I J ÜBER ROMANTIK UND DAS ROMANTISCHE Friedrich Schiller D ie Wurzeln der Romantik liegen, folgt man dem Wortsinn, in der Literatur. Denn in dem Begriff „romantisch“ steckt das Wort „Roman“, aus dem Französischen importiert. Romantisch ist also, wörtlich verstanden, „romanhaft“, der freien Einbildungskraft entsprungen. Dass die Romantik zu einer geistigen Aufbruchsbewegung wurde, verdankt sie jedoch nicht der Fantasie, sondern der ganz konkreten Weltgeschichte: nämlich der französischen Revolution. 1789 wurde nicht nur links des Rheins zum Schicksalsjahr, sondern auch hierzulande. Die Frühromantiker, also die Gebrüder Schlegel, Hölderlin, Novalis, Tieck, alle um das Jahr 1770 herum geboren, waren zur Zeit der Revolutionswirren in Frankreich begeisterungsfähige junge Heißsporne, die von Veränderung träumten und sich gerne von den revolutionären Ideen anstecken ließen. Weniger, um eine politische Revolution anzufachen – die Verhältnisse in Deutschland (das es ja als einig‘ Vaterland noch gar nicht gab) waren nicht danach. Aber das Neue lag greifbar in der Luft und jeder Tag brachte politische Überraschungen. Warum sollten dann nicht auch Literatur und Philosophie neue geistige Horizonte erschließen? Schiller bereitete dafür den Boden. Auch er war zunächst ein Anhänger der Revolution gewesen, war aber von ihrem weiteren Verlauf, von der ungehemmten Aggression und der entfesselten Mordlust, die sie freisetzte, abgestoßen. Die Menschen müssten, so Schiller, zuerst einmal freiheitsfähig werden. Der Mensch dürfe nicht von seinen Begierden und Trieben abhängig sein, von der eigenen Natur beherrscht wie ein wildes Tier. In seiner Abhandlung in Briefform „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ entwickelt Schiller den Gedanken, dass der Umgang mit den schönen Künsten nicht nur das Empfinden des Menschen verfeinere. Nein, der Weg von der Natur, d.h. der ungezügelten Triebhaftigkeit, zur Kultur führe über das Spiel, soll heißen, über das Spiel der schönen Literatur und Kunst. „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Es kommt darauf an, Spiel-Raum zu gewinnen. Auch in der Ernsthaftigkeit der alltäglichen Geschäfte, der Probleme, die gelöst werden müssen, der Beziehungen, die man knüpft. Im Spiel, das heißt, in 1 Z kunstsinnigen Verfeinerungen, in Ritualen, in Symbolisierungen und Tabuisierungen, lernt der Mensch, seine Affekte zu beherrschen. Und erst dadurch wird er wirklich freiheitsfähig. Schiller warnte auch vor den Deformationen durch die Arbeitsteilung in der bürgerlichen Welt. Der Mensch sei zu einem „Bruchstück“ geworden, der „ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohr“ habe und nicht in der Lage sei, die „Harmonie seines Wesens“ zu verwirklichen. Diese ganzheitliche Harmonie erlange der Mensch in der Kunst. Nur hier könne er mit all seinen Kräften spielen: mit Verstand, Gefühl, Einbildungskraft. Die Kunst müsse deshalb auch befreit werden von reinen Nützlichkeitserwägungen. Nach Schiller trägt die Kunst ihren Zweck in sich, und wird dadurch, quasi als Nebeneffekt, auch nützlich für die Gesellschaft. Denn sie erlaubt dem Einzelnen, zu etwas Ganzem zu werden, zu einer Totalität im Kleinen, wenn auch nur im begrenzten Bereich des kunstsinnigen Spiels. Schillers Erwägungen bedeuteten eine beispiellose Rangerhöhung von Kunst und Literatur. Das Spiel der Kunst ist eben nicht nur Dekor, nicht nur Freizeitvergnügen, nicht nur bürgerliches Statussymbol. Es ist essentiell für die Zähmung der ungezügelten Naturkräfte, die im Menschen schlummern, nur dadurch wird