ADHS bei Jugendlichen: Verkannt oder überdiagnostiziert? Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann Martin Holtmann LWL-Universitätsklinik Hamm der Ruhr-Universität Bochumund Psychotherapie Klinik für Psychiatrie Kinder- und Jugendpsychiatrie, des Kindes- und Jugendalters Psychotherapie & Psychosomatik ZI Mannheim ADHS: Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung o häufige Störung: 2 % – Jungen häufiger als Mädchen o o o o o Begleitende Störungen sind die Regel. Aufmerksamkeitsstörung, Hypermotorik & Impulsivität in verschiedenen Situationen zeitstabil Beginn vor dem sechsten Lebensjahr ADHS: wichtige Fakten o o o o o keine Modeerscheinung, sondern behandlungsbedürftige Erkrankung überwiegend genetische Ursachen tritt oft in einer Familie gehäuft auf kann nicht auf Erziehungsmethoden oder Medienkonsum zurückgeführt werden Aber: soziale Faktoren sind für den Verlauf von großer Bedeutung ADHS im Altersverlauf: ein „Thema mit Variation“ o Nicht nur eine „nervige Kinderkrankheit“ o ADHS wächst sich nicht (immer) einfach aus o o o Andere Altersbereiche schlechter erforscht Keine separaten Kriterien für Jugendliche & Erwachsene Veränderung der Symptomatik mit der Altersentwicklung Übergang in Adoleszenz & Erwachsenenalter Im Alter von 20 Jahren: o 40% erfüllen Kriterien o klinisch relevante Symptome bei 70% o 90% haben funktionelle Einschränkungen o o Biederman et al. (2000) Am J Psychiatry 157:816-818 Wender et al (2001) Ann New York Acad Sci 931:1-16 Diagnose Familie Lebensqualität Beziehungen Schule & Ausbildung Komplexes Bild bei Jugendlichen o o o o o o Hypermotorik oft „überstanden“ weiter Konzentrationsdefizite mangelnde Alltagsorganisation ineffiziente Arbeitsweise schlechte Impulskontrolle emotionale Labilität Sobanski & Alm (2004) Nervenarzt 75:697–716 Adam et al (2002) Kindheit und Entwicklung 11: 73-81 o o Jugendliche mit ADHS: Sexualität und Partnerschaft o Früherer Beginn sexueller Beziehungen o Riskanteres Sexualverhalten o Seltener Empfängnisverhütung o Mehr sexuell übertragbare Krankheiten (4fach) o Stark erhöhte Rate von Teenager-Schwangerschaften (bis zu 40fach!!) Barkley et al., 2002 ADHS im jungen Erwachsenenalter o Bei einer diagnostizierten ADHS mit 8 Jahren fanden sich im Alter von 25 Jahren: – häufiger Arbeitsplatzverlust – mehr Partnerschaftsprobleme – häufiger finanzielle Probleme – häufiger Vorstrafen – mehr Krankenhausaufenthalte (Unfälle) – Vielzahl komorbider Störungen (65-89%) Barkley et al., 2002 ADHS in Jugend / Adoleszenz: Verschiedene Wege in die Behandlung • Erstdiagnose der ADHS im Jugendalter • Begleitende / komplizierende Themen • Compliance-Probleme bei behandeltem ADHS • … Erstdiagnose in Jugendalter & Adoleszenz o o „Underreporting“ & „Overshadowing“ Andere Themen stehen im Vordergrund und überlagern: – Pubertät – Beziehungskrisen – Substanzkonsum – Emotionale Labilität – Defizite im Bereich der sozialen Interaktion Jugendalter: eine besondere Herausforderung o o o o o o Hormonelle Veränderung und Veränderung neuronaler Strukturen im Gehirn. Risikoverhalten, Grenzen testen, Opposition „normal“ Anforderungen steigen Selbstorganisation zentrales Problem Ausbleiben von Erfolg und sozialer Anerkennung Impulsivität und ausgeprägte Stimmungsschwankungen Cannabismissbrauch als Vorstellungsgrund o unerkanntes ADHS ? unbehandeltes ADHS ? „Selbstmedikation“? o Entgiftung, ggf. Entwöhnung = Diagnostik o o ADHS bei Jugendlichen: Substanzmissbrauch Substanzmissbrauch bei 16-Jährigen: o 18% bei gesunden Jugendlichen o 75% bei Jugendlichen mit unbehandeltem ADHS o Biederman et al (1999) Pediatrics 104:e20 ADHS bei Jugendlichen: Substanzmissbrauch Substanzmissbrauch bei 16-Jährigen: o 18% bei gesunden Jugendlichen o 75% bei Jugendlichen mit unbehandeltem ADHS o 25% bei Jugendlichen mit behandeltem ADHS o Biederman et al (1999) Pediatrics 104:e20 ADHS und emotionale Labilität o Agitiertheit, Unruhe, Unaufmerksamkeit o Stimmungsschwankungen, Depression, Angst o Aggression, Wutausbrüche o Leichtsinniges Verhalten o o Schnittstelle von ADHS, emotional-instabiler Persönlichkeitsstörung und bipolarer