Rhetorik

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Einführung in die
Literaturwissenschaft
3: Rhetorik
Themenübersicht
• Literarizität: Was unterscheidet Literatur von anderen
sprachlichen Äußerungen?
• Zeichen und Referenz: Wie stellt Literatur den Bezug
sprachlicher Äußerungen auf ›Wirklichkeit‹ dar?
• Rhetorik: Was sind sprachliche ›Figuren‹?
• Narration: Wie entstehen Geschichten?
• Autorschaft und sprachliches Handeln: Wie greift
Schreiben in Wirklichkeit ein?
• Intertextualität und Intermedialität: Wie bezieht sich
Literatur auf andere Texte / andere Medien?
›Realismus‹ und Rhetorik
Nach Barthes lösen moderne ›realistische‹
Schreibweisen ältere Konzepte des ›Wahrscheinlichen‹
ab. Das ›Wahrscheinliche‹ ist das als möglich, als
denkbar Erscheinende, und an ihm sollte sich sowohl
der Dichter als auch der gute Redner orientieren. Die
Rhetorik als die Lehre von der Redekunst zielt auf den
Versuch, durch sprachliche Verfahren einen Eindruck
des ›Wahrscheinlichen‹ zu erzeugen bzw. eine
Übereinkunft darüber, was als ›wahrscheinlich‹ gilt.
›Realistische‹ Schreibweisen hingegen erzeugen den
Eindruck des ›Wirklichen‹.
Schriften zur Rhetorik
Aristoteles: (384-322 v. Chr.): »Rhetorik« (vor 347 v. Chr.)
Cicero (106-43 v. Chr.):
»Von der Erfindungskunst« (»De
inventione«) (zwischen 91 und 88 v. Chr.)
»Über den Redner« (»De oratore«)
(55 v. Chr.)
»Der Redner« (»Orator«) (46 v. Chr.)
Anonym:
»Rhetorik an Herennius« (zwischen
86 und 82 v. Chr.)
Quintilian:
(ca. 40-ca. 96 n. Chr.)
»Ausbildung des Redners« (»Institutio
oratoria« (vor 96 n. Chr.)
Die Frage nach der Aktualität der Rhetorik
Sich mit Rhetorik auseinanderzusetzen heißt, auf ein
jahrtausendelang tradiertes Beschreibungsinstrumentarium
sprachlicher Verfahren zurückzugreifen, zu dem heute ein
geschichtlicher Abstand besteht. Rhetorik stellt Regeln auf,
an die sich zum Beispiel die moderne Literatur nicht mehr
gebunden fühlt.
Gerade daraus aber entsteht ein Spannungsverhältnis, dass
die literarischen Texte deutlich prägt. Erst dadurch lässt sich
etwa bestimmen, wodurch eigentlich ›Realismus‹ (im Sinne
von Barthes) gekennzeichnet ist. Mögen auch die Normen
der Rhetorik nicht mehr gelten, so bleiben ihre
Beschreibungsmöglichkeiten doch aufschlussreich. Dies lässt
sich am Beispiel von Rousseaus Bekenntnissen sehr gut
verdeutlichen.
Jean-Jacques Rousseau:
Les Confessions (1782)
»Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat und dessen Ausführung
auch niemals einen Nachahmer finden wird. Ich will vor meinesgleichen
einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen, und dieser Mensch
werde ich sein.
Einzig und allein ich. Ich fühle mein Herz – und ich kenne die Menschen.
Ich bin nicht gemacht wie irgendeiner von allen, die leben. Wenn ich nicht
besser bin, so bin ich doch wenigstens anders. Ob die Natur gut oder übel
daran getan hat, die Form zu zerbrechen, in der sie mich gestaltete, das
wird man nur beurteilen können, wenn man mich gelesen hat.
Die Posaune des jüngsten Gerichts mag erschallen, wann immer sie will,
ich werde vor den höchsten Richter treten, dies Buch in der Hand, und laut
werde ich sprechen: ›Hier ist, was ich geschaffen, was ich gedacht, was
ich gewesen. Mit gleichem Freimut habe ich das Gute und das Böse
gesagt. Vom Bösen habe ich nichts verschwiegen, dem Guten nichts
hinzugefügt, und sollte es mir widerfahren sein, irgendwo im
Nebensächlichen ausgeschmückt zu haben, so ist es niemals aus einem
anderen Grunde geschehen, als um eine Lücke auszufüllen, die
mein Gedächtnis verursacht hat. Ich habe für wahr halten dürfen,
was meines Wissens hätte wahr sein können, niemals aber etwas,
von dem ich wußte, daß es falsch sei. Ich habe mich so gezeigt,
wie ich gewesen bin: verächtlich und niedrig, wo ich es war, und
ebenso edelmütig und groß, wo ich es war: ich habe mein Inneres
so enthüllt, wie du selber es geschaut hast, ewiger Geist.
