DIN lang - Landsberger Konzerte

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ÜBER ROMANTIK
UND DAS ROMANTISCHE
Friedrich Schiller
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ie Wurzeln der Romantik liegen, folgt man dem Wortsinn,
in der Literatur. Denn in dem Begriff „romantisch“ steckt
das Wort „Roman“, aus dem Französischen importiert. Romantisch ist also, wörtlich verstanden, „romanhaft“, der freien Einbildungskraft entsprungen.
Dass die Romantik zu einer geistigen Aufbruchsbewegung
wurde, verdankt sie jedoch nicht der Fantasie, sondern der ganz
konkreten Weltgeschichte: nämlich der französischen Revolution. 1789 wurde nicht nur links des Rheins zum Schicksalsjahr,
sondern auch hierzulande. Die Frühromantiker, also die Gebrüder Schlegel, Hölderlin, Novalis, Tieck, alle um das Jahr 1770
herum geboren, waren zur Zeit der Revolutionswirren in Frankreich begeisterungsfähige junge Heißsporne, die von Veränderung träumten und sich gerne von den revolutionären Ideen anstecken ließen. Weniger, um eine politische Revolution anzufachen – die Verhältnisse in Deutschland (das es ja als einig‘
Vaterland noch gar nicht gab) waren nicht danach. Aber das
Neue lag greifbar in der Luft und jeder Tag brachte politische
Überraschungen. Warum sollten dann nicht auch Literatur und
Philosophie neue geistige Horizonte erschließen?
Schiller bereitete dafür den Boden. Auch er war zunächst ein
Anhänger der Revolution gewesen, war aber von ihrem weiteren Verlauf, von der ungehemmten Aggression und der entfesselten Mordlust, die sie freisetzte, abgestoßen. Die Menschen
müssten, so Schiller, zuerst einmal freiheitsfähig werden. Der
Mensch dürfe nicht von seinen Begierden und Trieben abhängig
sein, von der eigenen Natur beherrscht wie ein wildes Tier.
In seiner Abhandlung in Briefform „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ entwickelt Schiller den Gedanken, dass
der Umgang mit den schönen Künsten nicht nur das Empfinden
des Menschen verfeinere. Nein, der Weg von der Natur, d.h.
der ungezügelten Triebhaftigkeit, zur Kultur führe über das Spiel,
soll heißen, über das Spiel der schönen Literatur und Kunst.
„Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung Mensch ist,
und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Es kommt darauf
an, Spiel-Raum zu gewinnen. Auch in der Ernsthaftigkeit der
alltäglichen Geschäfte, der Probleme, die gelöst werden müssen, der Beziehungen, die man knüpft. Im Spiel, das heißt, in
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kunstsinnigen Verfeinerungen, in Ritualen, in Symbolisierungen
und Tabuisierungen, lernt der Mensch, seine Affekte zu beherrschen. Und erst dadurch wird er wirklich freiheitsfähig.
Schiller warnte auch vor den Deformationen durch die Arbeitsteilung in der bürgerlichen Welt. Der Mensch sei zu einem
„Bruchstück“ geworden, der „ewig nur das eintönige Geräusch
des Rades, das er umtreibt, im Ohr“ habe und nicht in der Lage
sei, die „Harmonie seines Wesens“ zu verwirklichen. Diese
ganzheitliche Harmonie erlange der Mensch in der Kunst. Nur
hier könne er mit all seinen Kräften spielen: mit Verstand, Gefühl, Einbildungskraft. Die Kunst müsse deshalb auch befreit
werden von reinen Nützlichkeitserwägungen. Nach Schiller
trägt die Kunst ihren Zweck in sich, und wird dadurch, quasi
als Nebeneffekt, auch nützlich für die Gesellschaft. Denn sie
erlaubt dem Einzelnen, zu etwas Ganzem zu werden, zu einer
Totalität im Kleinen, wenn auch nur im begrenzten Bereich des
kunstsinnigen Spiels.
