Ingeborg Bachmann :“Reklame“

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Interpretation: „Reklame“ (Ingeborg Bachmann, 1956) (Silke Plettemeier)
Das Gedicht „Reklame“ von Ingeborg Bachmann wurde 1956 veröffentlicht.
Es besteht aus nur einer Strophe mit 20 Versen, wobei der letzte Vers um eine Zeile nach unten hin
versetzt ist. Ein gängiges Reimschema sowie Metrum ist nicht vorhanden. Jede Art von Interpunktion
fehlt ebenso.
Es fällt außerdem auf, dass jede zweite Zeile kursiv gedruckt ist. Das Gedicht wirkt daher zunächst
wie eine Wechselrede von Frage und Antwort. Die beiden ‚Gesprächspartner’ scheinen jedoch
aneinander vorbei zu ‚reden’, da die Antworten völlig inkompatibel mit den Fragen sind.
Das ‚Missverständnis’ entpuppt sich jedoch als bewusste Ablehnung der gebotenen Antworten.
Das lyrische Ich scheint sie zu ignorieren; sie helfen ihr offensichtlich nicht.
Zur Analyse des Gedichtes stelle ich anknüpfend an diese Vermutung die Hypothese auf: „Reklame
liefert dem Menschen bei seiner Suche nach dem Daseinsziel nur unbefriedigende Scheinantworten.“
Dass sich das lyrische Ich in einer komplexen und auf die Stimmung drückenden Situation befindet,
zeigt sich bereits an den negativ assoziierten Worten „dunkel“ (V.3),
„kalt“ (V.3) und „Schauer“ (V.15).
Die Interrogativpronomen „wohin“ (V. 1, 13) und „was“ (V.7, 17) bringen ihre Perspektivlosigkeit
zum Ausdruck.
Durch die Konjunktion „wenn“ (V. 3, 19) werden die komplexen Fragen nach dem menschlichen
Daseinsziel und Lebenssinn spezifiziert. Aus der weitgreifenden Frage „wohin aber gehen wir“ (V.1)
wird durch die Bedingung „wenn es dunkel und wenn es kalt wird“ (V.3) eine, auf den Tod bezogene
Frage.
Die Antwort befriedigt jedoch nicht, sodass das lyrische Ich zur nächsten Frage übergeht, bei der ein
ähnliches Muster zu erkennen ist: Die generalisierte Frage „was sollen wir tun […] und denken“
(V.7, 9) wird durch die Einschränkung „angesichts eines Endes“ (V. 11) wieder- eine auf das Leben
nach dem Tod zielende Frage. Genauso geschieht es mit der vierten Frage (vgl. V. 17, 19).
Die dritte Frage des lyrischen Ichs „und wohin […]“ (V.13, 15) zeigt hingegen eher den Grund
ihrer Ungewissheit. Das Akkusativobjekt „unsere Fragen und den Schauer aller Jahre“ (V.15) stellt
das Problem deutlich heraus. Erst der Krieg und die NS-Vergangenheit scheinen derartige Fragen
aufgeworfen zu haben. Das lyrische Ich kann ihre Vergangenheit nicht einfach so übergehen und sich
nichts sagenden Floskeln hingeben.
Es möchte konkrete Antworten, möchte Genaues wissen, braucht die Vorgabe eines Zieles im Leben.
Für den Ausdruck dieser geforderten Klarheit stehen nicht nur die bereits erwähnten Einschränkungen,
durch die die Fragen konkretisiert werden.
Verben der Agitation wie „gehen“ (V.1), „tun“ (V.7), „denken“ (V.9), „tragen“ (V.13), „geschehen“
(vgl. V.17) und „eintreten“ (vgl. V.20) machen deutlich, dass es Antworten benötigt, nach den es
handeln kann.
Doch genau solche Antworten liefert die Reklame, die die fragende Person ständig unterbricht und
nahezu aufdringlich wirkt, nicht.
So fällt als erstes auf, dass das einzige Verb in den kursiv gedruckten ‚Antwort- Versen’ „sein“
(vgl. V. 2, 4, 16) ist. Allein weil die Verben der in den normal gedruckten ‚Frage- Versen’ viel
aktivere Lösungswege fordern, können die gegeben Antworten nicht genügen.
Sie verlangen, dass schon ein gewisser Zustand erreicht wurde. Man wird dazu aufgefordert, „ohne
sorge“ zu sein (vgl. V. 1, 16). Den Weg dorthin beschreiben sie jedoch nicht.
Das Verb „sein“ ist passiv, während die Fragen förmlich nach Aktivität schreien („tun“, …).
Zudem steht das Verb in den Antworten im Imperativ Singular („sei“), während vom lyrischen Ich
durchgehend der Plural gefordert wird, indem es das Personalpronomen „wir“ verwendet.
Dadurch macht es deutlich, dass es mit seinen Fragen nicht allein ist. Die Antworten müssten einer
sehr großen Menschengruppe helfen.
