Handout: DER ISLAM UND DAS ERBE DER ANTIKE. Inhalt ______________________________________ I. Islamischer Gottesbegriff. Gott im Koran Ein schicksalhafter Gott Ein „eigenschaftsloser“ Gott: negative Theologie II. Dichter, Philosophen, Theologen: die ausgesparte Konkurrenz. Dichter – Statthalter des Säkularen und der Klassik Die Bedeutung der „Klassik“ als Instrument des Wissens und der Praxis Heidnische Götter als Versatzstücke islamischer Bildung? A. Homer in Bagdad. B. Die griechischen Götter in einer christlich-arabischen Übersetzung. Zum Traumbuch des Artemidor in der Version des Hunain Ibn Ishak. C. Al-Bîrûnî, ein islamischer Aufklärer? Alexander der Große als Heros der islamischen Welt A. B. Al-Bîrûnîs Alexanderverehrung. Der Zweigehörnte als klandestine Schlüsselfigur bei den Moriscos Spaniens? Klassik und klassische Bildung in der Frührenaissance A. Granada. B. Die islamische Méditerranée 2 DER ISLAM UND DAS ERBE DER ANTIKE. ______________ „Gott ist im Islam aller Eigenschaften enthoben, und das erscheint ihm richtig so. Der Mensch ist befreit, keiner Erbsünde untertan und dem Verstand anvertraut.“ I. Islamischer Gottesbegriff. Ilija Trojanov: Der Weltensammler, S.325 Aus: Tilman Nagel, Der Koran: Einführung, Texte, Erläuterungen, München (C.H.Beck) 1983, S. 222 ff. Gott im Koran Wie alle Propheten so war auch Muhammad kein Theologe. Die Offenbarung, die er empfing, enthielt kein systematisiertes Gottesverständnis, kein in einprägsame Formeln gefasstes Dogma. … Was den Glauben an den einen Gott betrifft, so ist er in der … 112. Sure „Die vorbehaltlose Verehrung“ auf einen kurzen Nenner gebracht: Gott ist der Eine, der nicht gezeugt worden ist und auch niemanden seinesgleichen hervorgebracht hat. (S. 222) Ein schicksalhafter Gott Ausgangspunkt für jegliche theologische Aussage über das Wesen Gottes ist seine im Koran immer wieder betonte Einheit (tauhîd). Wie wir sahen, wurde sie schon in der islamischen Offenbarungsschrift in der Auseinandersetzung mit Christen, Juden und Heiden ausführlich erörtert. (S. 223 f.) Den wichtigsten Baustein zur Weiterentwicklung dieses Gedankens liefert ebenfalls schon der Koran: die strenge Unterscheidung zwischen dem Geschaffenen – also dem Kosmos im weitesten Sinne – und dem einen Schöpfer. Eine dritte Kategorie gibt es für die islamische Theologie nicht. Dem Schöpfer eignet anfangs- und endlose Ewigkeit; er ist selbstsubsistent; sein Handeln, sein Wille sind nicht ableitbar. Im völligen Gegensatz hierzu ist die gesamte Schöpfung … der ständigen Fürsorge Gottes bedürftig; alles Handeln und Wollen der Geschöpfe ist abgeleitet, ist sekundär gegenüber dem Wollen des Einen, welches sich immer unverzüglich verwirklicht: „Wenn Gott etwas entscheidet, sagt er bloß: ‚Sei!‘ und es ist,“ steht in Sure 2 „Die Kuh“, Vers 117. … Aus der rigorosen Unterscheidung zwischen dem Schöpfer und dem geschaffenen Kosmos folgt ein … Grundsatz: die völlige Andersheit des Schöpfers (S. 224). Kommentar (G. Liedl): Im Gegensatz zum antiken Heidentum, aber auch zum in dieser Frage höchst synkretistischen Christentum, gibt es im Islam weder „Halbgötter“ noch einen „Gott-Menschen“ / Menschengott, als welchen die Christen Jesus von Nazareth ansehen (zumindest in jener Spielart des Urchristenttums, die sich durchgesetzt hat und bis heute bestimmt, was christliche Orthodoxie ist). 3 Ein „eigenschaftsloser“ Gott: negative Theologie Selbst wenn Gott zu den Propheten gesprochen hat, so ist er doch dem menschlichen Verstand gänzlich unfassbar. Auch dies finden wir schon im Koran ausgesagt: „Ihm gleicht nichts!“ heißt es kurz und entschieden in Sure 42 „Die Beratschlagung“, Vers 11. Dieser Satz hat der frühislamischen Theologie große Schwierigkeiten bereitet. Denn wenn man ihn zum Ausgangspunkt der Überlegungen über das Wesen Gottes macht, kommt man mit großen Teilen des Korans nicht mehr zurecht. Wird dort nicht immer wieder gesagt, der eine Gott sei der Weise, der Mächtige, der Hörende, der Verzeihende usw.? (S. 224) [Die Theologie hoffte,] dieses Problem lösen zu können, indem man alle jene Stellen des Koran, in denen Gott ein menschenähnliches Verhalten zugeschrieben wird, als Metaphern deutete. Nicht dass sich Gott wie ein Mensch auf den Thron setze, sei gemeint, sondern allein, dass er sich – in abstrakter Weise – des Thrones bemächtige, sei mit jenen Worten des Korans gesagt. Etwas überzeugender klang es schon, wenn man die Hände Gottes, mit denen er die Welt schuf,1 als seine Macht oder seine Gnade deutete. (S. 224 f.) Noch schwieriger war den im Koran erwähnten Beinamen Gottes beizukommen, die man auf den ersten Blick als Attribute verstehen musste, die den Schöpfer vermenschlichen: Er ist gütig, weise usw. Man … fragte sich auch, ob das Bekenntnis der absoluten Einheit Gottes nicht etwa dadurch getrübt werden könnte, dass diese Eigenschaften, sollten sie tatsächlich dem Schöpfer zukommen, ja mit ihm von Ewigkeit zu Ewigkeit bestehen müssten. Mithin wäre er nicht mehr der Eine, wenn die im Koran genannten Attribute wörtlich gelten sollten. Das Ergebnis dieser Gedankengänge war eine negative Theologie. Alles, was im Koran über ihn ausgesagt wird, ist Menschenwort, dem menschlichen Fassungsvermögen angeglichene Rede über Gott, die sein wirkliches Wesen nicht enthüllt. … In dieser negativen Theologie fand der islamische Eingottglaube (tauhîd) seine erste, rationalistisch durchgebildete Ausformung (S.225). Kommentar (G. Liedl): Dem Negations-Rationalismus der tauhîd-Vorstellung auf Seiten der Theologie (Gottes „Eigenschaftslosigkeit“) entspricht auf Seiten der religiösen Praxis das Alltagsverständnis eines „schicksalhaften“ Gottes (seine „Unerklärbarkeit“). Rationalismus und Pragmatik bilden gemeinsam den profund antimetaphyschen Charakter des Islam, seine Welthaftigkeit. Bei Tilman Nagel liest sich dieses Fazit so (S.225 f.): Die negative Theologie und die Lehre von der rigorosen Gerechtigkeit Gottes, deren Verfechter seit dem ausgehenden 8. Jahrhundert unter dem Namen Mu’taziliten bekannt sind, stellten je einen Aspekt des göttlichen Wesens in den Mittelpunkt aller Überlegungen. Gott aber ist im Koran nicht nur eine abstrakte Wesenheit, sondern wird vom Propheten als der gütige Schöpfer erkannt, der ihm in sinnfälliger Weise die Ordnung … kundgegeben hat. Und der Gott des Korans ist nicht nur der gnadenlos Urteilende, dessen einziger Maßstab das Verzeichnis der Taten des 1 Sure 38, Vers 75. 4 Menschen ist. Wäre er dann nicht ein Gott, dessen Entscheidung auf eine vom Menschen leicht durchschaubare Weise eben vom Tun und Lassen dieses Menschen abhinge? Das Gegenteil ist der Fall! Sein unerforschlicher Ratschluss greift in einer Art, die dem Menschen unfassbar bleibt, in das Einzelschicksal ein. Er kann barmherzig sein; er kann verdammen. Eine Gewissheit hinsichtlich des Loses … gibt es für die Geschöpfe nicht. II. Dichter, Philosophen, Theologen: die ausgesparte Konkurrenz. Aus: Ewald Wagner, Grundzüge der klassischen arabischen Dichtung, Band II: Die arabische Dichtung in islamischer Zeit, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1988, S. 1-30 (Einleitung: „Der Islam und die Dichtung“) Dichter – Statthalter des Säkularen und der Klassik Die Botschaft des Islam bedeutete einen tiefen Einschnitt in das Leben der Araber. Das galt sowohl in weltanschaulicher ls auch in sozialer Hinsicht … Was gute und böse Taten sind, wurde jetzt nicht mehr durch den von der Religion unabhängigen beduinischen Ehrenkodex bestimmt … Die Ethik der Mannestugend (murûwa) war durch die Ethik der Religion (dîn) ersetzt worden … [Im Gegensatz zu dieser traditionellen Ansicht der Orientalisten und Arabisten betont die neuere Forschung] die Kontinuität zwischen vorislamischer und islamischer Zeit. W. M. Watt2 sieht keinen so entscheidenden Gegensatz zwischen murûwa und dîn und glaubt vielmehr, dass die islamische Offenbarung versucht habe, die Tugenden der murûwa, die im städtischen Mekka verlorengegangen waren, neu zu beleben. (S. 1) [Die ambivalente Haltung des Koran zu den Dichtern ergab sich vordergründig aus der Aufgabe], die … göttliche Inspiration gegen diejenige der Dichter abzugrenzen. Der absolute Wahrheitsgehalt der koranischen Offenbarung durfte nicht mit den „Lügen“ der Dichter gleichgesetzt werden (S.2 f.) Kommentar (G. Liedl): Erstens – die Dichter stehen nicht in Konkurrenz zum Gotteswort. Durch die unbestreitbare „Andersheit“ des Gotteswortes (vgl. das später dann auch theologisch ausgebaute Theorem von Gottes absoluter „Eigenschaftslosigkeit“) ergibt sich eine apriorische Nicht-Konkurrenz zwischen vorislamischer, notabene „heidnischer“ Dichtung und dem Heiligen Buch. Diese Grundvoraussetzung einer religiösen Pragmatik (der Begriff dazu lautet dîn) konnte somit problemlos als Forderung einer auch durch das Heilige Buch nie in Frage gestellten murûwa (säkularen Tugend) auf die politische Ebene transferiert werden, womit sich die Poetik auch unter dem Islam gesellschaftlich in exakt der gleichen Rolle befand wie in der „heidnischen“ Zeit. Somit aber konnte in weiterer Folge (d.h. im Rahmen einer höfischen „Hochkultur“) die Poetik zur Türöffnerin und/oder Statthalterin für andere säkulare Formen der Intellektualität und des Klassizismus 2 Muhammad at Mecca, Oxford 1953, 82. 5 werden – also insbesondere einer wissenschaftlichen Literatur als mehr oder weniger bewusster Fortsetzung der „heidnischen“ Antike zugute kommen, die dann genauso wenig in Konkurrenz zum Heiligen Buch gesehen werden musste wie die altarabische Klassik, der man eine solche „Autonomie“ ja bereits zugestanden hatte. Der historische Beweis findet sich in der schon unter den ersten „rechtgeleiteten“ Kalifen erfolgten Rehabilitierung vorislamischer Dichtung – vgl. Wagner, S. 3: [Dichterfreundliche] Traditionen, die sowohl vom Propheten als auch von dem Kalifen ‘Umar und dem „Korankommentator“ Ibn ‘Abbâs überliefert wurden, dienten der späteren Rechtfertigung der Poesie … Um das spätere Sammeln der heidnischen Gedichte durch die Philologen zu rechtfertigen, wurden wiederum Ibn ‘Abbâs Traditionen in den Mund gelegt, die zum Studium der alten Dichtung zum Zwecke der Koraninterpretation ermutigen. Kommentar (G. Liedl): Zweitens – wenn die (vorislamische) Dichtung, was sie nur selten tut, ausnahmsweise einmal doch „religiös“ argumentiert, dann nur in vager Berufung auf ein „Schicksal“ (vergleichbar dem griechisch-antiken Moira-Begriff). Somit lässt sich aber logisch eine Brücke schlagen von der heidnischen Dichtung zur negativen Theologie im Islam, nämlich zur Eigenschafts- und Bildlosigkeit Gottes. Wagner, S. 4 ff.: Es stellt sich die weitere Frage, warum die Religion in der vorislamischen Dichtung keinen rechten Platz gefunden hat. Hierfür mögen zwei Gründe eine Rolle gespielt haben. Einmal handelt es sich bei der vorislamischen Religion um Stammeskulte, die Dichtung war aber übertribal … Das mag auch … der Grund dafür sein, dass in der altarabischen Dichtung, wenn überhaupt von Göttern die Rede war, kaum die Stammesgottheiten, sondern meist der übertribale Allâh genannt wurde. Der zweite Grund für die untergeordnete Rolle der Religion in der altarabischen Poesie wird darin zu finden sein, dass die Ethik offensichtlich religionsunabhängig war. Sie wurde von den Notwendigkeiten des beduinischen Zusammenlebens bestimmt. Die häufige Behandlung ethischer Themen in der Poesie blieb deshalb im außerreligiösen Raum. (S. 4 f.) Sehr häufig erscheint das Schicksal in der altarabischen Poesie. Seine Unausweichlichkeit ist Thema gnomischer Verse, findet sich in der Trauerpoesie, aber auch im Selbstlob, da die Tugend der ausdauernden Standhaftigkeit (sabr) die einzige Möglichkeit ist, dem Schicksal zu begegnen.3 (S. 6) Das Walten des Schicksals war unabhängig von den Göttern, das Schicksal wurde nicht verehrt und konnte nicht durch Opfer oder Gebete beeinflusst werden. (S. 7) Kommentar (G. Liedl): Drittens – das Paradigma einer „heidnisch“-vorislamischen Poetik als Hüterin von altarabischer murûwa (säkularen Tugend) scheint bereits ganz zu Anfang der islamischen Ära auf weitere Felder einer zu bewahrenden „klassischen Kontinuität“ arabischer Geschichte und Soziologie übertragen worden zu sein. Vgl. die Hadithen-Sammlung des Sahîh al-Bukhârî. 3 H. Ringgren: The Concept of sabr in pre-Islamic poetry and in the Qur’an, Islamic Culture 26 (1952), 75-90. 6 Aus: Sahîh al-Bukhârî, Nachrichten von Taten und Aussprüchen des Propheten Muhammad, Edition: Dieter Ferchel, Stuttgart (Philipp Reclam jun.) 1991, S. 342 f. ‘Urwa Ibn az-Zubair berichtet, ‘Â’isha, die Frau des Propheten (S), habe erzählt: In vorislamischer Zeit gab es vier verschiedene Formen der Heirat und Ehe. Eine von ihnen entspricht der heutigen Heirat. Ein Mann hält bei einem anderen Mann um dessen Tochter oder Schutzbefohlene an. Das Brautgeld wird festgelegt, und dann heiratet er sie. Eine andere Art der Ehe war folgende: Der Mann sagte zu seiner Frau, wenn ihre Menstruation vorüber war: „Halte dich an den Soundso und geh eine Beziehung mit ihm ein!“ In der Folgezeit blieb der Ehemann ihr fern und rührte sie nicht an, bis sie von jenem anderen Mann ein Kind erwartete. Wenn Sicherheit über ihre Schwangerschaft bestand, konnte er ihr wieder beiwohnen. Dieser Art der Ehe lag der Wunsch nach einem Kind von besonders edlem und vornehmen Blute zugrunde. Bei der dritten Kategorie von Ehe hatte eine Gruppe von nicht mehr als zehn Männern sexuelle Beziehungen zu einer Frau. Oft wurde sie schwanger und brachte ein Kind zur Welt. Einige Tage nach der Entbindung rief sie ihre Liebhaber zusammen, und keiner von ihnen hatte das Recht, dieser Zusammenkunft fernzubleiben. Sobald alle versammelt waren, sagte sie: „Ihr wisst, warum ihr hier seid! Ich habe ein Kind geboren, und es ist dein Kind, o Soundso!