Warum braucht der praktische Arzt Philosophie? Gernot Rüter Vorlesung am 16.12.2010 im Rahmen des Würzburger Philosophicum PD Dr. med. Thomas Bohrer Magister artium (Philosophie) Thoraxchirurgie Würzburg Dr. med. Gernot Rüter Arzt für Allgemeinmedizin Chirotherapie Palliativmedizin Blumenstr. 11 71726 Benningen Tel. 07144 14233 Fax 07144 4649 Email: [email protected] 1 Vorlesung am 16.12.2010 im Rahmen des Würzburger Philosophikums –Gernot Rüter Warum braucht der praktische Arzt Philosophie? Sehr geehrter Herr Dr. Bohrer, sehr geehrte Damen und Herren Einleitung Es ist mir eine große Freude und Ehre, von Ihnen und Herrn Bohrer einladen zu sein, diese Vorlesung in Würzburg zu halten. Allein schon, dass gelungen ist, sich auf die Notwendigkeit von Philosophie im Rahmen eines Studiums der modernen Medizin –und gerade der modernen Medizin- zu besinnen, erfüllt mit Genugtuung und Zuversicht. Ich war wirklich begeistert, als ich vom Würzburger Philosophikum erfuhr. In den letzten 10 Jahren habe ich in Aufsätzen und Diskussionsbeiträgen immer wieder versucht, auf die Notwendigkeit einer philosophischen Grundierung moderner Medizin hinzuweisen. Darin war ich nicht immer erfolgreich. Der in eine Frage gekleidete Titel der Vorlesung greift bewusst die antiquierte Bezeichnung praktischer Arzt auf. Sie soll hier nicht in ihrer früheren Abgrenzung zum sogenannten Facharzt stehen, sondern soll den Arzt kennzeichnen, der in der konkreten Versorgung kranker individueller Patienten praktisch tätig ist. Die Unterscheidung soll eher getroffen werden zu einem zurückgezogenen theoretischen Leben -bios theoreticos- als Wissenschaftler und Philosoph. Peter Sloterdijk bearbeitete diese Art eines abstinenten, von der Welt zurückgezogenen Wissenschaftlerlebens in einem kürzlich erschienenen kleinen Buch unter dem Titel „Scheintod im Denken“. Darauf komme ich noch zurück. Vorstellung –wer bin ich? Herr Bohrer war so nett, mich Ihnen schon ein wenig vorzustellen. Der Grund, mich nach dem Studium für eine Hausarzttätigkeit zu entscheiden, war, dass mich faszinierte, mit Menschen einer sozialen Gemeinschaft, eines Dorfes, eine wichtige Spanne deren und meines Lebens zu verbringen, in denen ich ihnen ärztlicher Begleiter und Berater sein wollte. Damals hatte ich mir schon überlegt, was ich erst viel später auch von einem englischen Autor las, dass nämlich für den Hausarzt die Beziehung zum Patienten die Konstante bleibt, während die Krankheiten kommen und gehen. Für Spezialisten andererseits bleiben die Krankheiten konstant und die Menschen kommen und gehen. Hausarzt sein gelingt in moderner Zeit nur, wenn man auf ein abgestuftes System von Spezialisten zurückgreifen 2 kann, die zu konsultieren sind, wenn die eigenen Möglichkeiten überschritten sind. Spezialist kann man nur unter der Bedingung sein, dass davor ein Filtersystem von Generalisten geschaltet ist, welches die Patientenprobleme auf der Ebene löst, wo das mit dem geringsten Aufwand möglich ist. Der Spezialist arbeitet eher krankheitszentriert, der Generalist eher menschenzentriert. Mein Konzept dabei war immer, die Patienten wo möglich in eine individuelle Genesung hinein zu begleiten, heute meist mit dem Begriff Salutogenese gekennzeichnet. Dabei lassen sich auch bei Fortbestehen von Krankheit gesunde Anteile finden und fördern. Mehr als dreißig Jahre betreibe ich nun diese Generalistentätigkeit und bin von ihr bis heute erfüllt. Die Antwort auf die Titelfrage möchte ich Ihnen und mir für das Ende des Vortrages aufsparen in der Hoffnung, sie möge sich dann von selbst finden. Beginn der Wanderung –wer sind Sie? Zuvor aber begegne ich nun Ihnen, einer Gruppe junger Menschen, von denen die meisten sich in einem Übergang befinden von der Stätte intensiver Ausbildung in die Phase ärztlicher Tätigkeit am Patienten. Von Übergängen und Schnittstellen wird auch mein Vortrag immer wieder handeln. In diese Matrix, diesen Teig will ich hin und wieder ein paar Rosinen philosophischer Begrifflichkeiten einbacken, Skizzen philosophischer Persönlichkeiten zeichnen und Gedankeninseln finden, die gewissermaßen Ruhebänke bei unserer gemeinsamen Wanderung sind. Ich selbst bin kein gelernter Philosoph, insoweit dürfen Sie von mir nicht eine philosophische Systematik oder Vollständigkeit erwarten, sondern Gedanken, die sich einem erfahrenen Hausarzt als hilfreich erwiesen haben. Legitimiert bin ich vielleicht dennoch durch Richard David Precht, der kürzlich in einem Interview sagte, dass Philosoph sein nicht eine Frage der Abschlüsse sei, sondern dessen, was man tut. Er beschreibt den Philosophen als einen Scout für gesellschaftliche Sinndefizite. Dabei kritisiert er, die Philosophen heute seien für den Unterricht in Philosophie an Hochschulen zuständig und hätten sich oft von der Lebenswirklichkeit entfernt. In der Antike seien sie gleichermaßen für Wirtschaft, Politik und Kunst zuständig gewesen. Mein Ziel ist, Ihnen darzustellen, warum das Nachdenken über das Sein und über das dem Praktischen Arzt Wahrnehmbare, das Phänomenon, gerade für diese Arbeit so notwendig und faszinierend ist. Nun begegne ich also Ihnen und ich möchte bei Ihnen und mit Ihnen meine Überlegungen beginnen. Sie haben bereits Beträchtliches geschafft und zustande gebracht. Sie haben das Abitur abgelegt, haben sich für das Medizinstudium entschieden und sich dafür qualifiziert und bis hierher Ihre Studien erfolgreich gemeistert. Manche sind auch schon Ärzte und hier kann ich vielleicht ein paar neue Gedanken zum Berufsleben beisteuern. Mag sein, Sie beherrschen ein Instrument, sind in einer Sportart gut oder Sie malen, vielleicht 3 leben Sie in einer gelingenden Partnerschaft, sind vielleicht selbst schon Väter oder Mütter. Solche von Ihnen geleistete Selbstformungen Ihres Lebens kennzeichnen Ihre Kunstfertigkeit in Sachen Leben, Ihre Lebenskunst. Sie beinhaltet, dass Sie aus einer Reihe von Möglichkeiten eine WAHL getroffen haben, und dass Sie das Gewählte eingeübt haben, um darin eine gewisse Exzellenz zu erreichen. Der philosophische Begriff dafür ist die Askese. Lebenskunst und Askese Dies Begriffe sollen gleich unsere erste Insel des Verweilens sein. Unter einem Begriff soll hier einfach ein definierter, abgeteilter Gedanke gemeint sein, dem eine bestimmte Bedeutung zugeschrieben wird, was somit eine definierte semantische Einheit meinen würde. Der Begriff der Askese wird in der heutigen Sprache fast nur noch in seinem negativen, auf Verzicht und Einschränkung ausgerichteten Aspekt gebraucht. Erst durch die wiederentdeckte Lebenskunstphilosophie öffnet sich der Begriff wieder auf seinen antiken Inhalt, nämlich den des beharrlichen Einübens einer geistig-intellektuellen Fertigkeit. Für den französischen Philosophen und Psychologen Michel Foucault, mir nahe gebracht durch seinen deutschen Kollegen Wilhelm Schmid, ist Askese die zentrale Praktik der Lebenskunst. Als Praktik bezeichnet Foucault einen Vorgang, der Praxis und Technik miteinander verbindet. Praxis kennzeichnet die Tatsache, dass wir etwas tun, etwas zu tun ausgewählt haben, Technik meint, wie wir etwas tun. Wenn wir Askese als Praktik der Lebenskunst bezeichnen, meinen wir also, dass wir einen bestimmten Lebensgegenstand ausgewählt haben, uns damit beschäftigen und uns einüben, dieses Feld gut und mit einer gewissen Exzellenz zu beherrschen. Foucault schreibt: „Keine Kunst, keine berufliche Fähigkeit lässt sich ohne Übung erwerben; auch die Kunst des Lebens, die tecne tou biou, kann man nicht lernen ohne askesis, die als Übung seiner selbst durch sich angesehen werden