der Mensch zum Menschen. Bei den jungen Romantikern, die Schiller in Jena an der Universität hörten und seine Schriften lasen, fielen diese Ideen auf fruchtbaren Boden. Die geistige Revolution der Romantiker ging einher mit der Entdeckung und Hochschätzung der eigenen schöpferischen Kräfte. Die ganze Welt konnte zur Kunst werden. Das Leben sollte mit Poesie durchdrungen, die in der Wirklichkeit verborgenen Möglichkeiten mit spielerischer und zugleich erkundender Phantasie sichtbar gemacht werden. Phantasie war keine schöne Nebensache mehr, sondern das Zentrum des Weltverständnisses. Unbehagen verursachte im Gegensatz dazu die simple Normalität, das gewöhnliche Leben, und allen gemeinsam war die Angst vor der Langeweile, der horror vacui. (In diesem Sinne sind viele heutige, postmoderne Befindlichkeiten sehr „romantisch“ eingefärbt.) Novalis drückte es so aus: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein 2 Y J Ludwig Tieck Friedrich Hölderlin geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“ „Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke“ hat Goethe postuliert, der, selbst eine Ikone der Klassik, die romantische Epoche miterlebt, die Frühromantiker zum Teil überlebt hat. Goethe hielt Abstand zu dieser Strömung, dennoch hat auch er die romantische Geisteshaltung mitgeprägt, allein dadurch, dass sich gleich mehrere Generationen an ihm reiben konnten. Das Romantische sei „täuschend wie die Bilder einer Zauberlaterne“, formulierte Goethe in kritischer Absicht, aber genau das war es ja, was die Romantiker anstrebten. Das Geheimnisvolle hatte nun Konjunktur. Das Denken und die Imagination wurden auf das Ungeheure eingestimmt, das in jedem Menschen schlummert und ihn umgibt. Das Licht der Aufklärung verlor an Glanz, der Fortschrittsglaube wankte. Man hörte auf das Raunen der Vergangenheit und achtete nicht mehr so sehr auf die Verheißungen der Zukunft. Es erwachte ein mächtiges Heimweh nach dem Fernen, Dunklen, Verborgenen. Die Suche nach der althergebrachten Volkspoesie, schon früher von Herder angestoßen, hatte hier ihre Wurzeln, auch die Verherrlichung des Mittelalters. Träume sollten wahr werden, fruchtbar werden im täglich gelebten Leben. Die blaue Blume, von der Novalis‘ Romanheld Heinrich von Ofterdingen träumt, und die zu suchen und zu finden er sich im Traum aufmacht, wurde zum Sinnbild ein ganzen Epoche. I m Sommer 1793 entdeckten Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder in Franken tatsächlich das gelobte Land der deutschen Romantik. Sie studierten in Erlangen und wanderten von dort aus nach Bamberg, Pommersfelden, Bayreuth und Nürnberg. Die zahlreichen Türme, die hohen Giebel, die engen Gassen und das lebhafte Treiben auf den Plätzen, all das erschien ihnen wie die Wirklichkeit ihres Traums. Und man darf vermuten, dass sie auch von den mittelalterlichen Städten an der heute so genannten „Romantischen Straße“ verzaubert gewesen wären. 3 Z Novalis Bei diesen Wanderungen besuchten die Freunde auch Bergwerke, und dies hinterließ ebenfalls unauslöschliche Eindrücke. Das Unübersichtliche, das Dunkle, die Nacht übten ohnehin eine magische Anziehungskraft aus, hier begann die UnterTage-Romantik. Bezeichnenderweise findet Novalis‘ oben erwähnter Romanheld das Sehnsuchtsobjekt „blaue Blume“ ebenfalls in einer Berghöhle. Und Tieck belebte mit seiner Tannhäuser-Erzählung einen wirkmächtigen romantischen Mythos. Gleichzeitig wurde die typische deutsche Landschaft („O Täler weit, o Höhen, o schöner grüner Wald“) als Idylle erlebt und in den Romanen und