Schillers Erwägungen bedeuteten eine beispiellose Rangerhöhung von Kunst und Literatur. Das Spiel der Kunst ist eben nicht
nur Dekor, nicht nur Freizeitvergnügen, nicht nur bürgerliches
Statussymbol. Es ist essentiell für die Zähmung der ungezügelten Naturkräfte, die im Menschen schlummern, nur dadurch
wird der Mensch zum Menschen. Bei den jungen Romantikern,
die Schiller in Jena an der Universität hörten und seine Schriften
lasen, fielen diese Ideen auf fruchtbaren Boden.
Die geistige Revolution der Romantiker ging einher mit der Entdeckung und Hochschätzung der eigenen schöpferischen
Kräfte. Die ganze Welt konnte zur Kunst werden. Das Leben
sollte mit Poesie durchdrungen, die in der Wirklichkeit verborgenen Möglichkeiten mit spielerischer und zugleich erkundender Phantasie sichtbar gemacht werden. Phantasie war keine
schöne Nebensache mehr, sondern das Zentrum des Weltverständnisses. Unbehagen verursachte im Gegensatz dazu die
simple Normalität, das gewöhnliche Leben, und allen gemeinsam war die Angst vor der Langeweile, der horror vacui. (In diesem Sinne sind viele heutige, postmoderne Befindlichkeiten sehr
„romantisch“ eingefärbt.) Novalis drückte es so aus: „Indem ich
dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein
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Ludwig Tieck
Friedrich Hölderlin
geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“
„Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische
das Kranke“ hat Goethe postuliert, der, selbst eine Ikone der
Klassik, die romantische Epoche miterlebt, die Frühromantiker
zum Teil überlebt hat. Goethe hielt Abstand zu dieser Strömung,
dennoch hat auch er die romantische Geisteshaltung mitgeprägt,
allein dadurch, dass sich gleich mehrere Generationen an ihm
reiben konnten. Das Romantische sei „täuschend wie die Bilder
einer Zauberlaterne“, formulierte Goethe in kritischer Absicht,
aber genau das war es ja, was die Romantiker anstrebten.
Das Geheimnisvolle hatte nun Konjunktur. Das Denken und die
Imagination wurden auf das Ungeheure eingestimmt, das in
jedem Menschen schlummert und ihn umgibt. Das Licht der
Aufklärung verlor an Glanz, der Fortschrittsglaube wankte. Man
hörte auf das Raunen der Vergangenheit und achtete nicht mehr
so sehr auf die Verheißungen der Zukunft. Es erwachte ein
mächtiges Heimweh nach dem Fernen, Dunklen, Verborgenen.
Die Suche nach der althergebrachten Volkspoesie, schon früher
von Herder angestoßen, hatte hier ihre Wurzeln, auch die Verherrlichung des Mittelalters.
Träume sollten wahr werden, fruchtbar werden im täglich gelebten Leben. Die blaue Blume, von der Novalis‘ Romanheld
Heinrich von Ofterdingen träumt, und die zu suchen und zu
finden er sich im Traum aufmacht, wurde zum Sinnbild ein ganzen Epoche.
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m Sommer 1793 entdeckten Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder in Franken tatsächlich das gelobte Land der
deutschen Romantik. Sie studierten in Erlangen und wanderten
von dort aus nach Bamberg, Pommersfelden, Bayreuth und
Nürnberg. Die zahlreichen Türme, die hohen Giebel, die engen
Gassen und das lebhafte Treiben auf den Plätzen, all das erschien ihnen wie die Wirklichkeit ihres Traums. Und man darf
vermuten, dass sie auch von den mittelalterlichen Städten an
der heute so genannten „Romantischen Straße“ verzaubert gewesen wären.
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Novalis
Bei diesen Wanderungen besuchten die Freunde auch Bergwerke, und dies hinterließ ebenfalls unauslöschliche Eindrücke.
Das Unübersichtliche, das Dunkle, die Nacht übten ohnehin
eine magische Anziehungskraft aus, hier begann die UnterTage-Romantik. Bezeichnenderweise findet Novalis‘ oben erwähnter Romanheld das Sehnsuchtsobjekt „blaue Blume“ ebenfalls in einer Berghöhle. Und Tieck belebte mit seiner Tannhäuser-Erzählung einen wirkmächtigen romantischen Mythos.