Versammle um mich die zahllosen Scharen meiner Mitmenschen,
sie mögen meine Bekenntnisse anhören, mögen ob meiner
Schändlichkeiten seufzen und rot werden ob meiner Schwächen.
Jeder von ihnen entblöße am Fuß Deines Thrones sein Herz mit
derselben Wahrhaftigkeit, und wer von ihnen es dann noch wagt,
der mag geruhig hervortreten und sprechen: ›Ich war besser als
dieser Mann dort.‹‹«
1. Sind Rousseaus »Bekenntnisse«
›wahrscheinlich‹?
»Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat und dessen
Ausführung auch niemals einen Nachahmer finden wird.«
»[I]ch kenne die Menschen. Ich bin nicht gemacht wie irgendeiner von
denen, die ich bisher sah, und ich wage zu glauben, daß ich auch
nicht gemacht bin wie irgendeiner von allen, die leben.«
Aus der Zurückweisung des Postulats der ›Wahrscheinlichkeit‹
gewinnt Rousseau die Notwendigkeit und die Möglichkeit der
Autobiographie. Er muß von sich sprechen, weil er als Individuum
einzigartig (das heißt im höchsten Maße ›unwahrscheinlich‹) ist, und
er kann von sich sprechen, weil die rednerische Norm des
›Wahrscheinlichen‹ nicht mehr als bindend aufgefaßt wird.
Man könnte auch sagen: Rousseau befindet sich am Übergang vom
›poetischen‹ zum ›ästhetischen Regime der Kunst‹ (Rancière). Er
weist das Prinzip der Nachahmung (Mimesis) zurück, die die
grundlegende Kategorie in Aristoteles' Poetik bildet. An die Stelle der
Nachahmung tritt die Eigengesetzlichkeit seines Schreibens.
Die drei Redegattungen (genera orationis)
Man kann eine Rede hören, um sie zu genießen
(Lobrede) oder um ein Urteil zu fällen; letzteres geschieht
entweder als Mitglied einer Versammlung, die über
künftiges Handeln diskutiert (Beratungsrede) oder als
Richter, der über Vergangenes befindet (Gerichtsrede).
Die drei Redegattungen (genera orationis)
2. Zu welcher Redegattung gehören
Rousseaus »Bekenntnisse«?
Rousseau ist mit der Vergangenheit befasst, er legt
Rechenschaft vor den Menschen ab, aber er beugt sich
keinem irdischen Richter, allenfalls dem jüngsten
Gericht.
Er knüpft an die Gattung der Gerichtsrede an, um über
sie hinauszugehen und die Unvergleichbarkeit und
Singularität seines Lebens als Individuum zu
postulieren.
Die vier Frageweisen hinsichtlich der
Anlage der Rede
Beispiele: Hat der Angeklagte die Tat wirklich begangen? – Was genau
hat er getan? – Hat er die Tat möglicherweise zu Recht begangen? –
Ist das Verfahren überhaupt zulässig?
3. Welche Frageweise strukturiert
Rousseaus »Bekenntnisse«?
Rousseau stellt die Vermutungsfrage, die Definitionsfrage und die
Rechtsfrage zurück, um die Verfahrensfrage aufzuwerfen und sie
zu verneinen.
Rousseau stellt die Zulässigkeit einer Anklageerhebung gegen ihn
zur Diskussion:
»Versammle um mich die zahllosen Scharen meiner Mitmenschen,
sie mögen meine Bekenntnisse anhören [...]. Jeder von ihnen
entblöße am Fuße Deines Thrones sein Herz mit derselben
Wahrhaftigkeit, und wer von ihnen es dann noch wagt, der mag
geruhig hervortreten und sprechen: ›Ich war besser als dieser
Mann dort.‹«
Die drei Aufgaben des Redners
4. Welche der Aufgaben des Redners
macht Rousseau sich zu eigen?
