NEUROPSYCHIATRIE DES KINDER- UND JUGENDALTERS I FRIEDRICH WS 1999/2000 1. VORLESUNG / 8.10.1999 Kinder- und Jugendpsychiatrie = in Wien ein eigener Lehrstuhl Klinik: 2 Stationen -> psychiatrielastig (32 Betten) -> neurologielastig 500 stationäre Patienten pro Jahr 2000 neue Patienten im Jahr in der allgemeinen Ambulanz zusätzlich: Kopfschmerzambulanz, Ambulanz für Epileptiker; auch psychiatrische Untergruppierungen; Forschungsabteilung 4 SÄULEN DER KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE: 1. Ganzheitssicht des Jugendlichen 2. basiert auf Teamarbeit 3. Polypragmasie: offen für verschiedene Formen der Therapie (Schlüssel ins Schloß) 4. Netzwerkarbeit ad 1) Ganzheitssicht des Menschen: nicht rein medizinisch, psychologisch, pädagogisch,..., sondern Haltung den Menschen gegenüber 1. Ebene: Somatik (= Körperlichkeit des Menschen 2. Ebene: Intellektualität (nicht nur Intelligenz) 3. Ebene: Emotionalität (Gemütsleben) 4. Ebene: Sozialisation (im Laufe der Entwicklung erlernt) Diese 4 Ebenen im Querschnitt (= Zustand heute) anschauen oder im Längsschnitt (= Entwicklung) Annahme / Beispiel: Schwangerschaft - Mutter und Kind = völlig normal, nach biologischen Parametern = alles in Ordnung; auch über die Emotionalität ist schon etwas zu sagen (Alter der Mutter 17 oder 43); Sozialisation: welche Bezugsstrukturen wird das Kind nach dem jeweiligen Erziehungsstil mitbekommen? D.h. Was machen die Eltern mit dem Kind?, bzw. Was macht das Kind mit dem von den Eltern Angebotenen? -1- Intellektuelle Ebene: Wie sehr beschäftigen sich Eltern mit Kind, damit Kind z.B. Muttersprache erlernt? Aber nicht nur Kulturfertigkeiten sind wichtig, auch Zärtlichkeit, Fürsorge,..., damit Kind Urvertrauen entwickeln kann (= nach Erikson wichtig für unser Auftreten). Im Gegensatz dazu = Hospitalismus. Sozialisation: Kind moralisch heranbilden -> vieles tun müssen, bzw. nicht tun dürfen; sinnvoll planen und vorausdenken können = Antizipation: Je mehr Varianten für Handlungsmöglichkeiten ich im Kopf habe, umso eher wird es zutreffen. Kind soll begründet JA/NEIN sagen können und konsequent handeln. Emotionalität = Dialog; es kommt darauf an, was wir geben. Gebe ich soviel, daß etwas zurückkommt? Moralische Urteilsbildung. Über ganz harmlose Situation und Gespräche kann man sehr viel über einen Menschen lernen -> angewandte Psychologie + Diagnostik nach diesen 4 Ebenen (Schulung der Beobachtung!) Wir brauchen Denkschemata im Umgang mit den Nächsten. Zusätzlich ist der eigene Lebensstil zu überprüfen: Warum tue ich das (z.B. warum studiere ich Psycho?) mit unterschiedlicher Aufmerksamkeit Diese 4 Ebenen sind ein erstes Instrumentarium. ad 2) Teamarbeit: mit anderen zusammenarbeiten und ihre Leistungen achten! Mediziner, Psychologen, Pädagogen, Pflegepersonal, Lehrer, Logopäden, Physiotherapeuten, (Sonder-)Kindergärtner, usw. müssen koordiniert werden. Jeder einzelne hat seine Kompetenz; tägliche Visite, vorher Fallbesprechung einzelner Patienten. Die Meinung / Arbeit des anderen nicht abwerten, sondern wertschätzen! Selbstkritisch werden, eventuell Supervision nehmen, um blinden Fleck zu entdecken. ad 3) Polypragmasie: Vielfältigkeit der Therapie (Schloß-Schlüssel-Prinzip) Beispiel: 13jähriges Mädchen vom Bruder vergewaltigt - Erstgespräch allein oder mit Team? Repertoire für Eingangsgespräch -> Fragenkatalog: wichtige Anhaltspunkte für Indikationsstellung! Wer ist der richtige Therapeut? Welche Therapien gibt es, welche erscheinen bestmöglich geeignet? 2 Richtungen -> als Minimumforderung in diesem Haus, die jeweils richtige für Patienten ist zu suchen. -2- ad 4) Netzwerkarbeit: Jugendamt, Schule,... + psychosoziale Hilfe, Jugendgerichte, Bewährungshelfer; Kommunitäten, die Wohngemeinschaften anbieten. Merke: Mit der Häufigkeit der Kontakte, steigt die Sympathie -> es redet dich leichter! 2. VORLESUNG / 15. 10. 1999 1. ERLEBNIS- und BELASTUNGSREAKTIONEN Beispiel: Mädchen Anamnese: Geburt, Krankheiten (Familie), emotional, sozial unauffällige Alltagsanamnese - kein Grund für Beschwerden. Einzelgespräch mit Tochter, Mutter hinausgeschickt -> Frage: Es muß in den letzten Tagen etwas Wildes / Dramatisches gegeben haben? Mädchen hatte schreckliches Erlebnis (jemand kommt zu Tode, sie sieht es) und Belastungssituation dieses seelischen Traumas (Verletzung, Erschütterung) in 3-4x Therapie genau besprochen. Behutsam nochmals alles gemeinsam anschauen, minutiös alles durchbesprechen. WICHTIG: Kinder haben ein Recht auf Wahrheit und schonungslose Direktheit Diese Erkenntnis stammt aus einer Fülle von Erlebnis- und Belastungsreaktionen; dramatische Botschaften daher entsprechend vermitteln! Kulturspezifische alltägliche Erfahrung -> nicht überall gleich! (je nach Lebensstil) Einem kurdischen kleinen Mädchen ist es zu verdanken, daß kleine Kinder z.B. nicht vor Gericht aussagen müssen, sondern vor Videokamera. In letzter Zeit (durch Globalisierung) viele Opfer von Katastrophen, Kriegen, etc. als Patienten -> wissenschaftliches Augenmerk auf Verarbeitungsreaktionen gelenkt. Kleiner Bub erlebt, daß