Gleichzeitig wurde die typische deutsche Landschaft („O Täler
weit, o Höhen, o schöner grüner Wald“) als Idylle erlebt und in
den Romanen und Erzählungen später entsprechend in Szene
gesetzt. (Übrigens auch in der Malerei: Im 19. Jahrhundert entdeckten die Künstler die Landschaft als Motiv neu! Man beachte
die Studioausstellung im Neuen Stadtmuseum „Romantische
Landschaften“ von Johann Georg von Dillis und Zeitgenossen.)
Schlösser und Burgen, Flussauen und Wälder, bevölkert von Rittern und Gräfinnen, aber auch von Einsiedlern und Mönchen,
prägten nicht nur die bildnerische Kunst, sondern auch die Literatur. Und unablässig ertönte irgendwo das Posthorn, das
Waldhorn oder die Hirtenflöte. „Es schienen so golden die
Sterne, / am Fenster ich einsam stand / und hörte aus weiter
Ferne / ein Posthorn im stillen Land“ dichtete Eichendorff noch
Jahrzehnte später. (Bruckner erfand die Musik dazu. Seine
4. Symphonie hat ihren Beinamen „Romantische“ auch wegen
der intensiven Verwendung des Hörnerklangs!)
Das Lesepublikum wurde von dieser romantischen Beseeltheit
angesteckt und verlangte gierig nach neuem Roman-Stoff. Man
las nicht mehr, wie früher, ein Buch viele Male, nämlich Bücher
mit Autorität wie die Bibel, Erbauungsschriften, oder Kalender
mit lebensklugen Sprüchen. Dagegen las man jetzt viele Bücher
nur noch einmal. Nein, man las nicht, man verschlang. Das
Viellesen wurde um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert
besorgniserregend, zumindest in den Augen von Pädagogen
und Kulturpessimisten. Welchen heimlichen Exzessen überantworteten sich lesende Frauenzimmer? Welche Abenteuer erlebten schmökernde Gymnasiasten? Das war schwer zu kontrollieren. Etwa 25 Prozent der Bevölkerung gehörten um 1800
zum potentiellen Lesepublikum, Tendenz steil ansteigend,
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Heinrich Heine
Joseph v. Eichendorff
E.T.A. Hoffmann
ebenso wie die der literarischen Produktion. Die Schriftsteller
kamen mit dem Schreiben kaum hinterher. Tieck selbst wurde
ein erfolgreicher Vielschreiber. Als Kehrseite wurde beklagt, dass
Literatur zur Massenware verkam.
Der romantische Geist blieb lebendig, auch als die Epoche der
literarischen Romantik und ihr wirkmächtiger philosophischer
und religionstheoretischer Hintergrund ihren Höhepunkt um
die 20er Jahre des 19. Jahrhunderts schon überschritten hatten.
Das Zauberische, das Mittelalterliche, das Nächtige und auch
ein diffuses Fernweh, romantische Sehnsucht und Wehmut hatten weiterhin Konjunktur. Schriftsteller wie Achim von Arnim
und Joseph von Eichendorff blieben produktiv. Heinrich Heine
griff jetzt erst zu seiner mitunter spitzen Feder, hin- und hergerissen zwischen politischer Leidenschaft und romantischer Hingabe.
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ei den anderen Künsten kamen die romantischen Impulse
nun erst zur vollen Wirkung – in der Musik zum Beispiel.
1797, im gemeinsamen Geburtsjahr von Heinrich Heine und
Franz Schubert, reichen sich literarische und musikalische Romantik gewissermaßen die Hand. All die anderen, die man zu
den großen romantischen Komponisten zählt, sind Kinder des
19. Jahrhunderts: Mendelssohn (*1809), Chopin und Schumann
(*1810), Liszt (*1811), Wagner und Verdi (*1813), Bruckner
(*1824) und Brahms (*1833). Und Komponisten wie Puccini
(*1858), Mahler (*1860), R. Strauss (*1864), Pfitzner (*1869),
sogar Schönberg (*1874) mit seinen frühen Werken zählt man
zur sogenannten Spätromantik, obwohl ihr Leben und Wirken
bis ins 20. Jahrhundert hineinragte.