Rousseaus »Bekenntnisse« wollen weder in erster Linie belehren
oder einen Beweis führen, noch wollen sie den Leser erregen und
aufstacheln. Vielmehr zielen sie vor allem darauf, Sympathie und
Verständnis für seinen Charakter, seine Menschlichkeit und seine
Individualität zu erwecken. Den Leser für sich einzunehmen wird
dabei zur Selbstermöglichung und zum Selbstzweck der
Autobiographie. Die Geneigtheit des Adressaten, die angestrebt
wird, gründet sich nicht auf eine Abwägung von Tugenden und
Lastern, sondern allein auf den Akt der Rede. Dies unterscheidet
Rousseaus Text letztlich von allen traditionellen
Aufgabenstellungen des Redners.
Die fünf Bearbeitungsphasen der Rede
(partes artis)
Die Unterscheidung von res und verbum
»Die Rhetorik konstituiert sich wesentlich dadurch, daß sie das Reich der
Gedanken (des Inhalts) von dem der Sprache (der Form) trennt, auch
wenn dann viel dafür getan wird, beide wieder zu einer Einheit
zusammenzufügen. Der eigentümlich ›konkrete‹ Status der Gedanken
gegenüber der sprachlichen Darstellung bildet jedoch genau den Punkt, an
dem dann die modernen Sprachtheorien seit dem späten 18. Jahrhundert
Anstoß nahmen.«
(K.-H. Göttert: Einführung in die Rhetorik. München 1998, S. 25)
Die Trennung von res und verbum wird bei Saussure als NomenklaturModell der Sprache verworfen (als eine naive Vorstellung von sprachlicher
Referenz). In seiner Zeichentheorie sind ›Vorstellung‹ und ›Lautbild‹ zur
Einheit des Zeichens zusammengefasst Für die Literatur macht dies genau
den Unterschied aus zwischen einer normgerechten, regelgeleiteten
darstellerischen Umsetzung von etwas Vorgegebenem (›Nachahmung‹) –
also einem poetischen Regime der Künste – und einer eigengesetzlichen
sprachlichen Produktion, also dem ästhetischen Regime der Künste.
5. Wird bei Rousseau zwischen ›res‹ und
›verbum‹ unterschieden?
Bei Rousseau geht es um den Akt der Rede selbst. Es gibt keine
›Form‹, die sich von einem ›Inhalt‹ der Rede trennen lassen
könnte. Die Worte als solche sind das Wesentliche, worin der
Redner nichts anderes als sich selbst bekundet. Das Sprechen
wird als die authentische Artikulation eines Subjekts verstanden,
worin es sich in seiner Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, mit
seinem Begehren und mit seinen Stärken und Schwächen zum
Ausdruck bringt. Es ist diese Rede selbst, die das Subjekt von allen
anderen unterscheidet und die seine Besonderheit und Indiviualität
konstituiert:
»Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat [...]. Ich will vor
meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur
zeigen, und dieser Mensch werde ich sein.«
Die Rede ist ein Akt der Selbstschöpfung.
Rhetorik der Anti-Rhetorik
Rousseaus Anspruch auf Wahrhaftigkeit und Authentizität geht mit
einem anti-rhetorischen Affekt einher. Dieser gehorcht aber selbst
wiederum den Regeln der Rhetorik.
Aristoteles: »Daher ist es erforderlich, die Kunstfertigkeit
anzuwenden, ohne daß man es merkt, und die Rede nicht als
verfertigt,sondern als natürlich erscheinen zu lassen – dies nämlich
macht sie glaubwürdig, jenes aber bewirkt das Gegenteil; denn die
Zuhörer nehmen wie gegen jemanden, der etwas im Schilde führt,
Anstoß daran wie gegen gemischte Weine.«
Rousseau: »Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller
Wahrheit der Natur zeigen, und dieser Mensch werde ich sein.«
Schmuck (ornatus)
6. Welcher ›Schmuck‹ der Rede findet
sich bei Rousseau?
»Sollte es mir widerfahren sein, irgendwo im Nebensächlichen
ausgeschmückt zu haben, so ist es niemals aus einem anderen Grunde
geschehen, als um eine Lücke auszufüllen, die mein Gedächtnis
verursacht hat.«
›Schmuck‹ ist für Rousseau gleichbedeutend mit ›Ausschmückung‹, und
›Ausschmückung‹ wiederum wird von vornherein mit ›Nebensächlichem‹
in Zusammenhang gebracht. Das ›Nebensächliche‹ aber kann in
Vergessenheit geraten (was impliziert: alles Wichtige bleibt im
Gedächtnis). Nur dadurch wiederum wird ›Schmuck‹ bedingt.
Bei Rousseau ist also eine Geringschätzung des sprachlichen
›Schmucks‹ zu beobachten. Das bedeutet aber nicht, das dieser
›Schmuck‹ in seinem Text tatsächlich unwichtig ist!
