Einführung in die Literaturwissenschaft Themenübersicht • Literarizität: Was unterscheidet literarische Texte von anderen sprachlichen Äußerungen? • Zeichen und Referenz: Wie stellen literarische Texte den Bezug sprachlicher Äußerungen auf ›Wirklichkeit‹ dar? • Rhetorik: Was sind ›sprachliche Mittel‹? • Narration: Wie entstehen Geschichten? • Autorschaft und sprachliches Handeln: Wie greift Schreiben in Wirklichkeit ein? • Intertextualität und Intermedialität: Wie beziehen sich literarische Texte auf andere Texte / andere Medien? Die Unterscheidung von res und verbum »Die Rhetorik konstituiert sich wesentlich dadurch, daß sie das Reich der Gedanken (des Inhalts) von dem der Sprache (der Form) trennt, auch wenn dann viel dafür getan wird, beide wieder zu einer Einheit zusammenzufügen. Der eigentümlich ›konkrete‹ Status der Gedanken gegenüber der sprachlichen Darstellung bildet jedoch genau den Punkt, an dem dann die modernen Sprachtheorien seit dem späten 18. Jahrhundert Anstoß nahmen.« (K.-H. Göttert: Einführung in die Rhetorik. München 1998, S. 25) Entsprechend sind in der Theorie Saussures ›Vorstellung‹ und ›Lautbild‹ zur Einheit des sprachlichen Zeichens zusammengefaßt. Die Aufhebung des Unterschieds zwischen ›res‹ und ›verbum‹ bei Rousseau Bei Rousseau geht es um den Akt der Rede selbst. Es gibt keine ›Form‹, die sich von einem ›Inhalt‹ der Rede trennen lassen könnte. Die Worte als solche sind das Wesentliche, worin der Redner nichts anderes als sich selbst bekundet. Das Sprechen wird als die authentische Artikulation eines Subjekts verstanden, worin es sich in seiner Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, mit seinem Begehren und mit seinen Stärken und Schwächen zum Ausdruck bringt. Es ist diese Rede selbst, die das Subjekt von allen anderen unterscheidet und die seine Besonderheit und Individualität konstituiert: »Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat [...]. Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen, und dieser Mensch werde ich sein.« (Futur!) Das Subjekt entsteht erst mit der Rede. Die Rede ist ein Akt der Selbstschöpfung. Die Aktualität der Rhetorik Rousseaus »Bekenntnisse« stehen am Beginn einer Literatur, die zunehmend auf ihren Autor hin gelesen wird, als authentisches Zeugnis eines Subjekts, das in seinem Werk zum Ausdruck gelangt. Dies geht mit einer Distanzierung von den Regeln und Überzeugungstechniken der Rhetorik einher. Dennoch ist noch die Distanzierung von der Rhetorik auf eminente Weise rhetorisch verfaßt. Noch die Absage an die Rhetorik steht in Abhängigkeit von dieser, auch wenn sie darüber hinwegtäuschen will. Literaturwissenschaftliche Ansätze tragen dem Rechnung, indem sie nach literarischen Verfahren fragen. Literarische Verfahren werden im Spannungsfeld von Konvention und Innovation untersucht (Beispiel Šklovskij). Bildlich gesprochen...? Die Analyse literarischer Verfahren erfordert (unter anderem) die Kenntnis von rhetorischen Figuren und Tropen. Es reicht für eine solche Analyse nicht aus, einfach von ›sprachlichen Bildern‹ zu sprechen. Das wäre zu ungenau und ist in vielen Fällen nicht einmal zutreffend. Zudem: Šklovskij hat die These »Kunst ist Denken in Bildern« ausdrücklich zurückgewiesen! Schmuck (ornatus) in Einzelwörtern in Wortverbindungen TROPEN (»Wendungen«) FIGUREN (griech. schemata, »Haltungen«) Wortfiguren