P O L I T I K AKTUELL Diskussion um den Philosophen Peter Singer Widerstand gegen eine „neue“ Ethik Einen Sturm der Entrüstung löste die Einladung des Philosophen Peter Singer zu einem Kongreß in Heidelberg aus. Geplant war unter anderem eine kontroverse Debatte zu den Themen Euthanasie und Lebensrecht schwerstbehinderter Säuglinge. Proteste von Behindertenorganisationen und Politikern führten schließlich dazu, daß Singer wieder ausgeladen und dem Kongreß lediglich aus Erlangen zugeschaltet wurde. Die Gegner des Bioethikers werfen ihm vor, fünfzig Jahre nach den Nürnberger Ärzteprozessen erneut zum Töten aufzurufen. ehrere Jahre lang hatte man kaum etwas gehört von Peter Singer. Doch jetzt sind die umstrittenen Thesen des Bioethikers wieder in aller Munde. Anlaß für die erneute Diskussion war eine Einladung zu einem Kongreß des Heidelberger Instituts für systemische Forschung. Dort wollte der Deputy Director des Centre for Human Bioethics an der Monash University von Melbourne (Australien) erläutern, warum seiner Ansicht nach die „traditionelle Ethik zusammengebrochen“ sei. Massive Proteste von Behindertenorganisationen und Politikern führten jedoch dazu, daß Singer wieder ausgeladen wurde. Der Philosoph, der sich schließlich von Erlangen aus dem Kongreß zuschalten ließ, zeigte sich „überrascht“ über die Reaktionen in Deutschland. Dabei lösten seine Ansichten bereits vor Jahren eine heftige Diskussion aus. Zur Erinnerung: In einer Betrachtung über aktive und passive Sterbehilfe (Deutsches Ärzteblatt, Heft 16/1990) hatte seine Mitarbeiterin Helga Kuhse den „bioethischen“ Standpunkt, der zwischen „lebenswertem“ und „lebensunwertem“ Leben unterscheidet, vorgestellt. Für Patienten, die für immer das Bewußtsein verloren haben, oder für Kinder, die ohne oder fast ohne Gehirn zur Welt gekommen sind, habe das Leben keinen subjektiven Wert. Es bestehe daher normalerweise kein patientenbezogener Grund, diese Menschen am Leben zu erhalten. Einen aufgeklärten Patienten solle ein Arzt dann sterben lassen, wenn vom Gesichts- M punkt des Betroffenen her sein durch unheilbares Leiden bestimmtes Leben nicht mehr lebenswert sei. Der Beitrag hatte eine Flut von Leserbriefen ausgelöst (Hefte 37 und 38/1990), in denen vor allem die Begriffe „lebenswert“ und „lebensunwert“ auf Kritik stießen. „Zusammenbruch der traditionellen Ethik“ Seine „Auseinandersetzung mit einigen Aspekten der Ethik der Unantastbarkeit des Lebens“, die er in Heidelberg vortragen wollte, stellte Singer jetzt in der Zeitschrift „Universitas“ vor: Die traditionelle Ethik der Unantastbarkeit des Lebens habe das Denken und die Entscheidungen der Menschen fast zweitausend Jahre lang bestimmt. Heute sei sie an einem Punkt angelangt, an dem sie zusammenzubrechen drohe, schrieb der Philosoph. Er beruft sich dabei auf die Entwicklung der Rechtsprechung in mehreren Ländern. So habe im Februar 1993 das höchste britische Gericht „viele Jahrhunderte traditionellen Rechts und medizinischer Ethik über Bord“ geworfen, als es im Fall des im Koma liegenden Anthony Bland erlaubte, „Maßnahmen zu ergreifen, die ausdrücklich darauf zielten, dessen Leben zu beenden“. 1993 habe das niederländische Parlament ein Gesetz verabschiedet, nach dem holländische Ärzte jenen Patienten letale Injektionen geben dürfen, „die unerträglichen Leiden A-1508 (16) Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 23, 7. Juni 1996 ohne Aussicht auf Besserung ausgesetzt waren und um Sterbehilfe ersuchten“. Und im März 1996 schließlich habe ein Federal Appeal Court der USA das Verbot der Sterbehilfe für verfassungswidrig erklärt. Diese Ereignisse seien „nur sichtbare Erschütterungen, die tiefgreifende Veränderungen im Kern der westlichen Ethik anzeigen“. Die Haltung gegenüber der Unantastbarkeit menschlichen Lebens ist nach Ansicht Singers gegenwärtig einem Veränderungsprozeß unterworfen. Der Faktor, „der uns am stärksten zum Wandel treibt, ist unser wachsendes menschliches Können, Menschen am Leben zu erhalten“. Deshalb könne die Ethik der Vergangenheit nicht länger aufrechterhalten werden. So sei der Hirntod bereits als ein Kriterium für den Tod des Menschen akzeptiert worden. „Dieser Wandel in der Definition des Todes bedeutet, daß man unter Umständen warmen, pulsierenden menschlichen Wesen keine weitere medizinische Hilfe gewährt.