Wichtige Tropen und Figuren bei Rousseau
Es gibt eine Reihe von Figuren und Tropen, die alle den Akt des
›Wortergreifens‹ in Rousseaus Autobiographie betreffen.
Metonymie: im Modus der Ersetzung steht das Buch für den Menschen
ein.
Anapher: Durch Wiederholung am Satzanfang wird das Ich ins Zentrum
gerückt: »Ich fühle mein Herz [...] ich kenne die Menschen. Ich bin nicht
gemacht wie irgendeiner von allen, die leben.«
Apostrophe: Der »höchste Richter« – Gott – wird angerufen; dadurch wird
das Jüngste Gericht vorweggenommen und alle irdische Gerichtsbarkeit in
ihre Schranken verwiesen.
Prosopopoiia: Das Ich des Textes gibt sich selbst nach seinem Tode eine
Stimme: »Laut werde ich sprechen: ›Hier ist, was ich geschaffen, was ich
gedacht, was ich gewesen [...]‹«.
Dadurch wird der Akt des autobiographischen Schreibens als solcher noch
einmal gespiegelt.
Resümee: 6 Fragen an Rousseau
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Sind Rousseaus »Bekenntnisse« ›wahrscheinlich‹?
Zu welcher Redegattung gehören Rousseaus
»Bekenntnisse«?
Welche Frageweise strukturiert Rousseaus »Bekenntnisse«?
Welche der Aufgaben des Redners macht Rousseau sich zu
eigen?
Wird bei Rousseau zwischen ›res‹ und ›verbum‹
unterschieden?
Welcher ›Schmuck‹ der Rede findet sich bei Rousseau?
Die Aktualität der Rhetorik
Rousseaus »Bekenntnisse« stehen am Beginn einer Literatur, die
zunehmend als ästhetisch autonom erscheint, als
eigengesetzlicher Vollzug eines Schreibens, das sich keinem
Vorbild mehr unterwirft. Dies geht mit einer Distanzierung von den
Regeln und Überzeugungstechniken der Rhetorik einher.
Dennoch ist noch die Distanzierung von der Rhetorik rhetorisch
verfasst. Noch die Absage an die Rhetorik steht in Abhängigkeit
von dieser, auch wenn sie darüber hinwegtäuschen will. Das
Beispiel Rousseau führt zu der Überlegung: Es gibt keine
sprachliche Äußerung, die nicht rhetorisch verfasst wäre.
Literaturwissenschaftliche Ansätze tragen dem Rechnung, indem
sie nach literarischen Verfahren fragen. Literarische Verfahren
werden im Spannungsfeld von Konvention und Innovation
untersucht (Beispiel Šklovskij).
Um literarische Verfahren genau beschreiben zu können, müssen
wir die Konzepte und Begriffe der Rhetorik kennen.
Die Aktualität der Rhetorik
Rousseaus »Bekenntnisse« stehen am Beginn einer Literatur, die
zunehmend als ästhetisch autonom erscheint, als
eigengesetzlicher Vollzug eines Schreibens, das sich keinem
Vorbild mehr unterwirft. Dies geht mit einer Distanzierung von den
Regeln und Überzeugungstechniken der Rhetorik einher.
Dennoch ist noch die Distanzierung von der Rhetorik rhetorisch
verfasst. Selbst die Absage an die Rhetorik steht in Abhängigkeit
von dieser, auch wenn sie darüber hinwegtäuschen will.
Literaturwissenschaftliche Ansätze tragen dem Rechnung, indem
sie nach literarischen Verfahren fragen. Literarische Verfahren
werden im Spannungsfeld von Konvention und Innovation
untersucht (Beispiel Šklovskij).
Um literarische Verfahren genau beschreiben zu können, müssen
wir die Konzepte und Begriffe der Rhetorik kennen.
Bildlich gesprochen...?
Die Analyse literarischer Verfahren erfordert (unter anderem) die Kenntnis
von rhetorischen Figuren und Tropen.
Es reicht für eine solche Analyse nicht aus, einfach von ›sprachlichen
Bildern‹ zu sprechen. Das wäre (1) zu ungenau und ist in vielen Fällen (2)
nicht einmal zutreffend. Zwei nicht-literarische Beispiele:
(1) Das »Pro-Kopf-Einkommen« (Abk.: PKE) ist das auf das Jahr berechnete
Durchschnittseinkommen der Einwohner eines Landes. Handelt es sich um
eine Metapher, um eine Metonymie oder um eine Synekdoche?