Ersetzung Hinzufügung Auslassung Metapher Katachrese Metonymie Synekdoche Emphase Hyperbel Periphrase Antonomasie Litotes Anapher Ellipse Epipher Zeugma Paronomasie Polyptoton Synonymie Polysyndeton Asyndeton Sinnfiguren Umstellung Hyperbaton Lizenz Parallelismus Apostrophe Antithese rhetorische Chiasmus Fragen Konzession Anheimstellung Evidenz Personifikation Prosopopoiia Allegorie Der Unterschied zwischen Tropen und Figuren Quintilian: »Ausbildung des Redners«: »Ein Tropus ist die kunstvolle Vertauschung der eigentlichen Bedeutung eines Wortes oder Ausdruckes mit einer anderen«; »eine Redeweise, die von ihrer natürlichen und ursprünglichen Bedeutung auf eine andere übertragen ist [...], ein Ausdruck, der von der Stelle, bei der er eigentlich gilt, auf eine andere Stelle übertragen ist, wo er nicht eigentlich gilt.« »Das Wort [›Figur‹] wird [...] auf zweierlei Art gebraucht: einmal für jede Form, in der ein Gedanke gestaltet ist, wie sich ja auch die Körper, sie mögen in jeder beliebigen Weise gestaltet sein, jedenfalls immer in irgendeiner Haltung befinden; zweitens für die Form, die im eigentlichen Sinne Schema heißt, als eine wohlüberlegte Veränderung im Sinn oder Ausdruck gegenüber seiner gewöhnlichen, einfachen Erscheinungsform, so wie wir auch sitzen, uns lagern, zurückschauen.« Sprache im Allgemeinen und Rhetorik im Besonderen Quintilians Erläuterung von Tropen und Figuren weist auf eine besondere Schwierigkeit hin: Was Rhetorik ist, läßt sich nur deutlich machen in Abgrenzung von gewöhnlichen, ›schmucklosen‹ Redeweisen. Andererseits aber ist jede sprachlich Äußerung ›figürlich‹. Dies wird vor allem bei der doppelten Definition von ›Figur‹ sichtbar: »Daher gibt es in jenem [...] allgemeineren Sinn nichts, das nicht als Figur gestaltet ist. [...] Aber falls bestimmte Haltungen und gleichsam Gebärden so genannt werden müssen, so soll doch jetzt hier unter Schema (Figur) nur das verstanden werden, was eine Veränderung der einfachen, spontanen Ausdrucksweise im Sinne des Poetischen oder Rhetorischen darstellt.« Um sinnvoll von ›Figuren‹ sprechen zu können, muß Quintilian willkürlich den Geltungsbereich seiner Definition einschränken. Gibt es Rede, die keine Figur besitzt? notwendige Entgegensetzungen bei Quintilian: »wohlüberlegte Veränderung im Sinn oder Ausdruck gegenüber seiner gewöhnlichen, einfachen Erscheinungsform« »das Poetische, Rhetorische« vs. »einfache, spontane Ausdrucksweise« mit dem Ergebnis: »Denn so läßt sich wirklich sagen, daß es einerseits Rede gibt, die aschemátistos ist, [...] und andererseits die eschematisméne, d. h. mit Figuren gestaltete Rede.« »Es soll also als Figur eine Ausdrucksform gelten, die den Ausdruck in bewußter Kunst erneuert.« ›Eigentliche‹ und ›übertragene‹ Bedeutung Eine weitere Entgegensetzung, die vergleichbar funktioniert, dient der Eingrenzung des Begriffs der Trope / des Tropus. Die Tropen definieren sich durch die Opposition von »eigentlicher« vs. »übertragener« Bedeutung. Nur dort, wo in bezug auf ein Wort oder einen Ausdruck eine »übertragene« Bedeutung vorliegt, handelt es sich um einen Tropus. Wie schwierig und prekär diese Eingrenzung ist, wird bei Quintilian am Beispiel der Metapher deutlich, für deren Verwendung er zwei Motive nennt: (1) die Schönheit und (2) die Notwendigkeit. Motiv 1: Die Schönheit der Metapher »Wir wollen