muss“. Mit Lebenskunst ist gemeint, dass der Einzelne mittels Selbstsorge und Selbstformung dem eigenen Leben eine ästhetische Gestalt gibt, das eigene Leben kunstvoll formt. Als Begriff hierfür steht die „Ästhetik der eigenen Existenz“ durch die Erarbeitung eines eigenen Lebensstils. Damit beschäftigen wir uns später noch ausführlich. Mit dem Kranken in Beziehung treten Nun sind Sie auf dem Wege dieser Wahl, der Askese und damit der Selbstformung schon ein gehöriges Stück gegangen und werden in einer absehbaren Zeit den Status der Selbstformung und der Theorie im Bezug auf das Studium so verlassen, dass Sie große Teile Ihrer Zeit dem Umgang mit kranken Menschen widmen werden. Menschen treten zu Ihnen in Beziehung, die sich Ihnen als Kranke oder Besorgte anvertrauen. Prinzipiell begegnen sich an dieser Stelle zwei Lebenskunstprojekte, 4 das des Patienten und Ihr eigenes. es Eine Menge Arzt-Patienten-Begegnungen scheinen in dieser Hinsicht trivial und bleiben es auch im Verlauf. Aber in der Natur der Begegnung zwischen jemand, der um sein Leben fürchtet oder bei dem es real oder in der Fantasie akut oder künftig bedroht ist, und dem Anderen, den er als Arzt zurate zieht, liegt, dass der Ratsuchende in diesem Augenblick einen Rückschlag seiner Lebenskunstbemühungen erleidet. Eindrücklich beschreibt Klaus Dörner in „Der gute Arzt“ verschiedene Formen der Arzt-Patient-Beziehung. Schon der Erstkontakt ist durch mehrere Kommunikationsebenen gekennzeichnet, in denen der Patient eine Auswahl aus Ereignissen und Wahrnehmungen trifft, die er dem Arzt mitteilt. Informationen schweben im Raum über inhaltliche Dinge, aber auch darüber, wie der Patient sich dem Arzt darstellen möchte, der Patient bemüht sich, vom Arzt in einer gewünschten Weise gesehen zu werden und sein Bericht hat einen Appellationscharakter, er möchte etwas aktuell Erwünschtes erreichen. Näheres hierüber findet sich in den Konzepten von narrativ based medicine oder „Dialog basierte Medizin“. Die Arzt-Patienten-Begegnung hat für mich eine merkwürdige Analogie zu der in der Renaissance oft dargestellten „Verkündigung“. Ich sehe den Arzt eher in der Rolle der bergenden, bewahrenden und etwas für den Patienten tragenden Maria, den Patienten in der Rolle der verkündigenden Engels. „Bewahre etwas für mich, biete ihm eine Heimat und lass es bei dir wachsen“. Auch umgekehrte Analogien sind möglich. In sehr vielen Verkündigungsszenen wird etwas von den ambivalenten Gefühlen der Arzt-PatientenBegegnung spürbar. Hier: Domenico Ghirlandaio Kirche San Gimiano/ Italien 5 Die Verkündigungsgruppe mit dem lachenden Engel im Regensburger Dom 6 Beziehungsbilder, Zwischengesichtlichkeit: Giotto. Cappella degli Scrovegni Padua Im obigen Bild ist auf der Brücke die Begegnung der Elte Eltern Marias, Anna und Joachim auf einer Brücke dargestellt dargestellt. Joachim war im Tempel von Jerusalem gewe gewesen, um Unterstützung für seinen unerfüllten Kinderwunsch zu bitten. Aber er wird weggejagt. Als er Anna wiedersieht ist sie inzwischen schwanger. Alles Wissen, alles Verstehen liegt im Blick zwischen ihnen. Aber noch etwas: Wer genau hinsieht, kann ein drittes Gesicht zwischen ihnen erkennen. Am ehest ehesten assoziiert man das Gesicht Jesu, des späteren Enkels. Wie anders ist der Ausdruck zwischen diesem und seinem Denunzianten Judas. Was liegt zwischen „Amor und Psyche bei Edvard Munch? 7 Im ersten Band mit dem Untertitel „Blasen“ seiner Trilogie „Sphären“ beschreibt der in Karlsruhe Philosophie und Ästhetik lehrende Peter Sloterdijk, über welche Kanäle Menschen zueinander in Beziehung treten. Dort wird der Augenkontakt, die Zwischengesichtlichkeit beschrieben. Die herzliche Beziehungsaufnahme als Interkordialität, die über das wechselseitige geistige Resonanzsystem. Kontakte über die Sinnlichkeit des Hörens, den Klang der Stimme, über Gerüche, Parfum, und natürlich über taktile Reize, die Berührung, sind geläufig. Auch Berührtsein stellt eine Metapher dar über den unmittelbaren Sinneskanal der Hautrezeptoren hinaus. Die gesamte Welt der Kunst ist eigentlich diesem Begegnungsraum gewidmet. Ein modernes Beispiel liefert der sehenswerte Film „In ihren Augen“ des argentinischen Regisseurs Juan José Campanella. In „Sein und Zeit“ formuliert Martin Heidegger: „Die Lebensumstände, was um uns herumsteht, besonders die Menschen gehen uns an.“ Die Besonderheit der Patienten-Arzt-Beziehung liegt einerseits in ihrer Polarität insoweit, als einer der Beteiligten sich in seiner Existenz bedroht fühlt und vom anderen Befreiung und Schutz vor dieser Bedrohung erhofft. Diese Polarität muss die Garantie der Nicht-Verletzung einschließen, wo der Bedrohte sich unter Offenbarung seiner Verletzlichkeit in diesen geteilten Beseelungsraum hinein begibt. Die Garantie der Nichtverletzung schließt auch Dimensionen des Nichtbenutzens und des Nichtübervorteilens mit ein, wodurch sich die Patienten-Arztbeziehung grundsätzlich von der Kaufmann-Kunden-Beziehung unterscheidet. Das hier mögliche, ungeschützte Sich-anvertrauen ist alles andere als selbstverständlich. Die Beziehung, die entsteht, trägt einerseits Elemente paternalistischen Besserwissens, aber auch solche partnerschaftlich-gegnerschaftlichen Aushandelns. Auf der anderen Seite aber kennzeichnen Elemente einer maternalistischen Übertragung der Sorge die Beziehung. Wo die Lebenskunst auf der Selbstsorge fußte, wird sie nun, mindestens zeitweise und themenweise, zur Fremdsorge übertragen. Heidegger spricht von der einspringenden Fürsorge. Sloterdijk überschreibt in Sphären Band I mit dem Untertitel „Blasen“ ein Kapitel „Zur Ideengeschichte der Nähefaszination“. Schon im Begriff der Faszination ist die 8 Dimension des Bezaubertseins, Behextseins enthalten. Überall gibt es soziale Rituale, welche damit verbunden sind, jemandem nahe zu kommen. Da wird ein guter Tag, ein guter Morgen gewünscht, da wird die offene rechte Hand als frei von Waffen demonstriert. „Sich die Hand reichen“ bedeutet wieder eine generelle Friedensmetapher. Man knickst oder beugt den Nacken, geht gar auf die Knie, um sich verletzlich zu präsentieren, womit gleichzeitig das Vertrauen ausgedrückt wird, nicht mit einer Verletzung zu rechnen. Im Umgang mit Mächtigen waren solche Gesten aber auch gefordert als echtes Sich-unterwerfen und Ausgeliefert-sein. Küsse oder Umarmungen waren hierzulande früher nicht so üblich und sind bis heute Zeichen einer besonderen Innerlichkeit, einer Intimität. Zwei Sätze aus Sloterdijk darf ich noch zitieren: „Lange bevor sich die Axiome der individualistischen Abstraktion durchsetzen konnten, war von den Psychologen-Philosophen der frühen Neuzeit klar gemacht worden, dass der interpersonale Raum überfüllt ist von symbiotischen, erotischen und mimetisch-konkurrenziellen Energien, die die Illusion der Subjektautonomie von Grund auf dementieren. Das Grundgesetz der Intersubjektivität …ist die Bezauberung des Menschen durch den Menschen. Kirke, die Tochter des Sonnengottes bezauberte, bezirzte, die Menschen, welche auf ihre Insel Aiaia gelangten, so, dass sie sich in zahme Tiere verwandelten, die Gefährten des Odysseus dem Mythos nach in Schweine. Ebenso bedeutsam wie die Formeln für das Betreten des Näheraumes sind in den Kulturen die Trostformeln dafür, wenn er wieder verlassen wird. Sie reichen vom Lebewohl und dem Wunsch Auf Wiedersehen bis hin zur Beschwörung göttlichen Schutzes für die Scheidenden, um die Trauer über das Alleinsein zu mäßigen. Folgt man Gedanken Sloterdijks aus „Spären III“ und aus „Du musst Dein Leben ändern“ würde man vom Öffnen und