(2) »Wer rastet, der rostet.« Das ›Rosten‹ (Metapher) könnte man vielleicht
als ›bildlichen‹ Ausdruck begreifen; ebenso wichtig ist aber das klangliche
Spiel mit Worten (Paronomasie).
Zudem:
Šklovskij hat die These »Kunst ist Denken in Bildern« ausdrücklich
zurückgewiesen!
Schmuck (ornatus)
Der Unterschied zwischen Tropen und Figuren
Quintilian: »Ausbildung des Redners«:
»Ein Tropus ist die kunstvolle Vertauschung der eigentlichen Bedeutung
eines Wortes oder Ausdruckes mit einer anderen«; »eine Redeweise, die
von ihrer natürlichen und ursprünglichen Bedeutung auf eine andere
übertragen ist [...], ein Ausdruck, der von der Stelle, bei der er eigentlich
gilt, auf eine andere Stelle übertragen ist, wo er nicht eigentlich gilt.«
»Das Wort [›Figur‹] wird [...] auf zweierlei Art gebraucht: einmal für jede
Form, in der ein Gedanke gestaltet ist, wie sich ja auch die Körper, sie
mögen in jeder beliebigen Weise gestaltet sein, jedenfalls immer in
irgendeiner Haltung befinden; zweitens für die Form, die im eigentlichen
Sinne Schema heißt, als eine wohlüberlegte Veränderung im Sinn oder
Ausdruck gegenüber seiner gewöhnlichen, einfachen Erscheinungsform,
so wie wir auch sitzen, uns lagern, zurückschauen.«
Sprache im Allgemeinen und Rhetorik im
Besonderen
Quintilians Erläuterung von Tropen und Figuren weist auf eine besondere
Schwierigkeit hin:
Was Rhetorik ist, läßt sich offenbar nur deutlich machen in Abgrenzung
von gewöhnlichen, ›schmucklosen‹ Redeweisen. Andererseits aber ist
jede sprachlich Äußerung ›figürlich‹. Strenggenommen gibt es keine
Rede ohne ›Schmuck‹ (vgl. das Beispiel Rousseau).
Dies wird vor allem bei der doppelten Definition von ›Figur‹ sichtbar:
»Daher gibt es in jenem [...] allgemeineren Sinn nichts, das nicht als Figur
gestaltet ist. [...] Aber falls bestimmte Haltungen und gleichsam Gebärden
so genannt werden müssen, so soll doch jetzt hier unter Schema (Figur)
nur das verstanden werden, was eine Veränderung der einfachen,
spontanen Ausdrucksweise im Sinne des Poetischen oder Rhetorischen
darstellt.«
Um sinnvoll von ›Figuren‹ sprechen zu können, schränkt Quintilian
den Geltungsbereich seiner Definition willkürlich ein.
Gibt es Rede, die keine ›Figur‹ hat?
Quintilian benennt also zunächst ein allgemeines Verständnis des
Begriffs der ›Figur‹: ›Figur‹ ist die sprachliche Form, in die ein Gedanke
gefaßt wird.
Dann jedoch schränkt er den Begriff auf eine spezifischere Auffassung
ein: ›Figur‹ ist nun die »wohlüberlegte Veränderung im Sinn oder
Ausdruck gegenüber seiner gewöhnlichen, einfachen
Erscheinungsform«.
→ mit dem Ergebnis:
»Das Poetische, Rhetorische« kann nun von der »einfachen, spontanen
Ausdrucksweise« unterschieden werden: »Denn so läßt sich wirklich
sagen, daß es einerseits Rede gibt, die aschemátistos ist, [...] und
andererseits die eschematisméne, d. h. mit Figuren gestaltete Rede.«
»Es soll also als Figur eine Ausdrucksform gelten, die den
Ausdruck in bewußter Kunst erneuert.«
Rhetorik als »bewußte Kunst«: Läßt sich
Sprache ›beherrschen‹?
Warum ist für Quintilian die Unterscheidung von Sprache im
Allgemeinen und den rhetorischen Figuren als »bewußter Kunst« so
wichtig?
Weil für Quintilian als Rhetorik-Lehrer, dem es um die Ausbildung des
Redners geht, Sprache als beherrschbar gilt. Sprache beherrschen
heißt, sie verwenden, gebrauchen zu können. In dem Maße, wie
Herrschaft über Sprache möglich ist, gibt es sprachliche ›Mittel‹.