“ Dabei nannte sie nach Belieben den Nmen eines der Männer. Das Kind war damit diesem Mann zugewiesen, und er hatte nicht sie Möglichkeit, die Vaterschaft zurückzuweisen. (S. 342) Bei der vierten Art von Ehe verkehrten viele Männer mit einer Frau. Diese Frauen waren Prostituierte, sie verweigerten sich keinem. Über den Türen ihrer Häuser befestigten sie Fahnen als Zeichen für die Männer, und wer mit ihnen schlafen wollte, begab sich zu ihnen. Wenn eine solche Frau ein Kind zur Welt brachte, wurden alle ihre Liebhaber zusammengerufen und die Physiognomen eingeladen. Diese Gelehrten ordneten das Kind jenem Mann zu, den sie als den Vater erkannten. Ihm wurde das Kind zugesprochen, und es galt als sein Kind, ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte. Als Muhammad (S) gesandt wurde, um die göttliche Wahrheit zu verkünden, schaffte er diese Bräuche aus vorislamischer Zeit ab. Es blieb nur die Art von Heirat und Ehe, die heute üblich ist. (S. 343) Die Bedeutung der „Klassik“ als Instrument des Wissens und der Praxis Aus: Gotthard Strohmaier, Von Demokrit bis Dante. Die Bewahrung antiken Erbes in der arabischen Kultur, Hildesheim – Türich – New York (Georg Olms Verlag) 1996, S. 145 ff. (Die im Original in griechischer Schrift gesetzten Begriffe sind hier aus Gründen der leichteren Reproduzierbarkeit transkribiert) 7 Der Einfluss griechischen Denkens auf das Geistesleben des islamischen Mittelalters ist so bedeutend gewesen, dass es auf den ersten Blick sinnvoll erscheinen muss, diese Seite des Nachlebens der Antike auch anhand einer bestimmten ausgewählten Wortgruppe zu verfolgen. (S. 145) Die unter dem Islam geeinten arabischen Stämme, die sich als neue Herrenschicht über der koptischen, syrischen und griechischen Bevölkerung des Vorderen Orients etablierten, beließen diese in einer gewissen Selbständigkeit, die ihr die Freiheit des christlichen Kultus und auch eine gewisse rechtliche Autonomie sicherte. Als Steuerzahler waren die Christen dem neuen Reich unentbehrlich, und aus ihren Reihen kamen in Ägypten und Syrien die ersten Beamten, deren die neue Verwaltung nach dem Abzug der verhassten Byzantiner bedurfte. Nichtsdestoweniger blieb das Griechische noch 63 Jahre nach der Eroberung in Ägypten die Amtssprache, bis es 706 durch das Arabische abgelöst wurde. (S. 146) Im folgenden sind auch einige Wörter aufgezählt, deren griechische Herkunft nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann. 1. archôn: urkûn, die Bezeichnung für einen Großgrundbesitzer oder den Vorsteher eines Dorfes oder einer Stadt … Die Bildung des genuin arabischen inneren Plurals arâkina zeigt an, dass es nicht mehr als Fremdwort empfunden wurde. … Die Archonten, die in den Systemen der Gnostiker als dämonische Mächte ihr Wesen treiben und als solche auch dem Neuen Testament nicht fremd sind (1. Korintherbrief 2, 6.8), haben ebenfalls Eingang in muslimisches Denken gefunden, bei dem Sektenhistoriker Ash-Shahrastânî sind die arâkina zusammen mit ‚Satanen‘ shayâtîn und ‚Teufeln’abâlisa genannt.4 (S. 147) 2. dêmos: Von den zahlreichen Ableitungen dieses Wortes scheint in der hier zu behandelnden Periode nur daimâs ‚Kerker, Gewölbe‘, auch in den Formen dîmâs, daimûs und mit dem inneren Plural dayâmîs, auf griechisch dêmosion in der Bedeutung von ‚Gefängnis‘ zurückzugehen. (S. 147) 3. dikastês: Dass qistâs oder qustâs ‚Waage‘ etwas mit der griechischen Bezeichnung für den Richter zu tun haben könnte, erscheint auf den ersten Blick wenig wahrscheinlich. Zu den vielen Argumenten … lässt sich aber vielleicht zusätzlich anführen, dass auch bei dem schon im Koran vorkommenden iblîs ‚Teufel‘ ein gleicher Wegfall der ersten Silbe von griechisch diábolos vorauszusetzen ist, vermutlich deswegen, weil sie als syrische Genetivpartikel missverstanden worden war. (S. 147 f.) 4. idiôtês: Von dem Wort, das schon im Griechischen zum Schimpfwort wurde, … ist die Beziehung zu ‘idhyaut oder ‘udhyaut (ein Mann, der mit verschiedenen Erscheinungsformen sexueller Impotenz behaftet ist) … [unsicher]. (S. 148) 4 Mukhtâru l-hikam, hrsg. v. ‘Abdurrahmân Badawî, Madrid 1958, S. 41. 8 5. hippiatrós: Die Weiterentwicklung zu baitâr ‚Tierarzt‘ über syrisch pyatrâ ist eindeutig. Die Übernahme ist hier so früh erfolgt, dass schon bei einem vorislamischen Dichter des 6. Jh. ein von dem davon abgeleitetes Verb baitara ‚Tierheilkunde betreiben, ein Pferd beschlagen‘ gebildetes Partizip mubaitir nachzuweisen ist. (S. 148) 6. kápêlos: qabîl hatte neben vielen anderen Bedeutungen auch die des ‚cabaretier‘5 und ist in dieser Eigenschaft sicher mit griechisch kápêlos identisch. (S. 148) 7. kórê: Nach einer Vermutung Heinrich Leberecht Fleischers soll kûra ‚Hure‘ von griechisch kórê 6 abstammen.7 Derartige Bedeutungsverschlechterungen sind bei Entlehnungen von einer Sprache in die andere in der Tat zu beobachten, man vergleiche französisch ‚visage‘ mit dem deutschen ‚Visage‘. (S.148) 8. lêstês: liss, lass oder luss ‚Dieb, Räuber‘ geht, wie die seltenere, vom Stamm der Tayyi‘ beibehaltene Nebenform list beweist, auf lêstês zurück. In dieser Nebenform ist der letzte Konsonant noch nicht assimiliert. liss wurde so vollständig als arabisches Wort empfunden, dass von ihm das Partizip mutalassis ‚Marodeur, Plünderer‘ gebildet wurde. 9. mîmos: mûmis oder mûmisa ‚Hure‘ … geht … auf griechisch he mîmos oder mimás 8 zurück. … mîmsûtâ bezeichnet ‚ars mimi, adulterium, impuritas, effeminatio, fornicatio‘.9 Für die Verachtung des Schauspielerstandes und sein zunehmendes gesellschaftliches Abgleiten in der nachgriechischen Antike gibt es auch aus dem christlichen und islamischen Orient zahlreiche Belege (S. 148 f.). 10. musikós: Die entsprechende arabische Vokabel mûsîqâr ‚Musiker, Komponist‘ ist eine Übernahme des syrischen mûsîqârâ ebenso wie mûsîqî ‚Musik‘, das über das gleichlautende syrische Wort auf he musikê zurückgeht. Eigentümlich ist die Endung –âr, sie ist nichts anderes als lateinisch -arius, das auch im Spätgriechischen als arios heimisch wurde. Im Syrischen wurde es als Suffix für Berufsbezeichnungen erneut produktiv (S. 149). 11. naútês: nûtî oder nautî ‚Matrose‘ ist nichts anderes als naútês. Djauharî, der bedeutendste Lexikograph des 10. Jh., möchte den Ausdruck speziell dem Arabisch des syrischen Gebietes zuweisen, doch begegnet er bereits bei dem Bagdader Poeten Abû Nuwâs (gestorben um 810). Das Wort wurde offenbar als genuin arabisch empfunden, denn in der alten arabischen Übersetzung von Artemidors Traumbuch ist er abwechselnd mit dem synonymen mallâh sowohl für kybernêtês wie auch für naútês eingesetzt. (S. 149) 5 R. Dozy, Supplément aux dictionnaires arabes, Leiden – Paris 1927 ‚Mädchen‘ (Anm. G. Liedl) 7 De glossis Habichtianis, Leipzig 1936, S. 16; M. Ullmann, Wörterbuch der klassischen arabischen Sprache, Wiesbaden 1960 ff. 8 ‚die Schauspielerin‘ (Anm. G. Liedl) 9 ‚Schauspielkunst, Ehebruch, Unreinheit, Verweichlichung, Hurerei‘ (Anm. G. Liedl) 6 9 12. philósophos: Das Wort pflegt auch Ungebildeten geläufig zu sein, somit braucht man bei dem arabischen failasûf … nicht an eine literarische Übernahme auf dem Weg der Transkription zu denken, im Unterschied zu dem verwandten sûfistâ’î (sophistês) … Dem großen Gelehrten al-Bîrûnî (973 – 1048) … [ist] die richtige Etymologie geläufig, er übersetzt failasûf mit muhibbu l-hikma ‚Liebhaber der Weisheit‘.10 (S. 149 f.) Heidnische Götter als Versatzstücke islamischer Bildung? A. „Homer in Bagdad“. Aus: Gotthard Strohmaier, Von Demokrit bis Dante. Die Bewahrung antiken Erbes in der arabischen Kultur, Hildesheim – Türich – New York (Georg Olms Verlag) 1996, S. 222 – 226. Die Laufbahn des jungen arabischen Medizinstudenten Hunain ibn Ishâq (808-873), der nachmals zu einem bedeutenden Übersetzer aus dem Griechischen wurde, nahm un das Jahr 827 eine dramatische Wendung, als er in Bagdad seinem Lehrer Yûhannâ ibn Mâsawaih durch zu vieles Fragen lästig fiel und deswegen aus dem Hörsaal gejagt wurde. … Eine Episode … hat seit jeher das besondere Interesse der arabischen wie der byzantinistischen Forschung erregt. Der Erzähler Yûsuf ibn Ibrâhîm11 wollte bei einem in Bagdad lebenden Griechen einen Krankenbesuch machen, als er gewahr wurde, dass der Patient bereits einen anderen empfangen hatte, dessen Gesicht durch lang herabfallende Haare verdeckt war und der „auf griechisch eine Dichtung von Homer, dem Fürsten der griechischen Dichter,12 rezitierte“. Der Hausherr war ein sachverständiger Zuhörer, denn er war von seiner Tante, einer griechischen Sklavin des Kalifen Hârûn ar-Rashîd namens Chryse, mit der Literatur des fernen Vaterlandes vertraut gemacht worden. Der Fremde war natürlich kein anderer als Hunain, und seine neue Haartracht war die der byzantinischen Scholastikoi. Wie weitreichend seine Homerkenntnis in der Tat gewesen ist, lässt sich seinen Galenübersetzungen entnehmen. (S. 222) [Über die bei Galen vorkommende] Floskel „die Heilmittel des Paian“ (ta Paiônia phármaka) [heißt es beim Hunain-Biographen Ibn abî Usaibi’a]: „Hunain sagt: Dieser Paian ist ein Mann, den der Dichter Homer erwähnt. Er galt bei ihnen als ein Prophet und als ein vorbildlicher Arzt.“ Dass der Arzt der Götter13 … hier nur als „ein Mann“ vorgestellt wird, erklärt sich daraus, dass in der syrischen und arabischen Übersetzungsliteratur mit großer Konsequenz alle Spuren des antiken Polytheismus getilgt sind. Der Ausdruck „Prophet“ ist wahrscheinlich als eine Anspielung auf die mantische Funktion Apollons zu verstehen, mit dem Paian in nachhomerischer Zeit vielfach identifiziert wurde.14 (S. 222 f.) 10 Alberuni’s India, hrsg. v. E. Sachau, London 1887, S. 16 Yûsuf ibn Ibrâhîm ibn ad-Dâya, zitiert bei Ibn abî Usaibi’a: ‘Uyûn al-anbâ‘ fî tabaqât al-atibbâ‘. Edition: A. Müller, Kairo 1882, Band I, S. 185 f. (Anm. G-. Liedl) 12 Ûmîrus ra’îs shu’arâ‘ ar-Rûm: Homer, Oberhaupt der griechischen (eigentlich: „römischen“) Dichter. (Anm. G. Liedl) 13 Vgl. Ilias, Verse 401 und 900; Odyssee, IV 232 (Anm. G. Liedl) 14 Vgl. den Artikel „Paian“ von A. v. Blumenthal, in Pauly: Realenzyklopädie, Band XVIII, Stuttgart 1942, Spalte 2340 – 2343 (Anm. G. Liedl) 11 10 Der noch heute in der medizinischen Nomenklatur verwendete Terminus „Amnion“ für die sogenannte Schafhaut des Embryos ist ursprünglich die Bezeichnung für ein Gefäß, das beim Schlachtopfer verwendet wurde. Er begegnet in dieser Bedeutung nur einmal bei Homer15 … „Hunain sagt: Wenn man ein Tier opferte, fing man sein Blut mit einem Gerät auf, mit dem man es aufnahm. Man nannte jenes Gerät mit diesem Namen, und man nannte diese Haut mit seinem Namen, weil sie ihm in der Form ähnlich ist.“ Er konnte dieses Wissen nicht dem galenischen Kontext, sondern nur der genannten Homerstelle entnehmen. (S. 223) [Hunain war auch über die antike Homer-Exegese im Bilde, wie seine Übersetzung der Galenischen Wendung „im Lande der Eremboi“ beweist:] Der Name ist homerisch, Menelaos soll dieses Volk auf seiner Irrfahrt besucht haben (Od. IV 84). Die Identifizierung war schon in der Antike strittig, einige Erklärer dachten an die Araber, andere an die Äthiopier, wieder andere an die Inder. Hunain sind alle diese Versuche bekannt, und da er sich selber für keinen von ihnen entscheiden möchte, bringt er sie zusammen in seiner Übersetzung unter, so dass sein Äquivalent lautet: „das Land der Araber, das Land Äthiopien, Sind und das Land Hind.“ Sind bezeichnet im arabischen Sprachgebrauch das untere Industal, Hind den östlich anschließenden Teil des Subkontinents, und beides musste herangezogen werden, um dem Begriff für Indien zu entsprechen. (S. 224) [Erklärungen griechisch-antiker Sachverhalte für den arabischen Leser – in Hunains Übersetzung des „Traumbuches“ von Artemidor:] Dem Namen des Agamemnon, der dem griechischen Leser nicht erklärt zu werden brauchte, ist im Arabischen die folgende Bemerkung angefügt: „Das war der bedeutende König, der die Führung des Krieges übernommen hatte, den es zwischen den Griechen und den Barbaren gab“. (S. 224) Die zahlreichen Anspielungen des Traumbuches auf Einzelheiten des kulturellen und religiösen Lebens der Antike mussten bei dem Übersetzer zu einigen Missverständnissen Anlass geben.16 Gut Bescheid weiß er aber, wenn ein Kyklop erwähnt wird. Dem arabischen Leser zuliebe paraphrasiert er: „der Riese, der Kyklops heißt“. Und wenn er die Skylla als „Hündin des Meeres“ umschreibt, scheint er an den Vers gedacht zu haben, in dem ihr Geschrei mit dem eines jungen Hundes verglichen wird (Od. XII 86). (S. 224 f.) Es bleibt die Frage, wo Hunain seine gediegene, wenngleich ganz einseitig an Homer ausgerichtete klassische Bildung erworben hat. Die griechische Sprache konnte er auch in Bagdad erlernen … Eine höhere Schulbildung, die auch ein derart intensives Homerstudium einschloss, war aber doch wohl nur in Konstantinopel zu erhalten. … Arabische Bibliographen versichern, dass sich Hunain zum Zweck des Erwerbs von Handschriften auf byzantinisches Territorium begeben habe. Ob damit seine Studienjahre oder eine spätere Unternehmung gemeint sind, muss offen bleiben. (S. 225) 15 Vgl. Odyssee, III 444 (Anm. G. Liedl) Elisabeth Schmitt, Lexikalische Untersuchungen zur arabischen Übersetzung von Artemidors Traumbuch. Wiesbaden 1970, bes. S. 196-203. 