Mutter und Großmutter erschlagen werden, packt Rucksack, geht, meldet Bekannten das Geschehene. -> Konzept: Gemütsleben als Tentakeln; jeweils liebe Menschen angedockt, fest verbunden. Schicksal reißt Tentakeln weg -> Wundflächen bleiben (tut weh, Trauerarbeit, Bearbeiten von Verlusterlebnissen; nur wenn Trauerarbeit geleistet wurde, kommt man zur Ruhe!) Kind: mutterseelenallein auf der Welt sein; Psychologin ist keine Ersatzmutter, ist nicht ganz lieb, sonst käme es nach einiger Zeit zur Abstoßungsreaktion; erst muß Vernarbung kommen, dann kann man darauf etwas aufbauen. Erlebnis- und Belastungsreaktionen bedürfen * der Aufdeckung * der Bearbeitung * der längerfristigen Begleitung * der fraktionierten Therapie (über Jahre / Jahrzehnte) -3- Zu bestimmten markanten Zeitpunkten: Wiederbelebung einer traumatischen Situation (z.B. Vergewaltigung): Pubertät, Partnerschaft, Mutterschaft davon betroffen. Wenn psychische Traumata wiederbelebt werden, dann braucht man Hilfe! Erlebnis- und Belastungsreaktionen sind häufig, benötigen einen bestimmten sozialen background (Einbindung der Familie = wichtig!) 2. NEUROTISCHE REAKTIONEN: Das Unbewußte = ein Denkgebäude / Seele ist als Konstrukt anzusehen. Unterbewußtsein = falsche Bezeichnung; Unbewußtsein (= besser) = nicht bewußt; man kann sich auch ein VORbewußtes vorstellen. Vor Thomas von Aquin: Leib - Seele - Geist Neurose-Theorie: Neurotische Reaktion findet im Unbewußten statt (= Reaktionen, die uns also nicht bewußt sind). In mir = Fülle einander widerstrebender Kräfte (Wollen, Triebkräfte, ordnende Instanz) WICHTIG! [ Definition für Prüfung wortwörtlich lernen!] Neurose: = einander widerstrebende Kräfte, die nicht bewußtseinsfähig sind und die maskiert Laut geben. Kräfte machen sich durch Symptome bemerkbar. Die maskierten Entäußerungen müssen übersetzt werden. ARTEN VON REAKTIONEN: * histrionische Reaktion = hysterisch * depressive - neurotische Reaktionen * phobische (neurotische); ängstliche Reaktionen * zwanghafte Reaktionen * psychosomatische Reaktionen 1. Hysterische Erkrankung: z.B. plötzliches A-phorisch-werden (= stimmlos). Junger Mann hat Mutter durch Tod verloren; Vater = krank, wird ebenfalls bald sterben. Kind = Lehrling, erfolgreich; verliert plötzlich seine Stimme. Psyche kann also auch die Funktionalität beeinflussen (z.B. Kehlkopf; Querschnittsgelähmter, der doch die Zehen bewegt). Hysterische Erkrankungen treffen also nicht nur Frauen! -4- Möglichkeit: In Hypnose den Konflikt erkennen und dem Patienten sagen -> nicht erfolgreich, weil Patient das nicht akzeptieren würde. Alle Menschen haben ambivalente Gefühle der Mutter gegenüber, einen Teil davon haben wir ausgelebt: im Bitzeln, Unfolgsamsein, Boshaftsein... 2. depressiv-neurotische Kinder: Trauer erleben wir in vielfältiger Form, wegen der banalsten Dinge bis hin zu bewegenden Ereignissen. Reaktion: Weinen, hängende Schultern, Mimik, Gestik,... ist sichtbar. Es ist aber noch nicht unterscheidbar, ob es sich um Trauer oder bereits um Depression handelt. Unterschied: * Trauer: dahinter = konkretes Ereignis * Depression: es stimmt schon länger etwas nicht, ungutes Gefühl „ohne“ Grund -> also nicht erlebnis- / ereignisgesteuert! Im Unbewußten sind Kräfte, die maskiert als Trauer erscheinen, häufig zu Suizid führen; Patient fühlt sich innerlich zerrissen, befindet sich in einer Patt-Stellung („Ich schade mir aus unbewußten Gründen, will eigentlich jemand anderen damit treffen, dieser Jemand erkennt es aber nicht!“) -> mittels aufhellender, aufdeckender Therapie ist Hilfe möglich (Couch, frei assoziieren,... -> bei Erwachsenen möglich, bei Kindern nicht!) Bei Kindern: Kind muß Material in angepaßter Form bieten (im Spiel, Gespräch, in vielfältigen Ausdrucksformen) Literaturliste (= Empfehlung, kein Muß!) * Spiel & Spiel: Kompendium der Kinder- und Jugendneuropsychiatrie; UTB-Verlag. * Sonnek (Hg.): Medizinische Grundlagen der Psychotherapie, Bd. IV, Facultas * WHO (Hg.): Internationale Klassifikation der psychischen Störungen, inklusive Kinder-und Jugendpsychiatrie; = ICD 10 * Scharfetter-Thieme: Psychopathologie [= das beste Wörterbuch für die Symptome] * Tatort Kinderseele, Überreuter [ gibt’s im Libro] * Irrgarten Pubertät - Elternängste, DVA-Verlag [ gibt’s im Libro] -5- 3. VORLESUNG / 22.10.1999 [Achtung: erste Hälfte fehlt!] Neurotische Reaktionen * hysterische Reaktion * depressive Reaktion * phobische / ängstliche Reaktion -> Phobien: z.B. Schulphobien = schwierig zu heilen -> Zwänge: z.B. Waschzwang 5. Psychosomatische Reaktionen: z.B. MAGERSUCHT -> ist eine ernsthafte Erkrankung! In 4% der Fälle führt sie zum Tod! Es gibt wenig Krankheitsbilder, wo vom Behandelnden Zwangsmaßnahmen gesetzt werden müssen (Gefahr des Mißbrauchs! Zwangseinweisung z.B. von lästig gewordener Ehefrau!). Es gibt aber Situationen, wo man kurzfristig jemandem auch gegen seinen Willen helfen muß, wenn dieser nicht über sich selbst verfügen kann (Gehirn funktioniert nicht -> das ist beobachtbar) Gefährliches Schwellengewicht (nur Richtgröße) z.B. 1,65m und 32kg; würde Betroffene weitere 50dkg abnehmen -> organisches Psychosyndrom: Gehirn = ausgetrocknet, entwässert; Mensch versteht nicht mehr Denkinhalte; Denkapparat funktioniert nicht richtig. Hilfe: mittels Infusion rasch ausreichend Flüssigkeit zu führen, sodaß keine reversiblen Schäden eintreten. Hungerstreik = 40 Tage lang möglich Durst = länger als 3 Tage nicht möglich Wenn weitere Abnahme 2kg -> Immunabwehr bricht zusammen, jede banale Infektion = tödlich! Zwangsmaßnahme: über Nasen-Magensonde mit Astonautennahrung ernähren 3 Fragen-Probe am Anfang der Diagnose: Fragen stellen -> keine Antwort -> Medikation! 