schließen psychos-sozial-noetischer Immunitätsräume sprechen. Die Patienten-Arzt-Beziehung Wodurch ist nun der Näheraum der Patienten-Arzt-Begegnung gekennzeichnet? Wenn im Vortrag immer wieder Aspekte von Übergängen erscheinen, bedeutet das Zustandekommen einer Patienten-Arzt-Beziehung einen Übergang von unbeschwert nach besorgt, von selbstvergessen nach selbstbeobachtend, vielleicht von gesund nach krank. Die grundsätzliche Polarität dieses besonderen Näheraumes wurde schon angesprochen: Laie-Fachmann, Wenig-wissen versus Besserwissen, Hilfesuchender-Helfender, krank versus gesund, unsicher-sicher sind Begriffspaare, 9 die für diese Art des geteilten Beseelungsraumes mehr oder weniger zutreffen. Medizinhistorisch bedeutsam für eine Medizin geradezu extensiver Näheräume ist der Ansatz des Mesmerismus. Der Begriff leitet sich ab von Franz Anton Mesmer, welcher von 1734-1815 lebte. Sloterdijk bezeichnet ihn als den Anreger einer romantisch magnetopathischen Medizin. Diese Lehre übte während rund 150 Jahren auf Europa eine enorme Faszination aus, um ebenso dramatisch wieder zu verschwinden. Vermutlich war beides gleich unberechtigt. Erst die Hypnose des 20. Jahrhunderts greift einige Gedanken der mesmerschen Tradition wieder auf. Der Näheraum der Arzt-Patientenbeziehung ist also einerseits von Polarität gekennzeichnet, zum anderen von einer hohen Garantie der Nichtverletzung. Theodor Adorno sagt in den Minima moralia: „Geliebt wirst Du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren“. Aus diesem Blickwinkel würde es sich also um eine Art der Liebesbeziehung handeln. Das unbedingte Gebot der Nichtverletzung beinhaltet aber auch, sich aller Elemente des Begehrens innerhalb dieser Beziehung zu enthalten bzw. solche zu vermeiden und zu kontrollieren. Denn das Zulassen von Begehren in dieser speziellen Beziehung würde Verletzungen schon von vorneherein implizieren. Ärztliches Handeln ist nun aber häufig mit der Notwendigkeit von Verletzungen verbunden. Chirurgische Eingriffe sind am augenfälligsten, aber Injektionen, Medikamente, ja Worte, psychotherapeutische Interventionen, beinhalten ebenso ein Potenzial der Verletzung. Sie müssen daher vorher deutlich und dem Patienten verstehbar gemacht werden. Der Patient muss ihnen im Wege des „informed consent“ zustimmen, in besonderen Fällen auch schriftlich. Allerdings ist überhaupt nicht alles, was sich in diesem Beziehungsfeld an Dialog, an Austausch von Emotionen, an Gestik, an Deutungen und, um Begriffe der Psychoanalyse zu benutzen, an Übertragung oder Gegenübertragung abspielen wird, vorhersehbar, sagbar oder gar vorab zu vereinbaren. Vielmehr hat der beschriebene geteilte Beseelungsraum der Patienten-Arzt-Beziehung eine ontologisch-historischkulturelle Dimension, ist also in einem geschichtlichen Lernraum des Seins verankert. Die Schriften Platons und damit die Lehren Sokrates’ waren ihrer griechischen Sprache wegen lange im Mittelmeerraum nicht sehr verbreitet. Das änderte sich erst als der Sohn des Leibarztes der Medici, Marsilio Ficino, von ihnen ein Stipendium erhielt mit dem Auftrag, Platon zu übersetzen und zu kommentieren. Lange vor Freud 10 wurden von Ficino Grundzüge psychoanalytischen Denkens entwickelt. Platonismus und Psychoanalyse sind sich laut Sloterdijk darin einig, dass „der primäre, vorgegenständliche und übergegenständliche Eros seine Quelle in einer verdunkelten, nie ganz vergessbaren und immer weiterzündenden ZweiEinigkeitsfantasie hat“. Es gibt Hinweise darauf, dass späteres Bezogensein Reminiszenzen weckt an intrauterines und frühkindliches symbiotisches Bezogensein, und dass spätere Beziehungen als Stellvertreterbeziehungen zu diesen im Sein erlebten Urbeziehungen gedacht werden können. Mit der historischkultureller Dimension meine ich, dass ein implizites Wissen darüber, wie Beziehung geht, in einer Kultur vorhanden ist, auch darüber, wie PatientenArzt-Beziehung geht. Dieses Wissen erst ermöglicht ein Handeln innerhalb des geteilten Beseelungsraumes, der beiden Beteiligten Sicherheit vor Verletzung einerseits und vor Strafverfolgung andererseits verleiht. Diese Sicherheit kann in Gefahr sein, wenn etwa Persönlichkeitsstörungen, wie z. B. eine Borderline-Störung, vorliegen oder wenn das Begehren nicht kontrolliert wird. Wo bleiben Wut und Zorn? Neben dem Eros kann als weitere Emotion der Zorn –Thymos- die PatientenArztbeziehung so stören, dass sie nicht als tragfähig zustande kommt oder zerbricht. In „Zorn und Zeit“ analysiert P. Sloterdijk 2006 die Bedeutung des Zorns und seiner Kulturgeschichte, welchen er als Thymos dem Eros gleichwertig entgegensetzt. Er verbindet damit eine Kritik der Psychoanalyse, die ihm als einseitig auf den Eros fixiert erscheint. Aus den aufzeigten Gründen wird deutlich, dass die Beziehung zwischen Patient und Arzt besonders stark emotional aufgeladen sein kann und damit auch Zornespotenziale birgt, welche zu ihrem Scheitern und Zerbrechen führen können. Die oft hohe Emotionalität dieser Beziehung liegt darin begründet, dass es oft existenzielle Daseinsfragen sind, welche die Beziehung erst entstehen lassen. Der Hausarzt ist hier insoweit im Vorteil, dass es eine Beziehung oft schon gibt, bevor sich Bedrohliches für den Patienten abzeichnet. Drei Mal ärztliche Wirklichkeit, viele Fragen Ehe wir uns nun daran versuchen, auf Dasein und Existenz zu einzugehen, möchte ich mit Ihnen wieder in scheinbar seichtere Gewässer praktischer Lebenskunst eintreten. Dazu möchte ich Sie in drei Lebenssituationen einbeziehen, die für Sie 11 berufliche Wirklichkeit sein könnten und die einen realen Hintergrund haben. Die Beispiele können auch ein Bild davon zeichnen, was ich mir unter einer Medizin als Hilfe zur Lebenskunst vorstelle. Aus der Fülle von Möglichkeiten haben Sie die Wahl getroffen, Gynäkologin zu werden. Sie haben durch Askese darin eine Exzellenz erreicht und sind seit Jahren als Frauenärztin niedergelassen. Eine 32-jährige Schwangere sucht sie in der 24. Schwangerschaftswoche auf. Sie lebt eigentlich nicht in Deutschland. In ihrer neuen Heimat werden Screeninguntersuchungen von Schwangeren seltener als hierzulande vorgenommen, und die Patientin möchte sich von Ihnen schallen lassen. Bekannt ist bereits, dass es sich um eine Zwillingsschwangerschaft handelt. Angetreten zu einer Routineuntersuchung finden Sie nun mit großem Schrecken bei einem der Zwillinge eine große intraabdominelle Geschwulstbildung. Offenbar handelt es ich um eine riesige Harnblase, welche das Abdomen weitgehend ausfüllt. Es fällt Ihnen schwer, diesen Befund der ahnungslosen Mutter mitzuteilen. Die weiteren Untersuchungen ergeben, dass der eine Zwilling offenbar gesund ist, der andere aber an einer Trisomie 18 (Edward-Syndrom) leidet, was ein längeres Überleben ausschließt, wenn das Kind überhaupt noch lebend geboren wird. Nach einiger Überlegung und mehreren Gesprächen teilt Ihnen die Mutter mit, sie könne die Situation nicht aushalten und wünsche, um dem kranken Zwilling Leid zu ersparen, dass er intrauterin abgetötet würde. Das wäre z. B. mit intrakardialen Kaliuminfusionen möglich und es wird auch an einigen Zentren durchgeführt. Unklar ist, welche Risiken der geplante Fetozid für das gesunde Kind mit sich bringt. Ihnen ist bei dem Gedanken unwohl, diese Tötungshandlung auf den Weg zu bringen. Sie fühlen sich zu einem Handeln gedrängt, dass Sie schwer mittragen können. Sie machen sich auch Gedanken darüber, wie die Mutter, die Eltern als Paar, wie das überlebende Kind im späteren Leben mit dem eigenen Handeln oder Unterlassen zurechtkommen