16 11 … Homer [war] den arabischen Literaten späterer Zeiten durchaus kein Unbekannter. Der syrischen Übersetzung des Theophilos von Edessa (gest. 785) … ist sicherlich keine große Nachwirkung beschieden gewesen. Dennoch begegnen echte Verse, die aber …, oft ohne Quellenangabe, in einen neuen Kontext übernommen wurden. Außerdem kommt der Name Homers in den arabischen Gnomologien17 vor, wo ihm neben anderen Weisheitssprüchen und Anekdoten auch der Komplex der sogenannten Menandersentenzen zugeschrieben ist. (S. 226) B. „Die griechischen Götter in einer christlich-arabischen Übersetzung. Zum Traumbuch des Artemidor in der Version des Hunain Ibn Ishak“. Aus: Gotthard Strohmaier, Von Demokrit bis Dante. Die Bewahrung antiken Erbes in der arabischen Kultur, Hildesheim – Türich – New York (Georg Olms Verlag) 1996, S. 227 – 262. [Über das Ausmaß der „monotheistischen Umformung“]: Eine Klärung des Sachverhalts verspricht zunächst einige Aufschlüsse über die geistige Situation, in der sich ein gebildeter arabischer Christ der ‘Abbâsidenzeit befand18 … [Im Falle des Traumbuchs] ist der griechische Originaltext erhalten. Dies gestattet, das Maß der Umformungen und Auslassungen exakt zu bestimmen. Hinzu kommt, dass das Traumbuch mythologisches und kultisches Material in reicher Fülle enthält … Die Traumdeutung stand bei den Arabern von alters her in hohem Ansehen, und auch Hunains größte medizinische Autorität, der sonst mehr skeptisch eingestellte Galen, erkannte die Möglichkeit zukunftsweisender Träume an. Die Begegnung mit der griechischen Mythologie ergab sich also für Hunain nebenher; er hat sie nicht absichtlich gesucht. (S. 228 f.) Woran Hunain in seiner Vorlage Anstoß nimmt und was er in seiner Übersetzung unkenntlich zu machen sucht, ist zunächst der Polytheismus im allgemeinen, ferner bestimmte Eigenschaften der Götter, wie ihre Familienbeziehungen, ihre Geschlechtsunterschiede, dass sie Hoheitszeichen tragen u. a. Darüber hinaus werden Äußerungen spezifisch heidnischer Religiosität und Ethik unterdrückt, im übrigen sucht der Übersetzer für den Kultus, den Artemidor voraussetzt, passende Analogien in der eigenen Umgebung zusammen. (S. 230) [Hunain und der antike Polytheismus]: Wenn Artemidor allgemein von den Göttern redet, so stzt Hunain dafür, je nachdem, wie es ihm passend erscheint, die Engel ein19 oder Gott oder auch Gott und seine Engel. Die Göttinnen werden in der gleichen Weise behandelt.20 Im Rahmen dieser Gleichsetzung meistert Hunain auch andere Schwierigkeiten, die olympischen Götter macht er z.B. zu den Engeln des Himmels oder zu den Engeln der Gestirnsphäre oder den ätherischen Engeln. … (S. 231) 17 Sprichwörtersammlungen (Anm. G. Liedl) Hunain war nestorianischer Christ (Anm. G. Liedl) 19 malak pl. malâ’ika passim; die alten Götter durch die Engel des neuen Glaubens zu ersetzen, scheint eine Eigentümlichkeit der Hunainschule zu sein … (Anm. Strohmaier, gekürzt) 20 Z. B. pará tais theais en Eleusîni ergibt li-llâh (für Gott) …; theous te kai theás al-malâ’ika (die Engel) … (Anm. Strohmaier, gekürzt) 18 12 Wo Artemidor von irgendeinem Gott (theós ohne Artikel) redet, bleibt dem Übersetzer der polytheistische Hintergrund bewusst; so interpretiert er die dynamis … theou, die einem Herrscher eigen ist, als Kraft der Engel, im Traum ein Gott zu werden (theós … genéstai) heißt nunmehr: ein Engel werden. (S.231 f.) [Keine Dämonisierung des polytheistisch Göttlichen]: Die Götter werden also nicht, wie dies bei den Kirchenvätern üblich war, mit den Dämonen gleichgesetzt, entsprechend werden hier die Götterbilder nicht als Götzenbilder (asnâm) interpretiert, sondern immer als die Standbilder der Engel. (S. 232) Auch die einst von Stoikern und Neuplatonikern geübte allegorische Deutung der Götternamen weiß sich Hunain zunutze zu machen. Süße Äpfel sind ein Attribut der Aphrodite … Etwas weiter unten wird Aphrodite einfach der Lust gleichgesetzt. (S. 233) Dass Dionysos Gott des Weines ist, war Hunain wohlbekannt, so kam er zur Auffassung, dass unter dem Ausdruck hoi perì tòn Diónyson technîtai 21 eine Art Winzer zu verstehen seien. Woher sollte er auch wissen, dass damit Musikanten und Schauspieler gemeint sind? (S. 234) In drei Fällen wird eine Gottheit mit einem Planeten identifiziert. Und zwar wird zweimal für Aphrodite der arabische Name der Venus eingesetzt,22 einmal für Hermes der des Merkur. 23 … Offenbar ist Hunain hier von astrologischen Anschauungen beinflusst, die alle irdischen Gegebenheiten wie Länder, Völker, Religionen, Steine, Körperteile und auch Pflanzen und Tiere nach den Einflusssphären der einzelnen Planeten zu gruppieren suchten. (S. 235) [Das Problem der Zweigeschlechtlichkeit der antiken Götter]: Die Engel sind männlichen Geschlechts, und auch wenn sie ihrer Herkunft nach eigentlich Göttinnen sind, werden sie im grammatischen Zusammenhang rigoros als Maskulina behandelt. … Schwierig wird es, wenn Artemidor ausdrücklich die „männlichen“ von den „weiblichen“ Gottheiten unterscheidet, aber Hunain weiß sich zu helfen, indem er von den Engeln mit maskulinen Namen und denen mit femininen Namen redet. … An einer Sexualität der „Engel“ nimmt Hunain keinen Anstoß, wie überhaupt die zahlreichen Obszönitäten seiner Vorlage in keiner Weise gemildert sind. (S. 239) [Das Problem der heidnischen Mythen]: Wo Artemidor auf einzelne Göttermythen anspielt, vergisst Hunain nicht hinzuzufügen, dass es sich nur um einen Mythos handelt. (S. 242) Wo Artemidor auf das Heer der niederen Geister zu sprechen kommt, bemüht sich Hunain, z.T. jedenfalls, im Volksglauben seiner Zeit Parallelen zu finden. Die daímones erscheinen in seiner Übersetzung in immer anderer Gestalt, mit den Engeln werden sie jedoch niemals gleichgesetzt. Das eine Mal ist ein daímôn ein shaitân, dann wieder findet sich für die Dämonen die Übersetzung ‘ummâr, ein anderes Mal 21 22 23 „Die Handwerker (Künstler), welche den Dionysos umgeben“ (Anm. G. Liedl) az-zuhara, arab. „(Planet) Venus“ (Anm. G. Liedl) ‘utârid, arab. „(Planet) Merkur“ (Anm. G. Liedl) 13 djinn, ein weiteres Mal sind sie nur transkribiert, an zwei Stellen sind sie ausgefallen, vielleicht ohne Absicht. – Bemerkenswert ist es, dass Hunain auch die Heroen in einem Fall mit den djinn identifiziert. Nach der gängigen Vorstellung sind Heroen Schutzpatrone und Kulturbringer, aber daneben spielen sie im griechischen Volksglauben auch die Rolle von Totengeistern und bösen Erddämonen. Wie Hunain ausgerechnet auf diese Vorstellung kommt, ist schwer zu sagen, vielleicht war sie ihm auf literarischem Wege vermittelt. (S. 242 f.) [Heidnische Jenseitsvorstellungen]: Die Jenseitsvorstellungen seiner Vorlage meistert Hunain auf folgende Weise: In einem Kapitel übersetzt er den Hades als Jenseits.24 Dabei stört es ihn nicht, dass man in den geschilderten Träumen zu ihm hinabsteigt und wieder aus ihm heraufsteigt. … Wo es aber in anderem Zusammenhang heißt, dass die Ebene im Hades voll von Asphodelos sei, entscheidet sich Hunain für die Gleichsetzung des Hades mit der Hölle.25 (S. 245) [Fazit]: Bei den bisher bekanntgewordenen Übersetzungen der Hunainschule blieb die Frage offen, inwieweit die eigenwillige Behandlung religiöser Aussagen bewusst erfolgt ist oder in der Hauptsache auf eine bloße Unkenntnis der alten Mythologie und des alten Kultus zurückzuführen ist. Das vorgelegte Material aus dem Traumbuch dürfte den Eindruck vermittelt haben, dass es mit dieser Unkenntnis nicht allzu schlimm bestellt war. Den Umdeutungen liegt vielmehr in der Hauptsache eine bewusste Tendenz zugrunde. (S. 250) Überaus schwierig ist es, sich über deren Motive Klarheit zu verschaffen. Mit einem Hinweis auf die christliche Frömmigkeit des Übersetzers ist es nicht getan. Auch die byzantinischen Abschreiber des Artemidor wie auch der übrigen alten Literatur waren Christen, dies hat die Textüberlieferung nur selten beeinträchtigt. Und gerade von einem sorgsamen Philologen wie Hunain … sollte man Redlichkeit auch an solchen Stellen erwarten, die ihm aus religiösen Gründen unsympathisch waren. … F. Rosenthal hat in seiner Besprechung der arabisch erhaltenen des Galen zugeschriebenen Kommentars zum hippokratischen Eid die einleuchtende Erklärung vorgetragen, dass Hunain vor allem auf die Anfänger in den Wissenschaften Rücksicht nehmen wollte. Die Reden über die alten Götter wären der monotheistisch erzogenen Jugend als barer Unsinn vorgekommen und wären geeignet gewesen, die griechische Wissenschaft in ihrer Gesamtheit zu diskreditieren.26 (S. 253 f.) [Ein christlich-muslimische Kontroverse? Der muslimische Zeitgenosse Hunains, der Literat al-Djâhiz, behauptet in seiner] sehr polemisch gehaltenen Abhandlung „Arradd ‘ala n-nasârâ (Widerlegung der Christen)“ …, dass die Christen mit Hilfe der griechischen Wisenschaften ihre Religion in den Augen der Araber aufzuwerten suchten, indem sie es nach Möglichkeit vertuschten, dass der Glaube derjenigen, die diese Wissenschaften schufen, ein ganz anderer war als der ihrige. Die interessante Stelle sei hier vollständig wiedergegeben: „Diese Leute (scil. Aristoteles, Ptolemaios, Euklid, Galen u.a.) gehörten zu einem Volk, das untergegangen ist, von dem aber die 24 25 26 al-âkhira al-djahîm F. Rosenthal, Das Fortleben der Antike im Islam. Zürich – Stuttgart 1965, S. 45 f. 14 Werke seines Genius geblieben sind, und das waren die Griechen. Ihre Religion wie auch ihre Kultur war eine andere als die der Christen. Jene waren Wissenschaftler, diese sind Banausen, die aus Gründen der geographischen Nachbarschaft in den Besitz ihrer Bücher gelangten. Von diesen schrieben sie einige sich selbst zu, andere änderten sie, um sie ihrer Religion anzupassen. Wenn jedoch diese Bücher und ihre Lehren zu bekannt sind, als dass sie in der Lage gewesen wären, an ihren Namen etwas zu ändern, so behaupten sie, dass die Griechen ein Stamm der Byzantiner waren, und sie brüsten sich mit ihrer Religion gegenüber den Juden, den Arabern und den Indern. Sie erklären sogar, dass unsere Gelehrten und Philosophen nur die Nachfolger ihrer Gelehrten seien und in deren Fußstapfen träten“. … Nun schließen die drei genannten Motive, Sorge um das Ansehen der griechischen Autoren, Rücksichtnahme auf orthodoxe Kreise, Aufwertung des Christentums in den Augen der Muslime, einander keineswegs aus, sie können auch alle drei zusammen wirksam gewesen sein. Auf alle Fälle stand Hunain unter dem Zwang, schon durch seine Übersetzung beweisen zu müssen, dass das Heidentum kein konstitutives Element der griechischen Wissenschaft war. (S. 255 f.) C. Al-Bîrûnî, ein islamischer Aufklärer? Aus: Al-Bîrûnî, In den Gärten der Wissenschaft. Ausgewählte Texte aus den Werken des muslimischen Universalgelehrten, übersetzt und erläutert von Gotthart Strohmaier, Leipzig (Reclam-Verlag) 1991 [Klappentext]: Al-Bîrûnî (973-1048), genialster Gelehrter des islamischen Mittelalters, blieb im Unterschied zu Avicenna für das europäische Denken folgenlos, weil er als Empiriker nicht daraus aus war, die Wahrheit durch Harmonie und logische Geschlosenheit eines Systems zu erweisen. „Die nur Autoritäten folgen und ihre Prinzipien dem entnehmen, was ihnen gesagt wird, ohne dass damit eine Methode der Überprüfung einhergeht“, die – so al-Bîrûnî in seinem berühmten Buch über Indien – „machen einen gestörten Eindruck.“ Er überprüfte und vervollkommnete das aus dem antiken Griechenland überlieferte Wissen, bewies die Kugelgestalt der Erde, berechnete den Erdumfang, baute einen Globus, versehen mit exakten Ortsangaben, machte Experimente zur Bestimmung des Vakuums und des spezifischen Gewichts von Mineralien, dachte nach über das Alter der Welt und die Herkunft der Menschen, verglich Christentum, Hinduismus und Manichäismus mit dem Islam, beschäftigte sich mit soziologischen und biologischen Fragen, sprach mehrere Sprachen und kam bei Aufenthalten außerhalb seiner choresmischen Heimat zu der Einsicht: „Kein Volk ist frei von Dummköpfen, und die haben wiederum Anführer, die noch dümmer sind“, was ihn aber nicht davon abbrachte, fest auf den Nutzen der Wissenschaften zu vertrauen. [Die Ausdehnung der Welt erfahren – und welche spezifischen Voraussetzungen die islamische Kultursphäre für den Empiriker bereit stellt. Aus der Einleitung des Herausgebers]: Bei dieser Gelegenheit konnte er ein Projekt verwirklichen, wie es in dieser Weiträumigkeit damals nur im Reich des Islam möglich war. Für den 24. Mai 997 wurde eine Mondfinsternis erwartet, und al-Bîrûnî hatte … mit dem in Bagdad lebenden weltberühmten und hochbetagten Mathematiker Abu l-Wafâ‘ al-Bûzdjânî vereinbart, das Ereignis für eine geodätische Messung zu nutzen. Denn war die 15 Ermittlung der geographischen Breite eines Ortes aus der Höhe des Sonnenstandes ein verhältnismäßig leichtes Unterfangen, so erwies sich die Längenbestimmung als viel schwieriger, weil es noch keine synchronen Uhren gab. Man musste sich an einem astronomischen Ereignis orientieren, das von allen Bewohnern der Erde gleichzeitig beobachtet werden konnte. Dazu eignete sich nicht die Sonnenfinsternis, wohl aber die Mondfinsternis. … Abu l-Wafâ‘ und ermittelten an jenem Tag als Differenz der jeweiligen Ortszeit von Bagdad und Kath genau eine Stunde, was einem Unterschied von 15 Grad entspricht. Der moderne Wert beträgt eine Stunde und fünf Minuten. (S. 11) [Empirie versus „Logik“ – eine Vorwegnahme des Problems der Scholastik]: [In seinem Disput mit Avicenna (Ibn Sînâ) hatte al-Bîrûnî] an den Grundfesten eines Systems gerüttelt [des Aristotelischen], zu dessen Verteidigung sich Avicenna berufen fühlte. … In diesem Sinne trägt er [al-Bîrûnî] auch keine Bedenken, in der Frage der möglichen Existenz mehrerer Welten die göttliche Allmacht zu bemühen, die über den einen Schwerpunkt des Aristoteles hinaus auch noch andere gesetzt haben kann. Genauso argumentiert fünf Jahrhunderte später Kopernikus, um die Erde gegen die Einwände der aristotelischen Physik in die Reihe der Planeten einordnen zu können. (S.12) [Vorwegnahmen „modern physikalischen“ Denkens – und der praktischen Grundlagen desselben in der Mechanik. Al-Bîrûnî behandelt verschiedene astronomische Konstruktionen], darunter eine, die auf der Vorstellung aufgebaut war, dass die Erde rotiert und der Fixsternhimmel stillsteht. Ein Zusatzgerät, das er selbst erfunden hatte, veranschaulichte über ein Zahnradgetriebe die Bewegung von Sonne und Mond, es handelte sich also um eine Art astronomischer Uhr … (S. 15) [Nach der Jahrtausendwende beschäftigte er sich auch] mit Metallen und Edelsteinen und baute zum Zweck der Dichtemessung ein geeignetes Überlaufgefäß in immer neuen Varianten, bis er eines mit einem engen Hals entwickelt hatte, in dem das Wasser beim Hineinwerfen der zu untersuchenden Substanzen besonders deutlich anstieg. Die gewonnenen Werte sind vom Standpunkt der modernen Physik aus gesehen erstaunlich genau. (S. 16) [Empirische Geographie. Vom Bau des ersten Globus, fünfhundert Jahre vor Martin Behaim: In al-Bîrûnîs 1025 in Ghazna (Afghanistan) veröffentlichter „Bestimmung der Grenzen der Orte zur Berichtigung der Entfernungen der Wohnsitze“, meist kurz „Geodäsie“ genannt,] findet sich eine … Stelle, die für die Geschichte der Geographie hochbedeutsam ist. Im Vertrauen auf die Möglichkeit ungestörten Arbeitens, heißt es da, habe er früher, die Kosten nicht scheuend, einen riesigen Halbglobus mit etwa fünf Meter Durchmesser gebaut, um auf ihm die auf astronomischem Wege ermittelten Längen und Breiten der Städte wie auch die von Reisenden mitgeteilten Entfernungen einzuzeichnen … Damit ist al-Bîrûnî nach gegenwärtiger kenntnis der erste, der einen Erdglobus hergestellt hat. (S. 18 f.) [Eine revolutionäre Methode zur Errechnung des Erdumfanges]: Um das Jahr 1023 befand er sich … in der Festung Nandana an einem strategisch wichtigen Einfallstor nach Indien. … Von einem benachbarten Berg eröffnete sich in südöstlicher Richtung 16 ein