mit dem Tropus beginnen, der der häufigste und zudem der bei weitem schönste ist; ich meine die translatio (Bedeutungsübertragung), die bei den Griechen Metapher heißt. Sie ist uns zwar schon von der Natur selbst so weit zueigen gemacht, daß auch Menschen ohne Schulung und ohne es zu merken oft von ihr Gebrauch machen, wirkt aber auch so erfrischend und strahlend, daß sie auch wenn sie in einem noch so glänzenden RedeZusammenhang erscheint, doch noch ein eigenes Licht verbreitet. Denn wenn sie nur richtig verwendet ist, kann sie weder gewöhnlich noch niedrig noch unangenehm wirken.« Bei Quintilian läßt sich ein Spannungsverhältnis zwischen der Schönheit der Metapher und ihrer Gewöhnlichkeit konstatieren. Obwohl wir alle von Natur aus Metaphern verwenden, ohne davon Notiz zu nehmen, schmücken sie in besonderem Maße die Rede. Motiv 2: Die Notwendigkeit der Metapher »Auch mehrt sie [die Metapher] die Ausdrucksfülle durch Austausch und Entlehnung, wo ein Ausdruck fehlt, und sie leistet der Sprache den allerschwierigsten Dienst, daß nämlich keinem Ding seine Benennung zu mangeln scheine. Übertragen wird also ein Nomen oder Verbum von der Stelle, wo seine eigentliche Bedeutung liegt, auf die, wo eine eigentliche Bedeutung fehlt oder die übertragene besser ist als die eigentliche.« Die Metapher erscheint bei Quintilian als eine elementare Funktion der Sprache, mit der Bezeichnungsmöglichkeiten hergestellt werden. Beispiele für die Notwendigkeit der Metapher »Notgedrungen sprechen die Landwirte bei den Reben von ›Augen‹ – denn wie sollten sie sonst dafür sagen? – oder ›die Saat dürstete‹ und ›die Frucht habe schwer zu schaffen‹, notgedrungen nennen wir einen Menschen ›hart‹ oder ›rauh‹; denn wir hätten ja keine eigentliche Bennung, die wir einer solchen Verfassung geben könnten.« Hypothese: Die ›Gewöhnlichkeit‹ und ›Häufigkeit‹ der Metapher, die zur ihrer besonderen Schönheit in einem Spannungsverhältnis steht, könnte von der Notwendigkeit ihres Gebrauchs herzuleiten sein. In vielen Fällen läßt sich etwas nicht anders als metaphorisch sagen. Metapher und Katachrese »Um so notwendiger ist die Katachrese, wofür wir richtig ›abusio‹ (Mißbrauch) sagen, der Tropus, der die Bezeichnung für Dinge, die keine eigene Benennung haben, dem anpaßt, was dem Gemeinten am nächsten liegt [...]. Tausend Beipiele gibt es dieser Art: ›Acetabula‹ [Essig-Fläschchen] enthalten alle möglichen Flüssigkeiten, ›pixides‹ (Buchsbaum-Büchschen) sind aus allem möglichen Stoff, und ein ›parricida‹ (Vatermörder) ist auch der Mörder der Mutter oder des Bruders. Hiervon ist alles, was zur Art der Metapher gehört, fernzuhalten; denn um Katachrese handelt es sich da, wo eine Benennung fehlte, um Metapher, wo sie eine andere war.« Der dreifache Sinn der Metapher bei Quintilian 1. Die Metapher ist ein besonderer Tropus (das heißt sie läßt sich von anderen Tropen unterscheiden). 2. Die Metapher ist der Tropus im allgemeinen (das heißt sie realisiert Funktionen und Verfahren, die allen Tropen gemeinsam sind). 