können. Andererseits fühlen Sie mit der Mutter in ihrer schwierigen Situation. Wie soll man weiter vorgehen? Ihre berufliche Lebensentscheidung war eine andere. Sie waren fasziniert von den neuen Möglichkeiten der Humangenetik und haben sich für diese Profession entschieden und betreiben eine Praxis für Humangenetik. Eines Tages erhalten Sie aus einer gynäkologischen Abteilung Chorionzottenmaterial von einer 30-jährigen 12 Mutter, die aus einem Balkanland stammt. Sie ist zum vierten Mal schwanger. Der älteste, neunjährige Sohn leidet an einer Muskeldystrophie vom Typ Duchenne, also einer X-chromosomal gebundenen Form einer Muskelerkrankung, die mit einer verkürzten Lebenserwartung und erheblicher Behinderung einhergeht. Die sechsund vierjährigen Schwestern sind vom Phänotyp her gesund. Ob sie Überträgerinnen des Merkmals sind, ist nicht bekannt. Die neue Schwangerschaft wird als ungewollt beschrieben, eigentlich wollten die Eltern kein weiteres Kind mehr. Sollte es sich aber um einen gesunden Jungen handeln, so äußert sich die Mutter, würde sie den weiter austragen. Sie führen die genetische Untersuchung durch und stellen fest, es handelt sich um einen weiblichen Fötus. Da ein Mädchen nicht erkranken kann, erübrigt sich die weitere Diagnostik auf das Duchennemerkmal. Die Gesetzeslage ist nun so, dass Sie der Mutter nicht vor der 14. Schwangerschaftswoche mitteilen dürfen, welches Geschlecht die reifende Frucht hat. Das wurde vom Gesetzgeber beschlossen, um eine Selektion von Embryonen nach dem Geschlecht auszuschließen. Sie haben erfahren, dass die Mutter schon einen Termin zur Schwangerschaftskonfliktberatung wahrgenommen hat und sich darüber eine Bescheinung ausstellen ließ. Einen Termin zum Schwangerschaftsabbruch gibt es auch schon. Nun haben Sie die Mutter am Telefon. Teilen Sie ihr mit, dass sie ein gesundes Mädchen erwartet und eröffnen dem Ungeborenen gesunden Kind eine Möglichkeit auf Leben oder halten Sie sich an das Gesetz und sagen nichts über das Geschlecht? Nein, Sie haben sich ganz anders entschieden und sind Hausärztin geworden. Das ist Ihnen jetzt vielleicht ein fremder Gedanke, denn nur wenige StudentInnen entscheiden sich momentan noch für die Allgemeinmedizin. Aber, Hausarztsein ist in seiner Fülle und Vielfalt und mit dem professionellen Leben in multiplen Beseelungsräumen eine faszinierende Art der Berufsausübung. Sie halten sich gerade an der Anmeldung Ihrer Praxis auf, als eine Ihnen langjährig vertraute, ende vierzigjährige Patientin zur Tür hereinkommt. Sie sind unmittelbar elektrisiert und besorgt durch ihre Erscheinung. Sie sieht blass, eingefallen aus, extrem verängstigt, was Sie sofort ansteckt. Sie klagt über heftige Schmerzen im Brustraum mit Ausstrahlung in die Nieren und den Bauch, teils bis in die Beine. EKG und körperliche Untersuchung ergeben nichts Wegweisendes. Da die Patientin weiterhin schwere Schmerzen klagt und sehr unruhig ist, injizieren Sie 10 mg Morphin langsam i. v., was ihr aber kaum Linderung bringt. Sie versuchen, die Patientin mit 13 teilstrichweise intravenös gegebenem Diazepam etwas zu sedieren. Auch das gelingt nur teilweise. Sie schließen an die liegende Venüle eine Infusion an und rufen den Rettungsdienst. Auf die Fragen der Patientin nach der Ursache ihrer Schmerzen müssen Sie eine gewisse Ratlosigkeit eingestehen und erklären ihr, Sie können nichts Näheres sagen, die Ursache müsse bei einem stationären Aufenthalt gefunden werden. Während der weiter laufenden Sprechstunde, in der Sie in Druck geraten sind, weil Sie soviel Zeit mit Ihrer Akutpatientin verbracht haben, fällt Ihnen schwer, die Konzentration zu wahren, da die Gedanken immer wieder zu der Patientin abschweifen. Später rufen Sie im Krankenhaus an, um nach ihrem Schicksal zu fragen. Dabei erfahren Sie, dass die Patientin inzwischen in ein Krankenhaus der Maximalversorgung verlegt wurde: Ursache der Schmerzen war eine ausgedehnte Aortendissektion nach dem Abgang der linken Arteria subclavia bis unterhalb der Nierenarterien. Es ist sehr fraglich, ob die Patientin überleben wird. Sie hat die Akutphase überlebt und auf Sie warten die Aufgaben: • Betreuung einer Patientin, die jeden Augenblick innerlich verbluten könnte • Einleitung einer somatischen und psychosozialen Rehabilitation • Partizipative Entscheidungsfindung, ob Stents in die dissezierte Aorta eingebracht werden sollen • Nach diesem Eingriff soll die Patientin wieder in ihr Leben, ihren Beruf und in das Dasein der Familie integriert werden • Wie kann, wie soll sie weiterleben? Wie erwähnt, haben sich diese drei Geschichten, Narrative, tatsächlich ereignet. Die beiden Ersteren stammen aus meiner Balintgruppe, der letzte Fall ereignete sich in meiner Hausarztpraxis. Allen ist zu eigen, dass es sich um Situationen um Werden und Vergehen individuellen Lebens handelt, somit wieder um Übergänge im persönlichen Sein. Heidegger findet für dieses ganz Persönliche den Begriff der Je-meinigkeit. Es handelt sich um Fragen, die wir umgangssprachlich als existenziell bezeichnen würden. Wenn wir beginnen, ernsthaft über die aufgeworfenen Fragen nachzudenken, dann landen wir automatisch bei einem Nachdenken über das Sein, über Geboren werden und Sterben. Versuchen wir, dafür Regeln, Gemeinsames und Unterscheidendes zu finden, sind wir mitten in philosophischen Gedanken. Wenn wir Antworten auf Fragen finden wollen, wie wir uns verhalten sollen, bewegen wir uns 14 auf dem Gebiet der Ethik. Wenn es darum geht, wie wir zum Werden und Vergehen von Leben stehen, zumal von unserem eigenen, dann übersteigen wir Grenzen des Wissens. Es geht jetzt um Bereiche des Glaubens, um Vorstellungen, auch um Ängste. Wir verlassen den Bereich des Gegenständlichen, der Physik und überschreiten, transzendieren ihn und befinden uns in der Transzendenz und dem Reich der Metaphysik. In den geschilderten Fällen starben zwei Individuen: Der eine Zwilling mit der Trisomie 18 starb im Verlauf natürlich, ohne äußere Einwirkung einen intrauterinen Fruchttod. Das unerwünschte dritte Mädchen im zweiten Fall starb durch einen Schwangerschaftsabbruch. Meine Patientin hat bis heute überlebt und fand in das berufliche und private Leben zurück. Inzwischen sind mehr als zwei Jahre seit der Dissektion vergangen. Allen drei gemeinsam ist, dass sie schon im Vorfeld einen vielfachen Tod in der Fantasie, in der Welt der Vorstellungen, in einer metaphysischen Welt starben. Gedanken um Heidegger Ereignissen wie den hier geschilderten hat sich in ganz besonderer Weise Martin Heidegger zugewandt. Ich will Ihnen hier nur Gedanken nahe bringen, die ich als hilfreich empfinde und die ich eher der Sekundärliteratur entnehme. Sein und Zeit, Heideggers Hauptwerk, habe ich bisher nicht gelesen. Hans Georg Gadamer, um sich Heidegger einmal aus der Sicht eines Nachfahren und Schülers zu nähern, beschreibt in seinem sehr empfehlenswerten kleinen Buch „Über die Verborgenheit der Gesundheit“ Gesundsein wie folgt: „Gesundheit ist eben überhaupt nicht ein Sich-Fühlen, sondern ist Da-sein, In-der-Welt-Sein, Mit-den-Menschen-Sein, von den eigenen Aufgaben des Lebens tätig oder freudig erfüllt sein.