weiter Blick auf die Indusebene. Hier kam ihm der Gedanke, eine … Methode anzuwenden, die wahrscheinlich keine antiken Vorbilder hat, aber auch schon auf Geheiß al-Ma’mûns während eines Feldzuges gegen Byzanz ausprobiert worden war. Und zwar hatte der Kalif befohlen, an der kleinasiatischen Küste die Höhe eines Berges zu vermessen und von seinem Gipfel aus den Meereshorizont gegen die untergehende Sonne anzuvisieren. Die Abweichung des Winkels von der Horizontalen ist von der bekannten Höhe und von dem zu berechnenden Umfang der Erdkugel 27 abhängig. Al-Bîrûnîs Ausblick ging zwar nicht in Richtung auf den Sonnenaufgang, dennoch vermochte er die Horizontlinie der Ebene, die sich glatt wie die Oberfläche eines Meeres erstreckte, gegen das Blau des Himmels gut zu erkennen. Der ermittelte Wert von 110.275 Metern für den Grad ist erstaunlich genau28 (S. 20). [Empirie auch in den Sozialwissenschaften und in der Geschichtsbetrachtung; alBîrûnîs „ethnologischer Blick“. Das um 1000 entstandene Werk] trägt den Titel „Bleibende Spuren vergangener Generationen“ … und ist am ehesten zu definieren als eine Welt- und Religionsgeschichte, aus dem besonderen Blickwinkel des Astronomen geschrieben. Es geht ihm, von zahlreichen interessanten Exkursen abgesehen, um die Kalendersysteme der verschiedenen Völker und deren astronomische und religiöse Grundlagen. Die Objektivität, mit der er die nichtislamischen Religionen darstellt, verdient höchstes Lob, bemerkenswert ist seine Kenntnis der Bibel, die er auch in späteren Werken oft mit Hochachtung zitiert, obgleich ihm einzelne Widersprüche nicht verborgen bleiben. (S. 14) [Erste Ansätze einer vergleichenden Religionswissenschaft und einer „modernen“ Religionssoziologie – das Beispiel „Indien“]: Völlig neue Horizonte eröffneten sich … seiner Wissbegier durch die räuberischen Kriegszüge Mahmûds nach Indien, der in den Jahren 998 bis 1030 insgesamt siebzehnmal in den Subkontinent vorstieß. … AlBîrûnî hatte in Ghazna Gelegenheit, mit gefangenen Indern zu sprechen und in die Anfangsgründe des Sanskrit einzudringen. Außerdem hielt er sich mehrfach in den eroberten Gebieten des Pandschab auf … Immerhin gelang es ihm, in gelehrte Zirkel der Brahmanen einzudringen, wobei er sich von ihrem Eigendünkel nicht abschrecken ließ … Die Frucht aller dieser Bemühungen ist ein Buch über Indien, das in seiner Objektivität und seinem Materialreichtum weder in der Antike noch im Mittelalter und auch bis weit in die Neuzeit hinein nicht seinesgleichen hat und als Quelle von der modernen Indologie hoch geschätzt wird. … Sein Herangehen ist vom Geist der griechischen Wissenschaft geprägt und ausgesprochen rationalistisch. So erklärt er die Heiligkeit der Kühe mit ihrer wirtschaftlichen Bedeutung oder das Kastenwesen als eine Einrichtung, mit der sich die alten Könige die Beherrschung ihrer Untertanen erleichtern wollten … Beim Studium der exakten Wissenschaften der Inder … findet er immer wieder seine Auffassung von der Überlegenheit der alten Griechen bestätigt. Nur sie hätten sich zu einer rein physikalischen Betrachtungsweise der Natur durchringen können, bei den Indern hingegen bemerkt er … traurige Kompromisse mit dem Aberglauben der breiten Masse. … Aber die mythologischen Vorstellungen der Inder, die ihm als Muslim und als Wissenschaftler doppelt lächerlich vorkommen mussten, fesseln ihn trotzdem, denn er findet in ihnen 27 28 Nämlich der Krümmung der Erdoberfläche (Anm. G. Liedl) Nämlich auf 0,2 % genau: etwa 100 km Abweichung für den gesamten Äquator (Anm. G. Liedl) 17 wie auch in dem Bilderkult merkwürdige Parallelen zum Heidentum der alten Griechen. (S. 25 f.) [Vergleichenden Religionswissenschaft durch rationalistische Gelassenheit gegenüber dem „Heidentum“. Al-Bîrûnî hat sich Homer oder Hesiod] aus den gelegentlichen Zitaten in den übersetzten wissenschaftlichen Texten herausgesucht. Die Belesenheit, mit der er dies tat, ist wiederum erstaunlich. Immer aber bleibt er in seiner Drstellung der hinduistischen Religion kühl und sachlich und ohne missionarischen Eifer, nur manchmal kann er einen Anflug von Sarkasmus nicht unterdrücken. (S. 26) [Al-Bîrûnîs „Hellenismus“ und „Klassizismus“ – mit europäischer „Aufklärung“ verwandt? Über Quellenkritik und Quellenedition zur Objektivität. Das wissenschaftliche Ethos kennt weder Religions- noch Sprachbarrieren]: Er übersetzte, von indischen Helfern unterstützt, in beide Richtungen. Aus dem Sanskrit ins Arabische übertrug er einige Traktate medizinischen, mathematischen und astronomisch-astrologischen Inhalts, dazu ein religiöses Gespräch eines Asketen mit seinem Schüler … Umgekehrt übersetzte er ins Sanskrit, was ihm am nötigsten erschien, ein Handbuch über das Astrolab, den Almagest des Ptolemaios und die „Elemente“ des Euklid, und alles noch dazu in Verse, weil die Inder es anders nicht lesen wollten (S. 26 f.). Alexander der Große als Heros der islamischen Welt A. Al-Bîrûnîs Alexanderverehrung. Seine „wissenschaftliche“ Interpretation des „Gerechten Herrschers“ dhû l-qarnain in der Sure XVIII „Die Höhle“: (a) Aus al-Bîrûnîs „Verteidigung der Wissenschaften“ (in seiner „Geodäsie“), zit. nach Al-Bîrûnî, In den Gärten der Wissenschaft. Ausgewählte Texte aus den Werken des muslimischen Universalgelehrten, übersetzt und erläutert von Gotthart Strohmaier, Leipzig (Reclam-Verlag) 1991, S.46 f.: Und all die anderen Gebote, aufzubrechen und … zu reisen, um Belehrung zu gewinnen oder wegen einer Eroberung oder einer Wallfahrt oder um auszuwandern… Auch bedenke man, was er, der gepriesen sei, von den ihm wohlgefälligen Reisen seiner Heiligen und Propheten sagt, wie Alexander der Große die Orte des Aufgangs und des Untergangs der Sonne erreicht hat,29 wie Moses, über dem Frieden sei, zu der Stelle gelangte, wo die beiden Meere zusammenkommen,30 und wie der Prophet, über dem der Segen Gottes sei, des Nachts von der heiligen Moschee zu der fernsten Moschee reiste, wie er von Mekka nach Medina auswanderte und wie er zu seinen Kriegszügen aufbrach und wie im Zusammenhang damit die abseits Stehenden und zu Hause Gebliebenen getadelt werden. (b) „Aexander mit den zwei Hörnern und der eiserne Wall“. Aus al-Bîrûnîs „Chronologie“, zit. nach Al-Bîrûnî, In den Gärten der Wissenschaft. 29 30 vgl. Koran, Sure XVIII, 83-98 (Anm. G. Liedl) vgl. Koran, Sure XVIII, 60-82 (Anm. G. Liedl) 18 Ausgewählte Texte aus den Werken des muslimischen Universalgelehrten, übersetzt und erläutert von Gotthart Strohmaier, Leipzig (Reclam-Verlag) 1991, S.128 ff.: Wie es heißt, ist das, was im Koran über ihn erzählt wird, bekannt und deutlich für jeden, der die Verse liest, die seiner Geschichte gewidmet sind. Aus ihnen geht hervor, dass er ein frommer und mächtiger Mann war, dem Gott einen bedeutenden Anteil an Macht und Einfluss verliehen hatte. Er befähigte ihn, seine Ziele im Osten wie im Westen zu erreichen, Städte zu erobern, Länder zu unterwerfen, die Menschen zur Demut anzuhalten, die Königsherrschaft in einer Hnd zu vereinigen und, wie man allgemein annimmt, in die Finsternis im Norden einzudringen und die äußersten Enden der bewohnten Welt in Augenschein zu nehmen …, Gog und Magog daran zu hindern, in die Länder auszubrechen, die ihrem Wohnsitz im Osten und Norden der Erde benachbart sind, und so von ihnen Unheil abzuwenden und ihnen Demütigung und Schande zu ersparen. Er tat dies durch einen Wall in der Bergschlucht, aus der sie immer hervorbrachen, und er errichtete ihn aus Eisenbarren, die er mit geschmolzenem Kupfer verbinden ließ, so wie man das bei der Arbeit der Handwerker beobachten kann. Er war der Grieche Alexander, der Sohn des Philippos, der das zuvor zersplitterte Reich der Griechen vereinigte. Er griff die Könige des Westens an und besiegte sie, und er fuhr darin fort, bis er das Grüne Meer31 erreichte. Dann wandte er sich zurück nach Ägypten und erbaute Alexandria und nannte es nach seinem Namen. … Dann zog er gegen Darius, den Sohn des Darius,32 um Vergeltung zu üben für das, was Nebukadnezar und die Babylonier in Syrien verübt hatten. Er stellte ihn zum Kampf und brachte ihm mehrere Niederlagen bei. Darius wurde dabei von einem seiner Leibwächter … ermordet. Alexander bemächtigte sich der Königsherrschaft über Persien und strebte weiter nach Indien und China. … Auf der Rückkehr nach dem Irak erkrankte er in Shahrazûr33 und starb dort. In seinen Unternehmungen ließ er sich von der Philosophie leiten und erbat bei allem, was er sich vornahm, den Rat seines Lehrers Aristoteles. Deswegen sei er, wie man sagt, „der mit den zwei Hörnern“. Der Beiname wird auch damit erklärt, dass er die beiden „Hörner“ der Sonne, das heißt den Ort ihres Aufgangs und den ihres Untergangs, erreicht habe, so wie man Ardashîr, den Sohn des Bahman, den „Langhändigen“34 genannt hat, weil seine Befehlsgewalt so weit reichte, wie er wollte, als ob er damit gleichsam zulangte und packte. Andere deuteten seinen Namen in der Weise, dass er zwischen zwei verschiedenen „Hörnern“ hervorgebracht wurde, womit sie die Griechen und die Perser meinen; zugleich glauben sie die Lügen, welche die Perser erdichtet haben, wie man das so mit seinem Feind zu tun pflegt. Darius der Ältere sei nämlich mit Alexanders Mutter … verheiratet gewesen. … 31 den Atlantik (Anm. G. Liedl) Darius III. (regierte 336-330 v. u. Z.), der gleichlautende Name des Vaters entspricht der persischen Legende (Anm. Strohmaier) 33 Stadt im westlichen Persien; in Wirklichkeit aber starb Alexander 323 in Babylon (Anm. Strohmaier) 34 Gemeint ist Artaxerxes I. (gest. 424 v. u.Z.), dessen Flotte 449 beim zyprischen Salamis der griechischen unterlag. Auch in den griechischen Quellen heißt er Makroheir, „Langhand“ (Anm. Strohmaier) 32 19 Er sei also mit Philippos nur insofern genealogisch verbunden, als dieser ihn aufgezogen habe. (S. 128 f.) Was den Wall anlangt, der zwischen den beiden Felswänden errichtet wurde, so sagt der Wortlaut der Erzählung im Koran nichts Näheres über seinen Ort auf der Erde. Die Werke, die Angaben über die Länder und Städte enthalten, wie die „Geographie“35 und die Bücher über die „Wege und Königreiche“,36 sprechen sich dahingehend aus, dass dieses Volk, nämlich Gog und Magog, eine Abteilung der östlichen Türken sind, die am Anfang der fünften und der sechsten Klimazone wohnen. … Aber gerade in dieser Geschichte ist etwas, das einem das Vertrauen zu ihr nimmt, indem nämlich die Bewohner jenes Landes als solche beschrieben werden, die den Islam bekennen und arabisch sprechen, obwohl sie von der zivilisierten Welt abgeschnitten sind … Außerdem kannten sie weder den Kalifen noch das Kalifat und auch nicht, wer das sei und wie er beschaffen sei. Wir aber kennen kein Volk von Muslimen, das vom Territorium des Islam abgeschnitten wäre, außer den Wolgabulgaren und den Suwâr,37 und sie leben in der Nähe der Grenze, wo die Zivilisation aufhört, und am Ende der siebenten Klimazone. Sie berichten übrigens nichts von diesem Wall … Wenn es mit den Zeugen für diese Nachrichten so bestellt ist, darf man von ihnen keine Erkenntnis der Wahrheit verlangen. Dies ist es, was ich von der Geschichte des „Gehörnten“ mitteilen wollte, und Gott weiß es am besten. (S. 131) B. Der Zweigehörnte als klandestine Schlüsselfigur bei den Moriscos Spaniens? Aus: Gottfried Liedl, Mediterraner Islam, 1. Halbband: Renaissancen, Wien (Turia & Kant) 2007, S. 44-54 In der Bibliothek des Escorial liegt das so genannte Manuskript des Salwan Aben Zafer (Salmân Ibn Zafar), reich illustriert im Stil der Buchmalerei seiner Zeit. Es ist das Werk eines spanischen Morisco aus dem 16. Jahrhundert. Die Bebilderung überrascht durch ihr modernes Verständnis – richtig aufgefasste Perspektiven und eine überlegte Licht-Schatten-Führung erzeugen räumliche Tiefe.38 Eines dieser Bilder fällt besonders auf – hier ist es das Sujet, das neugierig macht: eine Gruppe orientalisch gekleideter, vornehm wirkender Männer, etwas erhöht auf einer Art Podest in einem baldachinartigen Zelt sitzend. Die meisten blicken aus dem Bild heraus, wobei sie dem Betrachter ihr Halbprofil zuwenden, nur eine Person zeigt sich en face. Aber nicht nur dieser Umstand ist es, der den Blick des Betrachters anzieht; auch die Positionierung dieser Gestalt – genau auf der Mittelachse des zentralperspektivisch konstruierten Raumes – trägt zu ihrer Auffälligkeit bei. Was ihre Bedeutung als Hauptfigur des Ensembles aber am meisten unterstreicht, ist ein Attribut, das man wirklich nicht als unauffällig bezeichnen kann: trägt sie doch auf ihrem Haupt ein Paar leicht gekrümmter, stark geringelter Hörner (S. 44 f.). 35 Gemeint ist die des Klaudios Ptolemaios, nach 83 bis nach 161 u. Z. (Anm. Strohmaier) Vielbändiges geographisches Werk von al-Djaihânî (10. Jahrhundert), einem Wesir der Samaniden in Buchara. Es verband exakte Informationen über Reiserouten und Entfernungen mit einer Vorliebe für exotische Merkwürdigkeiten. Al-Bîrûnî zitiert das heute nicht mehr erhaltene Werk sehr häufig (Anm. Strohmaier) 37 In anderen Quellen werden die Suwâr als eine Abteilung der Wolgabulgaren beschrieben (Anm. Strohmaier) 38 S. M. Imamuddin: Muslim Spain 711 – 1492 A.D. A Sociological Study, p.179; p.206 ff. / X. 36 20 Welche Gestalt (außer dem Teufel natürlich) trägt Hörner und kann sowohl einem Morisco als auch einem Christen des 16. Jahrhunderts als Gegenstand bildlicher Darstellung konvenieren? Antwort: Moses. Dieser wird ja vor allem im christlichen Kulturkreis (was in diesem Zusammenhang nicht die unwichtigste Feststellung ist) regelmäßig mit Hörnern dargestellt.39 … Und wenn es hier noch einen anderen Zusammenhang gäbe als den biblischen? (S. 47) „Das Horn“, klärt uns der Fachmann auf, „[ist] als gefährliche Waffe des Tieres Symbol physischer Kraft und übermenschlicher Macht, in Altmesopotamien und im syrisch-phönikischen Raum war die Hörnerkrone Kennzeichen der Götter ... Hellenistische Herrscher (Alexander der Große, Seleukos) ließen ihr Bild mit gehörnter Stirn auf Münzen prägen.