang zu Informationen oder wird in der Kommunikation eingeschränkt. Teilhabe wird so mehr verhindert als ermöglicht. 2 Wer noch erwerbstätig sein kann, muss jetzt schon einen beachtlichen Teil seines Einkommens für Gesundheits-, Pflege- und Assistenzkosten sowie behinderungsbedingte Mehrbedarfe einsetzen. Weiterhin findet es noch immer keine gebührende Beachtung, dass wir als Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen strukturellen Benachteiligungen in der Zugänglichkeit und der Nutzung von Einrichtungen der medizinischen Versorgung sowie auch in der medizinischen Behandlung selbst, ausgesetzt sind: Das betrifft z.B. die Einschränkungen in der Arztwahl infolge baulicher, fachlicher oder kommunikativer Barrieren, ganz besonders im Facharztbereich. Behinderte Frauen thematisieren seit Jahren die unzureichende gynäkologische Versorgung. Die Hilfsmittelversorgung wird seit Jahren durch Leistungskürzungen, Festbetragsregelungen und eine weiträumig dezentrale Versorgung zurückgefahren. Krankenhausbehandlungen zeigen oft noch weitere Defizite. Personal ist nicht ausreichend vorhanden oder in der Lage, die nötigen Hilfen zu leisten. Assistenz im Krankenhaus ist nur in Ansätzen geregelt und finanziert. Fallpauschalen und Probleme an der Schnittstelle von der stationären zur ambulanten Versorgung ziehen Unterversorgung und Notsituationen nach sich. Richtgrößen zur Ausgabensteuerung und Regressforderungen gegen Ärztinnen und Ärzte können eine am medizinisch notwendigen Bedarf des Einzelnen orientierte Arznei- und Heilmittelversorgung behindern. Gleiche Leistungen werden – je nach Versichertenstatus - unterschiedlich honoriert. Auch das sind Ursachen dafür, dass uns Leistungen vorenthalten und hohe Folgekosten in Kauf genommen werden. Bereits die gegenwärtige Situation verstößt damit in vielfacher Weise gegen die UN-Behindertenrechtskonvention, die seit März 2009 in der Bundesrepublik geltendes Recht ist und an deren Umsetzung auf kommunaler, Landes- und Bundesebene gearbeitet wird. Die Behindertenrechtskonvention schreibt in Art. 25 „das Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung“ fest. Sie verpflichtet die Vertragsstaaten, „alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu gender-sensiblen Gesundheitsdiensten, einschließlich gesundheitlicher Rehabilitation haben“. Insbesondere geht es dabei um eine „unentgeltliche oder erschwingliche Gesundheitsversorgung“, eine „gemeindenahe“ Versorgung oder um Leistungen, die „speziell wegen der Behinderungen benötigt werden“. Es geht um „ethische Normen, … die das Bewusstsein für die Menschenrechte, die Würde, die Autonomie und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen schärfen“ sollen. Die Umsetzung dieser Konvention, die durch den Gedanken der Solidarität und gleichberechtigten Teilhabe inform von Inklusion geprägt ist, könnte dazu beitragen, auch das Gesundheitssystem wieder gerechter, effektiver und menschlicher mit einem Nutzen für alle Versicherten zu gestalten. Völlig unverständlich ist deshalb für uns, dass die Bundesregierung auf der einen Seite mit der UN-Behindertenrechtskonvention ein weltweites 3 Menschenrechtsabkommen zur Stärkung der Rechte behinderter Menschen ratifiziert, parallel dazu aber Entsolidarisierungsbestrebungen forciert, die gegen diese Konvention verstoßen und ihre Umsetzung erschweren oder unmöglich machen. Jede und jeder Einzelne kann und muss Verantwortung für die eigene Gesundheit und den Lebensstil übernehmen – aber diese Verantwortung kann nur gelingen, wenn die Politik durch die Herstellung der notwendigen Rahmenbedingungen dabei entsprechend unterstützt. Stattdessen steckt sie immer neues Geld ins System, behebt nicht nachgewiesene Unter-, Über- und Fehlversorgungen und schont die Lobbygruppen. Wir fordern die Bundesregierung auf, ihrer Verpflichtung, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, im erforderlichen Umfang nachzukommen. Wir unterstützen die Weiterentwicklung einer Bürgerversicherung auf der Basis der individuellen Leistungsfähigkeit aller Versicherten und fordern das Ende der Zwei-Klassen-Medizin. Wir fordern die Rückbesinnung auf die Wurzeln der gesetzlichen Krankenversicherung, auf die solidarische Finanzierung durch alle Beteiligten zum Nutzen aller Beteiligten. Dieser Anspruch bedingt den sofortigen Stopp aller Bestrebungen, die Versicherten erneut in Milliardenhöhe ungleich zu belasten. Wir unterstützen eine breite Diskussion für eine wirklich stabile und langfristig sichere Finanzierung des Gesundheitssystems. Wir sind überzeugt, dass die Lücken in der Finanzierung geschlossen werden müssen und können. Aber dafür muss die Politik sich ihrer Fehler im Reformierungsprozess des Gesundheitssystems endlich bewusst werden und umsteuern. Dafür braucht sie das bewährte Solidarprinzip nicht zu opfern und die Lasten nicht den Menschen aufzubürden, die den geringsten Anteil am bestehenden Ungleichgewicht haben und deren Lebensqualität entscheidend von einer guten und bezahlbaren medizinische Versorgung abhängig ist. Barbara Stötzer-Manderscheid, [email protected]