In der Person E.T.A. Hoffmanns (*1776) verbinden sich literarische und musikalische Romantik als erstes, denn er, ein vielseitig
begabtes Multitalent, war gleichermaßen als Dichter, Komponist,
Kapellmeister und als Zeichner produktiv. Er war es auch, der
den Begriff der „Romantik“ für die Musik fruchtbar machte. „Die
Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf; eine
Welt, die nichts gemein hat mit der äußern Sinnenwelt.“
Schon für die frühromantischen Dichter und Denker hatte die
Musik einen hohen Stellenwert. Tieck beschwor den Gedanken
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Robert Schumann
Clara Schumann
von der engen Verflechtung aller Künste und dem Vorrang der
Musik. Nach Novalis vollendet die Musik das, worin die bildenden und die redenden Künste an ihre Grenze stoßen, nach
Jean Paul leiht die Musik dem „Unaussprechlichen“ ihre Sprache. Durch ihre Stofflosigkeit war im Bewusstsein der Romantiker die Musik allen anderen Künsten überlegen. Ihr wurde zugetraut, wie keine andere Äußerung des Menschengeistes die
Seele dem Unendlichen entgegenzuführen.
Als die Frühromantiker diese welt- und seinsumspannende
Macht der Musik beschworen, waren die oben aufgezählten
Komponisten aber noch gar nicht am Werke. Noch herrschte
die große Zeit der sogenannten „Wiener Klassik“, Haydn, Mozart und Beethoven waren die ton-angebenden Musikschöpfer.
Aber, wenn man will, kann man romantische Züge auch schon
beim späten Mozart erkennen, in Beethovens Spätwerk sowieso. Beethoven war als Komponistenpersönlichkeit gewissermaßen ein Bindeglied zwischen musikalischer Klassik und Romantik, befeuerte er doch durch den jeweils persönlichen Ausdruck seiner Werke die ganze frühromantische Generation. Für
E.T.A. Hoffmann war Beethoven „ein rein romantischer (eben
deshalb ein wahrhaft musikalischer) Komponist. (…) Beethovens Musik erweckt eben jene unendliche Sehnsucht, welche
das Wesen der Romantik ist.“ In der Tat fanden sich musikalische Satzbezeichnungen wie „empfindungsvoll“, „leidenschaftlich“, „erregt“, die später für die Romantik so typisch wurden,
schon häufig im ausgehenden 18. Jahrhundert.
Worin besteht nun also eigentlich „das Romantische“ in der
Musik, wenn man doch, wie oben an den Lebensdaten bedeutender Tonsetzer gesehen, einfach gleich das ganze 19. Jahrhundert der musikalischen Romantik zurechnen könnte?
Romantik ist, noch mehr in der Musik als in der Literatur, kein
definierbarer Stil, sondern eine geistige Haltung. Maßstab ist allein der freie künstlerische Wille des Individuums, was die Unterordnung der Form unter den Inhalt zur Folge hat. Das heißt
nicht, dass die Form in der musikalischen Romantik keine Rolle
mehr spielen würde. Im Gegenteil, der klassische Elementenund Formenkanon ist in seinen Grundlagen beständig der Gleiche geblieben. Die wirklich einschneidende Zäsur liegt in der
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Felix Mendelssohn
Johannes Brahms
Musikgeschichte nicht zwischen Klassik und Romantik, sondern
zwischen dem klassisch-romantischen Zeitalter als Ganzem
und dem (Spät-)Barock einerseits und der Entwicklung der
zwölftönigen oder seriellen Musik andererseits. Innerhalb der
klassisch-romantischen Epoche bleibt dieser Kanon die verbindliche Norm, auf die alle Komponisten zurückgehen.*
Das Dur-Moll-System beispielsweise wurde in der klassisch-romantischen Epoche niemals gesprengt. Auch keine der klassischen Musikgattungen wurde in der Romantik aufgegeben. Die
Symphonie, die Sonate und das Solo-Konzert blieben wichtige
Formen. Nein, einen neuen Stil hat die Romantik nicht geschaffen, sondern den klassischen um- und weitergebildet. Sie hat
die Schwerpunkte verlagert auf unbedingten Ausdruckswillen
und sich die vorhandenen und erprobten Mittel dafür „dienstbar“ gemacht.