“40 Die Geschichte ist bekannt: Nachdem Alexander die nach ihm benannte Hafenstadt zwischen Mittelmeer und Nil gegründet hatte, zog er durch die Wüste weiter nach Westen, zum Heiligtum des Gottes Ammon (Amun Rê) in der Oase Siwa. Es war, wie es heißt, „die Sehnsucht (póthos), die ihn zu dieser Expedition bestimmt hat. Was im Allerheiligsten des Tempels vorgegangen ist, weiß niemand“.41 Fest steht jedoch, dass ihn der Hohepriester des Gottes als „Ammons Sohn“ begrüßt hat. Amun Rê, der Gott mit den Widderhörnern ... Später werden Münzbilder auch den jungen Herrscher so zeigen, wie es einem Gottessohn zukommt: gehörnt. Über den Nimbus, der die Gestalt des göttlichen Alexander im gesamten Altertum umgab, braucht man nicht viel Worte zu machen – er versteht sich von selbst.42 Aber der weitere Weg ist interessant. Am Ende des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts entsteht in Ägypten eine Biographie – „Alexanders Taten“ -, die dem PseudoKallisthenes zugeschrieben wird und von der alle künftigen Alexandersagen und Alexanderromane abstammen. In den Westen führt die Spur zur lateinischen Übersetzung des Julius Valerius (4. Jahrhundert) und weiter zu Sacerdos Leo und dessen um 950 in Neapel entstandene „Historia Alexandri de proeliis“; dann verzweigt sich die Tradition in unzähligen „Alexanderromanen“ des Mittelalters, bis sie im 13. Jahrhundert, als sich Dichter vom Schlag eines Rudolf von Ems oder Ulrichs von Eschenbach ihrer annehmen, aus der Anonymität wieder auftaucht. Die zweite große Überlieferungsspur zieht sich durch den Orient, beginnend mit einer persischen Übersetzung aus dem 7. Jahrhundert (späte Sassanidenzeit). Daraus haben dann die zahlreichen arabischen und syrischen Bearbeitungen des 9. und 10. 39 Etwa seit dem 12. Jahrhundert wird Moses „auf Grund einer falschen Übersetzung des Urtextes durch die Vulgata mit zwei Hörnern anstatt der auf die Erleuchtung hinweisenden Strahlen (2 Mos 34, 29) dargestellt“: Manfred Lurker (Hg.): Wörterbuch der Symbolik, p.492. – Die berühmtesten Mosesdarstellungen mit Hörnern sind die Statuen von Claus Sluter und Michelangelo. 40 Manfred Lurker (Hg.): Wörterbuch der Symbolik, p.327. 41 Hermann Bengtson: Alexander und die Eroberung des Perserreiches (336-323 v.Chr.). In: H. Bengtson (Hg.): Griechen und Perser. Die Mittelmeerwelt im Altertum I, p.294. 42 Nur der Vollständigkeit halber sei daran erinnert, dass auch für das junge, hungrige Rom – damals noch alles andere als eine Weltmacht – Alexander das große Vorbild war. Die wahrscheinlich lebendigste Darstellung des jungen Helden, die berühmte „Alexanderschlacht“, zierte als 6 Meter langes Mosaik eine der prächtigsten Villen Pompejis und war wohl die Kopie eines verloren gegangenen hellenistischen Gemäldes. 21 Jahrhunderts geschöpft, wovon sich der bedeutendste Niederschlag beim berühmten Mas’udi (gest. 956) findet, in dessen Enzyklopädie Murûdj adh-dhahab („Die Goldwäschen“).43 Auch im Orient, ja dort wahrscheinlich noch mehr als im Okzident, hat sich die Spur des Ammon-Sohnes nie verloren: nicht im Gedächtnis der Gelehrten, nicht im Gedächtnis der Mächtigen44 und schon gar nicht in der Erinnerung des Volkes. (S. 47 f.) „Sie fragen dich über Dhul-Qarnain [Alexander].45 Sag ihnen: ‚Ich will euch einiges aus seiner Geschichte mitteilen‘.“ (Koran, Sure 18, 83)46 Was folgt, ist die Charakterisierung des legendären Herrschers – mit den Worten der göttlichen Instanz selber: „Wir befestigten sein Reich auf Erden und gaben ihm die Mittel zur Erreichung seiner Ziele.“ (Sure 18, 84) Dhul-Qarnain, der von Gottes Gnaden „Zweigehörnte“ aus der Ammons-Oase; oder Dhul-Qarnain, der „Herr des Ostens und Westens“ (so Hennings Interpretation).47 Oder wie der moderne Koran-Kommentator die Verse 83-98 paraphrasiert:48 „Drei Episoden im Leben eines großen Königs, DhulQarnain, zeigen uns, wie (herrscherliche) Macht und Geschicklichkeit mit göttlichem Gesetz in Einklang stehen können. [Alexander Dhul-Qarnain] bestrafte die Schuldigen und belohnte die Gerechten;49 beließ den einheimischen Völkern ihre Lebensweise 43 Al-Mas’udi: Murûdj adh-dhahab wa-ma’âdin al-djawâhir, 9-bändige Edition: C. Barbier de Meynard / Pavet de Courteille, Paris 1861-77 (Nachdr. 1914-17). Dieses enzyklopädische Werk umfasst nicht nur die Geschichte seit der Erschaffung der Welt sondern enthält auch eine umfangreiche Geographie, eine Völkerkunde und Naturgeschichte, vergleichende Untersuchungen zu den Religionen der Römer, Inder, Juden sowie philosophische und politische Studien. 44 Im Osten scheinen alle Herrschertugenden von Alexander ihren Ausgang zu nehmen: noch im entfernten Indien, dort aber oft in Gleichsetzung mit dem buddhistisch-hellenistischen König Ashoka, ja bisweilen mit dem Buddha selbst, erstrahlt seine unvergängliche Aura. So setzt im 16. Jahrhundert ein islamischer Herrscher seinem „heidnischen“ Vorbild das schönste Denkmal. Der „indo-muslimische Kulturgigant“ (Bruce B. Lawrence), der Moghulkaiser Akbar plant fünf Meilen nordwestlich seiner Residenzstadt Delhi für sich selbst ein großartiges Grabmal; und er bestimmt, dass diese Stätte des Erinnerns Sikandara heißen soll - „Alexandria“! – Siehe dazu Bruce B. Lawrence: The Eastward Journey of Muslim Kingship. Islam in South and Southeast Asia. In: John L. Esposito (Hg.): The Oxford History of Islam, p.395-431. 45 Dhul-Qarnain, „der Zweigehörnte“, ist nach allgemeiner, sowohl klassisch-islamischer wie modernorientalistischer Auffassung Alexander der Große. Siehe dazu den Kommentar zur deutschen KoranAusgabe von Ullmann/Winter: „Dhulkarnain, der Zweigehörnte, ist nach vielen Alexander der Große, der auf alten Münzen gehörnt dargestellt ist [...]. In alten jüdischen Schriften (Buch Daniel) ist Zweihörnigkeit das Symbol der Kraft. Die abenteuerlichen Heerfahrten Alexanders des Großen werden auch bei den Rabbinern erzählt, wo sie Mohammed fand und auf seine Weise darstellt“: Der Koran. Das heilige Buch des Islam, Edition: Ludwig Ullmann / L. W. Winter, p.242, Anm.28; als wichtiger klassischer Gewährsmann wäre Al-Biruni zu nennen: Al-âthâr al-bâqiya ‘an al-qurûn al-khâliya („Chronologie“); dazu auch K. Garbers: Eine Ergänzung zu Sachaus Ausgabe von al-Bîrûnîs „Chronologie orientalischer Völker“. In: J. Fück (Hg.): Documenta Islamica inedita, p.45-68. 46 The Holy Qur-an. Text, Translation and Commentary by Abdullah Yusuf Ali, p.753 f. – Die Verszählung der deutschen Ullmann/Winter-Ausgabe weicht von den Standard-Editionen (wie auch der benutzten arabisch-englischen Ausgabe von A. Yusuf Ali) ab. So findet sich die Alexander-Geschichte nach der Standard-Zählung in Sure 18, 83-98; bei Ullmann/Winter in Sure 18, 84-99. 47 vgl. Koran, Edition Ullmann/Winter, p.242, Anm.28. 48 A. Yusuf Ali, Kommentar 137, in: The Holy Qur-an, p.753. 49 „Wer von ihnen ungerecht handelt, den wollen wir bestrafen, und dann soll er zu seinem Herrn zurückkehren, der ihn noch strenger bestrafen wird. Wer aber glaubt und rechtschaffen handelt, der empfängt den herrlichsten Lohn, und wir wollen ihm seine Befehle leicht machen“: Sure 18, 87-88 (Ullmann/Winter: 88-89). 22 und Lebensart50 und beschützte fleißige, arbeitsame Menschen vor ihren habgierigen Nachbarn.“51 Zurück ins sechzehnte Jahrhundert. Könnte sich ein unterdrückter Morisco einen besseren Kommentar zu seiner Situation vorstellen oder eine bessere Antwort auf seine Hoffnungen und Wünsche als das Bild des edlen Messias-Königs, wie es der Koran entwirft? Dieser „edle Heide“ Alexander, seiner heidnischen Natur entbunden als „Stellvertreter“ (arab. khalifa) und Wächter des göttlichen Willens, zugleich Beschützer seines Volks – konnte es eine bessere Alternative geben, einen schärferen Kontrast zu jenem anderen, sinistren „Wächter“, der Heiligen Inquisition? „Den Völkern beließ er ihre Lebensart und beschützte sie vor ihren Nachbarn.“ Schon sehen wir den Gehörnten auf dem Morisco-Bild aus der Bibliothek des Escorial mit anderen Augen ... Freilich ist damit das Rätsel als solches, nämlich seine geheime poetologisch-ästhetische Struktur noch nicht entschlüsselt. Doch sind wir bereits einen großen Schritt weiter – hat uns das Bildchen ja auf die Spur gebracht, an dessen Ende ein Heiliges Buch wartet. Denn in der Tat: eben jene Sure 18, die mit Alexander Dhul-Qarnain den guten Herrscher in den Mittelpunkt stellt, verweist in den Versen davor auf einen anderen vorchristlichen „Führer und Beschützer seines Volkes“, auf – man ahnt es bereits – Moses! In den Versen 60-8252 wird ein Moses gezeigt, der sozusagen negativ auf Alexander verweist. Zwar – wie der große König durchstreift auch der Anführer des jüdischen Volkes auf abenteuerlicher Fahrt die Lande, aber nicht als Weiser und Gerechter tut er dies sondern als ein immer noch Lernender. Moses wird als jemand gezeigt, der von großer Ungeduld ist, wo es gälte, sich der Wahrheit behutsam zu nähern. Moses wird als Opfer voreiliger Schlüsse und paradoxer Situationen gezeigt: „Habe ich dir nicht prophezeit“, fragt ihn sein Lehrer, „du würdest nicht in Geduld bei mir ausharren können?“ (Sure 18, 73 [74]) Thema ist also das (prekäre) Vertrauen in Lösungen – Lösungen, wie sie von der göttlichen Fügung und Weisheit auch entgegen dem Augenschein allemal zu erhoffen sind.53 So geht der junge, ungeduldige Moses seinen Weg weiter – unbeschadet dessen, was ihm dabei an Widersinnig-Rätselhaftem alles unterkommt. Und das macht ihn letztlich auch zum Spiegel des „guten Königs“ Dhul-Qarnain: „Siehe, dies ist die Erklärung dessen, was du nicht in Geduld zu erwarten vermochtest“ (Sure 18, 82 [83]). Die raffinierte Struktur, die Methode jener Morisco-Illustration aus dem 16. Jahrhundert tritt nun klar zu Tage: eine Struktur der Verdopplungen und Äquivokationen, deren alles erhellender Parallelismus (Gehörnter Moses / Alexander Dhul-Qarnain) jedoch nur für den einen der beiden möglichen Leser und Bildbetrachter – für den muslimischen Leser und Betrachter – auf der Hand liegt. 50 „Er ließ sie, wie sie waren“: Sure 18, 91 (Ullmann/Winter: 92). vgl. die Geschichte von Gog und Magog, den wilden, habgierigen Völkern (oder Fürsten), gegen die Alexander einen ehernen Wall errichtet: „Steht mir nur kräftig bei, so will ich einen festen Wall zwischen euch und ihnen aufrichten“: Sure 18, 95 (Ullmann/Winter: 96). 52 nach der Zählung von Ullmann/Winter: Vers 61-83. 53 A. Yusuf Ali, Kommentar 136, in: The Holy Qur-an, p.746 f. 51 23 Denn nur dieser kann mittels des offen präsentierten Signals, über die Figur des „Moses“ (auf der Darstellungsebene) auch den darunter (auf der Sinn- oder Bedeutungsebene) sozusagen mit unsichtbarer Tinte geschriebenen Namen „Alexander“ assoziieren. Wobei auch dieser Name „Alexander“ noch für etwas weiteres steht: für das Heilige Buch nämlich, das, weil es ein verbotenes Buch ist, eben nur via Anspielung, als „Rätsel“ vorkommen darf (der Name „Alexander“ hinter dem dargestellten Moses). Dass dieses Rätsel vom unbefugten, vom christlichen Leser und Betrachter nicht dechiffriert werden kann, dafür sorgt das Buch selbst. Als geheimes und geheimgehaltenes Objekt ist es gewissermaßen das Kästchen für den Schlüssel. Der erst passt genau ins Schloss (in die Struktur, worin Moses und Alexander Äquivalente sind). Wir sprechen vom Kontext der Achtzehnten Sure. Was dann nämlich unbedingt mitzudenken wäre, ist der „Trost-Gehalt“ besagter Sure. Sie heißt nicht umsonst Al-Kahf, „die Höhle“ – nach dem Refugium, in welchem einst christliche Jünglinge aus Ephesus vor den Verfolgungen der Staatsmacht Schutz fanden und wo sie, in siebenjährigen Schlaf fallend, so lange blieben, bis die Verfolgung ein Ende hatte.54 Den Wortlaut hinter dem Bild kennt somit nur der Eingeweihte, der Muslim. Das Bild im Vordergrund hat die Aufgabe, dem Inquisitor ein Schnippchen zu schlagen. (S. 48 – 51) Klassik und klassische Bildung in der Frührenaissance A. Granada. Aus: Gottfried Liedl, Mediterraner Islam, 2. Halbband: Moderne Charaktere, Wien (Turia & Kant) 2007 (a) Wie modern kann man sein? Aus: Gottfried Liedl, Mediterraner Islam, 2. Halbband, S. 14 ff.: In der Alhambra, der Roten Burg von Granada, stellt sich folgender fundamentalpolitischer Text zur Schau: Sein Vater55 war der Sultan des Djihad, ständig siegreich, von flatternden Fahnen umweht; Pedro, den Christenhund,56 besiegte er, dessen falsche Götter ruinierte er mit seinem Heiligen Krieg. In den Staub trat er die Macht des Gekreuzigten und seiner Anhänger – und ihn selbst, den Verfluchten Pedro von Kastilien, brachte er zu Tode. 57 54 Die Legende von den Siebenschläfern. Isma’il I. von Granada (1314-1325), Vater des Sultans Yusuf I., an den sich das Lobgedicht richtet. 56 Infant Pedro von Kastilien, der gemeinsam mit seinem Bruder Juan und den Großen des Reichs im Sommer 1319 in der berühmten Schlacht von Elvira (Erste Schlacht in der Vega de Granada) gegen die granadinische Verteidigungsarmee eine vernichtende Niederlage erlitt (er selbst fiel in der Schlacht). 57 Prosaübersetzung nach María Jesús Rubiera Mata: Ibn al-Ýayyāb. El otro poeta de la Alhambra, p.154. 55 24 Der harsche Text stammt von Ibn al-Djayyâb, Dichter-Politiker, Philosoph und Theologe, der als Zeitgenosse Dantes, Petrarcas und Boccaccios schon rein äußerlich, in den Daten seiner Lebens- und Schaffenszeit (1274-1349), die zwei Generationen eines Dante (1265-1321) und der ungleichen Zwillinge Petrarca (1304-1374) und Boccaccio (1313-1375) über die entscheidende Bruchlinie hinweg verbindet. Wobei im Falle Ibn al-Djayyâbs besagter Unterschied umso deutlicher in Erscheinung tritt, als er sich nicht auf zwei Generationen verteilt sondern als Riss, als intellektuelle Ambivalenz an einer einzigen Person auftritt. Denn das ist ja das Grundmerkmal aller Übergänge, ganz besonders aber des Übergangs in die Epoche, die wir Heutigen retrospektiv modern nennen: nicht so sehr „Erneuerung“ zu sein als vielmehr „Erinnerung“, erkennender Blick zurück in den Raum (Dante Alighieri), den man, bevor sich die Tür hinter einem schließt, noch ein letztes Mal in seiner Totalität überschaut (Francesco Petrarca, Giovanni Boccaccio). Solche Strukturähnlichkeit mit den Meisterdenkern aus Italien ist nicht unbemerkt geblieben. So fand man es angemessen, dem Intellektuellen aus Granada den ehrenvollen Titel eines „Baumeisters der kulturellen Renaissance“ zu verleihen.58 Die Karriere eines Fundamentalisten kann durchaus so beginnen. Im Jahr 673 der Hidjra (1274 nach christlicher Zeitrechnung) in eine ärmliche Granadiner Handwerkerfamilie hinein geboren, fällt der Heranwachsende schon früh durch seine Begabungen auf. In einem politischen Klima, worin sich die herrschenden Klassen im Zurschaustellen von „Rechtgläubigkeit“ gefallen, trägt Begabtenförderung naturgemäß einen speziellen Charakter. Die neue andalusische Dynastie der Nasriden ist gerade in zweiter Generation an der Macht. Als Erbe eines prestigeträchtigen Reichs mit starker religiöser Ausstrahlung der nordafrikanisch-spanischen Almohadenherrschaft - muss auch sie ihren politischen Erneuerungswillen religiös einfärben, zumal vor den Augen einer Öffentlichkeit, die von der Ulamâ‘, den religiös-juristischen Eliten des Landes, geprägt ist. „Djihadismus“ mochte gegenüber einer christlichen Eroberungspolitik manchmal mehr, manchmal weniger angebracht gewesen sein, wirklich unverzichtbar war er als innenpolitisches Beschwichtigungs-Ritual. Da tun sich Parallelen auf zur Gegenwart.59 Die Janusköpfigkeit einer laizistisch-modernistischen Staatsräson angesichts der ideologischen Sollbruchstelle „Djihad“ ist das logische Ergebnis des Verfalls islamischer Hegemonie nicht nur im engeren geopolitischen Umfeld der Iberischen Halbinsel sondern im gesamten Mittelmeerraum. Der Öffentlichkeit, sprich: Intelligentsija, zu Bewusstsein kommt jener Paradigmenwechsel über einen Umweg besagte Janusköpfigkeit seiner herrschenden Klassen. Mit dem bezeichnenden 58 „El artífice del renacimiento cultural Granadino“ nennt ihn der moderne Arabist – vgl. Rubiera Mata: Ibn al-Ýayyāb, p.36. 