1. Ißt du nicht, weil du gegen irgendetwas im Leben / in der Welt protestieren mußt / willst und keine Worte findest? (=> gleichsam in den Hungerstreik treten und Aktionssprache dafür wählen). Keine Mutter hält es aus, daß ihr Kind nichts ißt. Der Appell will übersetzt werden, das Handeln ist nicht bewußt -6- 2. Ißt du nicht, weil du depressiv bist und in Wirklichkeit nicht leben willst, verhungerst du dich, willst du nicht mehr leben? (vgl. Struwelpeter; Autor Hoffmann war Kinderarzt) Verhältnis Männer : Frauen = 1 : 35 bei Anorexie. (Buben haben meist eine zweite Störung dazu -> Komorbidität) Anorexie = Erkrankung der gescheiten Frauen -> Beobachtung: wollen Arzt hineinlegen 3. Ißt du nicht, weil du die Ausgestaltung des weiblichen Körpers verhindern möchtest und den Übergang ins Erwachsenenalter? Viele wollen im Niemandsland zwischen Kindheit und Erwachsenenalter bleiben => „Peter-Pan-Syndrom“ (= Erfindung von Friedrich; entscheidende Stelle: Mädchen sagt zu ihm: „Du kannst mich jederzeit verlassen, nur du kannst mit Sicherheit nicht mehr zurück.“ Genau das ist auch die Schnittstelle: essen - Hormonproduktion Erwachsenenalter. Unterschied zu Pubertätsmagersucht (anorexia nervosa): Bei Kacheksie [???] = extreme Abmagerung, meist noch Begründung dazu, z.B. alles, was ich sehe, ist vergiftet, daher esse ich nichts mehr. Bei Pubertätsmagersucht: Es geht um unbewußte Konflikte, die über den Körper einen Ausdruck finden. Anorexie wurde von Sueton schon um 60 n.Chr. beschrieben 4. VORLESUNG / 29.10.1999 [dürfte entfallen sein!] 5. VORLESUNG / 5.11.1999 Wiederholung: Erlebnis- und Belastungsreaktionen: teilweise neurotische Reaktionen, psychosomatische Reaktionen; 3 Fragen-Probe. Anorexia nervosa = Erkrankung der intelligenten jungen Frauen / Mädchen Behandlung in unterschiedlicher Form: -> Astronautenkost: zum Auffüttern -> Infusionen nicht mehr nötig (viel Kochsalzlösung, wenig nahrhafte Substanz -> Überschwemmung des Körpers) Wechsel in Therapie in den letzten 20 Jahren. Früher erlernte jeder Psychiater 1 - 2 Therapierichtungen. Friedrich: Individualpsychologie Alfred Adlers = 2. Technik, um toleranter zu werden (Spiel) -> Arbeitstitel für das, was in Friedrichs Kopf gärt = „additive Psychotherapie“: -7- Therapieindikationen: = Aufgabe des Diagnostizierenden, die bestmögliche Therapie für den Patienten auszuwählen. Diese Indikation ist VIELFÄLTIG ZU GESTALTEN. Beispiel: anorektisches Mädchen braucht zunächst Einzelbetreuung. Dahinter = Konflikt der Eltern -> Kind drückt durch Handlungssprache ein Symbol dafür aus, um Eltern in Angst und Schrecken zu versetzen. Keine Mammi hält es aus, wenn Kind abmagert. Meist legt der Vater noch Kritik dazu. Also: Eltern brauchen auch Hilfe! Mädchen braucht in weiterer Folge eine Gruppentherapie (unter Gleichaltrigen) und die ganze Familie braucht hie und da eine Sitzung (für Organisatorisches) Das Mädchen braucht nachher noch Hilfe (Lebensgestaltung, Führung). Außerdem ist ein Koordinator notwendig. Schwierigkeit der Komorbidität (welches der beiden Störbilder ist wichtiger, vorrangig); ebenso ist Koordination, Vernetzung wichtig -> z.B. Klinik - Jugendamt; jemand, der schaut, daß Patient in Behandlung geht, daß die „Chemie“ zwischen Patient und Therapeut stimmt. Die auf ein bestimmtes Krankheitsbild zentrierte Therapie ist bedeutungsvoller als Langzeittherapie! 2. von Friedrich angedachtes Faktum = „fraktionierte Therapie“: Beispiel: sexuell mißbrauchtes Kind Therapeut kann einen Teil des Aktualtraumas aufarbeiten, Seele ist schwer verletzt -> Wunde -> Narben. Wird bei späteren Anlässen (Pubertät, Partnerschaft, Geburt eines Kindes) aufbrechen. => zu verschiedenen Zeitpunkten wird also lebensalterspezifisch ein Stück Behandlung notwendig sein! (mit unterschiedlichen Therapeuten!) Bei Anorexia nervosa (= lebensgefährlich!) oft Zwangsmaßnahmen erforderlich. Parallel dazu wird psychotherapeutisch gearbeitet und versucht, die Wurzel der Krankheit zu finden. Für Kinder unter 14 Jahren - Eltern verantwortlich oder Pflegschaftsrichter. Patientenanwalt überzeugt sich zusätzlich. Mit 14 erreicht der Jugendliche ein hohes Maß an Eigenverantwortung (früher bis 19 auf die Eltern angewiesen!); z.B. Mädchen mit 16 möchte die Pille nehmen. Heute: Bei Jugendlichen über 14 Jahre Einverständniserklärung notwendig -> wenn lebenserhaltende Maßnahmen durch Jugendlichen abgelehnt werden, ist wieder Pflegschaftsgericht zu fragen -8- Die meisten Patienten, die