Neuzeitlicher Atheismus, Religionskritik und atheistische

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Ausgabe 169
April 2014
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Neuzeitlicher Atheismus, Religionskritik und atheistische
Christentumskritik
(Fortsetzung zu No. 144 Feuerbachs Religionskritik / No. 159 Sigmund Freuds Paradigmenwechsel)
„Religion als Opium des Volkes“ – Die Kritik der Religion bei Karl Marx
Der Preuße Karl Marx (1818-1883) – er wird in Trier in eine jüdische Familie hineingeboren –
wird protestantisch getauft, um der Verfolgung zu entgehen. Für Karl Marx ist die Kritik der
Religion die Voraussetzung aller Kritik. Der Philosoph lehrt, Religion habe in erster Linie
betäubende Wirkung. Bekannt wird diese Überzeugung in seiner Formulierung: „Religion (wirke)
als Opium des Volkes“. Religion ist für Marx also das Rauschmittel für den Menschen, für den seine
Wirklichkeit unerträglich geworden ist und der sich deshalb – besonders weil seine
finanzwirtschaftlichen Lebensbedingungen so gestaltet seien - in deren Phantasiewelt flüchte.
Der Jung-Hegelianer Marx verfolgt keine Christen. Der Gesellschaftstheoretiker ruft nicht auf
zum Kampf gegen Religion. Ihm bedeutet eine Religion, die wegen des illusorischen Glücks des
Volkes aufgehoben wird, wirkliches Glück. Von der „Kette seines illusionären Glückes“ – der Religion
- solle sich ein Mensch befreien. Nur so kann er nach Marx zu sich selbst finden. Ein Mensch,
auf der Suche nach dem „Übermenschen“, dem er in seiner Phantasie den Wohnplatz in einem
Himmel zuordnet, findet nach Marx letztlich nur den Widerschein seiner selbst.
Die Religion sei in die Welt gekommen – so der frühe Links-Hegelianer Marx - infolge materieller
Not des Menschen und gaukle ihm immer ein paradiesisches Jenseits vor.
Die Religion ist für den Ökonom und Journalisten Marx daher
„der Seufzer einer bedrängten Kreatur, das Gemüt der herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser
Zustände ist“.
Marx führt das Thema näher aus:
„Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen
sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein
erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“
„Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen.“
„Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte
wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch.“
„Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, (...), ihre Logik in populärer Form, (...), ihr
Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung.“
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Bei Marx kommt der Geschichte die Aufgabe zu, „nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist,
die Wahrheit des Diesseits zu etablieren“. Und die Philosophie, die der Historie dient, soll nach Karl
Marx „die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarven“ und danach „die Selbstentfremdung in
ihren unheiligen Gestalten entlarven“.
Die Gottesliebe soll nach Marx durch Menschenliebe ersetzt werden.
„Die Kritik der Religion endet mit der Lehre,
daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei.“
Marx erlebt die Auswirkungen seiner Ideologien nicht mehr.
Die Voraussagen von Marx über künftige gesellschaftspolitische Entwicklungen haben sich nicht
erfüllt. Er überschätzt die Bedeutung wirtschaftlicher Zusammenhänge. Die Arbeiterklasse im
drittgrößten Land Europas folgt eigenen Lebensmaximen. Der Leninismus überlebt sich selbst,
die Weltrevolution bleibt aus.
Das Christentum – bei Nietzsche „eine Verschwörung gegen das Leben”
Friedrich Nietzsche (1844-1900), dessen Religionskritik weltweit rezipiert wird, gleicht Feuerbach
in seiner Bewertung von Religion, die er im Ergebnis als System menschlicher Erfindung einstuft.
Der christlich-abendländische Wertekanon werde sich während der Dekadenz der Moderne
entwerten und als nihilistisch präsentieren. Der Skeptiker Nietzsche nimmt den Niedergang
kirchlicher Macht und ihr Scheitern in seiner Zeit auf und bewertet in seiner Kritik zur Religion,
religiösen Werten und priesterlichen Institutionen den Zustand der christlich-abendländischen
Gesellschaft, er wird darin sozusagen zum Vorläufer „nach“ der Neuzeit („Postmoderne“).
Der geniale Nihilist und Materialist Nietzsche greift wie der englische Wunderknabe, Staatslehrer
und Philosoph Thomas Hobbes (1558-1679), ein Agnostiker, und der liberale britische Philosoph
John Locke (1632-1704) die Lehre von den Naturrechten auf. Dennoch stimmt Nietzsche als
klassischer Philosoph grundsätzlich nicht mit Charles Darwins (1809-1882) naturalistischen
Beiträgen zur Evolution der Moral überein. Welt und Leben sind für Nietzsche ohne Sinn (lat.
„nihil“, deutsch „nichts“). Anders als Feuerbach und Marx verneint Nietzsche jeglichen aus dem
Humanismus gespeisten Fortschrittsglauben. Das traditionelle Christentum ist ihm eine
„Verschwörung gegen das Leben“, eine „barbarische Schwächung aller edlen Eigenschaften des Menschen“.
Im Zentrum von Nietzsches philosophischer und wissenschaftlicher Auseinandersetzung stehen
die christliche Moral und die christliche Metaphysik. Die überkommene Moral des Christentums
hebe sich von sich selbst auf. Nietzsche versteigt sich, ein Leben zu führen, in dessen Mitte der
Mord an Gott ruht und der darin eine evolutionäre Notwendigkeit sieht.
"Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben…“
(“Die "Vernunft" in der Philosophie, S. 5.)