59 Unwillkürlich denkt man an die Geschichte des saudi-arabischen Königshauses nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs. Die Osmanen hatten ja bis dahin, als Inhaber des Kalifats beziehungsweise Schutzmacht der heiligen Stätten des Islam, der ‘Umma vorgestanden – zumindest symbolisch. Als die arabische Dynastie das Erbe ihrer Vorgänger antreten sollte, meinte sie das am besten dadurch zu bewerkstelligen, dass sie die neu errungene Macht gleich mit den konservativsten religiösen Kräften des Landes teilte. 25 Nebeneffekt, dass sich die Regierenden einem permanenten Verdacht „von unten“ ausgesetzt sehen: dem Verdacht ideologischer Unzuverlässigkeit, der Lauheit im Glauben, der „Gottlosigkeit“ und des Paktierens mit dem Feind. Dieser Verdacht wiederum spaltet auch die herrschenden Klassen, selbst durch die Dynastie zieht sich der Riss und trennt die Generationen. Dabei nimmt er sogleich bildungspolitische Züge an – was nicht zu überraschen braucht: der Generationenkonflikt, als universellstes Abbild des ideologischen Paradigmenwechsels, spart natürlich auch die Intelligentsija nicht aus. Nicht dass „Religion“ aus der Politik verschwunden wäre, im Gegenteil, sie „dominiert“ sie. Anders gesagt: Politik ist und bleibt religiös determiniert. Die Form erhält sich am längsten. Ihr Inhalt aber ist die Katastrophe der Zeitenwende, der erzwungene Paradigmenwechsel, weg von einer fraglosen, hin zur fragwürdigen Religiosität, und somit genau das, was man anderswo als Renaissance-Syndrom bezeichnet hat, als Indiz einer neuen, skeptischen Denkungsart. Stichwort Bildung - und wie diese unter der Kuratel eines immer noch religiösen Zeichensystems steht. Am Beispiel der Dynastie und ihres Generationenkonflikts sieht das dann so aus, dass sich der Wandel als charakteristischer Unterschied ein- und derselben staatstragenden „Frömmigkeit“ geriert. Auch der Sohn, Muhammad II., liebt es nämlich, bei seinen Untertanen als „fromm“ zu gelten – doch bleibt er dabei nicht stehen. Al-faqîh, „der fromme Gelehrte“ lässt er sich von seiner Umgebung nennen. Da war sein Vater, der Staatsgründer Muhammad I., noch auf ganz andere Weise „fromm“. Er gab sich rigoros-bescheiden, volkstümlich-einfach: als Sufi, der, wie es unmissverständlich heißt, „seine Söhne streng bestrafte, wenn er sie beim Studium [weltlicher Wissenschaften] ertappte“!60 Religion versus klassische Bildung? Nein, klassische Bildung, religiös verbrämt. Das ist am Ende des Mittelalters der Stand der Dinge: in Westeuropa und rund ums Mittelmeer. Und auch in einem kleinen, eigensinnigen Teil dieser westlich-mediterranen Welt, in Al-Andalus. So ähnlich hat man sich auch die Entwicklung der Begabungen eines jungen Mannes aus der Vorstadt vorzustellen. Ibn al-Djayyâbs „klassische Bildung“ baut sich in vielen Schichten auf. Erstens, ‘Ilm al-Qirâ’ât, Koranwissenschaft. Zweitens, Tafsîr, Exegese. Drittens, ‘Ilm al-Hadîth, islamische Überlieferung, islamisches Recht. Die vierte Ebene, ‘Ilm al-Adab, Literaturwissenschaften, führt bereits auf weltlicheres Gebiet, eine Tendenz, die sich auf dem fünften und sechsten Level - ‘Ilm al-Lugha (respektive ‘Ilm al-‘Arabîya): Sprachwissenschaft, arabische Grammatik, und ‘Ilm alBâlagha, Rhetorik – noch verstärkt. Freilich, auf der letzten, der siebenten Stufe, finden wir das Indiz einer nicht so sehr „klassischen“ als vielmehr recht populären, um nicht zu sagen plebejischen Zukunft andalusischer Literatur und Bildung. Und auch wieder das Eingeständnis jener neuen Unvereinbarkeit von Wissen und Glauben, natürlich artikuliert in der Sprache und auf dem Feld des Religiösen. Langer Rede kurzer Sinn, den siebenten Bildungsaspekt der intellektuellen Karriere Ibn alDjayyâbs bildet Tasawwuf, Mystik – „eine spezielle Frucht der Epoche“.61 60 61 Rubiera Mata: Ibn al-Ýayyāb, p.32. ebd., p.33. 26 Aus dem Bildungsroman eines Fundamentalisten ... Der junge Mann aus der Vorstadt bekommt als ersten Mentor und Lehrer – als intellektuellen Vertreter einer Obrigkeit, die alles daran setzt, „fromm“ genannt zu werden – den Vorsteher der Freitagsmoschee von Granada, Ibn az-Zubayr. „Dieser schreckliche Alfaquí“, so nennt ihn der Fachmann,62 als veritablen „Hexenjäger“ bezeichnet ihn ein anderer.63 Die Krise gebiert Monster – denen man aber entkommen kann, denn die Monster in ihrer Raserei sind für das Verständnis des Neuen lehrreicher als die Angepassten in ihrer Mittelmäßigkeit. Gerade dann, wenn man ihren gelehrten Fundamentalismus ernst nimmt, entkommt man ihnen, oder anders gesagt: durch den gewagten Sprung von der ersten Bildungsebene – Koranwissenschaft und die Folgen – direkt auf Ebene sieben. Der junge Mann aus der Granadiner Vorstadt nimmt sich als zweiten Lehrer niemand Geringeren als Abû l-Hasan Ibn Alî Ibn Fadîla, also den, der genau die Seite vertritt, die der „schreckliche Lehrer“ so wütend bekämpft – die Mystik.64 Die Flucht des Fundamentalisten vor sich selbst (um es so zu sagen) hat aber vor allem eine politische Dimension. Das zerrissene Individuum fühlt sich angezogen von Zentripetalkräften einer säkularen politischen Macht – einer Macht in statu nascendi. An ihrer immer deutlicher werdenden Statur wirkt es eifrig mit. Ein wenig kokett, nämlich hegelianisch, könnte man dies „Werden des modernen Staates nach Art der Mauren“ als Dreischritt beschreiben. Dabei bildeten Orthodoxie die These und Mystik die Antithese, als Synthese aber wäre die Geburt der staatlichen Ordnung aufzufassen, die Fürstenherrschaft neuen Stils nach Art der Nasriden. Ibn al-Djayyâbs „orthodoxe Phase“ umfasst zwar fünfzig Jahre, wenn man die Zählung mit den ersten Qasiden für Muhammad II. - entstanden zwischen 1295 und 1300 - beginnen und mit den letzten aus dem Jahr 1345, die er für Yusuf I. verfasst hat, enden lässt. Und doch – dass es sich eher um einen Aspekt handelt als um eine Phase, dafür liefert der Dichter-Politiker selbst, nämlich seine erstaunliche persönliche Flexibilität, die besten Argumente. Ibn al-Djayyâbs Flexibilität respektive höfisch geeichter Individualismus zeigt sich bereits in der ersten großen Krise seines Lebens, beim Sturz und der Ermordung seines Förderers und Vorgesetzten Ibn alHakîm, im Jahre 1309. Wie er daraufhin „in Deckung geht“, wie er das Intermezzo, die Regierungszeit des „Usurpators“ Nasr aussitzt und instinktsicher auf den nächsten Herrscher wartet, auf Ismâ’îl I., das zeigt ihn als Realpolitiker, der aufs richtige Pferd zu setzen weiß. Und doch stimmt auch dies: dass er in dieser seiner glücklichsten Phase, wo er sich vom aussen- wie innenpolitisch unerhört erfolgreichen Sultan in alle alten Rechte eingesetzt sieht, wo er als Leiter der Staatskanzlei, des Diwân alInshâ’, auf dem Zenit seiner politischen Karriere ist -, dass er da auch den Gipfel 62 Rubiera Mata, ebd. L. Massignon: Ibn Sa’în et la conspiration „hallâgienne“ en Andalousie et en Orient au XIIIe siècle. In: Études d’Orientalisme dédiers à la mémoire de Levi-Provençal (Paris 1962), p.664. 64 Mystik vulgo „Häresie“... Abû l-Hasan gehört der andalusischen Hallâdji-Bewegung an, welcher Ibn az-Zubayr einen gnadenlosen Kampf angesagt hatte: Rubiera Mata, p.34. Das Phänomen des Fundamentalisten ist das Phänomen des zerrissenen Individuums, des Religiösen an der Schwelle zum Zeitalter des Unglaubens. Ibn al-Djayyâb „entkam“ seinem schrecklichen Lehrer az-Zubayr nur auf paradoxe Weise, indem er es, „wie andere Zeitgenossen auch, verstand [...], die Orthodoxie des andalusischen Alfaquismo mit einer tiefen Neigung zur Mystik zu verbinden, ein Phänomen, das sich [...] bei vielen Persönlichkeiten des Nasridenemirats findet und das in der Tat eine gründliche wissenschaftliche Behandlung verdient“: ebd. 63 27 seiner Orthodoxie erklommen hat, seiner „severa formación alfaquí“ (die Formulierung des Spezialisten könnte nicht treffender sein):65 seiner profunden religiösen Gelehrsamkeit also. Gipfel der Starrheit, wo das Genie im Kleid der Unduldsamkeit beinahe unsichtbar wird. Und auch gleich das verräterische Indiz, die Blindheit allen Fakten gegenüber, die nicht in den klassischen Kanon passen, und das sogar dann, wenn diese Fakten eigentlich von unglaublichem propagandistischen Wert wären! Am Beispiel der Schilderung einer höchst erfolgreichen Campagne Ismâ’îls I. – Belagerung und Eroberung der Grenzstadt Huéscar – zeigt sich der Unterschied zwischen dem Klassizisten als solchem und dem Realhistoriker, der sich bloß klassizistisch gebärdet. Den zweiten Typus verkörpert bezeichnender Weise Ibn al-Djayyâbs Nachfolger in den Hofämtern, der Historiker Ibn al-Khatib. Bei diesem, „nicht jedoch beim Poeten Ibn al-Djayyâb, der die Schlacht ganz in der Art überkommener Stereotypien schildert,“ findet der bemerkenswerte Umstand Erwähnung, „dass dort zum ersten Mal eine bewaffnete Macht – die granadinische Armee – eine Art Kanone zum Einsatz brachte“.66 Ein ästhetischer Konservativismus, auf den man immer wieder stößt, und das bei Leuten, von denen man solches zuletzt vermutet hätte: auch beim großen Machiavelli findet sich die rigorose (und rigoros falsche) Behauptung, Kanonen seien militärisch unnützes Spielzeug, jeder mit wahrer Tüchtigkeit - militärischer Zucht, virtù - ausgestatteten Armee hoffnungslos unterlegen. Nun ja. Machiavellis „moderner Aspekt“ ist eben nicht die blinde Verehrung der Römertugenden – darin ist der große Florentiner so konventionell wie seine ganze Zeitgenossenschaft. Modern ist die intellektuelle Kälte, mit der er die Stimme des Herzens zum Schweigen bringt: dem jammervollen Zustand seiner italienischen Heimat hält er den Spiegel der Tatsachen vor – und das sind Tatsachen der Macht und wie man dieselbe erringt und behält. Vergessen wir nicht: dieser Realismus verdankt sich einer Askese. Abgeschnitten von jeder Möglichkeit, politisch zu intervenieren, im Exil und aus der Ferne, stellt er der undankbaren Vaterstadt die Rezeptur seines politischen Remediums zur Verfügung. Auch dem Granadiner musste das Schicksal eine Art Befreiung vom politischen Zwang offeriert haben, damit er aus dem Gefängnis der Klassik ausbrechen, sich befreien mochte zu intellektueller Eigenständigkeit. Um nicht zu sagen Eigensinn. Denn anders als der Florentiner hat der Mann aus Granada „Macht“ – zum ersten Mal in seiner Laufbahn hat er sie wirklich. Diese Position an der Spitze des Staates – seit 1341 ist er der mächtigste Mann nach dem Sultan, ist er Wazîr –, diese selbstreferenzielle Position des Staatsmannes (statt des Propagandisten, der er bisher war) befreit ihn zu sich selbst. Auch eine Art Exil, wird man sagen. Dem Staatsmann eilt der Mystiker zu Hilfe – das Ergebnis ist der „Freigeist“. In Ibn al-Djayyâbs ideologischer Haltung scheint sich eine Wendung abzuzeichnen. Ist es tatsächlich noch derselbe Autor, Verfasser triumphalistischer Verse über schrecklich wütende Kriegsherren, unbestechlicher Sittenwächter und Verfechter einer unbarmherzigen Glaubensstrenge, aus dessen Mund uns – man kann es nicht anders sagen - die Apologie des Eigensinns, der Torheit, der 65 66 Rubiera Mata: Ibn al-Ýayyāb, p.45. ebd., p.47; vgl. das entsprechende Poem Ibn al-Djayyâbs: ebd., p.198 (Gedicht Nr.CXIX). 28 Körperlichkeit und der Sinne zu Gehör gebracht wird? Ist das noch derselbe Mund, der einst verkündet hatte: „Wer stolz darauf ist, dass Ibn Ruschd (Averroes) sein Imâm sei, [...] der gehört gewiss zu den Feinden der Religion des Propheten und wird am Tage des Gerichts unter den Verdammten sein“?67 Man höre und staune: Reiche mir den ungemischten und reinen Wein, der meine Erholung, meine Medizin ist! Ein einziger Tropfen davon ins Glas gegossen, und der Kristall leuchtet von feuriger Klarheit. Freilich: wenn der Verderbte davon trinkt, wird ihm alles zum Rätsel, zum dunklen Geheimnis. Dem Eingeweihten aber, wenn der ihn trinkt, zeigt er die reine Wahrheit. Und wer das Süße mit dem Bitteren zu mischen weiß, wird mit der größten Dankbarkeit zu ihm zurückkehren.68 Dem Loblied der Berauschung und der überschrittenen Grenzen des Erlaubten sekundiert der Hymnus auf eine andere Transgression, eine, die mehr ins Handgreifliche geht - das Lied vom unwürdigen Greis. Und auch die Worte dieses Gesangs vermag der strenge Lehrer und machtbewusste Staatsmann mit nonchalanter Geste unter ein ausgesuchtes Publikum zu streuen: Sie hat mich aufgesucht ... Und obwohl sie Arabisch spricht, will sie mich eher eine Babylonierin dünken – so dreist sind ihre Reden! Ich küsste sie ... ich dachte, sie wäre meine Sklavin – weit gefehlt! Es war sie, die meinen Willen ihrer Herrschaft unterwarf ... Ihre Indiskretion machte mich – zum Gespött meiner Familie. Der Alte, jenseits der Siebzig, entfremdet den Verwegenheiten des Liebesspiels. Ein Mann, weit in die Jahre gekommen ...69 Das Urteil des modernen Kommentars spiegelt die Ambivalenz der Biographie – aber auch die Verwunderung des Biographen! „Hinter der Figur des Funktionärs und Hofdichters verbirgt sich nichts Geringeres als ein Mystiker, Anhänger einer tarîqa, einer Denkrichtung, die sogar ein Ibn al-Khatib nur extremistisch finden kann.70 Diese mystische Ader im Charakter des Ibn al-Djayyâb überrascht umso mehr, wenn man seine traditionelle Ausbildung in Betracht zieht – der alfaqismo malikitischen Zuschnitts und das Sufitum waren in Al-Andalus stets die unversöhnlichsten Gegner.