suizidgefährdet sind, bzw. Freunde gefährden, sind einsichtig und wollen vor sich selbst geschützt werden. Manche sind nicht einsichtig. Patientenanwälte sind keine Mediziner -> sie vertreten alle. Ähnliches Problem in der Erwachsenenpsychiatrie bei dementen Patienten .... => 2. Urteil daher notwendig! Rundherum = genügend Kontrollen eingebaut. PARERE: = amtsärztliche Zwangseinweisung. Wenn z.B. jemand im Restaurant randaliert und andere gefährdet. Polizei wird verständigt, Amtsarzt (mobil, mit Spezialausbildung) -> er darf kurzfristig eine Zwangseinweisung ausstellen. Nachteil: Das Parere wird im Innenministerium in der Kartei weitergeführt. Randalierer bleibt registriert; wenn man Paß benötigt oder zum Bundesheer etc. kommt, Probleme! Gilt als Nerven- / Geisteskrankheit und Führerschein etc. wird verweigert, wenn es einmal kurzzeitige Unzurechnungsfähigkeit gegeben hat. Zum Beispiel: Kinderpsychiatrische Daten / Diagnosen dürfen nicht das Haus verlassen - Anfrage der Sozialversicherung, die Daten wollte. Bei Zwangsernährung - wenn wieder erbrochen wird -> Entgleisung der Elektrolyte im Körper -> Zwangsschlaf. Bei Flüssigkeitsaufnahme Schwankung 2-3kg/Tag. Abnehmen funktioniert nur, wenn man nichts ißt. Reiz bei Anorexie: erhöhte Wachheit, Endorphinausschüttung, erhöhtes Wohlbefinden Mensch möchte gesund leben (Mensch ist Schwein, nicht nur „Körndelfresser“). Was die Magersucht ausmacht = ein süchtiges, zwanghaftes Verhalten (man will sich selbst steigern, besser sein). Man entspricht dem selbstgegebenen Body-Image, das man noch weiter treiben kann. Irgendwann entsteht der „Über-Kick“. -9- Bulimie: Erst in der jüngsten Zeit beschrieben. (Patienten „helfen“ nach mit Finger / oder spontan, kann gelernt werden) = „Ochsenfreßsucht“; ¼ Butter, 1kg Staubzucker (= ca. 7000kal) und noch mehr hinuntergeschluckt - hinausgebrochen. Krankheit des Patienten äußerlich nicht erkennbar. Überfunktion der Schilddrüse läßt nicht zunehmen (erhöhte Gereiztheit, Hektik, etc.) Keine raschen Erfolge bei Therapie der Bulimie. Es ist schwierig zu enttarnen, was dahinter steckt. Frage: Was ist zum Herausspeiben? Was macht mein Leben zum Kotzen? Bei Bulimie und Anorexie: wenn sie zunehmen -> Menschen erkennen nicht den Sättigungsgrad. 6. VORLESUNG / 12.11.1999 Psychosomatik = Teil der Medizin an sich -> gehört in ALLE Fachbereiche! Da Mediziner Mensch ganzheitlich sehen muß. Wichtig = Krankheitsursache, vor allem aber auch der Verlauf, der Eintritt (akut / schleichend) z.B. akut = Schlaganfall schleichend = Folgeerscheinungen des Rauchens (= erst nach langer Zeit sichtbar wegen Plastizität des Körpers, der sich lange gegen die Toxine wehrt) bzw. Folge von Alkoholmißbrauch (von Fettleber bis zur Zirrhose) Seelisches Leid -> Auswirkungen auf den Körper; Körper kann „Organdialekt“ wählen. -> Beispiele: - 10 - 1. KOPFSCHMERZEN: Kind mit ständigem Kopfweh -> Ursachen abschätzen: * bei Kopfweh / Übelkeit / Erbrechen -> akute Erkrankung (Entzündung! z.B. Gehirnhautentzündung -> keine Zeit darf verloren werden!) * Kopfweh 1X im Monat, stechend, pochend, einseitig, Augen mitbetroffen -> Migräne * Kopfweh kurz nach dem Aufwachen, vor allem vor einer Prüfung -> Reaktionskopfweh => Organische Ursachen zuerst abchecken (leicht zu erkennen = Brummschädel nach Alkoholkonsum) Bei kindlichem Kopfweh: eine Möglichkeit = Kind zerbricht dich den Kopf über Probleme 2. Kind mit ATEMSTÖRUNGEN: -> Folge der Schadstoffbelastung -> Folge der Belastungen in der Familie (vgl. „Das nimmt mir die Luft weg.“) weitere Redewendungen: „Mir bleibt etwas im Magen liegen.“ „Mir fährt der Schreck in die Glieder.“ „Da kommt mir die Galle hoch.“ 3. MAGEN: Vor allem Magen = sehr sensibel auf Kummer; bei Aufregung Übersäuerung; Frustesser essen allerlei Magenunfreundliches. Versuch: Beschreibung einer Zitrone -> Speichelfluß; bei Beschreibung von Brot ebenfalls, ABER: andere Zusammensetzung! => Vegetativum (sind nicht willentlich gesteuerte Reaktionen) funktioniert ohne unser Zutun. * Bei Streß -> Streß-Ulkus (Schutzschicht im Magen reißt auf -> Magengeschwüre) * Bei Schreck -> massive vegetative Reaktion -> Auswirkung auf Magen und Solar plexus (Sonnengeflecht) - 11 - 4. HERZ: = sehr sensibles Organ, kann willkürlich nicht gesteuert werden. Ausnahme: autogenes Training (-> eigenes Vegetativum in den Griff bekommen!) => wichtiger Zugang zur Therapie von Erregungszuständen, um Erregung zu verhindern und Dauerschäden zu vermeiden. 5. DARM: Colitis ulcerosa (= Entzündung des Enddarms) ausgelöst durch Stuhlverstopfung bzw. durch Dauerdurchfall; tritt oft bei Kindern auf; operatives Entfernen von Darmteilen = oft notwendig, weil eingedickter Stuhl nicht mehr herausgeht. Ist angeblich auch eine Autoimmunkrankheit. Merke: Es gibt nur EINE Medizin, die sich asymptotisch dem Ideal nähert. 