Erzählungen später entsprechend in Szene gesetzt. (Übrigens auch in der Malerei: Im 19. Jahrhundert entdeckten die Künstler die Landschaft als Motiv neu! Man beachte die Studioausstellung im Neuen Stadtmuseum „Romantische Landschaften“ von Johann Georg von Dillis und Zeitgenossen.) Schlösser und Burgen, Flussauen und Wälder, bevölkert von Rittern und Gräfinnen, aber auch von Einsiedlern und Mönchen, prägten nicht nur die bildnerische Kunst, sondern auch die Literatur. Und unablässig ertönte irgendwo das Posthorn, das Waldhorn oder die Hirtenflöte. „Es schienen so golden die Sterne, / am Fenster ich einsam stand / und hörte aus weiter Ferne / ein Posthorn im stillen Land“ dichtete Eichendorff noch Jahrzehnte später. (Bruckner erfand die Musik dazu. Seine 4. Symphonie hat ihren Beinamen „Romantische“ auch wegen der intensiven Verwendung des Hörnerklangs!) Das Lesepublikum wurde von dieser romantischen Beseeltheit angesteckt und verlangte gierig nach neuem Roman-Stoff. Man las nicht mehr, wie früher, ein Buch viele Male, nämlich Bücher mit Autorität wie die Bibel, Erbauungsschriften, oder Kalender mit lebensklugen Sprüchen. Dagegen las man jetzt viele Bücher nur noch einmal. Nein, man las nicht, man verschlang. Das Viellesen wurde um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert besorgniserregend, zumindest in den Augen von Pädagogen und Kulturpessimisten. Welchen heimlichen Exzessen überantworteten sich lesende Frauenzimmer? Welche Abenteuer erlebten schmökernde Gymnasiasten? Das war schwer zu kontrollieren. Etwa 25 Prozent der Bevölkerung gehörten um 1800 zum potentiellen Lesepublikum, Tendenz steil ansteigend, 4 Y J Heinrich Heine Joseph v. Eichendorff E.T.A. Hoffmann ebenso wie die der literarischen Produktion. Die Schriftsteller kamen mit dem Schreiben kaum hinterher. Tieck selbst wurde ein erfolgreicher Vielschreiber. Als Kehrseite wurde beklagt, dass Literatur zur Massenware verkam. Der romantische Geist blieb lebendig, auch als die Epoche der literarischen Romantik und ihr wirkmächtiger philosophischer und religionstheoretischer Hintergrund ihren Höhepunkt um die 20er Jahre des 19. Jahrhunderts schon überschritten hatten. Das Zauberische, das Mittelalterliche, das Nächtige und auch ein diffuses Fernweh, romantische Sehnsucht und Wehmut hatten weiterhin Konjunktur. Schriftsteller wie Achim von Arnim und Joseph von Eichendorff blieben produktiv. Heinrich Heine griff jetzt erst zu seiner mitunter spitzen Feder, hin- und hergerissen zwischen politischer Leidenschaft und romantischer Hingabe. B ei den anderen Künsten kamen die romantischen Impulse nun erst zur vollen Wirkung – in der Musik zum Beispiel. 1797, im gemeinsamen Geburtsjahr von Heinrich Heine und Franz Schubert, reichen sich literarische und musikalische Romantik gewissermaßen die Hand. All die anderen, die man zu den großen romantischen Komponisten zählt, sind Kinder des 19. Jahrhunderts: Mendelssohn (*1809), Chopin und Schumann (*1810), Liszt (*1811), Wagner und Verdi (*1813), Bruckner (*1824) und Brahms (*1833). Und Komponisten wie Puccini (*1858), Mahler (*1860), R. Strauss (*1864), Pfitzner (*1869), sogar Schönberg (*1874) mit seinen frühen Werken zählt man zur sogenannten Spätromantik, obwohl ihr Leben und Wirken bis ins 20. Jahrhundert hineinragte. In der Person E.T.A. Hoffmanns (*1776) verbinden sich literarische und musikalische Romantik als erstes, denn er, ein vielseitig begabtes Multitalent, war gleichermaßen als Dichter, Komponist, Kapellmeister und als Zeichner produktiv. Er war es auch, der den Begriff der „Romantik“ für die Musik fruchtbar machte. „Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf; eine Welt, die nichts gemein hat mit der äußern Sinnenwelt.