“71 67 68 69 70 71 Zitiert nach Rubiera Mata: Ibn al-Ýayyāb, p.59. ebd., p.60. ebd., p.71. vgl. Ibn al-Khatib: Ihâta, Edition: Inân, I, p.173. Rubiera Mata: Ibn al-Ýayyāb, p.54. 29 Ibn al-Djayyâb ist der Gerade-noch-nicht-Renaissance-Mensch. Das sich selbst verhindert habende Abaelard’sche Subjekt. Aber darum ist Ibn al-Djayyâb natürlich nicht automatisch Puritaner, Asket. Als typisches Mitglied eines „eigensinnigen“ Kollektivs scheint ihn letztlich nicht ‘Umma, die Gemeinschaft der muslimischen Gläubigen, geprägt zu haben – also gerade nicht sein „schrecklicher Lehrer“ sondern Ahl al-Andalus, die abtrünnige, sinnesfreudige andalusische „Nation“, deren Eigensinn (und wir machen jetzt einen Sprung von zweihundert Jahren) sich sogar dann noch, als sie schon über keinen eigenen Staat mehr verfügte, deutlich genug manifestiert hat. In ihrer hochfahrenden Separatmeinung von sich selbst – dass man nämlich einer veritablen Nation, nämlich der granadinischen Nation angehöre (der Begriff lautet natural de Granada, „gebürtiger“ Granadiner) – wiederholen jene zwangsgetauften Moriscos noch nach dem Verlust ihrer politischen Freiheit die stolze Behauptung, anders zu sein als der Rest ihrer ebenfalls zwangsgetauften Glaubensgenossen aus Kastilien, Valencia oder Aragón.72 Von den Muslimen Nordafrikas oder des Orients ganz zu schweigen. (S. 14 – 23) (b) Eine „wohltemperierte“ Religiosität als Ausdruck nationalen Selbstbewusstseins. Aus: Gottfried Liedl, Mediterraner Islam, 2. Halbband, S. 117 ff.: Natürlich feiert man die beiden großen islamischen Feste, ‘Îd al-fitr (das Fastenbrechen, mit dem der alljährliche Ramadan beendet wird) und das islamische Opferfest ‘Îd al-adhhâ. Aber schon das dritte wichtige Fest, die ‘Ashûrâ‘ (am zehnten Tag des Monats Muharram) ist etwas typisch Spanisches. Ganz zu schweigen von Weihnachten, dem Geburtstag des Erlösers. Und auch Neujahr, den ersten Tag des christlichen Kalenders, feiert man in Al-Andalus; eine Tatsache, die den orthodoxeren Religionsgenossen jenseits des Meeres einigermaßen zu denken gab. Der Gouverneur von Ceuta, der Shârîf Abû l-‘Abbâs Ahmad al-‘Azafî zeigte sich jedenfalls konsterniert: daran sehe man wieder, welch verheerenden Einfluss die christliche Nachbarschaft auf ein so vergnügungssüchtiges Volk auszuüben vermag!73 Dass er in der Folge ein neues islamisches Fest nach Spanien brachte, darf somit durchaus als Versuch gewertet werden, dem Weihnachtsfest etwas Vergleichbares zur Seite zu stellen - den Geburtstag des Propheten, Mawlid an-nabî.74 Das war um die Mitte des 14. Jahrhunderts. Zwar werden die Zeugnisse christlicher Feste im islamischen Granada ab der Wende zum 15. Jahrhundert seltener (worin sich vielleicht der verhärtende Einfluss einer immer erfolgreicheren Reconquista geltend macht), aber selbst die Spätzeit kennt das eine oder andere Beispiel christlich-muslimischer Convivencia. Ein noch dazu sehr volkstümliches Exempel bildet etwa jener 72 vgl. Bernard Vincent: Los elementos de solidaridad en el seno de la minoría morisca (siglo XVI). In: Ders.: Andalucía en la Edad Moderna, p.213 f. 73 Al-‘Azafî: Ad-durar al-munazzam fî l-mawlid al-mu’azzam. In: Ibn Khaldun: At-Ta’rîf bi Ibn Khaldûn wa-rihlatuhu gharban wa-sharqan, Edition: Muhammad b. Tâwît at-Tandjî, p.309. 74 Das Geburtstagsfest des Propheten war „in Ägypten seit dem 12. Jahrhundert, im Maghreb seit dem 13. Jahrhundert bekannt. [... Nachdem er vom Shârîf Al-‘Azafî im 14. Jahrhundert auch nach AlAndalus gebracht worden war], wurde der Mawlid zu einer Tradition, welche die Könige von Granada, getreu dem Beispiel der Sultane von Fez und Tlemcen, feierlich und mit großem Prunk in ihren Palästen begingen. Dabei wurden nicht nur für die Aristokratie sondern auch fürs gewöhnliche Volk üppige Bankette ausgerichtet“: Rachel Arié: L’Espagne musulmane, p.401. 30 granadinische Bauernkalender, der „im Namen Allahs, des Gütigen und Barmherzigen“ so disparate Elemente in sich vereinigt wie „den Todestag unseres Herrn Abu Bakr und unseres Herrn ‘Umar“, „den Tag der Verkündigung des Evangeliums“, „den Geburtstag des Moses“ oder „den Tag unseres Herrn Jesus Christus“!75 Übrigens weiß noch Leo Africanus im 16. Jahrhundert zu berichten, dass es in Fez „Spuren gewisser Feste“ gebe, die deutlich ihre christliche Herkunft verraten (Spuren, die wohl von andalusischen Emigranten gelegt worden sind). So hatten einige Muslime dieser nordafrikanischen Stadt die Angewohnheit, den Geburtstag des Heilandes zu feiern, indem sie ein spezielles vegetarisches Gericht zu sich nahmen.76 Religiöse Dissidenz? Vielleicht. Auf jeden Fall aber „andalusischer Eigensinn“. Was die eigentliche Sphäre der Theologie betrifft, so wäre etwa ein Mann auf keinen Fall zu übergehen - ‘Isa de Gebir. Diesem verdankt der Islam einen Regelverstoß par excellence: einen äußerst gut gemeinten, versteht sich – und einen für die Religion selbst recht nützlichen. Die Rede ist von einem Katechismus. Der Islam, der nur drei Glaubensquellen kennt - Koran, Sunna, Hadith -, hätte sich dem christlichsten aller Glaubensinstrumente anbequemt, dem Katechismus? In Spanien ist es so. Das berühmte Beispiel, das Breviario Sunni des ‘Isa de Gebir, zeigt ein ganz nach christlichem Muster aufgebautes und nicht einmal auf arabisch, also in der Sprache des Koran sondern in der Sprache der Einheimischen abgefasstes Glaubensbekenntnis.77 Die Erklärung ist einfach. ‘Isa de Gebir hat sein „Breviario“ im Zusammenhang mit einer Übersetzung des Korans hergestellt, die er für den Bischof Johann von Segovia – auch der ein Dissident - anfertigte. Den in Ungnade gefallenen Kirchenmann hatte er eigens zu diesem Zweck in dessen Exil, den winterlich tief verschneiten Savoyer Alpen, aufgesucht.78 Und dann gibt es den islamischen Theologen Ar-Riquti. Bekannt ist er geworden ob jenes interkonfessionellen Instituts, das König Alfons X. der Großen Moschee von Murcia anschließen ließ, und wo der gelehrte Mufti Schüler aller drei Religionen unterrichtete.79 Abdallah Ibn Sahl ist ein anderes Beispiel. Zu jenem Granadiner Theologen kamen, wie es heißt, sogar Priester aus Toledo, um mit ihm zu diskutieren und sich von ihm 75 Siehe dazu Manuel Tuñón de Lara (Hg.): Historia de España, Band XI, p.482 ff. Leo Africanus [Al-Hassan Ibn Muhammad al-Wazzan]: Beschreibung Afrikas. Edition: A. Epaulard, Band I, p.213. 77 Siehe dazu Leonard Patrick Harvey: ‘The Thirteen Articles of the Faith‘ and ‘The Twelve Degrees in Which the World is Governed‘: Two Passages in a Sixteenth-Century Morisco Manuscript ..., p.15 ff.; sowie Ders.: Islamic Spain, p.78 ff. 78 Nomen est omen? ’Isa heißt natürlich auf spanisch Jesús ... ’Isa de Gebir ist also, spanisch ausgesprochen, Jesús de Gebir. A propos, Nomenclatur. In der gesamten Christenheit gibt es einen einzigen Kulturraum, in welchem der Name des Heilands auch als Vorname für gewöhnliche Sterbliche erlaubt ist – was heißt erlaubt? Fast schon geboten. Wieder so ein islamisches Erbe ... Nur im Islam ist ja die triviale Verwendung des Namens Jesu, sprich ’Isa, kein Sakrileg. Im Islam ist der Heiland ja nicht zugleich Gott oder Gottes Sohn. Wie Muhammad ist er lediglich Gottes Sendbote, sein Prophet. Und als solcher zwar ein hervorragender, ein vorbildhafter, aber eben doch nur ein Mensch. Ob Spaniens katholische madres ihre vergötterten hijos weiterhin „Jesús“ riefen, wenn sie sich dessen bewusst wären? 79 Hans-Rudolf Singer: Hochschulentwicklung im islamischen Raum, p.71. 76 31 in „Naturwissenschaften hellenistischen Zuschnitts“ belehren zu lassen. 80 In diesem Zusammenhang sollte man nicht vergessen, dass die Werke des großen „Renaissancisten“, Skeptikers und Enzyklopädisten Al-Biruni - er lebte und arbeitete um die Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert im islamischen Osten - im kleinen, fernen Granada offenbar bis zum Schluss wohlbekannt waren. Das beweist unter anderem ein schönes Fundstück, die spätmittelalterliche Abschrift einer astronomischen Arbeit des Al-Biruni.81 Schließlich die Devianz in Person - Al-Kinani. Dieser Religionsgelehrte aus Málaga war, wie es heißt, madjnun, verrückt genug, im Gebiet der Christen umherzureisen, und zwar mit dem erklärten Ziel, Bischöfe in Dispute über Religion zu verwickeln. Was, nebenbei gesagt, auch auf seine christlichen Gesprächspartner ein interessantes Licht wirft: eine Zeit lang war das interkonfessionelle Streitgespräch recht gefragt unter spanischen Klerikern.82 Aber kehren wir noch einmal zum Volk zurück. Zu dessen eigener Religiosität. Der andalusische Festkalender sagt eigentlich alles, was es dazu zu wissen gibt. So begann das Jahr für die Menschen von Al-Andalus genau genommen zweimal. Außer dem christlichen wurde auch ein zweiter nicht-islamischer Jahresanfang gefeiert im extravaganten Granada. Nayrûz, das uralte persische Neujahrsfest, eigentlich das Fest der Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche, erfreute sich großer Beliebtheit. Vor allem bei den Kindern, denen zu diesem Anlass Geschenke winkten: kleine Spielzeugtiere, oft Giraffen.83 Dass man sich des heidnischen Charakters dieser Sitte durchaus bewusst war (oder doch bewusst sein sollte), erhellt wieder aus den, fast möchte man sagen: pflichtschuldigen Invektiven der Geistlichkeit dagegen! Wobei interessanter Weise die Meinung vorgeherrscht zu haben scheint, dieses Beschenken der Kinder mit „heidnischem“ Spielzeug sei christlichem Einfluss geschuldet.84 80 Ibn al-Khatib: Ihata, Ed. `Inan, Kairo: 1975, Band III, p.404. „Unterweisungen in den Grundlagen der Astrologie“ des Al-Biruni (973-ca.1050): Maghrebinischspanische Abschrift von 1238; Abbildung bei Almut von Gladiß / Margot Scheffold / Haus der Kulturen der Welt (Hg.): Schätze der Alhambra, p.133. 82 H.-R.Singer: Hochschulentwicklung, p.72. 83 Rachel Arié: L’Espagne musulmane, p.402. – Die Giraffe (azh-zharâf, „die Liebliche“) steht von Alters her als exquisites Geschenk hoch im Kurs; schon in der Antike war sie beliebtes Gast- und Tauschgeschenk zwischen den Machthabern Nordafrikas und des Nahen Ostens, kein königlicher Tierpark scheint ohne dieses imposante und elegante Tier komplett gewesen zu sein. Über Vermittlung der hellenistischen Fürsten, besonders der Ptolemäer, kam auch der Populus Romanus in den Genuss jenes köstlichen Anblicks: Cameloparde, geführt von ebenholzschwarzen nubischen Wärtern, zierten Kleopatras Triumphzug bei ihrem Besuch in Rom. Im 19. Jahrhundert nahm dann der Khedive von Ägypten, Mehmet Ali, die Sitte des Giraffenschenkens wieder auf – als Zeichen seines Strebens, „dazu zu gehören“, ließ er sämtlichen wichtigen europäischen Nationen Exemplare dieser spektakulären Spezies zukommen (Lieferant war natürlich der eben erst eroberte Sudan). 84 So zumindest der Geistliche aus Tlemcen, Al-‘Uqbânî (15. Jahrhundert), der in einem Gutachten, einer Hisba, davon berichtet, dass die Leute dieser nordafrikanischen Stadt im Januar – also rund um das christliche Neujahr – „Spielzeug nach Art der Christen verfertigen“: A. Chenoufi: Un traité de hisba (Tuhfat an-nâzir) de Muhammad al-‘Uqbânî at-Tilimsânî. In: Bulletin d’Études Orientales, XIX, p.243. Während der gesamten Nasridenzeit kennt man Vergleichbares auch im muslimischen Spanien (dazu Leopoldo Torres Balbás: Animales de juguete. In: Al-Andalus, XXI, Heft 2, p.373-375). Dazu noch ein zweckdienlicher Hinweis. Alles, was das Herz begehrt, bringen den heutigen spanischen Kindern nicht der Weihnachtsmann oder das Christkind sondern Los Reyes, die Heiligen Drei Könige. Und wann tun sie das? „Im Januar“, wie schon Al-‘Uqbânî wusste (am 6. Januar, um genau zu sein). 81 32 „Heidnische“ Festivitäten verraten sich sozusagen von selbst: durch die volkstümliche Ausgelassenheit, mit der sie begangen werden. So die Neujahrsfeierlichkeiten durch ihre Kostümierungen, die karnevaleske Züge anzunehmen pflegten.85 So Mahradjân, das Fest der Sommersonnenwende (24. Juni), an dem man nicht nur die bekannten großen Strohfeuer anzündete sondern, sehr zum Missfallen der Obrigkeit, einander exzessiv mit Wasser bespritzte in den Straßen und Gassen der Städte, solange, bis sich alles in eine einzige Rutschbahn verwandelt hatte.86 Oder im Herbst, das Fest ‘asîr, die Weinlese: alle Welt begibt sich hinaus aufs Land und in die Berge, und wer begütert ist, der lässt sich’s „in seinen von Weingärten umgebenen Landhäusern und Villen“ gut gehen. „Alle geben sich der Musik und dem Tanz hin“ – Männer, Frauen, Kinder, gemeinsam genießen sie die Freuden eines uralten, ja heidnischen Brauchs.87 Sogar das höchste christliche Fest im Jahreskreis, Ostern, spielt da irgendwie herein: in einer späten Quelle figuriert es als Pascua de los alaceres [alerces] und wird, wie es dort heißt, „von den Morisken Granadas, Murcias und Jaéns praktisch noch immer so gefeiert wie von ihren Vorfahren zur Zeit der Nasriden.“88 Kleine, bezeichnende Einschränkung: auch während der ausgelassensten Feiern legt man seine Waffen niemals ab – zu präsent ist die Gefahr aus dem Norden!89 (S. 117 – 121) B. Die islamische Méditerranée Aus: Gottfried Liedl, Vernunft und Utopie. Die Méditerranée (1350-1659), in: Peter Feldbauer / Jean-Paul Lehners (Hgg.), Die Welt im 16. Jahrhundert, Wien (Mandelbaum / Magnus) 2008, S. 116-151 Gab es bloß jene ‚eine‘ Renaissance, die italienische? Oder waren (wie es an sich logisch wäre) die aufwühlenden, umstürzlerischen Tendenzen von weiter reichender Bedeutung, waren sie, kurz gesagt, ein Phänomen der Méditerranée selbst? … Unsere Frage zielt natürlich auf die andere, die islamische Hälfte der Méditerranée. Gab es dort ebenfalls Renaissancen und Humanismen und eine im modernen Geist wieder entdeckte ‚Klassik‘? (S. 132) ‚Islamische Renaissance‘ drückt sich in vielen Aspekten ähnlich aus wie ihr ‚abendländisches‘ Gegenbild. Genauso wie in Italien und den von Italien beeinflussten Gebieten baut der ‚modernistische‘ Ansatz des neuen Denkens eine Brücke zwischen dem jeweiligen kulturellen Ideal (‚Antike‘, ‚Klassizität‘ sind die entsprechenden Kürzel) und einer Gegenwart, die sich auf allen wichtigen sozialen und kulturellen Feldern von der herkömmlichen Ordnung emanzipiert. Bewahrheitet und bewährt hat sich jener ‚Fundamentalismus der Moderne‘ in der fraglichen Epoche gegen das je eigene Establishment, und überall kamen dieselben Methoden zum Tragen, so einfach, so homolog, dass Kultur- und Religionsgrenzen kaum eine Rolle zu spielen schienen. Einziges Kriterium war die Fähigkeit, 85 Leo Africanus [Al-Hassan Ibn Muhammad al-Wazzan]: Beschreibung Afrikas, Band I, p.213. Évariste Lévi-Provençal (Hg.): Documents arabes inédits, p.124. 