11 Interpretation Reklame

Werbung
Jahrgangsstufe 11
Erschließung und Interpretation lyrischer Texte
Interpretation zu: Ingeborg Bachmann – „Reklame“ (1965)
Auftrag: Interpretieren Sie Inhalt und Aufbau, zeigen Sie, wie die formalen Mittel die Aussage
unterstreichen und erörtern Sie, inwiefern es sich um einen Text der Moderne handelt.
Einleitung
Reklame oder Werbung ist ein allgegenwärtiger Bestandteil unserer heutigen Welt. Ob im
Fernsehen, auf Plakaten, im Radio oder im Internet – überall wird unseren Sinnen suggeriert,
dass bestimmte Produkte unsere Probleme lösen und uns zu glücklichen, schönen und
wohlhabenden Menschen machen können. Dass dem nicht so ist, weiß jeder. Trotzdem gilt,
dass Werbung Bedürfnisse weckt, die wir vielleicht gar nicht haben. Und die Überflutung mit
den Reizen der Werbung kann uns durchaus so beeinflussen, dass wir für die eigentlichen
Probleme unseres Lebens taub sind. Dies ist auch das Thema von Ingeborg Bachmanns
Gedicht „Reklame“, das im Folgenden analysiert werden soll. Nach der Interpretation von Inhalt
und Aufbau sowie der formalen Gestaltung wird gezeigt werden, inwiefern es ein Text ist, der
typisch für die moderne Literatur ist.
Analyse von Inhalt und Aufbau:
Das Gedicht besteht aus zwei Teilen, die ineinander verwoben sind, aber durch das Schriftbild
auch von einander abgesetzt werden. Im Vordergrund stehen eine Reihe von existentiellen
Sinnfragen. Dies ist zunächst die Frage nach Geborgenheit in schlechten Zeiten (Z. 1,3). In
Zeilen 5, 7, 9, 11 grübelt das Lyrische Wir, was man in Erwartung eines „Endes“ (Z. 11) tun
könne. Was für ein Ende gemeint ist, ob der Tod oder das Ende eines Lebensabschnittes, bleibt
dabei offen. Anschließend wird gefragt, wie die unangenehmen Erfahrungen der Vergangenheit
zu bewältigen sind (Z. 13, 15). Am Schluss schließlich wird die Frage gestellt, wie man mit der
„Totenstille“, also der Einsamkeit oder dem Tod, umgehen kann (Z. 17, 19, 21). Auf keine dieser
Fragen wird eine Antwort gegeben, keine wird genauer erläutert. Stattdessen werden in jede
zweite Zeile kursiv gedruckte Einsprengsel eingeworfen, die „Reklame“. Diese sind
unzusammenhängend, wiederholen sich des Öfteren, und propagieren offenbar ein heiteres,
sorgloses Weltbild, das mit Musik untermalt wird. Wie echte Werbung wird eine Illusion
geschaffen: zum einen durch den Neologismus „Traumwäscherei“ (Z. 16), zum anderen
dadurch, dass es so scheint als böte die Sprache der Werbung eine Antwort auf die Sinnfragen.
Der zweite oder der 16. Vers scheinen z.B. zunächst eine Antwort auf die vorher gestellten
Fragen zu geben. Doch wie der weitere Verlauf zeigt, führen sie nirgendwo hin. Bezeichnend ist
somit auch, dass die Werbung am Schluss verstummt, die vorletzte Zeile des Gedichts frei
bleibt. Denn der schöne Schein bietet letztlich keine Antwort auf die Fragen, die das Leben
bestimmen. Und diese Fragen lassen sich nicht umgehen: am Schluss muss jeder Leser die
Antwort für sich selber finden – worauf ja schon die ungewöhnliche Form des „Wir“ verweist.