“ Im Fall des 17jährigen Tony Bland, der 1989 in einem Stadion in Sheffield in ein Massengedränge geraten war und dessen Gehirnteile, die mit Bewußtseinsfunktionen verbunden sind, unwiederbringlich zerstört waren, hätten die britischen Gerichte „realistisch genug“ festgestellt, daß Blands Leben nicht „lebenswert“ war. Der Fall Bland habe das britische Gericht dazu gebracht, den Begriff der Lebensqualität statt den der Unantastbarkeit des Lebens als Grundlage von Entscheidungen zu akzeptieren. Ein weiterer Bestandteil der „neuen“ Ethik ist für Singer das „Bedürfnis nach größerer Entscheidungsfreiheit über unser Leben“. So zeigten Umfragen in den Niederlanden, daß 80 Prozent der holländischen Bevölkerung die gegenwärtige Regelung befürworten. Singer geht davon aus, daß andere Länder deswegen dem Beispiel der Niederlande folgen werden. Für die meisten Gegner Singers stellt sich die Frage, ob seine Thesen überhaupt diskutabel sind. Der querschnittgelähmte Münchner Organisationsberater Claudio Kürten ließ sich jedenfalls auf eine Diskussion ein. „Stimmt überhaupt die Richtung all der Fragen nach der Qualität und dem P O L I T I K AKTUELL Wert von Leben, den wir erwarten? Muß nicht die Frage aller Fragen umgekehrt lauten: Welche Antworten haben wir für und mit den Menschen, die mit gesundheitlichen Einschränkungen zur Welt kommen oder die damit zu leben haben? Kann die Antwort wirklich lauten: Nichtsein ist besser als ein Leben mit Einschränkungen?“ fragte Kürten in „Universitas“. Auch der Vizepräsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. med. JörgDietrich Hoppe, ist der Ansicht, daß man sich mit Singer auseinandersetzen sollte. In einer freien Gesellschaft müsse man alle Meinungen zu Wort kommen lassen, die innerhalb der allgemeinen Moral liegen; man dürfe dabei niemanden verletzen und keine Ideen verfolgen, die mit der Verfassung nicht in Einklang sind, sagte er in einem Interview. Singers Thesen bezeichnete Hoppe als „verführerische Argumente, die auf das Mitleidsgefühl zielen, nicht auf das Mitleid mit den Betroffenen, sondern auf das Mitleid mit den Leuten auf der Beobachterseite, die das Leid nicht aushalten können. Denn diejenigen, um die es sich handelt, sind meistens subjektiv nicht mitleidsbedürftig. Die leben so, wie sie leben, gerne und zufrieden.“ Das Heidelberger Institut für systemische Forschung und die Internationale Gesellschaft für systemische Therapie, die Veranstalter des Kongresses, erläutern in einer Pressemitteilung, warum sie Singers Einladung für gerechtfertigt hielten. Sie vertreten die Ansicht, daß Leben und Tod nicht mehr allein biologisch bestimmt seien. „Längst wird der Tod eines Menschen nicht mehr nur festgestellt, sondern Menschen werden ,für tot‘ erklärt, obwohl ihr Herz noch schlägt.“ Ein semantischer Trick, um zu kaschieren, daß hier de facto zwischen „lebenswertem“ und „lebensunwertem“ Leben unterschieden werde. „Die Frage, wer leben darf und wer nicht, die Herr Singer stellt, wird alltäglich in Kliniken praktisch entschieden.