Und nur unter dieser Bedingung kann angenommen werden, daß es
zunächst die Gedanken gibt (›res‹) und dann Worte (›verba‹), die
dazu dienen, den vorgefaßten Gedanken auszudrücken.
Diese Auffassung teilen wir heute nicht mehr. Mit Saussure und
der modernen Sprachtheorie müssen wir vielmehr sagen, daß wir in
der Sprache denken. Das heißt: Die Sprache gibt uns Strukturen
des Denkens vor.
›Eigentliche‹ und ›übertragene‹ Bedeutung
Um so aufschlußreicher ist es daher, schon bei Quintilian beobachten
zu können, wie schwierig es ist, eine besondere Redekunst (eine
kunstvolle Beherrschung der Sprache) von der Sprache im
Allgemeinen abzugrenzen. Dies macht sich nicht nur – wie gezeigt –
beim Begriff der ›Figur‹ bemerkbar, sondern auch bei der
Eingrenzung des Begriffs der ›Trope‹ / des ›Tropus‹.
Die Tropen definieren sich bei Quintilian durch die Opposition von
»eigentlicher« vs. »übertragener« Bedeutung.
Nur dort, wo in bezug auf ein Wort oder einen Ausdruck eine
»übertragene« Bedeutung vorliegt, handelt es sich um einen Tropus.
Wie schwierig und prekär diese Eingrenzung ist, wird bei Quintilian
am Beispiel der Metapher deutlich, für deren Verwendung er zwei
Motive nennt: (1) die Schönheit und (2) die Notwendigkeit.
Motiv 1: Die Schönheit der Metapher
»Wir wollen mit dem Tropus beginnen, der der häufigste und zudem
der bei weitem schönste ist; ich meine die translatio (Bedeutungsübertragung), die bei den Griechen Metapher heißt. Sie ist uns zwar
schon von der Natur selbst so weit zu eigen gemacht, daß auch
Menschen ohne Schulung und ohne es zu merken oft von ihr
Gebrauch machen, wirkt aber auch so erfrischend und strahlend,
daß sie auch wenn sie in einem noch so glänzenden RedeZusammenhang erscheint, doch noch ein eigenes Licht verbreitet.
Denn wenn sie nur richtig verwendet ist, kann sie weder gewöhnlich
noch niedrig noch unangenehm wirken.«
Bei Quintilian läßt sich ein Spannungsverhältnis zwischen der
Schönheit der Metapher und ihrer Gewöhnlichkeit konstatieren.
Obwohl wir alle von Natur aus Metaphern verwenden, ohne davon
Notiz zu nehmen, schmücken sie in besonderem Maße die Rede.
Motiv 2: Die Notwendigkeit der Metapher
»Auch mehrt sie [die Metapher] die Ausdrucksfülle durch
Austausch und Entlehnung, wo ein Ausdruck fehlt, und sie
leistet der Sprache den allerschwierigsten Dienst, daß
nämlich keinem Ding seine Benennung zu mangeln scheine.
Übertragen wird also ein Nomen oder Verbum von der Stelle,
wo seine eigentliche Bedeutung liegt, auf die, wo eine
eigentliche Bedeutung fehlt oder die übertragene besser ist
als die eigentliche.«
Die Metapher erscheint bei Quintilian also zugleich als eine
elementare Funktion der Sprache, mit der Bezeichnungsmöglichkeiten hergestellt werden. Hier ist die Metapher nicht
mehr in erster Linie ›schmuckvoll‹ oder ›schön‹, sondern sie
behebt einen Mangel der Sprache.
Beispiele für die Notwendigkeit der Metapher
»Notgedrungen sprechen die Landwirte bei den Reben von
›Augen‹ – denn wie sollten sie sonst dafür sagen? – oder
›die Saat dürstete‹ und ›die Frucht habe schwer zu
schaffen‹, notgedrungen nennen wir einen Menschen ›hart‹
oder ›rauh‹; denn wir hätten ja keine eigentliche Benennung,
die wir einer solchen Verfassung geben könnten.«
Hypothese: Die ›Gewöhnlichkeit‹ und ›Häufigkeit‹ der
Metapher, die zur ihrer besonderen Schönheit in einem
Spannungsverhältnis steht, könnte von der Notwendigkeit
ihres Gebrauchs herzuleiten sein. In vielen Fällen läßt sich
etwas nicht anders als metaphorisch sagen.