“ Schon für die frühromantischen Dichter und Denker hatte die Musik einen hohen Stellenwert. Tieck beschwor den Gedanken 5 Z Robert Schumann Clara Schumann von der engen Verflechtung aller Künste und dem Vorrang der Musik. Nach Novalis vollendet die Musik das, worin die bildenden und die redenden Künste an ihre Grenze stoßen, nach Jean Paul leiht die Musik dem „Unaussprechlichen“ ihre Sprache. Durch ihre Stofflosigkeit war im Bewusstsein der Romantiker die Musik allen anderen Künsten überlegen. Ihr wurde zugetraut, wie keine andere Äußerung des Menschengeistes die Seele dem Unendlichen entgegenzuführen. Als die Frühromantiker diese welt- und seinsumspannende Macht der Musik beschworen, waren die oben aufgezählten Komponisten aber noch gar nicht am Werke. Noch herrschte die große Zeit der sogenannten „Wiener Klassik“, Haydn, Mozart und Beethoven waren die ton-angebenden Musikschöpfer. Aber, wenn man will, kann man romantische Züge auch schon beim späten Mozart erkennen, in Beethovens Spätwerk sowieso. Beethoven war als Komponistenpersönlichkeit gewissermaßen ein Bindeglied zwischen musikalischer Klassik und Romantik, befeuerte er doch durch den jeweils persönlichen Ausdruck seiner Werke die ganze frühromantische Generation. Für E.T.A. Hoffmann war Beethoven „ein rein romantischer (eben deshalb ein wahrhaft musikalischer) Komponist. (…) Beethovens Musik erweckt eben jene unendliche Sehnsucht, welche das Wesen der Romantik ist.“ In der Tat fanden sich musikalische Satzbezeichnungen wie „empfindungsvoll“, „leidenschaftlich“, „erregt“, die später für die Romantik so typisch wurden, schon häufig im ausgehenden 18. Jahrhundert. Worin besteht nun also eigentlich „das Romantische“ in der Musik, wenn man doch, wie oben an den Lebensdaten bedeutender Tonsetzer gesehen, einfach gleich das ganze 19. Jahrhundert der musikalischen Romantik zurechnen könnte? Romantik ist, noch mehr in der Musik als in der Literatur, kein definierbarer Stil, sondern eine geistige Haltung. Maßstab ist allein der freie künstlerische Wille des Individuums, was die Unterordnung der Form unter den Inhalt zur Folge hat. Das heißt nicht, dass die Form in der musikalischen Romantik keine Rolle mehr spielen würde. Im Gegenteil, der klassische Elementenund Formenkanon ist in seinen Grundlagen beständig der Gleiche geblieben. Die wirklich einschneidende Zäsur liegt in der 6 Y J I Felix Mendelssohn Johannes Brahms Musikgeschichte nicht zwischen Klassik und Romantik, sondern zwischen dem klassisch-romantischen Zeitalter als Ganzem und dem (Spät-)Barock einerseits und der Entwicklung der zwölftönigen oder seriellen Musik andererseits. Innerhalb der klassisch-romantischen Epoche bleibt dieser Kanon die verbindliche Norm, auf die alle Komponisten zurückgehen.* Das Dur-Moll-System beispielsweise wurde in der klassisch-romantischen Epoche niemals gesprengt. Auch keine der klassischen Musikgattungen wurde in der Romantik aufgegeben. Die Symphonie, die Sonate und das Solo-Konzert blieben wichtige Formen. Nein, einen neuen Stil hat die Romantik nicht geschaffen, sondern den klassischen um- und weitergebildet. Sie hat die Schwerpunkte verlagert auf unbedingten Ausdruckswillen und sich die vorhandenen und erprobten Mittel dafür „dienstbar“ gemacht. Die Melodie etwa wird jetzt mehr und mehr zu dem Element, worin sich die Originalität des Komponisten am ungezwungensten ausspricht. Die Melodien