“ Gadamer benutzt hier heideggersche Begriffe. In dem von Gadamer angesprochenen Zustand eines inneren Gleichgewichtes laufen die Menschen Gefahr, sich selbst und ihr Dasein nicht als persönlich wahrzunehmen, sondern sich in der Anonymität eines „Man“ zu verlieren. Man lebt so, man versichert sich, man macht eine Ausbildung, man braucht einen Laptop etc. In dieser Daseinsform lebt es sich im Allgemeinen ganz gut, wenn „man“ sich auch einer Menge Lebensregeln und Übereinkünften ausliefert. Man steht nach Heidegger in der „Botmäßigkeit“ der Anderen. Er formuliert noch schärfer: „Jeder ist der Andere und Keiner er selbst“. Das eigene, persönliche, meinige Leben ist ein uneigentliches geworden. Auch der Tod und das Ende des Lebens werden nur 15 in dem Sinne wahrgenommen und akzeptiert, dass man irgendwann sterben muss, aber jetzt –scheinbar sicher- noch nicht. „Plötzlich und unerwartet“ kann dann in einer Todesanzeige stehen. Diese Situation, dieses Dasein, dieses In-der-Welt-Sein, ändert sich schlagartig mit dem Auftreten einer schweren, lebensbedrohlichen Erkrankung oder der Befürchtung oder der Fantasie davon. Nun sind Leiden und letztlich der Tod nicht mehr im „Irgendwann“, sondern nun werden sie als Möglichkeit unabweisbar und werden zu meinem, zu dem, was mich unmittelbar angeht, zum Je-meinigen. Die Befindlichkeit, die jetzt mein Leben bestimmt, ist nach Heidegger die Angst. Die entsprechende Befindlichkeit des Man bezeichnet er als Furcht. Das Wovor der Furcht ist ein Bedrohendes, ein Ding, ein Geschehen, das mich treffen kann oder auch nicht. Die Reaktion des Man auf Furcht ist auszuweichen, Sicherungssysteme einzubauen, durchaus auch, ASS einzunehmen, um das Schlaganfallrisiko zu senken. Die Furcht fürchtet um die Gefährdung des Daseins. Angst kennzeichnet die Befindlichkeit, wenn klar wird, dass das eigene Seinkönnen, das eigene Existieren, als unabweisbare Möglichkeit des Nicht-Seins angenommen werden muss. Die Annahme des eigenen Nicht-seins als der äußersten, unüberholbaren Möglichkeit des Existierens bezeichnet Heidegger als das Sein zum Tode. Daraus folgt, dass der Tod nicht ein einmaliges Ereignis am Ende des Daseins ist, sondern er bestimmt das Dasein während des ganzen Lebens. Erst durch die Gewissheit des Todes bekommen zeitliche Dimensionen wie das Nicht-mehr des Gewesenen und das Noch-nicht des Zukünftigen und Mit-sein des Gegenwärtigen ihren Sinn. Sein zum Tode bedeutet für Heidegger das Vorlaufen in die Möglichkeit des Nicht-Seins. Durch die Annahme dieser –gewissen- Möglichkeit und durch die Annahme und das Aushalten der damit verbundenen Gestimmtheit der Angst eröffnen sich gleichzeitig alle die vorgelagerten Möglichkeiten für ein „eigentliches“ Dasein. Grundsätzlich wird sich mit solchen Fragen beschäftigen (müssen), wer lebensbedrohlich erkrankt ist oder das befürchtet. Die Beruhigung durch das anonyme Man trägt nicht mehr, der fantasierte Tod macht die mit ihm verbundene Vereinzelung unabweisbar. Auch der Arzt wird zunächst nur über das Man, „man kann da was tun, Sie operieren, bestrahlen, Medikamente geben“, eine Beruhigung erreichen können. Über das Noch-nicht von Leiden und Tod 16 wird man sich verständigen können, immer gegenwärtig, dass aus der Rede, dem Gespräch, befindet man sich auf der Ebene des Man-Selbst, , ein Gerede, wie Heidegger es nennt, werden kann. Über den eigentlichen Tod gibt es keine Beruhigung, sondern nur eine Tröstung, ein gemeinsames Aushalten in einem geteilten Beseelungsraum, wie Sloterdijk das beschreibt. Der betroffene Patient wird sicher teilweise über das Man-selbst seine Beruhigung finden und weiterleben können. In Teilen wird man diesen Weg vielleicht auch mal mit einem psychotropen Medikament unterstützen. Wenn der bedrohte Patient ausreichend selbstreflexiv ist, wenn er eine tragfähige Spiritualität entwickeln kann oder aus sich heraus emotional sehr stabil ist, wird er auch, aus dem geteilten Beseelungsraum mit dem Arzt heraus, seine persönliche Wahl treffen, durch Askese sein eigenes Lebenskonzept verwirklichen können und zu neuer Autonomie zurückfinden. Nach dem Blick auf die schockierende Schnittstelle, den alles umwerfenden Übergang zwischen gesund und krank, sind damit auch Wege für das Entstehen von Gesundheit, Salutogenese, trotz Krankheit oder Bedrohung durch ein Krankheitsrisiko aufgezeichnet. Es würde sich dann um einen Übergang -gleichsam zurück- zwischen krank und gesund handeln. Ästhetik der Existenz Nach diesen Lebenskunstkonzepten wird der Patient daran arbeiten können, der eigenen Existenz durch Selbstsorge und Selbstformung eine neue Ästhetik zu verleihen. Damit wären wir an einer neuen Insel angelangt, denn es gilt, bei den Begriffen der Existenz, dem damit zusammenhängenden der Essenz und der Ästhetik zu verweilen. Existenz bedeutete zunächst nur das vorhanden sein von etwas ohne nähere Bestimmung, ob es sich um einen materiellen oder einen ideellen Gegenstand handelt. Die griechische Wortwurzel deutet schon auf so etwas hin wie „hinausstehen“. Lange Zeit gab es einen Diskurs der Denker, oder die Essenz, das Wesen der Dinge ihrer Existenz vorangehe, oder ob umgekehrt, die Existenz eine Voraussetzung für ein Wesen sei. Die später so genannten „Existenzialisten“, Sartre, de Beauvoir und Camus behaupteten, die Existenz gehe der Essenz, das Sein dem Wesen voraus. Heidegger formulierte: Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält, nennen wir Existenz. Auf den Menschen bezogen verstehe ich das so, dass es ein Wesen des Menschen nicht 17 ohne seine Existenz geben kann. Bedeutsam dabei ist, dass der Mensch nicht einfach in der Welt ist, wie Streichhölzer in einer Schachtel sind, sondern dass er in Beziehungen lebt, in Bewandtniszusammenhängen, in einer Bewandtnisganzheit seiner jeweiligen Welt. Auch diese Welt IST nicht einfach, sondern wird durch Agieren und Reagieren gestaltet, konstruiert. Das Vorhandensein von Möglichkeiten bei diesem In-der-Welt-Sein zwingt uns, eine Auswahl zu treffen, uns für manche Möglichkeiten zu entschließen und andere außer Acht, ungelebt zu lassen. Wovon lassen wir uns bei der Auswahl leiten? Damit sind wir bei der Frage, was wir sollen und was wir wollen, und damit bei klassischen Fragen der Ethik angelangt. Wir können uns leiten lassen von inneren und äußeren Autoritäten, welche uns bestimmte Tugenden empfehlen und damit Normen setzen. Kant stellte diese Normen, da sie rein aus der Empirie stammen, radikal infrage und verfolgte den Anspruch, rein aus der Vernunft, a priori, eine Metaphysik der Sitten zu formulieren. Das Ergebnis ist sein berühmter kategorischer Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Von dort aber gibt es noch einen weiten Weg zum praktischen Handeln. Spätere Denker, wie Friedrich Nietzsche und eben Michel Foucault und Wilhelm Schmid stellten das bei Kant noch formulierte Prinzip der Universalisierbarkeit, -„dass die Maxime Deines Handelns ein allgemeines Gesetz werde“-infrage und gingen von einer individuellen Ethik aus. Diese persönliche Ethik, der eigene Stil steht im Wettbewerb zuweilen auch im Kampf mit inneren und äußeren Normierungen und wird deshalb als agonale Ethik bezeichnet. Ihre Techniken wären wiederum die Wahl, die Selbstmächtigkeit oder Einübung – askese- bis zum Können, der Exzellenz. Nun kann aber diese Ethik nicht beliebig sein und sie braucht einen inneren Prüfstein, ebenso wie bei Kants Imperativ der Prüfstein die Universalisierbarkeit ist. Da es sich bei der agonalen, der Lebenskunstethik um eine persönliche handelt, muss auch der Prüfstein ein persönlicher sein. Foucault beruft sich dabei auf Friedrich Nietzsche, der im Aphorismus 341 seiner Schrift „Fröhliche Wissenschaft“ den Gedanken des hypothetischen Iterativs entwickelt. Als ethischer Prüfstein des eigenen Handelns ist damit gemeint, sich die Frage vorzulegen, ob man so oder so handeln würde unter der Vorstellung, das eigene Leben solle sich gänzlich unverändert immer und immer wiederholen. Das Wort Iterativ steht für die ewige Wiederkehr. 