Die Melodie etwa wird jetzt mehr und mehr zu dem Element,
worin sich die Originalität des Komponisten am ungezwungensten ausspricht. Die Melodien werden ausgesprochen liedhaft –
man denke nur an Schubert, den wohl größten Melodienerfinder der Musikgeschichte. Aber auch im ganzen Instrumentalwerk der Romantik ist der liedmelodische Thementypus verbreitet, häufig mit lyrischem Charakter. Verwandt mit der wichtigen
Rolle der Melodie ist das Leitmotiv, also der durch ein ganzes
Werk immer wiederkehrende Melodieabschnitt mit Signalwirkung: Wagner hat diese Technik zur Meisterschaft gebracht.
Dur-Moll-Verschleierungen in der Entwicklung der Melodien
und Motive spielen im ganzen 19. Jahrhundert eine große Rolle.
Mit harmonischem Erfindungsreichtum und unerhörten Klangfarben werden Stimmungen und Bilder geweckt. Es sind die romantischen Zauberschleier, die mit tonalen, harmonischen und
melodischen Mitteln jene Wirkung in der Musik erzeugen, die
Novalis für jede Kunstäußerung gefordert hat: „dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde
des Unbekannten“ geben – das ist Romantik.
Wie oben erwähnt, ist keine der klassischen Gattungen im romantischen Zeitalter aufgegeben worden, aber neue kamen
hinzu bzw. wurden kunstvoll in die „hohe“ Musik eingeführt.
Zu nennen ist hier vor allem das Lied als eines der eindrück7
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Frédéric Chopin
lichsten Ergebnisse des romantischen Musikdenkens, mit all seiner ungestillten Sehnsucht, seinem innigen Naturgefühl, seiner
Herzenswärme und nicht selten Sentimentalität, seiner Nähe
zur Volksmusik und in der poetischen Idee, die es dauernd zu
verkörpern sucht. (Schubert sagte übrigens von sich, er hätte
wieder was Schönes „gedichtet“, wenn ihm ein Lied aus der
Feder geflossen war.) Das romantische Kunstlied ist bis heute so
sehr ein „Exportschlager“ der deutschen Kultur, dass man auch
in Frankreich von „le lied“ und im Englischen von „the lied“
spricht.
Zu höheren Ehren in der Kunstmusik kam auch der Tanz. Es beginnt mit Beethovens „Ecossaisen“ (Schottischen) und geht weiter mit Schuberts Deutschen und Brahms‘ Ungarischen Tänzen,
Chopins Mazurken und Polonaisen und Walzern. A propos:
Was wäre das 19. Jahrhundert ohne Walzer, schließlich hat es
mit Johann Strauß einen Walzerkönig hervorgebracht! Der Tanz
erlebt seinen glanzvollen Auftritt nicht nur in der Operette, sondern durchdringt auch die gesamte Instrumentalmusik. Und wo
er nicht explizit als Titel über den Stücken steht, da schleichen
sich Tanzschritte in die Rhythmen und bringen Schwung in die
Musik.
Eine weitere romantische Errungenschaft ist das lyrische Instrumentalstück, häufig für Klavier, aber auch für andere Instrumente oder Kammermusikensembles, das sich aus dem Verbund der Sonatensätze emanzipiert und ein überaus lebhaftes
Eigenleben annimmt. Empfindung pur, der subjektive Gestus ist
der gemeinsame Nenner all dieser Charakterstücke, die unter
den Bezeichnungen Bagatelle, Impromptu, Elegie, Moment musical, Rhapsodie, Ballade, Nocturne u.v.m. Karriere machen
und schon in diesen Überschriften ihr romantisches Programm
erkennen lassen. Mendelssohns genial erfundenen Titel „Lieder
ohne Worte“ (für eine Sammlung von Klavierstücken) kann man
als programmatisch für die ganze Gattung annehmen. Es geht
um Herzensergießungen, zarte oder leidenschaftliche Stimmungsbilder, es geht darum, dem Unaussprechlichen die Sprache der Musik zu verleihen.
Aus diesen lyrischen, innigen, intimen Stücken, die auch in der
Hausmusik von musikbegeisterten Dilettanten gepflegt werden
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Anton Bruckner
konnten, erwuchs das Bravourstück, denn das 19. Jahrhundert
war auch das der Virtuosen. Paganini, der Teufelsgeiger, und
Liszt, der umjubelte Zauberer am Klavier, sind die bekanntesten.