6. HAUT: = Sinnesorgan (Empfinden / Hitze - Kälte); ist auch Spiegel des körperlichen / seelischen Wohlbefindens; vgl. Akne (= hormonelle, genetisch bedingte Reaktion der Haut; diverse Mittel sind meist nicht hilfreich) Kind mit Ekzemen (vieles = Reaktion auf die Umwelt); z.B. Ekzem unter Uhrband (= Chromallergie! Echt-Lederuhrbänder werden mit Chrom behandelt); schwarzer Streifen unter Silberring - mal da / mal weg -> vieles = unerklärbar! Haut = sehr wichtiges Organ, daher auch sehr anfällig für psychosomatische Erkrankungen. -> Dinge, für die ich keine Worte finde -> Worte, für die ich keinen Rezipienten finde müssen anders ausgedrückt werden => Krankheit! (vor allem bei Kindern) Flucht in die Krankheit = Ausdruck von Verdrängtem (Beispiel: Kind in Scheidungstroubles -> Blutkrankheit -> keine Schuldzuweisung!) - 12 - 7. AUSSCHEIDUNGSORGANE: a) Enuresis = Einnässen b) Ensopresis = Einkoten Beides gelingt erst, wenn Kind freihändig eine Treppe abwärts gehen kann (= ca. 2.-3.Lebensjahr), weil erst dann Nerven im Sacral- / Caudalbereich ausgebildet. Im Schlaf -> Körper auf Schongang (Atmung, Herz, Kreislauf, Speichel, Tränen, Verdauung, etc. gesenkt) Mit dem Aufwachen (vgl. Streckbewegungen!) -> Körper auf Normalgang; Einsetzen der Peristaltik (vgl. Kind mit 12 Monaten auf Topf am Morgen -> gackt -> ist KEIN Anzeichen für Sauberwerden, sondern automatischer Vorgang!) Kinder heute erst mit 3 Jahren in der Nacht trocken, wegen Wohlbefinden durch Pampers, im Unterschied zu früheren nassen Stoffwindeln! 1) primäre Enuretiker: = Kinder, die nicht trocken werden -> große Probleme vor allem ab Schuleintritt! (große psychosoziale Belastung in der Familie); zu 98% fehlt ihnen Adiuretin (= Substanz aus der Nebenniere; Funktion: Umschalten vom Sympathicus zum Parasympathicus wird ausgelöst). Adiuretin teilt Niere im Schongang (= Nachzustand) mit, daß weniger zu filtern ist; vgl. 2 Häferl Tee bei Tag -> ½ Stunde später aufs Klo, NICHT aber in der Nacht! In 95% der Fälle durch Nasenspray mit Adiuretin heilbar (= Kinder, die kein oder zu wenig Adiuretin produzieren) 2) sekundäre Enuretiker: waren mindestens ½ Jahr lang bereits trocken; plötzlich wieder Bettnässer -> was wird in Organ- / Funktionssprache ausgedrückt? (Trauer, Angst, unbewußte Aggression,...) Gegenmaßnahmen: sekundäre Enuresis = Folge einer Regression (ins 1. / 2. Lebensjahr, wo man nur um seiner selbst willen geliebt wurde!) -> tiefer Regressionswunsch (z.B. wenn kleines Geschwisterchen geboren wurde) -> oder aggressive Variante (Einnässen, um andere zu ärgern) => Zuwendung wird erzwungen! Dem Unbewußten ist es EGAL, ob positiv - 13 - oder negativ!!! Abhilfe: z.B. ¼ Stunde „Abendschmusen“ (dabei nicht zum TV schielen, Tag abrechnen, Schimpfen, etc.); Kind führt Buch darüber. Belohnung für NichtEinnässen: z.B. wer gern zeichnet, darf Bild zeichnen, bekommt Pickerl in Kasterl, etc. -> 5 Pickerl hintereinander -> KLEINES Geschenk => wichtig = Loberziehung, nicht Belohnungserziehung! Medikamentöse Unterstützung vor allem Am Anfang (aber eher PlaceboEffekt) Ganz wichtig: -> Bedürfnisse des einzelnen erkennen! -> kindgerechtes Verhalten des Therapeuten! (auch wenn die Eltern das dumm finden!!!!) 7. VORLESUNG / 19.11.1999 TIC - ERKRANKUNGEN = unwillkürliche Muskelzuckungen in verschiedenen Körperregionen Gille de la Tourette’sche Erkrankung: Zuckungen auf dem ganzen Körper generalisiert, mit verschiedenen Lauten verbunden; geringe Heilungschancen. Tiefenpsychologischer Deutungsversuch von Tics als Symbolik Trainieren von Tics durch willkürliches Üben Tics sind er- und verlernbar. Lautäußerungen haben meist unanständigen Inhalt (oft nur ansatzweise ausgesprochen) Gille de la Tourette’sche Erkrankung geht leicht in psychiatrische Erkrankungen über. Beginnt plötzlich mit isoliertem Tic und generalisiert sich innerhalb weniger Tage. - 14 - PERSÖNLICHKEITSENTWICKLUNGSSTÖRUNGEN = Erkrankungen des psychischen Apparats, die durch eine permanent deviierende Erziehungshaltung entsteht (durchgehend verbiegender Erziehungsstil) Begriff geprägt von Walter Spiel; kein therapeutischer Nihilismus damit verbunden. René Spitz: Untersuchungen in Armen- und Kinderheimen, Waisenhäusern, Großheimen für Säuglinge. Extreme Not in den 30er Jahren: Kinder konnten nur gefüttert und gewaschen werden, erhielten aber keine Zuwendung -> Kinder verkümmerten, starben; Hospitalismus. a) Frühverwahrlosung: Ursache: keine emotionale Bindung, Liebe, Anerkennung, etc. in der Kindheit -> kein Urvertrauen (um seiner selbst willen geliebt werden) Man greift normalerweise ein Leben lang auf diesen Zustand des Urvertrauens zurück (Selbstbewußtsein...) Verwahrloste sehnen sich danach und gehen sehr schnell Bindungen ein. b) Spätverwahrlosung: In der Erziehung konnte keine moralische Urteilsfähigkeit vermittelt werden. Wien: 20-25 Kinder leben im Untergrund. Verwahrloste müssen so leben, daß eine Bindung entsteht, ohne daß vom Verwahrlosten etwas gefordert wird. 8. VORLESUNG / 26.11.1999 Was kann man tun, damit das Kind einsichtig, voraussichtig wird, sich moralisch entwickelt, sensorisch entwickelt, um in sich zu hören. - 15 - Mängelkatalog: Wie sieht das Bild von Verwahrlosung aus? 1. Mangelnde Arbeitsbindung (an die Arbeit keine entsprechende Bindung haben): Ein Parameter zur Überprüfung der Arbeitsbindung -> Krankenstandstage. 