18 Die Vorstellung der ewigen Wiederkehr erscheint bei Foucaults Zeitgenossen Gilles Deleuze als der kritische Gedanke für das Verhalten und die Haltung des Individuums: „Eine Regel, die nicht minder streng ist als der kantische Imperativ“. Nietzsche selbst formuliert weiter: „Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und jedem –willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?- würde als das größte Schwergewicht auf Deinem Handeln liegen!“ Dieser Imperativ als Regel formuliert würde heißen: „Handle so, dass du die Wiederkehr deiner Existenz wollen kannst.“ Die Rolle der Ästhetik Jetzt fehlt aber immer noch der Begriff der Ästhetik. Der Begriff leitet sich ja von der Wahrnehmung ab. Ich finde schon nicht selbstverständlich, dass man überhaupt irgendetwas schön findet und es die Dimension „schön“ nicht nur im Bezug auf etwas Gegenständliches wie ein Kunstwerk, sondern auch im Zusammenhang mit einer Vorstellung gibt, mit Gedanken aus einem Buch, mit einem Klang, einem Rhythmus, einer Bewegung. Spannend finde ich, dass auch die moderne Neurowissenschaft nicht ein Zentrum für die Empfindung „schön“ ausmacht, sondern dass offenbar mehrere Orte im Bereich des nucleus accumbens als Belohnungszentrum und Orte des orbitofrontalen Cortex, der generell bei Entscheidungs- und Urteilsprozessen eine Rolle spielt, an der Empfindung „schön“ beteiligt sind. Dass wir menschheitsgeschichtlich ein schon sehr altes Empfinden für „schön“ besitzen und es offenbar auch ein Bedürfnis nach der Darstellung von Schönem gibt, solange Menschen existieren, zeigt, dass Wilhelm Schmid recht hat, wenn er behauptet, es gehöre zu den existenziellen Erfordernissen menschlichen Lebens, über Schönes zu verfügen, an dem das Leben orientiert werden kann. Dieses Schöne ist nach Schmid aber wieder etwas Individuelles. Dimensionen des Schönen wären im Sinnlichen, im Seelischen, Geistigen, in der Natur, der Kunst, im Ethischen, im Sein mit anderen zu suchen. Schön ist nach Schmid, was vom Selbst bejaht werden kann. Ein existenzieller Imperativ, der sich daraus ableitet, wäre, „gestalte Dein Leben so, dass es bejahenswert ist“. 19 Sich im Kontext einer Vorlesung für Mediziner mit Ästhetik zu beschäftigen, mutet auf den ersten Blick theoretisch und akademisch an. Wir werden sehen, dass das Gegenteil zutrifft: Michel Foucault unterscheidet drei wesentliche Aspekte der Ästhetik: 1. Eine Ästhetik der Existenz, die gewissermaßen deren afferenten Schenkel darstellt, mit Schulung der Wahrnehmung, erhöhter Sensibilität und Offenheit für Erfahrung; das nennt Foucault Ästhetik als Wissensform. 2. Einen innerpersönlichen Prozess der Auswahl, welche wieder eine Ethik der Lebenskunst begründet: Ästhetik als Begründungsform und schließlich 3. ein efferent-poetischer Schenkel der Ästhetik, der in der Kunst der Formung und Transformierung seiner selbst besteht: Ästhetik als Lebensform Betrachten wir die Afferenz, so geht es um die Frage der Wahrnehmung und der Auswahl von definiertem und exaktem Wissen im Hinblick auf die Selbstsorge. Die Selbstsorge auf der Basis gesicherten Wissens stellt in der Antike und bis heute die Triebfeder dar, Wissenschaft zu betreiben. Als Beispiel dafür mag die Geschwindigkeit dienen, mit der Ätiologie und Pathogenese einer in den 1980er Jahren aufgetretenen rätselhaften Immunschwäche aufgeklärt wurden. Auch ein aktueller Kongress, der sich mit der Frage beschäftigt, wie einschlagende Meteoriten von der Erde abgelenkt werden können, zielt in dieselbe Richtung: Selbstsorge durch Wissen und durch eine Auswahl von Wissen. Der Prozess der Auswahl bewirkt einen weiteren Übergang, nämlich den vom Wissen zur Wissenskunst. Schaffung und Auswahl von Wissen generieren im Wege der Selbstmächtigkeit die Fähigkeit zur Transformierung des Selbst, aber sie befähigen auch zur Fremdmächtigkeit. Der heftige Konflikt um „Stuttgart 21“ konnte erst dann in ein öffentliches, ernsthaftes Schlichtungsverfahren einmünden, als die Kritiker soviel Wissen angehäuft hatten, dass sie den Befürwortern und den mächtigen Entscheidungsorganen argumentativ Paroli bieten konnten. Foucault und Schmid sehen den Sinn der Arbeit des Wissens in der Möglichkeit zur Veränderung der Wissensformation und der Machtkonstellationen und sie sehen die Ethik als den Bereich, in dem sich diese Veränderungen vollziehen. So sollten das Subjekt und seine Beziehung zur Welt veränderbar sein, Haltung und Verhalten sollten auf der Basis von Wissen zu ändern 20 sein, Lebenspraktiken können als Konsequenz ihrer Reflexion angepasst werden, neue Erfahrungen werden möglich. Die Form des Wissens, auf welche besonders wieder der praktische Arzt zurückgreifen muss, beschreibt Foucault dabei als nicht enzyklopädisch, sondern als episodisch. Damit ist ein Wissen im Bezug auf konkrete Zusammenhänge und Situationen gemeint, bei der ästhetische Funktionen wie Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, die Fähigkeit abzuwägen und einzuschätzen, gefragt sind. Aristoteles sieht die Ethik daher als eine im Wesentlichen aisthetisch begründete Disziplin. Sie erfordert situationsbezogenes Wissen und muss die Besonderheit des Individuums in Rechnung stellen, von dem sie ausgeht. Zweierlei Maß Erlauben Sie mir einen kleinen Ausflug in das schon erwähnte Buch „Über die Verborgenheit der Gesundheit“ von Hans Georg Gadamer. Ein Aufsatz darin ist überschrieben mit „Philosophie und praktische Medizin“. Gadamer beschreibt darin den Gegensatz der Philosophie und der praktischen Medizin. Erstere ist gekennzeichnet durch das Einsamkeitsbedürfnis des Nachdenkenden, Letztere in der äußeren Form weißer Kittel, von Wartezimmern und von der Besorgtheit aller anwesender Patienten. Die Theorie des Philosophen, so Gadamer, meint das Betrachten, nur hinsehen, sich nicht von Interessen und Trieben eine Wunschwelt einreden lassen, sondern erkennen, was ist oder was sich zeigt. Diese Art des Unbeteiligtseins nennt Edmund Husserl Epoche. In der Welt der Praxis dagegen räche sich jeder Fehlgriff, dort gebe es einen ständigen Prozess des Lernens und Sich-Korrigierens am Erfolg oder seinem Ausbleiben. Gadamer stellt die Frage, wie beide zusammenhängen. „Wie kommt es“, fragt er, „dass wir an Dinge, die uns praktisch auf den Nägeln brennen, wie etwa Krankheit und Tod mit der Distanz des bloßen Hinsehens herantreten?“ Da es kein zurück vor der Allgegenwart der Wissenschaft gebe, fordert Gadamer, dass wir die Trennung zwischen dem Theoretiker, der um die Allgemeinheit weiß und dem Praktiker, der auf die immer einzigartige Situation des besorgten Patienten einwirken soll, überwinden müssten. Der Welt der Wissenschaft, die nach Gadamer auf Berechnung, auf dem Experiment, für die moderne Medizin würden wir auch sagen, auf epidemiologischen Studien, beruht, steht die Welt der Praxis gegenüber. Wörtlich beschreibt Gadamer die Rolle 21 des praktischen Arztes so: „Auf eine fast unberechenbare Weise muss der Arzt für den Einzelfall das Richtige finden, nachdem die Wissenschaft ihm die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, Mechanismen und Regeln an die Hand gegeben hat.