Sie waren vielleicht die ersten Popstars der Musikgeschichte.
Virtuosentum ganz neuen Zuschnitts wurde im 19. Jahrhundert
auch deshalb so beliebt, weil der Instrumentenbau ungeheure
Fortschritte machte. Weniger bei den Streichinstrumenten, diese
waren schon ausgereift, ganz deutlich aber bei den Bläsern.
Was Henri Brod den Oboisten war, das wurde Theobald Böhm
den Flötisten, um nur zwei erfindungsreiche „Tüftler“ zu nennen, die ihre jeweiligen Instrumente immer weiter verbesserten,
so dass hochromantisches Virtuosentum erst möglich wurde.
Wie so oft wurde aber auch auf diesem Gebiet bei manchen
Komponisten das gesunde Maß überschritten. Virtuosität als
Selbstzweck führte zu einer Masse an wenig gehaltvollen Werken, die den Interpreten zwar eine atemberaubende Technik abverlangten, aber zum reinen Zirkusstück verkamen. – Eine weitere Nebenfolge dieser Entwicklung ist das „Salonstück“, so genannt, weil es in den Salons, also den elitären Zirkeln der
gebildeten romantischen Kreise, Karriere als Unterhaltungsmusik machte.
An all den oben genannten Gattungen kann man die Unterordnung der strengen Form unter den Inhalt, den unbedingten
„poetischen“ Ausdruckswillen erkennen. Hierher gehört auch
die sogenannte „Symphonische Dichtung“. Hier wird auf die
formale, zyklische Geschlossenheit der symphonischen Ursprungsform verzichtet, stattdessen hören wir Einzelbilder in
freier Reihung aneinandergesetzt.
Ein großer Einzelgänger ist Anton Bruckner, der als formstarker
Geist vor allem in seinem symphonischen Schaffen geradezu
getrieben war. Er gilt deshalb auch als legitimer Erbe und Fortsetzer der symphonischen Kunst Beethovens.
Aber damit ist Bruckner eine Ausnahme. Der Formwille war bei
vielen Komponisten schwach ausgeprägt beziehungsweise von
untergeordneter Bedeutung. Angestrebt wird vor allem rauschhafter Genuss: Womöglich ist diese vom Hören her gedachte
Produktionsweise der Hauptunterschied zwischen „Klassik“ und
„Romantik“ in der Musik.
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Anonym, ca. 1840: Südtiroler Landschaft
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er romantische Geist „ist vielgestaltig, musikalisch, versuchend und versucherisch, er liebt die Ferne der Zukunft
und der Vergangenheit, die Überraschungen im Alltäglichen,
die Extreme, das Unbewusste, den Traum, den Wahnsinn, die
Labyrinthe der Reflexion. Der romantische Geist bleibt sich
nicht gleich, ist verwandelnd und widersprüchlich, sehnsüchtig
und zynisch, ins Unverständliche vernarrt und volkstümlich,
ironisch und schwärmerisch, selbstverliebt und gesellig, formbewusst und formauflösend.“ **
Heute hat der alltagssprachlich gebrauchte Begriff „romantisch“
jeglichen anarchischen Impuls verloren. Pittoresk ist damit gemeint, idyllisch, lieblich, gefühlsbetont – und die Grenze zum
Kitsch wird nicht selten überschritten. In der Epoche der Romantik war Romantisch-Sein noch eine wagemutige Angelegenheit, die manchmal in existenzieller Bedrängnis, manchmal im
Wahnsinn endete. Das Sehnsuchtsvolle aber – auch dies ein
wesentliches Merkmal der Romantik – ist zeitlos. Die Suche
nach der Substanz hinter der Oberfläche, nach verborgener Inspiration, nach dem ganz Anderen treibt immer noch viele Menschen um, nicht nur Künstler. Bei Eichendorff hört sich das so
an:
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.
Dr. Sabine Skudlik
* Friedrich Blume: Romantik. In: Musik in Geschichte und Gegenwart,
Bd.11. Bärenreiter Verlag Kassel 1963.
** Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre. Carl Hanser Verlag München Wien 2007
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