werden ausgesprochen liedhaft – man denke nur an Schubert, den wohl größten Melodienerfinder der Musikgeschichte. Aber auch im ganzen Instrumentalwerk der Romantik ist der liedmelodische Thementypus verbreitet, häufig mit lyrischem Charakter. Verwandt mit der wichtigen Rolle der Melodie ist das Leitmotiv, also der durch ein ganzes Werk immer wiederkehrende Melodieabschnitt mit Signalwirkung: Wagner hat diese Technik zur Meisterschaft gebracht. Dur-Moll-Verschleierungen in der Entwicklung der Melodien und Motive spielen im ganzen 19. Jahrhundert eine große Rolle. Mit harmonischem Erfindungsreichtum und unerhörten Klangfarben werden Stimmungen und Bilder geweckt. Es sind die romantischen Zauberschleier, die mit tonalen, harmonischen und melodischen Mitteln jene Wirkung in der Musik erzeugen, die Novalis für jede Kunstäußerung gefordert hat: „dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten“ geben – das ist Romantik. Wie oben erwähnt, ist keine der klassischen Gattungen im romantischen Zeitalter aufgegeben worden, aber neue kamen hinzu bzw. wurden kunstvoll in die „hohe“ Musik eingeführt. Zu nennen ist hier vor allem das Lied als eines der eindrück7 Z Frédéric Chopin lichsten Ergebnisse des romantischen Musikdenkens, mit all seiner ungestillten Sehnsucht, seinem innigen Naturgefühl, seiner Herzenswärme und nicht selten Sentimentalität, seiner Nähe zur Volksmusik und in der poetischen Idee, die es dauernd zu verkörpern sucht. (Schubert sagte übrigens von sich, er hätte wieder was Schönes „gedichtet“, wenn ihm ein Lied aus der Feder geflossen war.) Das romantische Kunstlied ist bis heute so sehr ein „Exportschlager“ der deutschen Kultur, dass man auch in Frankreich von „le lied“ und im Englischen von „the lied“ spricht. Zu höheren Ehren in der Kunstmusik kam auch der Tanz. Es beginnt mit Beethovens „Ecossaisen“ (Schottischen) und geht weiter mit Schuberts Deutschen und Brahms‘ Ungarischen Tänzen, Chopins Mazurken und Polonaisen und Walzern. A propos: Was wäre das 19. Jahrhundert ohne Walzer, schließlich hat es mit Johann Strauß einen Walzerkönig hervorgebracht! Der Tanz erlebt seinen glanzvollen Auftritt nicht nur in der Operette, sondern durchdringt auch die gesamte Instrumentalmusik. Und wo er nicht explizit als Titel über den Stücken steht, da schleichen sich Tanzschritte in die Rhythmen und bringen Schwung in die Musik. Eine weitere romantische Errungenschaft ist das lyrische Instrumentalstück, häufig für Klavier, aber auch für andere Instrumente oder Kammermusikensembles, das sich aus dem Verbund der Sonatensätze emanzipiert und ein überaus lebhaftes Eigenleben annimmt. Empfindung pur, der subjektive Gestus ist der gemeinsame Nenner all dieser Charakterstücke, die unter den Bezeichnungen Bagatelle, Impromptu, Elegie, Moment musical, Rhapsodie, Ballade, Nocturne u.v.m. Karriere machen und schon in diesen Überschriften ihr romantisches Programm erkennen lassen. Mendelssohns genial erfundenen Titel „Lieder ohne Worte“ (für eine Sammlung von Klavierstücken) kann man als programmatisch für die ganze Gattung annehmen. Es geht um Herzensergießungen, zarte oder leidenschaftliche Stimmungsbilder, es geht darum, dem Unaussprechlichen die Sprache der Musik zu verleihen. Aus diesen lyrischen, innigen, intimen Stücken, die auch in der Hausmusik von musikbegeisterten Dilettanten gepflegt werden 8 Y J 6 Anton Bruckner konnten, erwuchs das Bravourstück, denn das 19. Jahrhundert war auch das der Virtuosen. Paganini, der Teufelsgeiger, und Liszt, der umjubelte Zauberer am Klavier, sind die