2. Arbeitshaltung ist mangelhaft („Verbummeln“ von Aufgaben) 3. mangelnde Kontaktbildung: wahre Bindungsfähigkeit ist nicht gegeben, da früher Scheinbindungen vorkommen, die Vertrauensbrüche verursacht haben. (Je früher Kinder adoptiert werden, desto besser ist es für sie!) BEISPIEL: Kind war frech, stiehlt und lügt; Mutter zu Friedrich, dieser fragt Mutter, ob das Kind adoptiert ist -> Ja, aber Kind weiß es nicht => Beziehung basiert auf einer Lüge. Friedrich: man soll es dem Kind z.B. „mittels Geburtstagsfeier“ sagen und dazu „du bist trotzdem unser Kind“ -> guter Ausgang! 4. sehr depressive Grundstimmung: ziehen immer schlechte Bilanzen „das kann nicht gut gehen!“ 5. geringe Entmutigungstoleranz: entsteht daraus, wie oft das Kind vor der Umgebung entmutigt wurde. 6. mangelnde Reglementierungstoleranz: „Mir lasse ich nichts sagen“ 7. massive, optionelle Verhaltensverweigerung: maskiert oder offen - durch die Erziehung beigebracht; ob wir dienen, zusammenarbeiten und dergl. Was wird gefordert, zeigt sich spätestens in der Schule8. fehlende Bindungsfähigkeit: Anpassung, Bindung wird durch Erziehung erlernt oder Hilfsbereitschaft 9. mangelnde Interessensbindung: Das Interesse ist da, aber die Durchführung funktioniert nicht. Weil Übungsbereitschaft voraus ginge, der Wille etwas zu investieren: wechseln oft die Schule, den Arbeitsplatz, weil sie überall anecken, z.B. Verbote, Aggressivität. 10. Aggressivität gegen Personen, Objekte und sich selbst: Zorn, Wut, Ärger gegen Diverses. Cascade personelle -> Objekt <- Aggression, weil Eltern zu stark sind; Aggression gegen Lehrer, sind zu stark; Aggression gegen Geschwister, Tiere, Objekte. - 16 - 9. VORLESUNG / 3.12.1999 Umgang mit der Verwahrlosung Verwahrlosung -> diagnostiziert nach MAS (= multiaxionales System; 5 Achsen, siehe ICD10) 1. Achse: klinisch psychiatrisches Syndrom: Verwahrlosung = Persönlichkeitsentwicklungsstörung [entstanden durch Beeinträchtigung verschiedener Entwicklungsstrukturen in Frühkindheit] * stabil (aber nur relativ, d.h. kann auch wieder verändert werden) * Gewordenheit (d.h. ist im Laufe der Entwicklung SO geworden) Vulnerabilitätskonzept: Ob aus Beeinträchtigung in bestimmter Entwicklungsphase Störung (leicht - schwer) entsteht, hängt ab von der weiteren Biographie des Menschen, bzw. von den protektiven / schädigenden Faktoren. (D.h. EIN Erlebnis allein macht keine Störung, sondern setzt nur eine „Wunde“) => verschiedene Typen von Persönlichkeitsstörungen. 5. Achse: Abnormitäten im psychosozialen Feld eines Kindes (z.B. Familie, Schule, Peers, plötzliche traumatische Ereignisse [z.B. auch kulturelle Verpflanzung]) AICHHORN: „Verwahrloste Jugend“ (Ziel = Hilfsangebote für Jugendliche; Gründung eines Therapieheims in Oberhollabrunn) -> beschreibt Gründe der Verwahrlosung (= dynamischer Entstehungsprozeß) Folge: Betreuung und Therapie auch für Verwahrlosung (in den 70er Jahren etwas ganz Neues!). Vorher: Jugendstrafanstalt in Kaiserebersdorf auch für Verwahrloste zuständig (vgl. Justizreform unter Justizminister Christian Broda) => Prinzip dahinter: Was geworden ist, kann auch wieder verändert werden (aber langwieriger Prozeß), weil: Einsicht als Grundlage dafür = nur sehr schwer gegeben, daher kein In-die-Therapie-Gehen-Wollen 80er Jahre: Therapie-Heim (für Burschen und Mädchen; kein hierarchisches System; 15-20 Plätze) * relative Offenheit im Betreuungsansatz * offenes Heim mitten in der Stadt * Herstellung von Bindung und Beziehung als wirksamstes Element der Therapie (vgl. Klass. Pädagogik -> oberstes Ziel = Ordnung) - 17 - Voraussetzungen: -> Kontinuität -> Reflexion des Prozesses (Beziehung muß aufrecht erhalten werden auch unter größter Belastung) Zentrale Rolle in diesem Betreuungsprozeß spielen: * Beziehung zwischen Klient und Therapeut * Teamarbeit der Betreuer (wegen Spaltung zwischen Betreuern und zu einzelnen Betreuern im Laufe der Zeit; d.h. Verwahrloster sieht einen Betreuer als nur gut, den anderen als nur schlecht -> Lösung: genügend Zeit, Kooperation zwischen den Betreuern, Wissen um diese Situation, Supervision) Sozialtherapeutische Wohnplätze: (jetzt in Umsetzung befindlich) kontinuierlicher Beziehungsaufbau + therapeutisches Wissen + Reflexion * integrative Strukturen (Es sind nicht 20 Verwahrloste in einem Heim, sondern Aufteilung der Verwahrlosten auf andere Gruppen -> Kleinwohneinheiten, z.B. 6 Plätze + 2 sozialtherapeutische Plätze) * Betreuungsaufwand ist nicht immer gleich groß -> bei Bedarf Zuschaltung von Betreuung (begleitende Therapeuten; therapeutisches Angebot auf spezielle Situation DIESER Wohneinheit zugeschnitten) 10. VORLESUNG / 10.12.1999 Errichtung einer IMMIGRANTEN-AMBULANZ AKH bekam Preis dafür; gibt es seit 2 Jahren; = transkulturelle Ambulanz, derzeit noch Projekt, soll aber institutionalisiert werden. Betreut vor allem Familien aus der Türkei und aus Ex-Jugoslawien. Grund: * für beide gibt es eine muttersprachliche Behandlung (da entsprechende Ärzte am AKH) * beide = höchste Immigrantenzahlen in Wien Psychologische und ärztliche