“ So werde beispielsweise ein großer Prozentsatz der jedes Jahr in Deutschland durchgeführten Abtreibungen wegen pränatal diagnostizierter Behinderungen vorgenommen. „Der Verdacht ist nicht ganz von der Hand zu weisen, daß all die Bestialitäten der Nazi-Zeit auch deshalb stattfinden konnten, weil in Deutschland die Meinungsfreiheit nicht genügend geschützt wurde“, heißt es weiter. Langfristig seien Behinderte in einer Gesellschaft ohne geschützte Meinungsfreiheit gefährdeter als in einer Gesellschaft, in der die Meinungsfreiheit unabhängig von den vertretenen Inhalten als hoher Wert betrachtet wird. Die Veranstalter bedauern deshalb die Ausladung Singers. „Allein die Abwägung der zur Debatte stehenden Werte rechtfertigt unsere Entscheidung“, teilten sie mit. Doch gerade die Behindertenverbände wollen keine neue „Euthanasie-Diskussion“. Die Deutsche Behindertenhilfe Aktion Sorgenkind e.V. schreibt: „Zu sehr fühlen sie sich an die Nazi-Ideologie vom ,unwerten Leben‘ erinnert. Sie werfen den sogenannten Bioethikern vor, Menschen, die nicht den Leistungsnormen der Gesellschaft entsprechen, das Lebensrecht abzusprechen. Sie fürchten, daß hier im Gewande einer scheinbar vorurteilsfreien Diskussion altes Euthanasie-Gedankengut wieder salonfähig gemacht werden soll.“ Unterstützung finden die Behindertenverbände auch bei Politikern. „Mit Entschiedenheit treten wir Singers These entgegen, daß das mutmaßliche Glück des Kindes und seiner Eltern Meßlatte für die Zumessung des Lebensrechts ist. Singer befürwortet die Tötung behinderter Ungeborener, Neugeborener und Erwachsener, die sich selbst ,nicht als über die Zeit hinweg existierend wahrnehmen‘. Dies bedeutet, daß für ihn das Lebensrecht kein Menschenrecht ist, das jedem allein deshalb zusteht, weil er Mensch ist“, betonen die CDU-Abgeordneten Hubert Hüppe, Dr. Peter Liese und Peter Altmaier. Das Europäische Parlament in Straßburg hat mit einer von Christdemokraten, Konservativen und Grünen verabschiedeten Resolution Singers Thesen ebenfalls zurückgewiesen. Das Parlament wendet sich in der Entschließung vor allem gegen die Aussage, „daß neugeborene Kinder und behinderte Menschen kein uneingeschränktes Recht auf Leben haben“. Gisela Klinkhammer Hartmannbund: Nein zur Sterbehilfe Der Hartmannbund hat gemeinsam mit dem „Niederländischen Ärzteverband“ (NAV) die Aktion „Europa gegen die Euthanasie“ ins Leben gerufen. Zu viele Tabus seien bereits durch die intensive Diskussion über aktive Sterbehilfe gebrochen worden. Beide Verbände befürchten, daß auf diese Weise die Euthanasie durch die Hintertür gesellschaftsfähig wird. „Der Arzt ist verpflichtet, Leben zu erhalten“, betonte Dr. med. Hans-Jürgen Thomas, Vorsitzender des Hartmannbundes. Die Aushöhlung dieses Prinzips gefährde das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Es gelte am strikten Tötungsverbot festzuhalten. Daneben müßten Palliativmedizin und Schmerztherapie weiterentwickelt werden, um dem Patienten das Leben so lange wie möglich erträglich zu machen. Ein „Ja“ zu dieser Form der humanen Sterbebegleitung bedeute aber gleichzeitig ein „Nein“ zu jeder Form der Sterbehilfe. Dr. med. K. J. Pieter Haasnoot, Vorsitzender des Niederländischen Ärzteverbandes, bedauerte das positive „Euthanasie-Klima“ in den Niederlanden. Die gesetzlichen Regelungen zur aktiven Sterbehilfe seien dort bereits aus dem Ruder gelaufen. Eine ähnliche Entwicklung zeichne sich auch in Staaten wie den USA und Australien ab. Der NAV mit seinen 600 Mitgliedern, der für ein rigides Tötungsverbot eintritt, bekleide in den Niederlanden bereits eine Minderheitenposition. Dort sind einer Umfrage zufolge nur noch zwölf Prozent der Ärzte gegen Euthanasie. Dabei könne es keine objektiven Kriterien dafür geben, ob und wann ein Patient sterben soll. „Heute hat man diesen Grund zu töten, morgen hat man viele mehr“, so Haasnoot. Das sei das Gefährliche an der Tendenz, bestehende Verbote zu lockern. EB Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 23, 7. Juni 1996 (17) A-1509