bekanntesten. Sie waren vielleicht die ersten Popstars der Musikgeschichte. Virtuosentum ganz neuen Zuschnitts wurde im 19. Jahrhundert auch deshalb so beliebt, weil der Instrumentenbau ungeheure Fortschritte machte. Weniger bei den Streichinstrumenten, diese waren schon ausgereift, ganz deutlich aber bei den Bläsern. Was Henri Brod den Oboisten war, das wurde Theobald Böhm den Flötisten, um nur zwei erfindungsreiche „Tüftler“ zu nennen, die ihre jeweiligen Instrumente immer weiter verbesserten, so dass hochromantisches Virtuosentum erst möglich wurde. Wie so oft wurde aber auch auf diesem Gebiet bei manchen Komponisten das gesunde Maß überschritten. Virtuosität als Selbstzweck führte zu einer Masse an wenig gehaltvollen Werken, die den Interpreten zwar eine atemberaubende Technik abverlangten, aber zum reinen Zirkusstück verkamen. – Eine weitere Nebenfolge dieser Entwicklung ist das „Salonstück“, so genannt, weil es in den Salons, also den elitären Zirkeln der gebildeten romantischen Kreise, Karriere als Unterhaltungsmusik machte. An all den oben genannten Gattungen kann man die Unterordnung der strengen Form unter den Inhalt, den unbedingten „poetischen“ Ausdruckswillen erkennen. Hierher gehört auch die sogenannte „Symphonische Dichtung“. Hier wird auf die formale, zyklische Geschlossenheit der symphonischen Ursprungsform verzichtet, stattdessen hören wir Einzelbilder in freier Reihung aneinandergesetzt. Ein großer Einzelgänger ist Anton Bruckner, der als formstarker Geist vor allem in seinem symphonischen Schaffen geradezu getrieben war. Er gilt deshalb auch als legitimer Erbe und Fortsetzer der symphonischen Kunst Beethovens. Aber damit ist Bruckner eine Ausnahme. Der Formwille war bei vielen Komponisten schwach ausgeprägt beziehungsweise von untergeordneter Bedeutung. Angestrebt wird vor allem rauschhafter Genuss: Womöglich ist diese vom Hören her gedachte Produktionsweise der Hauptunterschied zwischen „Klassik“ und „Romantik“ in der Musik. 9 Z Anonym, ca. 1840: Südtiroler Landschaft D er romantische Geist „ist vielgestaltig, musikalisch, versuchend und versucherisch, er liebt die Ferne der Zukunft und der Vergangenheit, die Überraschungen im Alltäglichen, die Extreme, das Unbewusste, den Traum, den Wahnsinn, die Labyrinthe der Reflexion. Der romantische Geist bleibt sich nicht gleich, ist verwandelnd und widersprüchlich, sehnsüchtig und zynisch, ins Unverständliche vernarrt und volkstümlich, ironisch und schwärmerisch, selbstverliebt und gesellig, formbewusst und formauflösend.“ ** Heute hat der alltagssprachlich gebrauchte Begriff „romantisch“ jeglichen anarchischen Impuls verloren. Pittoresk ist damit gemeint, idyllisch, lieblich, gefühlsbetont – und die Grenze zum Kitsch wird nicht selten überschritten. In der Epoche der Romantik war Romantisch-Sein noch eine wagemutige Angelegenheit, die manchmal in existenzieller Bedrängnis, manchmal im Wahnsinn endete. Das Sehnsuchtsvolle aber – auch dies ein wesentliches Merkmal der Romantik – ist zeitlos. Die Suche nach der Substanz hinter der Oberfläche, nach verborgener Inspiration, nach dem ganz Anderen treibt immer noch viele Menschen um, nicht nur Künstler. Bei Eichendorff hört sich das so an: Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort, Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort. Dr. Sabine Skudlik * Friedrich Blume: Romantik. In: Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd.11. Bärenreiter Verlag Kassel 1963. ** Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre. Carl Hanser Verlag München Wien 2007 10 Y