“ Eine Lösung versucht Gadamer zu finden über die Betrachtung des Falles. Für den Wissenschaftler liegt der Fall einer Gesetzmäßigkeit vor. Für den Patienten liegt der Fall ganz anders: Er ist durch Krankheit herausgefallen aus den Lebensbezügen, in denen er als tätiger und arbeitender Mensch lebte. Für den Arzt stellt der Fall einen konkreten Handlungs- und Behandlungsauftrag mit konkreter Raum- und Zeitwirklichkeit dar. Das Dilemma dieses Gegensatzes beschreibt der Dichter, Philosoph und Arzt Friedrich Schiller in seiner Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung schon sehr poetisch: „Aber er [der Idealist, den wir hier einmal mit dem Wissenschaftler gleichsetzen können, der auf der Suche nach der Grundidee, nach dem Allgemeingültigen ist] kann es bis zu absoluten Wahrheiten gebracht haben und dennoch in seinen Kenntnissen dadurch nicht viel gefördert sein. Denn alles steht zuletzt unter notwendigen und allgemeinen Gesetzen, aber nach zufälligen und besonderen Regeln wird jedes Einzelne regiert; und in der Natur ist alles einzeln. Er kann also mit seinem philosophischen Wissen das Ganze beherrschen und für das Besondere, für die Ausübung, dadurch nichts gewonnen haben: Ja, indem er überall auf die obersten Gründe dringt, durch die alles möglich wird, kann er die nächsten Gründe, durch die alles wirklich wird, leicht versäumen; indem er überall auf das Allgemeine sein Augenmerk richtet, welches die verschiedensten Fälle einander gleichmacht, kann er leicht das Besondere vernachlässigen, wodurch sie sich voneinander unterscheiden. Er wird also sehr viel mit seinem Wissen umfassen können und vielleicht eben deswegen wenig fassen und oft an Einsicht verlieren, was er an Übersicht gewinnt.“ Das Geheimnis dahinter liegt nach Gadamer, und er beruft sich dabei auf Platon, in zweierlei Maß. Metron kennzeichnet die von außen angelegte Messlatte des Wissenschaftlers, Metrion das innere Maß, die Harmonie. Metron ist das Gemessene, Metrion das Angemessene. Metron ist die Welt der Studien, Metrion erfordert Hinsehen, Hinhören, mit dem Patienten sein, in Beziehung sein, einen Beseelungsraum teilen, etwas verstehen von seinem In-der-Welt-Sein, etwas deuten, eine Hermeneutik des Patienten UND eine des Arztes. 22 Einen Bogen kann man von Gadamer aus zu ganz modernen philosophischen Äußerungen schlagen. Wo Gadamer noch das Einsamkeitsbedürfnis des Denkenden setzt, ohne es infrage zu stellen, hält Peter Sloterdijk 20 Jahre später, 2009, eine große Vorlesung in Tübingen unter dem Titel „Scheintod im Denken“. Das kleine Buch dazu wurde schon erwähnt. Darin stellt er die Fiktion infrage, dass der Denker und Wissenschaftler in unbeteiligter Distanz die Welt betrachten, sich selbst aber quasi scheintot aus ihr heraushalten könne. Diesen Prozess fasst Sloterdijk in dem Satz zusammen: „Die epistemologische Moderne hat sich auf breitester Front dazu durchgerungen, mit der erhabenen Fiktion der desinteressierten Vernunft zu brechen und die Erkennenden aus ihren künstlichen Mortifikationen zurückzurufen.“ Sloterdijk geht es darum, einen Prozess deutlich zu machen, wie Denken sich unter Aufgabe einer metaphysischen Ausrichtung verändert. Das beschreibt er als Säkularisierung und Politisierung des Erkennens. Zehn Frauen und Männer zählt er auf, welche diesen Prozess in Gang setzten, darunter Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, Carl-Friedrich von Weizsäcker, Jean Paul Sartre, und auch Michel Foucault. Am Ende stehen der Neurowissenschaftler Antonio Damasio und der Sozialphilosoph Bruno Latour. Wenn wir zu Foucault zurückkehren, dann würde Ästhetik der Existenz ganz im beschriebenen Sinne meinen, eine stete Wachheit und Aufmerksamkeit für das zu bewahren, was ist oder sich zeigt und sich nicht von normierter Macht leiten zu lassen. Ästhetik der Existenz fordert eine stete Bereitschaft zur Veränderung und für neue Blickwinkel und Sichtweisen. Im Lichte dieser persönlichen Wahrnehmungen, und damit kommen wir zur zweiten Erscheinungsform der Ästhetik der Existenz, wird dann eine persönliche Wahl möglich. Sie macht eine persönliche Ethik und einen Stil der eigene Existenz erst möglich. Es bedarf wohl keiner besonderen Betonung, dass in diesem Konzept ein tiefer Freiheitsanspruch steckt, wie er so wohl nur unter Rückgriff auf die Antike möglich ist. Nach Foucault zielt die zu treffende Wahl ab auf die Schönheit der Existenz und darauf ab, anderen ein Gedächtnis an die Schönheit der Existenz zu hinterlassen. Die Mittel, welche zu Verfügung stehen, sind die Praktiken der Lebenskunst und die Künste der Existenz. Das Korrektiv ist die beständige Selbstreflexion, der ständige Bezug zur Wahrheit und die daraus folgende Selbstformierung. Peter Sloterdijks „Du musst Dein Leben ändern“ ist der 23 notwendigen Selbstformung des Humanen durch Üben gewidmet, womit er mit Foucault, einer Reihe anderer Denker und mit der Antike eine Verknüpfung schafft. Diese individuelle Wahl, die frei, aber nicht willkürlich ist, unterscheidet sich vom kategorischen Imperativ Kants, der im Horizont einer mindestens möglichen Allgemeingültigkeit der Wahl steht. Andere Ethiken, wie die Tugendethik der Kirchenväter stehen unter dem schon angesprochenen Blickwinkel der christlichen Metaphysik. Die Ethik des Utilitarismus, der sich besonders im England des ausgehenden 18. Jahrhunderts entwickelte, stand das größtmögliche Glück für eine möglichst große Anzahl von Menschen im Mittelpunkt. Sie gilt als eine zielorientierte, teleologische, Ethik, deren Normensetzung dem Nützlichkeitsprinzip folgte. In der praktischen Auswirkung hatte diese Ethik neben einem Freiheitsanspruch zur Folge, dass beispielsweise die hygienischen Verhältnisse, Trink- und Abwasserversorgung und Ernährung sich dramatisch besserten. Leider stand dem gegenüber, dass Personen oder Anschauungen, die dem Nutzen des Ganzen im Weg zu stehen schienen, diffamiert und verfolgt wurden. Johann Peter Frank (1745-1821) legitimierte in seinem Hauptwerk „System einer vollständigen medizinischen Polizei“ Ärzte, Chirurgen, Hebammen, medizinische Fakultäten und andere Gesundheitseinrichtungen durch ihre Aufgabe, den Gesundheitszustand aller Bevölkerungsschichten zu verbessern. Der Begriff „Polizei“ ist hier etwa mit Gesundheitsverwaltung gleichzusetzen. Der Stadt- und Landphysicus Thomas Rau hatte in Ulm 1764 die „Gedanken von dem Nutzen und der Notwendigkeit einer medizinischen Polizeiverordnung in einem Staat“ veröffentlicht in denen eine staatlich gelenkte Gesundheitsfürsorge utilitaristisch begründet wird. Dort heißt es „die Geschäfte des Friedens können durch kranke Menschen nicht verrichtet, noch der Acker durch schwächliche Leute gebauet werden. Und zum Krieg führen werden starke und dauerhafte Leute erfordert … kurz, sieche Menschen sind in keinem Stande vermögend, zu dem Besten des Staates etwas beizutragen.“ Nur wenige Ärzte merkten, wie die Medizin sich veränderte. Die aber kritisierten die Entwicklung mit Sorge über eine heraufziehende Tyrannei der Ärzte. Goethe gehörte 1787 zu den Warnenden, dass „zu gleicher Zeit die Welt ein großes Hospital und einer des anderen humaner Krankenwärter sein wird“. Heute stehen die Prävention und Screeningprogramme unter utilitaristischen Aspekten. Vorgaben in Disease Management Programmen und Hausarztverträgen haben das Potenzial, die Gesundheitssituation vieler zu bessern, aber auch die Selbstwahl des Einzelnen zu 24 untergraben. Partizipative Entscheidungsfindung und der Entschluss des Individuums zu einer „ungesunden“ Lebensweise findet oft ihre Grenzen in den Normen, denen der Arzt ausgesetzt ist. Hier hat selbst die vordergründig integre evidenzbasierte Medizin ihre Grenze und birgt ein Potenzial von Manipulation, Missbrauch und Übergriff. 