Die Reklame liefert auch insofern nur Scheinantworten, da sie lediglich in Eintönigkeit ihr
Beschwörungs- und Betäubungsvokabular wiederholt.
Sie hat nur ein sehr winziges Reservoir an Schlagwörtern zur Verfügung, die sie fortlaufend
in scheinbar willkürlicher Reihenfolge immer wieder einwirft.
Bei den präzisierten Fragen ist sie vollkommen hilflos.
Die Reklame verfolgt lediglich ihr ‚Beschwichtigungs- Motiv’, das sich beispielsweise durch die
Verwendung des Superlativs „am besten“ (V.14, 18) zeigt.
Durch die Alliterationen „sorge sei[…] sorge“ (V.1) und „mit Musik“ (V.6, 8, 12) wirkt die Reklame
außerdem wie ein Singsang. Dieser Eindruck ist vor allem auf die weichen Konsonanten „m“ und „s“
zurückzuführen. Die ständige Wiederholung dieser Buchstaben soll zu einer Besänftigung der Leser
führen. Die Reklame wirkt mehr wie ein Geflüster oder gar wie eine negativ zu bewertende
Einflüsterung, die der Reklame gleichzeitig Suggestion unterstellt.
Am deutlichsten manifestiert sich das Motiv der Reklame jedoch am Neologismus „Traumwäscherei“
(V. 16). Die Zusammensetzung aus den Worten „Traum“ und „Wäscherei“ steht für das Waschen von
furchterregenden Träumen- beispielsweise Träumen vom Krieg und der Vergangenheit. Solche
Träume würden für viele als Anlass dienen, nachzudenken. Möglicherweise sogar über den
Lebenssinn und das Leben nach dem Tod.
Nach dem Prinzip der Reklame sollten solche Träume jedoch so gewaschen werden,
dass es für die Leute schöne Träume sind.
Die Folge wäre, dass die Leute keinen Grund mehr für kritische Reflexionen hätten.
Der Neologismus zeigt also sehr klar, dass die Reklame jede Art von Denkeinsatz umgeht. Der Begriff
‚Scheinantwort’ ist also auch an dieser Stelle passend.
Ohne Denken findet man nämlich bei den gestellten Fragen nichts, das den Anspruch auf den Begriff
Antwort erheben könnte.
Ingeborg Bachmanns Gedicht zeigt einerseits die Haltung der Menschen nach dem Krieg bezüglich
des Wiederaufbaus und ‚normalen Lebens’. Dabei verdeutlicht die Autorin vor allem das Problem,
dass viele Menschen das Leid und den Schrecken der Jahre nicht einfach so vergessen können
(wie in V.15 angedeutet). Selbst lange nach dem Krieg fragen sich die Leute, was ihr Sinn des Lebens,
des Daseins ist, wenn es doch in der Welt nur um Machtkämpfe und Zerstörung geht.
Das Gedicht konzentriert sich also nicht auf die direkte Darstellung des Grauens während des Krieges,
sondern mehr auf seine langfristigere Nachwirkung.
Andererseits klingt in dem Gedicht, wie es heutzutage wahrscheinlich häufigerer der Fall ist,
Medienkritik mit. In heutiger Zeit würde man dem Wort „Reklame“ in erster Linie „Werbung“ oder
„Medien“ gleichsetzen.
Damals (um 1956) wurden Medien scheinbar schon als
Hindernis bei existenziellen Fragen, kritischen Reflexionen und der Beschäftigung mit sich selbst
verstanden.
Umso erstaunlicher ist es, dass sich die fragende Person in dem Gedicht nicht von der Stimme der
Reklame aus der Fassung bringen lässt, sondern sie gänzlich ignoriert.
Sie widerspricht der Stimme durch die Konjunktion „aber“ (V.3) sogar.
Die Lücke vor dem 20. Vers lässt sich schließlich als Kapitulation der Reklame interpretieren.
Wäre die Autorin dem ‚Frage- Antwort- Prinzip’ gefolgt, so müsste in der Lücke eine Antwort stehen.
Offensichtlich hat die Reklame jedoch ‚bemerkt’, dass sie ihr Ziel, die fragende Person zu beruhigen,
verfehlt hat. Als das Schlagwort „Totenstille“ in aller Klarheit gesagt wird, vermag selbst die Reklame
nichts mehr zu äußern, das den Begriff in irgendeiner Weise ‚verwischt’.
Vermutbar ist, dass die Reklame mit Sicherheit nicht an jedem so spurlos vorbei geht, wie an der hier
dargestellten fragenden Peson. Gewiss hat sie damals zur Beruhigung vieler Personen beigetragen
(bzw. tut dies immer noch), die an existenziellen Fragen scheiterten.
Allerdings beruhigt sie nur kurszeitig. Auf Dauer müssen sich Menschen ohnehin mit derartigen
Fragen beschäftigen. Die Verzögerung durch Reklame ist dabei wenig hilfreich.
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