Beratung, Betreuung und Therapie. Haben dieselben Störungen wie die Österreicher, dennoch Spezialbedürfnisse. - 18 - Meiste Probleme: 1. Schulschwierigkeiten (Überweisung durch die Schulen) 2. Entwicklungsrückstände 3. Verhaltensauffälligkeiten 4. andere Störungen (Depressionen, Schizophrenie, usw.) Hintergründe: Meiste Immigranten aus der Unterschicht, aus dörflichen Verhältnissen; niedriges Ausbildungsniveau. Ziel = Verbesserung der wirtschaftlichen Situation (Finanzprobleme) Meist kommt zuerst der Vater, die übrige Familie folgt erst später; gelegentlich kommt zuerst die Mutter; manchmal kommt gleich die ganze Familie. Wichtig ist, wer zuerst kommt -> davon hängen die Probleme ab (Trennungserlebnis!) a) Familie, wo Vater zuerst kommt: = häufigste Fälle, traditionelle Familie (typische Rollenverteilung, bleibt hier genauso wie zu Hause) b) Familie, wo Mutter zuerst kommt: belastender Rollenwechsel (wurde vor Immigration nicht bedacht!) -> andere Belastungsfaktoren, andere Familiendynamik. Viele dieser Familien brechen später auseinander. c) Familie, die gemeinsam immigriert: geringste Probleme, da wenigste Belastung. Für Kinder: Erleben oft Trennung; Eltern müssen arbeiten, schicken Kinder zurück zu Großeltern in die Heimat -> Entfremdung -> bei Rückkehr Belastung -> Störung (Was sie bekommen, hängt ab von: * Alter der Kinder * Dauer der Trennung * Wechsel der Bezugspersonen -> wenige Bezugspersonen: je weniger - desto stabiler; Kind hat mehr Lösungsstrategien für diverse Probleme entwickelt -> viele Bezugspersonen: labiler, störungsanfälliger - 19 - Bei Rückkehr: Kind hat Probleme mit Integration in Familie und in Gesellschaft (Sprache, Kultur, Forderungen der Gesellschaft sind nicht bekannt -> Überforderung -> Verhaltensstörung, soziale Auffälligkeit, psychosomatische Störungen, Bettnässen, Einkoten, verstärkte pubertäre Konflikte, Depressionen, usw. => Wenn Eltern = Wirtschaftsflüchtlinge -> Ziel = Rückkehr nach Hause, wenn genug Geld vorhanden ist -> wollen sich der alten Heimat nicht entfremden -> Folge: integrieren sich in Österreich absichtlich nicht. => Migration ist nicht nur ein Ortswechsel, sondern auch ein Wechsel in der Zeit -> Betroffene entwickeln sich quasi rückwärts (= erzkonservativ im Vergleich zu den Daheimgebliebenen), Folge: Entfremdung sowohl zu Aufnahme- als auch zu Herkunftsgesellschaft. Eltern verlangen von ihren Kindern ebenfalls diese Rückwärtsentwicklung = Problem für Eltern, aber auch für Kinder (Schule; außerhalb der Familie ist völlig andere Gesellschaft -> vormittags Schule / nachmittags Familie -> ständiges Pendeln zwischen ganz unterschiedlichen Erwartungen und Wertsystemen. Infolge des Trennungserlebnisses vorher keine Lösungsstrategien entwickelt -> Kinder enden oft in Psychiatrie. Belastungen für Immigrantenkinder: * meist kein Kindergartenplatz -> Sprachprobleme * Schule = völlig neue, ungewohnte Umgebung (Trennungsangst, Schulphobie) * Eltern haben Sprachprobleme -> keine Unterstützung der Kinder bei Hausübungen, keine Nachhilfe, etc. * Elterliche Sprachprobleme -> Kinder müssen diverse Aufgaben der Eltern übernehmen, weil SIE besser deutsch können (Amtswege, Bank, Arzt, usw.) -> Belastung, weil Rollenwechsel zwischen Kindern und Eltern. Kinder kennen sich mit ihren Grenzen nicht mehr aus (traditionell: Kind kuscht, Erwachsener organisiert); * Kind hat in Österreich mehr Freiheit -> Eltern klagen es an, das traditionelle Rollenbild zu verletzen; haben Angst, Kind zu verlieren, weil es sich anders entwickelt als erwartet. - 20 - * Dadurch, daß Eltern im Ausland -> keine Hilfe wie zu Hause -> diverse Probleme. Leben im Ghetto; wissen nicht, wo und wann sie sich Hilfe holen können / müssen (z.B. bei Sprachentwicklungsverzögerung) Wieso leben Ausländer im Ghetto? -> versuchen traditionell zu bleiben (Schutzfunktion) -> glauben, daß sie sich so am wenigsten von Heimat entfremden Folge: Kein Anschluß an österreichische Gesellschaft mit allen Nachteilen Daß Integration der Familie erhalten bleibt = wichtig, weil Ziel der Immigration ja war, wirtschaftliche Situation der Familie zu verbessern. In solchen Familien große Angst, wenn Intervention von außen (z.B. Schule: Kind muß wegen Verhaltensstörung in Klinik -> Mißinterpretation der Eltern: Schule ist nicht fähig, mit Kind umzugehen, Schule = ausländerfeindlich ) -> bei Kind Prozeß ähnlich wie bei self-fulfilling-prophecy: entwickelt daraus alle möglichen Störungen. Grund: Kommunikationsprobleme (z.B. zwischen Schule und Eltern -> ist aber bei Ösis ganz genau so!). Familie bekommt Angst -> Angst ist Grund, daß Familie nach außen nicht offen sein kann, dadurch verstärken sich die Kommunikationsprobleme -> circulus viciosus! Vorbeugung: ausreichend Info (auch Befragen der Familie, welche Theorien sie über Auffälligkeiten des Kindes hat. Bedenke: unterschiedliche Vorstellungen der einzelnen Kulturen über Kindererziehung!!!) Aufgrund diverser Probleme beobachtet Familie Kind immer mehr -> Kind fühlt sich verfolgt; glaubt, alles was es macht, ist eh falsch -> braucht sich nicht mehr zu