2006 erschien im International Journal of Evidence Based Healthcare eine Arbeit kanadischer Autoren. Im Titel der Arbeit setzen sie sich folgendes Ziel: „Deconstructing the evidencebased discourse in health sciences: truth, power and fascism1. Unter Berufung auf die Philosophie Gilles Deleuzes, einem guten Freund Foucaults, warnen die Autoren davor, dass die „Evidence-based Bewegung in den Gesundheitswissenschaften schrecklich ausschließend und gefährlich normativ im Hinblick auf wissenschaftliche Erkenntnis“ sei. Ein Prozess werde, so der Abstract, aufgezeigt, „durch welchen eine dominierende Ideologie alternative Wissensformen ausschließt und so als eine faschistische Struktur wirkt,“ so die Autoren. 1 Holmes D, Murray SJ, Perron A, Rail G. Deconstructing the evidence-based discourse in health sciences: truth, power and fascism. Int J Evid Based Healthc 2006; 4: 180-186 Der Arzt, der sich selbst einem Konzept der Lebenskunst verschreibt, wird demnach solchen normativen Konzepten gegenüber immer ein kritischer Beobachter sein und dann ihnen auch widersprechen, wenn das Maß des Tolerablen berührt wird. Foucault bringt diese Haltung auf den Punkt mit dem Satz, die kritische Reflexion, um die es gehe, bestehe darin, in jedem Moment und Schritt für Schritt das, was man denkt und sagt, mit dem zu konfrontieren, was man macht und ist. Von der Änderung des Lebens als der dritten Form der Ästhetik der Existenz war schon die Rede und das soll abschließend noch vertieft werden. Es geht um das Heraustreten ins Leben und um die Wendung vom nach innen gerichteten, esoterischen, Subjekt zum exoterischen Selbst, welche zum Anderen in Beziehung tritt und sein Leben durch Können zum Kunstwerk formt. Dabei geht es um das Primat des Könnens über das des Wissens. Der einzelne Mensch soll darin unterstützt werden, eigene Lebensziele erkennen, auswählen und verwirklichen zu können. Der Arzt wird dabei nötig, wenn körperlich-seelisch-geistig-sozial schwer Veränderbares oder Unverfügbares dem entgegensteht oder wenn ein Scheitern der Lebenskunstbemühungen des Patienten zur Erkrankung in diesen Feldern führt. Dazu will ich Ihnen, um es nicht abgehoben zu betrachten, noch ein Beispiel liefern. 25 Den Geist der Mutter auf der Brust Ich behandle eine sehr alte Dame, welche im 97. Lebensjahr steht. Seit 10 Jahren lebt sie im Haushalt ihrer Tochter, einer 56-jährigen Ingenieurin, welche mit einem Lehrer verheiratet ist. Beide haben eine Tochter, die nach dem Abitur gerade erste Schritte als Studentin geht. Die alte Dame ist sehr gläubig und steht in einer strengen schwäbisch-pietistischen Tradition. Einmal in der Woche besuche ich sie. Sie hat kleine Druckstellen an den Zehen, die ich kontrolliere und verbinde. Es geht auch darum, die Tochter immer wieder für die Pflege zu motivieren und zur ermutigen. Auf dem Tisch liegen immer „Die Losungen“, Gemeindeblätter und Kirchenblätter aus der Gemeinde auf der schwäbischen Alb, woher die Mutter stammt. Die Tochter hat sich längst dem pietistischen Zugriff entwunden und wir machen uns zuweilen ein wenig lustig über den frömmelnden Kinderglauben der Mutter. Nun geschieht das Unvermeidliche: Eines nachts stirbt die alte Dame. Sie klagt während der Nacht etwas Schmerzen und eine gewisse Atemnot. Der Schwiegersohn sagt seiner Frau, seiner Meinung nach habe das Sterben begonnen. Die aber kann den Gedanken an den Tod ihrer Mutter, die immer da war, gar nicht denken. Sie geht in der Nacht wieder schlafen und lässt ihre Mutter alleine. Morgens findet sie die Mutter tot im Bett. Wenig später erscheint die Tochter, die sonst kaum je in der Praxis war, in meiner Sprechstunde. Sie klagt erst Schmerzen im Oberbauch und später auch im Rücken. Sie werde jetzt meine Patientin. Labor- und klinische Untersuchung, sowie EKG geben nichts her. Die Rückenschmerzen lassen sich chirotherapeutisch bessern. Die ohnehin schlanke Frau hat weiter abgenommen, es geht ihr sichtlich schlecht, sie könne nichts essen. Ihr Mann habe sehr darauf gedrängt, dass sie zum Arzt gehe., Da sie äußert, sich sehr schuldig zu fühlen, verabreden wir ein längeres Gespräch. In diesem Gespräch von einer knappen Stunde Dauer gehen wir auf die Lebensgeschichte der Ingenieurin und die ihrer Mutter ein. Die streng pietistische Mutter war mit über 30 Jahren ungewollt und unehelich mit meiner jetzigen Patientin schwanger geworden. Das ganze weitere Leben war von einer frommen Grundhaltung geprägt. Meine Patientin durfte nur in die Hauptschule gehen. Aus eigenem Antrieb suchte sie die höhere Handelsschule auf und kam danach zu einem Haushaltspraktikum in eine Arztfamilie. Sie kaufte sich selbst Mathematikbücher, um sich zu bilden. Die Arztfrau erkannte ihre Fähigkeiten und ermöglichte den Besuch des Gymnasiums. Später studierte die junge Frau und lernte ihren späteren Mann 26 kennen. Der Vater war nur zeitweise präsent, lange Jahre hatte die inzwischen Verstorbene mit meiner jetzigen Patientin und einer zweiten Tochter erneut im Haus ihrer Eltern gelebt, ehe die Familie mit dem Vater wieder zusammenkam. Der starb dann recht früh. Seitdem die alte Mutter vor 10 Jahren in die Familie meiner Ingenieurin kam, schlief deren vita sexualis immer mehr ein und kam bald ganz zum Erliegen. Der Ehemann reagierte ausgesprochen aversiv, als meine Patientin ihm sagte, sie fühle sich so schuldig. Er bezog das darauf, dass sie während der Nacht weggegangen war. Im Gespräch wurde dann aber etwas ganz anderes deutlich: Zum einen hatte es Todesfantasien der Ingenieurin im Bezug auf ihre Mutter gegeben. Die Vorstellungen und vielleicht Wünsche, wie könnte mein Leben sein, wenn meine Mutter nicht mehr lebte, wird jetzt als sehr schuldhaft erlebt. Zum anderen hat meine Patientin das dringende Gefühl, die pietistischen Lebensgrundsätze der Mutter, welche sie zu deren Lebzeiten längst hinter sich liegend geglaubt hatte, holten sie nun ein. Sie müsse die nun leben oder die Mutter und deren Lebensphilosophie verraten, was wieder Schuldgefühle auslöste. Sie empfand die tote Mutter als ihr auf der Brust sitzend. Die Psychoanalyse kennzeichnete das als ein „inneres Objekt“: Die Mutter ist da (als „Geist“) obgleich und gerade WEIL sie leibhaftig nicht mehr da ist. Die beiden längeren Gespräche, die ich mit der Ingenieurin hatte, die nun zu einer Patientin mit Beschwerden und Symptomen geworden war, eröffneten ihr die Möglichkeit, sich mit einer neuen Wirklichkeit auseinanderzusetzen und für sich Wege einer „artistischen“ Neugestaltung ihres Lebens zu finden. Es geht ihr inzwischen wieder gut, allerdings steht die Neugestaltung der Paarbeziehung noch an. Warum also braucht der praktische Arzt Philosophie? • Für den Arzt kann Philosophie die Anatomie, Physiologie und Biochemie des In-der-Welt-Sein des Menschen darstellen. Insoweit ist sie als Philosophikum das Pendant zum Physikum, wie das auch historisch war. So liefert die Philosophie ein Raster, ein Bezugssystem, in das die individuelle Pathologie und die Lebenskunstbemühungen des Kranken eingeordnet werden können. Eine erweiterte ärztliche Legitimation ergibt sich, wenn Lebenskunstbemühungen des Patienten durch Krankheit oder Handicap zu scheitern drohen. Ebenso dort, wo ein Scheitern in der Lebensführung als Verursachung von Kranksein möglich erscheint. Ärztliche Intervention ist vor diesen Hintergründen gleichsam in der Je27 seinigkeit des Patienten abgesichert. • Eine andere Metapher wäre: Philosophie liefert das Betriebssystem, wo konkretes ärztliches Alltagshandeln die Benutzeroberfläche darstellt. Der handelnde Professionelle sollte auch etwas vom Betriebssystem verstehen. • Philosophie hilft, Gefahren, Normensetzungen, Unfreiheiten und Nichttolerables in den Vorgaben für ärztliches Handeln zu erkennen gegen die Widerspruch und Widerstand nötig sind. 28