Metapher und Katachrese
»Um so notwendiger ist die Katachrese, wofür wir richtig ›abusio‹
(Mißbrauch) sagen, der Tropus, der die Bezeichnung für Dinge, die
keine eigene Benennung haben, dem anpaßt, was dem Gemeinten
am nächsten liegt [...]. Tausend Beipiele gibt es dieser Art:
›Acetabula‹ [Essig-Fläschchen] enthalten alle möglichen Flüssigkeiten, ›pixides‹ (Buchsbaum-Büchschen) sind aus allem möglichen
Stoff, und ein ›parricida‹ (Vatermörder) ist auch der Mörder der Mutter
oder des Bruders. Hiervon ist alles, was zur Art der Metapher gehört,
fernzuhalten; denn um Katachrese handelt es sich da, wo eine
Benennung fehlte, um Metapher, wo sie eine andere war.«
Einerseits sagt Quintilian, die Metapher könne einspringen, wo ein eigentlicher Ausdruck fehlt; andererseits erklärt er dies als Katachrese
und unterscheidet sie von der Metapher. Dies ist eine Widersprüchlichkeit in seinem Text, die sich nicht auflösen läßt. Sie hängt mit der
Schwierigkeit zusammen, ›Sprache‹ und ›Redekunst auseinanderzuhalten.
Der dreifache Sinn der Metapher bei
Quintilian
1.
Die Metapher ist ein besonderer Tropus
(das heißt sie läßt sich von anderen Tropen
unterscheiden).
2.
Die Metapher ist der Tropus im allgemeinen
(das heißt sie realisiert Funktionen und Verfahren
der Ersetzung und Übertragung, die allen
Tropen gemeinsam sind).
3.
Die Metapher ist ein allgemeiner Aspekt von Sprache
(das heißt ihr Prinzip ist generell in Bezeichnungszusammenhängen wirksam).
Der ›Gebrauch‹ der Metapher
An Quintilians Erörterung der Metapher wird deutlich, daß sich
die Problemstellungen der Rhetorik nicht auf den Bereich der
kunstvollen Rede, der Eloquenz, beschränken lassen. Sie
betreffen vielmehr notwendig auch sprachliche Äußerungen im
Allgemeinen.
Quintilians Vorschriften zum angemessenen Gebrauch von
Figuren und Tropen stoßen an eine Grenze, wenn es keine
sprachlichen Äußerungen ohne Figuren (›Haltungen‹) und
ohne Tropen (›Wendungen‹) gibt.
Figuren und Tropen ›drängen sich auf‹, sofern sie für das
Funktionieren von sprachlichen Äußerungen konstitutiv sind.
Deshalb fragt sich, ob man überhaupt von einem Gebrauch
von Figuren und Tropen sprechen kann.
Die absolute Metapher (Blumenberg)
Metaphern (›Katachresen‹) können nicht nur Dinge bezeichnen,
für die es kein ›eigentliches‹ Wort gibt (Beispiel: ›Tischbein‹).
Metaphern können komplexe gedankliche Sachverhalte
(›Ideen‹) bezeichnen, für die es keinen Begriff gibt.
Solche Übertragungen, die sich nicht in ›eigentliche‹ Begriffe
rückübersetzen lassen, nennt der Philosoph Hans Blumenberg
(1920-1996) »absolute Metaphern«. Die Erforschung solcher
Metaphern nennt er »Metaphorologie«. Der Metapher »das
Buch der Natur« z. B. hat Blumenberg ein ganzes Buch
gewidmet (Die Lesbarkeit der Welt).
Solche Metaphern müssen nicht unbedingt ausdrücklich in
Erscheinung treten, sondern können im Verborgenen bleiben
und einen strukturierenden ›Hintergrund‹ von Vorstellungen
bilden (»Hintergrundmetaphorik«).
Heinrich von Kleist: »Der Griffel Gottes«
»In Polen war eine Gräfin von P...., eine bejahrte Dame, die ein
sehr bösartiges Leben führte, und besonders ihre Untergebenen,
durch ihren Geiz und ihre Grausamkeit, bis auf das Blut quälte.
Diese Dame, als sie starb, vermachte einem Kloster, das ihr die
Absolution erteilt hatte, ihr Vermögen; wofür ihr das Kloster, auf
dem Gottesacker, einen kostbaren, aus Erz gegossenen,
Leichenstein setzen ließ, auf welchem dieses Umstandes, mit
vielem Gepränge, Erwähnung geschehen war. Tags darauf schlug
der Blitz, das Erz schmelzend, über den Leichenstein ein, und ließ
nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die, zusammen
gelesen, also lauteten: sie ist gerichtet! – Der Vorfall (die
Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der
Leichenstein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt,
die ihn samt der besagten Inschrift gesehen.«
Der »Griffel Gottes« als absolute Metapher
Im Text selbst kommt die Wendung »Griffel Gottes« nicht vor.