bemühen... Wichtig: * Man darf von Immigranten nicht Integration fordern, sondern man muß mit jeder Familie einzeln arbeiten (weil jede Familie eigene Dynamik hat!) * Ausländer haben in erster Linie Angst (z.B. vor Schule, vor Spital, usw.) -> positive Erfahrungen hier erhöhen die Bereitschaft, sich anzupassen. * Anpassung ist aber eigentlich ungesund -> Aufgabe der eigenen Identität, etwas Erzwungenes. * Ideal wäre muttersprachliche Betreuung für Ausländer überall (bei Landsmann - 21 - ist man eher kooperativ; gehen regelmäßiger in Therapie) Warum lernen Ausländer nicht die Sprache? Diverse Gründe, z.B. vielfach schlecht bezahlt, lange Arbeitszeit, miese Jobs, keine Zeit; sind meist Unterschichtangehörige -> keine Motivation, wenig intellektuelle Kapazität. Aufnahmegesellschaft erwartet keine kognitiven Höchstleistungen von Putzfrauen. Diplomatenfamilie wiederum: Kind in internationaler Schule, bleiben untereinander -> brauchen Sprache nicht, weil sie ja meist bald wieder heimgehen. 11. VORLESUNG / 17.12.1999 Folge von Verwahrlosung = oft Alkoholismus, Drogensucht, etc. -> beeinträchtigt Wahrnehmung, damit Realität anders scheint, als sie ist; Substanz dient oft als Rettungsanker in Extremsituation. Persönlichkeitsentwicklungsstörung führt NICHT notwendigerweise in die Sucht. * Erlebnis- und Belastungsstörung / Persönlichkeitsstörung = psychodynamische Störungen (Erziehung / Umwelt) * Neurose = entstanden durch Kräfte im Inneren, die sich maskiert äußern Im Unterschied dazu: PSYCHOSEN => starke gehirnorganische Beteiligungen (Stoffwechselstörung) Dazu gehören: a) Schizophrenien b) Wahnkrankheiten c) schwerste Gemütskrankheiten Psychose -> kein direkter / klarer Zusammenhang mit Entwicklungs- und Umweltfaktoren. Kindliche Psychosen bis in die 50er Jahre nicht erforscht, weil für nicht existent gehalten. - 22 - BASAGLIA (Psychiater aus Görtz / Triest): = Verfechter der freien Psychiatrie / Öffnung der Psychiatrie => Schizophrene / Wahnpatienten etc. brauchen Kurzzeittherapie, keine Verwahrung! Folge: * Sind psychisch Kranke gefährlich? = falsch; Verbrechen von Geisteskranken entsprechen Verbrechen der Normalpopulation * Rückfallsquote in Akutphase sinkt (üblich = phasischer Verlauf, manchmal in Schüben) * Familienmodelle wurden entwickelt -> Geisteskranke hierin integriert. Am Steinhof vorher ca. 2400 Betten -> infolge Öffnung heute ca. 600; Behinderte wurden ebenfalls ausgegliedert [psychiatrisch erkrankte Behinderte sind bei uns am Rosenhügel/Baumgartner Höhe] * Kinderpsychiatrie: -> was soll ambulant / stationär behandelt werden? -> wie lange soll jemand hospitalisiert werden? In Wien Kinderpsychiatrie ab 50er Jahre halboffen (tägliche Besuchszeiten für die Eltern); Ende der 70er Jahre total geöffnet (manche Patienten MÜSSEN eingesperrt werden > wegen Verwirrung, zum Selbstschutz) Symptome werden von Erwachsenensymptomatik umgelegt, müssen aber in Bezug zur Entwicklungsstufe gesehen werden. Immer Wesenseigentümlichkeit der bestimmten Entwicklungsstufe beachten -> Frage: Was kommt dazu? (z.B. Pubertierender) Merke: Krankheitsbild in Eingangsphase einer Psychose schaut genauso aus wie Krankheitsbild in Ausschleichphase. Daher: Am Anfang die Leitsymptome genau herausdiagnostizieren, damit ich später weiß, was zu tun ist. - 23 - SCHIZOPHRENIEN Primärsymptome: a) Denkstörungen b) Affektstörungen c) Ich-Störungen ad a) Denkstörungen: 1. formale Sichtweise: Denkziel wird nicht erreicht; Denken soll logisch stringent sein, für andere nachvollziehbar. Ist für Außenstehenden nur nachvollziehbar, indem man mit Betroffenen in Kommunikation eintritt. Gedankenblockade, Gedankenentzug Sprache: Neologismen; Anakoluthe [= Satzbrüche], Sprache ähnelt einer Kunstsprache; Faseln (ABER: Syntax = „scheinbar“ aufrecht!) 2. dynamische Sichtweise: Denkbeschleunigung, Gedankensprünge, Verlangsamung des Denkens (zeigt sich in Sprache UND Motorik). In der Norm gibt es auch dynamische Denkstörung (z.B. unter Drogen, etc) -> ABER in Krankheit: Betroffener kann seinen Zustand erkennen, aber nichts dagegen tun (z.B. Denkverlangsamung -> Betroffener muß ständig seine Gedanken überprüfen, um zu schauen, ob sie noch stringent sind) ad b) Affektstörung: Unstimmigkeit der Affekte (= Affektinkontinenz). Betroffener kann über seine Affekte auch nicht reden. Er kann seine Affekte nicht steuern -> Affektausbruch, völlig inadäquat zur Situation. - 24 - ad c) Ich-Störung: * Depersonalisation (mein Körper gehört mir nicht) * Derealisation: Kommt in Entwicklung von Kindern und bei Teilleistungsstörung immer wieder vor. Normal: Hauptrealität (Vorlesung) und Nebenrealität (Freude auf Abend) = frei verfügbar In Psychose: nicht mehr möglich; beide werden von irgendeiner Macht gesteuert, können nicht mehr zugeordnet werden -> Bezug zu Haupt- und Nebenrealität geht verloren, es kann nicht darüber gesprochen werden. Affektsteuerung = fertig in der Volksschulzeit; in Pubertät geht alles verloren Ichstruktur = entwickelt, wenn Kind von sich selbst nicht mehr in der 3.Person redet; wenn ihm BESITZ bewußt geworden ist. - 25 -