Formanalyse:
Die Zweiteilung des Inhalts lässt sich auch in der sprachlichen Gestaltung nachvollziehen. Da
wäre zunächst die Wortwahl. Während in dem Fragenkatalog eher düstere und bedrohliche
Begriffe verwendet werden, wie „dunkel“, „kalt“ (Z. 3) oder „Schauer“ (Z. 16), die auf den Tod
anspielen, überwiegt im Reklameteil eine positive Grundstimmung. Wortgruppen wie „heiter“,
„am besten“ oder „ohne Sorge“ evozieren im Leser eine schöne Scheinwelt, die allerdings nur
angedeutet wird und keinen zusammenhängenden Sinn ergibt. Auffallend ist auch die im
gesamten Gedicht fehlende Interpunktion. Während diese in dem Reklame-Abschnitt
einleuchtet – denn hier gibt es ja keinerlei zusammenhängenden Sinn, sondern nur Satzfetzen , verwundert sie in dem ernsten Fragenkatalog. Allerdings fällt auf, dass es mehrere
Möglichkeiten gibt, diesen Abschnitt zu interpungieren (z.B. vier aneinander gereihte
Fragesätze oder eine einzige Frage). Diese Vieldeutigkeit spiegelt die Vielschichtigkeit des
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Ulrich Steckelberg
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Inhalts wider: tatsächlich sind ja alle vier Fragen miteinander verwoben. Sie spiegelt zugleich
den Vorgang des Grübelns. Der Parallelismus der Fragesätze zeigt ja, dass alle Fragen ein und
dasselbe Problem umkreisen. Auffallend im Reklame Abschnitt ist, dass immer wieder nur
dieselben Wortgruppen und Wörter wiederholt werden. Das Wiederholen von immer gleichen
Phrasen ist ein beliebtes Mittel der Werbung. Wie unbedeutend diese beliebig kombinierbaren
Versatzstücke sind, zeigt die Tatsache, dass bis auf das Wort „Traumwäscherei“ alles klein
geschrieben wird. Dieser Neologismus, der als einziges Wort in diesem Abschnitt nicht
wiederholt wird, aber hat anscheinend eine herausragende Stellung. Allerdings wird es kaum
gelingen seine schillernde Bedeutung zufriedenstellend zu klären: Assoziationen mit
„Gehirnwäsche“, dem Verdrängen von unbewältigten Träumen oder den von der Werbung
propagierten Traumwelten, die die düstere existentielle Realität des Fragenkatalogs
übertünchen wollen – all diese Möglichkeiten sind denkbar, keine aber kann allein befriedigen.
Denn Reklame gibt eben keine Antworten auf existenzielle Fragen.
Erörterung – Inwiefern ist das Gedicht in die Epoche der Moderne einzuordnen
Schon der Titel des Gedichts verweist auf die Epoche der Moderne. Denn Reklame als ständige
Berieselung im Hintergrund ist eine der Grunderfahrungen des modernen Menschen. Die
Reizüberflutung durch oberflächliche, optimistische Werbeslogans wird hier als Hindernis bei
der Auseinandersetzung mit den wirklich wichtigen Fragen der menschlichen Existenz gesehen.
Bachmann bewirkt dies durch das formale Experiment, die beiden Texte ohne inhaltliche
Bindung miteinander zu vermischen. Gerade die Moderne ist es ja, die durch das Durchbrechen
tradierter Formen zu neuen Aussagen kommen will. So kann hier sogar die Leerzeile am
Schluss zum Träger von Bedeutung werden (Z. 20). Bezeichnend ist hierbei, dass in diesem
Gedicht, wie so oft in der modernen Literatur, die Sinnfrage offen bleibt. Die optimistische
Werbesprache konstruiert keinen neuen Sinn, im Gegenteil: Das Gedicht ist von einer tiefen
Skepsis gegenüber den allgegenwärtigen Phrasen der Reklame. Das Wortfeld der Einsamkeit
im Fragenteil - „Totenstille“ (Z. 19), „Schauer“ (Z. 15), „dunkel“ und „kalt“ (Z. 3) - zeigt, dass die
metaphysische Leere als düsterer Verlust empfunden wird. Nicht klar wird allerdings, wer
spricht, das vieldeutige Lyrische Wir könnte jedoch darauf verweisen, dass es sich um eine
typisch moderne Lebenserfahrung handelt. Nicht mehr ein Individuum steht hier im Mittelpunkt,
sondern der moderne Mensch an sich. All diese formalen und inhaltlichen Merkmale machen
diesen Text zu einer typisch modernen, experimentellen, sprachkritischen Auseinandersetzung
mit der Sinnfrage in unserer Medienwirklichkeit.
Zusammenfassung und Schluss
„Reklame“ als typisch modernes Gedicht hinterfragt die stereotypen, schönen Träume, die von
der Werbung jeden Tag produziert werden. Durch die Verknüpfung mit Fragen nach dem Sinn
der menschlichen Existenz wird gezeigt, dass die hohlen Phrasen letztlich nur stören, nicht aber
eine Antwort geben können. Worte wie „Traumwäscherei“ mögen vielversprechend klingen –
Sinn ergeben sie jedoch nicht. Auch wenn es an einzelnen Stellen durchaus so scheint, als ob
Fragen- und Reklameteil sich aufeinander beziehen könnten, letztlich zeigt sich doch, dass die
Werbung eben keinen zusammenhängenden Sinn stiftet und dass sie angesichts existenzieller
Fragen nur stört und am Schluss verstummen muss. Bachmann gelingt dies durch das formale
Experiment, dass sie den Fragenteil immer wieder durch eingeschobene Werbezeilen
unterbricht, wie ja die Werbung auch in unser Leben immer wieder ungefragt eindringt. Insofern
spiegelt die formale Gestaltung des Gedichts eine Grunderfahrung des modernen Lebens. Dass
die Sinnfrage hier, wie so oft in der Moderne, offen bleibt, liegt wohl zumindest teilweise an der
Reizüberflutung durch Reklame in welcher Form auch immer. Insofern ist dieses in der WirForm geschriebene Gedicht zumindest implizit durchaus auch ein Appell an uns alle, sich
wieder auf das Wesentliche zu besinnen, die Frage danach woher wir kommen und wohin wir
gehen.
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