Dennoch bildet sie die maßgebliche Metapher, die der
erzählten Anekdote einen spezifischen Sinn verleiht. Durch
sie wird die Anekdote ›lesbar‹.
Um ›Lesbarkeit‹ geht es in der Anekdote in wörtlichem Sinne.
Eine »Anzahl Buchstaben« wird »zusammen gelesen«.
Dabei wird nicht gesagt, daß die Buchstaben in einer
bestimmten Reihenfolge gegeben sind. Der Wortlaut muß als
Text erst hergestellt werden.
Daß die Buchstaben zu kombinieren sind und daß ihre
Kombination so und nicht anders lauten muß, wird erst durch
die Metapher vom »Griffel Gottes« gerechtfertigt.
Sie ist die Metapher, die ›im Hintergrund‹ steht (Blumenberg)
und die der Titel des Textes explizit macht.
›Tote‹ Metaphern
Metaphern können wirksam sein, ohne dass sie als solche
wahrgenommen und in ihrer Wirksamkeit erkannt und durchschaut
werden. Was wir für Gewissheit und Wahrheit halten, könnte sich
manchmal nur der Plausibilität einer häufig gebrauchten und daher
unbemerkten Metapher (einer sogenannten ›toten‹ Metapher)
verdanken.
Friedrich Nietzsche (Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen
Sinne, 1873) hat dies in folgende Worte gefasst:
»Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie
welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden
sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht
mehr als Münzen in Betracht kommen.«
Von etwas Ähnlichem handelt auch die Anekdote von Kleist: Worte
werden ›eingeschmolzen‹, sie verlieren ihr »Gepränge«, ihren
›Schmuck‹. Dadurch scheint ›Wahrheit‹ zustandezukommen.
Noch einmal Šklovskij
»Wahrheiten sind
1. Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind,
2. Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind,
3. Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht
mehr als Münzen in Betracht kommen.« (Nietzsche)
Für diese Vergessenheit, diese Abnutzung und diesen Wertverlust
hat Šklovskij den Begriff des Automatismus geprägt, der unser
Denken und sprechen bestimmt. Literatur soll diesen
Automatismus außer Kraft setzen.
Während die Rhetorik die Kunst einer guten Rede zum Ziel hatte,
mit der Überzeugungen geschaffen und gefestigt werden sollten,
sieht Šklovskij die Aufgabe der Literatur im Anschluß an Nietzsche
darin, unsere Überzeugungen zu erschüttern.
Es geht darum, sprachliche Verfahren zu durchschauen, z.B.
Metaphern als Metaphern zu erkennen.
Was sind ›sprachliche Mittel‹?
Von ›sprachlichen Mitteln‹ kann nur sehr eingeschränkt die
Rede sein.
Das Verhältnis des Sprechers / Autors zu Tropen und
Figuren ist nicht einfach instrumentell.
Tropen und Figuren werden nicht einfach ›angewendet‹, um
bestimmte Vorstellungen zu transportieren, sondern sie
bringen diese Vorstellungen allererst hervor – oft ohne daß
Sprecher / Autoren sich darüber im klaren sind (vgl.
Saussures Zeichenmodell: Die Vorstellungen gehen den
Worten nicht voraus, sie gehören zum Zeichen).
Im Anschluß an Šklovskij kann es daher als eine wesentliche
Herausforderung betrachtet werden, die Funktionsweise und
Wirksamkeit von Tropen und Figuren zu durchschauen.
Rhetorik: Resümee der Grundbegriffe
(klausurrelevant)
drei Redegattungen:
Lobrede/Beratungsrede/
Gerichtsrede
Rhetorik der Anti-Rhetorik
vier Frageweisen: Vermutungsfrage/
Definitionsfrage/Rechtsfrage/
Verfahrensfrage
Figuren (Anapher, Chiasmus,
Apostrophe etc.)
drei Aufgaben des Redners: 1.
belehren (docere); 2. erfreuen
(delectare); 3. bewegen (movere)
res und verbum
fünf Bearbeitungsphasen: inventio /
dispositio /memoria / elocutio /
pronuntiatio
Tropen (Metapher, Metonymie
etc.)
Metapher und Katachrese
(nach Quintilian)
absolute Metapher /
Hintergrundmetaphorik
›tote‹ Metapher
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