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Mit seiner plakativen These „Gott ist tot“ – und indem Nietzsche sich gegen den Wert der
Wahrheit an sich, gegen eingeübte Rituale, etablierte Begrifflichkeiten und Institutionen stellt sucht der sächsische Spötter christliche Lehre aufzulösen und tradierte Glaubensinhalte, religiöse
Riten und christliche Wertsetzungen in ihrer Funktion zu überwinden. Die Glaubensidee des
Einen Gottes beschreibt Nietzsche als Schwäche. Ihr setzt er seine These „Gott ist tot! Gott bleibt tot!
Und wir haben ihn getötet!“ entgegen und fordert, sämtliche Werte sollen neu gesehen und gesetzt
(Nietzsches These von der „Umwertung aller Werte“) werden.
„Jedes Wort ist ein Vorurteil“ – so der Philologe und Moralist Friedrich Nietzsche. Er meint:
Zusammen mit dem Gottesglauben werde sich jeder traditionelle christliche Wert aufheben.
Nietzsche bedient sich in seinen Attacken dabei der gesellschaftlichen Ebene wie auch einer
individualpsychologischen Vorgehensweise.
An ihre Stelle rückt er mit seiner Kulturphilosophie einen Hyper-Individualismus, ein neues
Menschenbild, das dem Einzelnen einen weiten Raum erschließt für die eigene Bestimmung.
Nietzsche will Moral und Religion und Weltanschauung analysieren lassen, damit die Philosophie
neue Werte definieren könne. Er spricht von einer „Bürgerkirche“, fordert einen liberalen
Revisionismus und – im Geist des wilhelminischen Kaisertums, der meint, das evangelische
Christentum (Bildungsbürgertum) legitimiere die bürgerliche Ordnung und garantiere sie auch den Kulturpotestantismus.
Nietzsche kann sich nicht völlig dem Zeitgeist – besonders Darwins Thesen – entziehen und ist
von der Metaphysik Schopenhauers geprägt, wenn er die eigene Konzeption der „Idee des
Übermenschen“ konzipiert und vorstellt. An Gottes Stelle tritt bei Nietzsche („Also sprach
Zarathustra“) in der Gestalt dieses Weisen „der Übermensch“. Dieser Menschentypus steht völlig
gegensätzlich zum (schwachen) „Christen“, der seine Lebensaufgabe nicht bewältige, diese Welt,
die er bewohnt, sinnvoll zu gestalten. Sein „Übermensch“ aber werde selbst in einer Welt ohne
Gott jede Aufgabe kraft seines Willens (hier klingt Schopenhauer durch) – und indem er die
Vorstellung auf ein gottgeschaffenes Paradies negiere - erfüllen.
Nietzsche, der im Alter von vierundzwanzig Jahren den Ruf als Professor für Philologie in Basel
annimmt, ohne je promoviert worden zu sein, steht auch ganz im Gegensatz zu dem vor siebzig
Jahren in Bertold Brechts Parabel („Der gute Mensch von Sezuan“) vorgestellten Menschenbild.
Nietzsche verlangt einen „Nihilisten“, einen, den die heutige Generation als „coolen Typ“ sieht. In
der Figur des Zarathustra vernichtet Nietzsche jede Moral. Der von ihm geforderte „Übermensch“
ist von höherer Art – zu hinterfragen ist: ist er Genie oder Heiliger?
Im Spätwerk „Der Antichrist“ verweist Nietzsches Religionskritik die Botschaft des Evangeliums
in die Kategorie einer „Sklavenreligion“, deren Sinnstiftung ausschließlich dadurch erhalten werden
könne, indem es zu einer „Umwertung aller Werte“ komme. Nietzsche kommentiert dazu:
„Wir haben also als Missverständnis (…) eine kirchliche Ordnung, mit Priesterschaft, Theologie,
Cultus, Sakramenten; kurz, alles das, was Jesus von Nazareth bekämpft hatte.“
Nietzsches Nachlass, KSA 13, 11 (S. 295); „Der Antichrist“, Kapitel 39-44.)
Das Wort schon „Christentum“ ist ein Missverständnis, im Grunde gab es nur einen Christen, und der
starb am Kreuz“ (Der Antichrist, Kapitel 39).
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Die in Nietzsches Werk „Also sprach Zarathustra“ vorgeschlagene Neuordnung von weiteren
Wertvorstellungen neben dem „Übermenschen“ – der Werke und Maximen „Der Wille zur Macht“
und / oder die „Ewige Wiederkunft“ - überzeugt jedoch nicht wirklich. Zwar erschüttert der Sohn
eines protestantischen Geistlichen das christlich-abendländische Weltbild erheblich und erobert
sich auch neue philosophische Ebenen und um die Jahrhundertwende weite Teile der Eliten des
deutschen Kaiserreichs.
Die Systeme der preußischen Monarchie und der ihr nachgefolgten Diktaturen in Deutschland
sehen in Nietzsches „Der Wille zur Macht“ Leitlinien für eigene Ideologien. Nietzsche erfährt
jedoch selbst nur wenig bis gar nichts von den Turbulenzen, die er einst in dem fünfundzwanzig
Staaten umfassenden Deutschen Reich ausgelöst hat. Zu nachhaltig sind die Spätfolgen seiner
Erkrankungen, die ihn die letzten elf Jahre seines Lebens in geistiger Umnachtung dahinsiechen
lassen.
(Auszug aus Rückauer, U: Die Heiligen der Letzten Tage - Ihr religiöses Leben im deutschen Sprachraum im
19. Jahrhundert, unveröffentlichtes Manuskript, 2013.)
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