Störung (?) Hochrisikogruppe ADHS + Aggression + Depression: Substanzmissbrauch und Suizidalität Holtmann et al. JCPP 2011 Compliance bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen o o o o o o Wunsch nach Selbstbestimmung nimmt zu lassen sich ungern in strukturierendes Hilfesystem einbinden Nach Jahren der Behandlung sinkt Compliance Widerstand dagegen, ständig als krank, auffällig oder „ADHSler“ definiert zu werden Lücke zwischen Selbstanspruch und tatsächlicher Problembewältigung nimmt zu Folge: Vermeidungsverhalten, Motivationsminderung „Triple pathway“-Modell Es sind die Das ist eine Exekutiven Schlange! Funktionen Das Es ist ist dieein hoher Berg! Motivation! ist ein EsDas ist die Seil! Zeitwahrnehmung Exekutive Dysfunktion o Klinisch: ungeschickt, ungebremst, chaotisch o Kognitive Flexibilität Arbeitsgedächtnis Planungsfähigkeit Aufmerksamkeit Selbstregulation o fehlende „Bremse“: Impulskontrolle o o o o z.B.: Nigg et al., 2005; Doyle et al., 2005 Lieber den Spatz in der Hand… o o o o o oft: lieber sofort eine kleine Belohnung als später eine große „sensation seeking“ Lieblingsbeschäftigungen ! „Selbstbehandlung“ u.a. mit Nikotin, Alkohol, exzessiven Verhaltensweisen Abneigung gegen Zeitverzögerungen: delay aversion ADHS: Aktivierung im Belohnungssystem reduziert Scheres et al. 2007 Ströhle et al. 2007 Plichta et al. 2008 Biological Psychiatry Neuroimage Biological Psychiatry „Taktlose“ Jugendliche: ADHS & Zeitwahrnehmung Wie lange es wohl her ist, seit ich auf die Uhr geschaut habe? Vielleicht 1 Stunde? 20 Sekunden ?!? Naja, wahrscheinlich eher 40 Minuten. – Oder eine halbe Stunde? Das wird ein langer Tag... ADHS: Diagnostik o o o o o o Klinische Diagnose. Wegweisend: – Selbstbeschreibungen – Verhaltensbeobachtungen von Eltern, Partnern, Lehrern, Arzt und Therapeuten. Unterstützend Fragebögen. ADHS ist nicht allein testpsychologisch diagnostizierbar. Teilleistungsstörungen? Hilfreich: erste Schulzeugnisse. Wird ADHS überdiagnostiziert? o 16.7% falsch positiv diagnostiziert ABER: o bei 16.6% blieb ADHS unerkannt Psychotherapeut 2012 · 57:77–89 ADHS im Jugendalter – Was kann es noch sein ? o o Altersgemäßes Verhalten Reaktive Aufmerksamkeitsstörungen – Auslöser, nicht zeitstabil o o Depression und Angststörungen Beginnende Borderline Persönlichkeitsstörung – Keine chronische Suizidalität bei ADHS – Keine Symptome einer PTSD bei ADHS o o Überforderung, Teilleistungsstörungen, ... Hochbegabung / schulische Unterforderung – selten! Modifikationen im DSM-5 Kriterien für ADHS ab dem Alter von 17 J.: 4 notwendige Symptome (statt 6) o Ausschlusskriterium autistische Spektrums-Störung entfällt o Vier zusätzliche Impulsivitätsitems – handelt häufig ohne Konsequenzen zu bedenken – ist häufig ungeduldig (z.B. Straßenverkehr) – macht ungern Aufgaben – kann riskanten Versuchungen nur schwer widerstehen o Therapiebausteine !! o o Wirksame Therapien bei ADHS – Psychotherapie: Selbstmanagement, DBT, Motivierende Gesprächsführung … – Pharmakotherapie Zunehmend beachtet: Komplementäre Verfahren – Kognitives Training – Diäten und Nahrungsergänzungsmittel – Neurofeedback – … Hilfreiche Bausteine für Jugendliche: „Mein persönliches ADHS“ o o o Psychoedukation Ambivalenz ernst nehmen Ablehnung von Medikation: – Furcht vor Verlust von Authentizität und Schwingungsfähigkeit o o o o Motivation (!) für Behandlung erarbeiten Individuell bedeutsame Ziele Motivierende Gesprächsführung: Welche positiven oder negativen Konsequenzen hätte Veränderung? Tempo, Zeitpunkt, Umfang der Änderung bestimmt der Patient Psychotherapie der ADHS Dialektisch behaviorale Therapie (DBT) Symptome der ADHS o o o o Aufmerksamkeitsstörung Hyperaktivität, Desorganisiertheit, Impulsivität Affektlabilität, emotionale Überreagibilität Beziehungsprobleme Module der DBT o Achtsamkeitstraining Stresstoleranz o Gefühlsregulation o o Zwischenmenschliche Fertigkeiten Hesslinger, Philipsen, Richter: Psychotherapie der ADHS im Erwachsenenalter. Hogrefe 2004. o o o bundesweites Netzwerk zur Verbesserung der Versorgung für Experten, Betroffene, Angehörige und Bezugspersonen www.adhs.info