87 Rachel Arié: L’Espagne musulmane, p.403. 88 Siehe das Edikt vom 9.12.1609 (Vertreibungsdekret Philipps III.) und die darauf Bezug nehmende Enquête unter Don Gregorio López Madera; Rachel Arié: L’Espagne musulmane, p.403, Anm.3. 89 Ibn al-Khatib: Al-Ihâta, Teil-Edition: Kairo 1375 H. / 1955, p.145; ders.: Al-Lamha al-badriyya fî ddawla an-nasriyya, p.29. 86 33 konservative Kräfte mit deren eigenen Waffen zu besiegen – und zwar im Rückgriff auf das jeweilige klassische Erbe. Genau das wiederum erzeugte in der Formensprache echte Homologien. Immerhin ist der klassische Kanon überall dort für die ganze Méditerranée verbindlich, wo es sich in praktisch-pragmatischer Hinsicht auszahlt, an die Einheit von ehedem, an ihre vergangene Rolle als Emporium der Völker und Drehscheibe der Ideen anzuknüpfen. Eine solche ‚Moderne im Ehrfurcht gebietenden Gewand‘, wie wir sie nennen wollen, braucht dann nicht einmal der religiösen Einfärbung zu entsagen, ihre Übercodierung durch die Klassik ist sogar dafür stark genug. Mag sich der ‚italienische‘ Humanismus in heidnisch-christlichen Synkretismen gefallen90 oder eine ‚islamische‘ Rechtsprechung heftige Anleihen beim Römischen Recht nehmen91 – die unterschiedlichen praktisch-logischen Erwägungen und Motive ruhen auf ein und derselben Grundlage. Sollte eine bestimmte Religion dann immer noch sittliche Einsprüche erheben, so sieht sie sich intellektuell ausmanövriert durch jene allgemeine und allgemein gültige Klassizität. Als diese besondere Religion mit besonderen rechtlich-sittlichen Grundsätzen erscheint sie nämlich aufgehoben und transzendiert. Was zwischen dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit als christlicher Humanismus und islamische Rechtsprechung (also ‚Theologie‘ in Anführungszeichen) figuriert, zeichnet sich durch folgende frappierende Gemeinsamkeit aus. Beide unterziehen ihre jeweilige Tradition einer abstrakten Bewertung, hier wie dort muss sich ‚der Glaube‘ gleichsam fragen lassen, wie er es denn mit der Klassik halte, wie es um seine Klassik-Verträglichkeit bestellt sei. (S. 132 f.) Das ‚Gelegenheitsfenster‘ unserer ‚langen‘ Epoche, inklusive ihres Höhepunkts, der sogenannten ‚italienischen‘ Renaissance, gestattet die Beobachtung einer intellektuellen Emanzipation, worin es während gut zweier Jahrhunderte, zwischen 1350 und 1550 (diese Zeitspanne symbolisch verstanden), gleichgültig zu sein scheint, aus welcher religiösen Ecke das häretische Denken stammt. ‚Widerspruch‘– vom abtrünnigen Minoritenmönch Fray Anselmo de Turmeda und seiner arabisch verfassten ‚Polemik gegen die Christen‘ bis zum kanonisierten Märtyrer der Aufklärung Giordano Bruno und dessen ‚islamisch inspiriertem‘ Neuheidentum – bildet die mächtige Unterströmung des pragmatischen, kritisch-wissenschaftlichen Denkens.92 Ein wenig salopp, ein wenig theatralisch formuliert: Das Doppelgestirn der Moderne, Humanismus und Renaissance, leuchtet für alle gleichermaßen, für die Gläubigen wie die ‚Gelehrten‘, für Christen wie Muslime. Wovon das Religiöse sozusagen die Spitze des Eisbergs bildet, ist das intellektuelle Leben als solches (insofern es nämlich abbildet, aber auch befördert, was man den Zeitgeist zu nennen pflegt). Zur Erinnerung und Erklärung: ‚Westliche‘ muslimische Denker wie der Klassizist (und religiöse Fundamentalist) Ibn al-Djayyâb (1274-1349), der Empiriker und Soziologe Ibn Khaldun (1332-1406), der Rationalist Ibn al-Khatib (1313-1375), der propagandistische Mythologe Ibn Zamrak (1333-1393), dessen Oeuvre man als eine Art Museum beschrieben hat, „in welchem sämtliche Themen 90 Edgar Wind, Heidnische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt am Main 1981 (London 1958 ff.). Gottfried Liedl, Dokumente der Araber in Spanien. Zur Geschichte der spanisch-arabischen Renaissance in Granada, Band 2, Wien 1993. 92 Hélène Védrine, Das neue Weltbild: Von Nikolaus von Kues bis Giordano Bruno, in: François Châtelet (Hg.), Geschichte der Philosophie, Band 3, Frankfurt am Main – Berlin – Wien 1974 (Paris 1972): 57 f. 91 34 der klassischen Lyrik ausgestellt und katalogisiert sind“,93 begleiten als Zeitgenossen die zwei Generationen eines Dante (1265-1321) und der ungleichen Zwillinge Petrarca (1304-1374) und Boccaccio (1313-1375) über die entscheidende Bruchlinie zwischen (Spät-)Mittelalter und (früher) Neuzeit. Dass man das so sagen kann, bestätigt der literarische Befund. Abgesehen von direkten Übernahmen, etwa aus dem Erzählkreis von ‚Tausend und einer Nacht‘, schöpft die Dichtung dies- und jenseits der Religionsgrenze aus derselben Quelle – dem ‚zirkum-mediterranen‘ Volksleben, wie es sich im Straßentheater, in der Straßendichtung (islamisch literarisiert als sogenannte ‚Maqama‘) ausdrückt. Dabei durchstoßen nicht nur Boccaccios, nicht nur Chaucers Novellen mit lässiger Geste die Schranken des sittlichreligiös Gebotenen, auch auf der anderen Seite regiert die poetische, die areligiöse Freizügigkeit. Berühmt und bekannt sind die syrisch-ägyptischen Maqamas der Mamlukenzeit über die Abenteuer des schlauen Weltmannes, fröhlichen Zechers und ‚frommen‘ Predigers Abu Zaid, die noch dazu als prachtvoll bebilderte Handschriften überliefert sind.94 Und was die Freigeisterei der literarischen Figuren betrifft, so stehen ihnen ihre Schöpfer, die Dichter, nicht nach. ‚Weingedichte‘ hat im Westen der islamischen Hemisphäre fast jeder verfasst, selbst der ‚Fundamentalist‘ Ibn alDjayyâb, vom großen Ibn al-Khatib ganz zu schweigen (der hat im übrigen auch das Loblied der – notabene unverschleierten – Granadinerin gesungen).95 Dass aber der oberste Richter und Vorsteher der Hauptmoschee von Almería, Abu-l-Barakat, nicht nur ‚Wein, Weib und Gesang‘ und das ungezügelte Leben der Vagabunden preist sondern auch ‚des Poeten besten Freund ‘, worunter er – den Hund versteht! Man hört und staunt. Universelle Méditerranée ... Weder im ‚christlichen‘ Norden noch im ‚islamischen‘ Westen und Osten hat man Probleme mit dem heidnisch-mythologischen Erbe der Antike, sofern es sich (was aber durchwegs gelingt) überführen lässt in eine Ästhetik der Anspielungen, Verweise und Symbole. Wie in den Renaissancepalästen Italiens (wozu auch die päpstlichen Hofhaltungen zählen) erscheint ‚im Orient‘ die Figur des Herrschers, sein Leben bei Hofe eingehüllt vom Prestige des Heidentums, von Sternenmagie und einschlägigen Abbildungen mythischer Wesen. Motive wie Sphinx, Greif und Kentaur suggerieren auch am Sultanshof zu Kairo Klassizität und die Freiheit der Wissenden im Umfeld der Macht.96 Zu denken wäre aber auch an die Monumentalkunst, die Architektur. Dem 1285 vollendeten Mausoleum des Sultans alMansur Qalawun mit Motiven der Kreuzfahrer- und Mongolenkunst steht die zwischen 1356 und 1361 errichtete Moschee des Sultans an-Nasir ad-Din al-Hasan mit ihren fernöstlichen Motiven nicht nach. Dergleichen ästhetisierende Freiheit eines ‚internationalen Stils‘ erinnert an gewisse Objekte der Kleinkunst, ebenfalls aus dem Herrschaftsbereich der Mamluken, die nicht nur bereits signiert sind (ein Modernismus erster Ordnung) sondern auch mit Anlehnungen an abendländische 93 Emilio García Gómez, Ibn Zamrak, el poeta de la Alhambra, Granada 1975. Almut von Gladiß, Dekorative Künste, in: Markus Hattstein / Peter Delius (Hg.), Islam. Kunst und Architektur, Köln 2000: 198 f. 95 Ibn al-Khatib, Khatrat at-tayf fî rihlat ash-shitâ‘ wa-s-sayf. Edition: A. M. al-‘Abbâdî, Mushâhadât Lisân ad-dîn Ibn al-Khatib ... usw., Alexandria 1958: 50. 96 Almut von Gladiß, Dekorative Künste: 195 ff. 94 35 Motive aufwarten – inklusive Wappen.97 Renaissancistische ‚Überschneidungen’ finden sich auf der italienischen Gegenseite in Form von ‚Orientalismen’: arabische Schriftzüge auf Giotto-Bildern, der Namenszug des Mamlukensultans al-Mu’ayyad Sheikh auf einer Zeichnung Pisanellos.98 Da schadet es nicht, ein paar kunsthistorische Fakten zu memorieren. Während in Deutschland und Norditalien die Spätgotik regiert (1350 ist Baubeginn zum Kölner, 1386 zum Mailänder Dom), wird an der weltberühmten Alhambra der Löwenhoftrakt fertig gestellt (1354, unter Sultan Muhammad V.) – ausgestattet übrigens mit ‚häretischen‘ Bilddarstellungen im gotischen Stil. Anschauungen sind in Fluss geraten, selbst die ‚museale‘ Wertschätzung der Antike deutet sich an, wie eine in eben dieser Alhambra gefundene Ganymed-Figur aus römischer Zeit, also ein original antikes Stück, zu beweisen scheint. Nun ja – immerhin sind es keine fünfzig Jahre bis zum berühmten Paradigmenwechsel des Filippo Brunelleschi (1377-1446), des Entdeckers der Perspektive, und seiner um 1400 begonnenen Kuppel des Florentiner Doms. Es ist das exakt die Zeit, wo die Osmanen ihre ‚europäische Option‘ entdecken, das Schlüsseldatum hierzu ist die 1356 erfolgte Verlegung ihrer Hauptstadt nach Adrianopel (Edirne), in Thrakien. Binnen weniger Jahrzehnte fassen die Osmanen auf dem Balkan Fuß. … Und als ob es auch hier der rein ästhetischen Beweisführung bedürfe, hat sich nicht sofort, aber doch im Laufe eines knappen Jahrhunderts, die osmanische Macht parallel zur politisch-militärischen Ausweitung nach Westen auch ideologisch-künstlerisch europäisiert. Sinan (1489-1578) mit seiner Wiederaufnahme römisch-griechischer Ingenieurskunst, etwa in der berühmten Moschee von Edirne; die italienischen Maler und Porträtisten am Sultanshofe – allen voran der große Bellini; Caesars ‚Bellum gallicum‘ in kommentierten und übersetzten osmanischen Ausgaben – und so weiter, und so fort. Es darf somit vermutet werden, dass das allgemeine Informationsniveau gebildeter Kreise dies- und jenseits der Religionsgrenze ähnlich war – und auch regelmäßig nachjustiert wurde, was sich etwa an den Erweiterungen des Weltbildes im Gefolge der atlantischen Entdeckungen zeigt. „So war auch für die Muslime die Neue Welt bald nichts Unbekanntes mehr, auch wenn sie gezwungen waren, der Eroberung des Kontinents als Zaunkönige beizuwohnen“99 – eine Feststellung, die durch allerlei Publikationen wie jene ‚Neue Geschichte: Das Buch der Neuen Welt‘ des osmanischen Gelehrten Celebi as-Su’udi (es ist um 1580 erschienen) in der Tat gerechtfertigt erscheint. Umso mehr, als sich hier eine tiefe strukturale Homologie zur gleichzeitigen Welt der ‚europäischen‘ Spätrenaissance, ja „des Frühbarock“ (Schulze) bemerkbar macht, wenn der osmanische Autor historische, biographische und naturkundliche Beobachtungen zur Neuen Welt „verschnörkelt“ zusammenträgt.100 Und wenn zudem in politischer Hinsicht dies- wie jenseits der Religionsgrenze der moderne Staats-, ist gleich Reichsgedanke mit anderen 97 Giovanni Curatola, Das Mameluckenreich, Zentrum der islamischen Renaissance, in: Eduard Carbonell / Roberto Cassanelli / Tania Velmans (Hg.), Das Zeitalter der Renaissance. Kunst, Kultur und Geschichte im Mittelmeerraum, Stuttgart 2003 (Barcelona 2003): 109-133. 98 Giovanni Curatola, Der Islam in der italienischen Kunst, in: Carbonell / Cassanelli / Velmans (Hg.), Das Zeitalter der Renaissance: 169-179. 99 Reinhard Schulze, Die Frühe Neuzeit in der islamischen Welt, in: Edelmayer / Feldbauer / Wakounig (Hg.), Globalgeschichte 1450 – 1620: 261. 100 Schulze, Die Frühe Neuzeit: ebd. 36 modernen Modellen, etwa Machiavellis Fürstenstaat, konkurriert101 (ein Prozess, der sich ‚europäischerseits‘ als Übergang von der Renaissance zur Barockzeit beschreiben lässt), darf es da verwundern, wenn sich diese Evolution wie in einem Paralleluniversum auch ästhetisch niederschlägt? Sodass es wenig vermessen erscheint, auch bezüglich der islamischen Hemisphäre von einem Weg zu sprechen, der von den „mächtigen Renaissancebauten“ (nämlich des Sinan) hinführt zu „typischen, oft profanen Barockbauten“, Zeugnissen eines „Kulturstils, der nicht nur die Kunstformen wie Malerei und Musik, sondern auch Literatur und Philosophie nachhaltig prägte und bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein fortwirkte“?102 Und weil gerade von ‚Literatur und Philosophie‘ die Rede ist – allen diesen Renaissancestaaten und ‚frühbarocken‘ Reichen zwischen Donau, Euphrat und Ganges ist eine Tendenz zur Rationalisierung zu eigen, die auch vor der Religion nicht Halt macht. Eine solche „islamische Tradition der Aufklärung“,103 worin das Religiöse teils dem Bereich der Natur zugeordnet (diesen Weg ging man in Persien), teils unter die staatspolitischen Ordnungsbegriffe subsummiert (so bei den Osmanen),104 ja unter Umständen bis zum Extrem der synkretistischen ‚Kunstreligion‘ getrieben wird (die mit dem Staatskult identifizierte ‚göttliche Religion‘ des Mogulherrschers Akbar, worin sich Sanskrit-Traditionen mit islamischen Dogmen und mystischen Lehren verbinden),105 basiert in jedem Fall nicht auf der Vorstellung des Islam als einer Offenbarungsreligion sondern als eines empirisch ergründbaren, sprich religionswissenschaftlich beschreibbaren Systems – ein Prozess, der in der Definition von Religion schlechthin mündet.106 Dass in diesem Zusammenhang, religionsimmanent betrachtet, auch für den Islam ein ‚puritanisches‘ Erneuerungsethos feststellbar ist, frappiert den Beobachter. Aber auch die Tatsache einer dazu gegenläufigen staatstheoretischen Auffassung ist bemerkenswert. Erinnert sie doch „in vielfacher Hinsicht an Thomas Hobbes“.107 (S. 134 – 138) 101 Schulze, Die Frühe Neuzeit: 262. Schulze, Die Frühe Neuzeit: 273. 103 Reinhard Schulze, Weltbilder der Aufklärung. Zur Globalgeschichte neuzeitlicher Wissenskulturen, in: Margarete Grandner / Andrea Komlosy (Hg.), Vom Weltgeist beseelt. Globalgeschichte 1700 – 1815, Wien 2004: 170. 104 Schulze, Weltbilder der Aufklärung: 172. 105 Schulze, Die Frühe Neuzeit: 268. 106 Schulze, Weltbilder der Aufklärung: 175 f. 107 Schulze, Weltbilder der Aufklärung: 172. 102