3. Die Metapher ist ein allgemeiner Aspekt von Sprache (das heißt ihr Prinzip ist generell in Bezeichnungszusammenhängen wirksam). Der ›Gebrauch‹ der Metapher An Quintilians Erörterung der Metapher wird deutlich, daß sich die Problemstellungen der Rhetorik nicht auf den Bereich der kunstvollen Rede, der Eloquenz, beschränken lassen. Sie betreffen vielmehr notwendig auch sprachliche Äußerungen im allgemeinen. Quintilians Vorschriften zum angemessenen Gebrauch von Figuren und Tropen stoßen an eine Grenze, wenn es keine sprachlichen Äußerungen ohne Figuren (›Haltungen‹) und ohne Tropen (›Wendungen‹) gibt. Figuren und Tropen ›drängen sich auf‹, sofern sie für das Funktionieren von sprachlichen Äußerungen konstitutiv sind. Deshalb fragt sich, ob man überhaupt von einem Gebrauch von Figuren und Tropen sprechen kann. Die absolute Metapher (Blumenberg) Metaphern können gedankliche Sachverhalte bzw. Vorstellungen bezeichnen, für die es keinen Begriff gibt. Solche Übertragungen, die sich nicht in ›eigentliche‹ Bezeichungen rückübersetzen lassen, nennt der Philosoph Hans Blumenberg (19201996) »absolute Metaphern«. Solche Metaphern müssen nicht unbedingt ausdrücklich in Erscheinung treten, sondern können im Verborgenen bleiben und einen strukturierenden ›Hintergrund‹ von Vorstellungen bilden. Heinrich von Kleist: »Der Griffel Gottes« »In Polen war eine Gräfin von P...., eine bejahrte Dame, die ein sehr bösartiges Leben führte, und besonders ihre Untergebenen, durch ihren Geiz und ihre Grausamkeit, bis auf das Blut quälte. Diese Dame, als sie starb, vermachte einem Kloster, das ihr die Absolution erteilt hatte, ihr Vermögen; wofür ihr das Kloster, auf dem Gottesacker, einen kostbaren, aus Erz gegossenen, Leichenstein setzen ließ, auf welchem dieses Umstandes, mit vielem Gepränge, Erwähnung geschehen war. Tags darauf schlug der Blitz, das Erz schmelzend, über den Leichenstein ein, und ließ nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die, zusammen gelesen, also lauteten: sie ist gerichtet! – Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichenstein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen.« Der »Griffel Gottes« als absolute Metapher Im Text selbst kommt die Wendung »Griffel Gottes« nicht vor. Dennoch bildet sie die maßgebliche Metapher, die der erzählten Anekdote einen spezifischen Sinn verleiht. Durch sie wird die Anekdote ›lesbar‹. Um ›Lesbarkeit‹ geht es in der Anekdote in wörtlichem Sinne. Eine »Anzahl Buchstaben« wird »zusammen gelesen«. Dabei wird nicht gesagt, daß die Buchstaben in einer bstimmten Reihenfolge gegeben sind. Der Wortlaut muß als Text erst hergestellt werden. Daß die Buchstaben zu kombinieren sind und daß ihre Kombination so und nicht anders lauten muß, wird erst durch die Metapher vom »Griffel Gottes« gerechtfertigt. Sie ist die Metapher, die ›im Hintergrund‹ steht (Blumenberg) und die der Titel des Textes explizit macht. Nietzsche: »Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne« (1873) »Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen[,] kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.« Was sind ›sprachliche Mittel‹? Von ›sprachlichen Mitteln‹ kann nur sehr eingeschränkt die Rede sein. Das Verhältnis des Sprechers / Autors zu Tropen und Figuren ist nicht einfach instrumentell. Tropen und Figuren werden nicht einfach ›angewendet‹, um bestimmte Vorstellungen zu transportieren, sondern sie bringen diese Vorstellungen allererst hervor – oft ohne daß Sprecher / Autoren sich darüber im klaren sind. Tropen und Figuren sagen mehr und anderes als ein Autor intendiert. Texte und Folien im Netz unter: www.uni-erfurt.de/literaturwissenschaft/ Paßwort für die Texte: