Serie Tier-Ethik Ist Ethik realitätsfremd? Als Ethiker höre ich oft den Vorwurf: «Das ist doch nicht realistisch!» Gegen eine Ethik, die sich darin gefällt, möglichst radikal zu sein, und die sich um die Umsetzbarkeit ihrer Forderungen nicht kümmert, ist das ein verständlicher Einwand. Aber manchmal verrät diese Redeweise auch, dass nicht verstanden wurde, worum es bei ethischen Überlegungen geht. Von Dr. Christoph Ammann, Stiftungsrat ProTier E thische Überlegungen sollen eine kritische Perspektive auf gegenwärtige Praktiken dar­ stellen. Insofern leben sie ja gerade davon, dass sie nicht mit der Reali­ tät, wie sie nun einmal ist, überein­ stimmen. Wenn eine Ethikerin nun z.B. behauptet, wir sollten aufhören, gen­ technisch veränderte Tiere herzustel­ len, um diese als Krankheitsmodelle zu verwenden, dann wird sie der Ein­ wand, das sei aber «nicht realistisch», weil weltweit Millionen solcher Tier­ modelle produziert würden und die Zahl stetig zunehme, nicht gross inte­ ressieren. Denn die Frage ist ja gera­ de, ob es richtig ist, das zu tun, oder ob es nicht vielmehr fragwürdig ist, Millionen von Tieren auf diese Weise zu verzwecken. Die Ethik richtet sich zwar auf die Welt, wie sie nun einmal ist, aber nicht mit dem Ziel, den Status quo pauschal zu rechtfertigen. Vielmehr soll sie Per­ spektiven aufzeigen, wie die Welt sein soll und wie sie gegebenenfalls besser werden könnte. Hier kommt nun der Vorstellungskraft eine besondere Be­ deutung zu. Ethik gibt es nicht ohne dieses «Stell dir vor, wie es auch sein könnte». Vielleicht unterscheidet uns nichts so sehr von den anderenTieren wie dieses Vermögen, uns nicht mit der Welt abzufinden, wie sie ist, uns auch nicht einfach diesen Zuständen anzupassen, sondern uns eine ande­ re, bessere Welt vorzustellen und uns dafür einzusetzen. «Wer Visionen hat, der sollte zum Arzt gehen», hat der ehemalige deut­ sche Bundeskanzler Helmut Schmidt ProTier 2 /14 einmal gesagt. In diesem lapidaren Spruch drückt sich eine realistische Einstellung aus, die wohl gerade für die politische Sphäre typisch ist. Für das ethische Nachdenken aber ist diese Einstellung Gift. Hier sind Menschen, die Visionen haben und diese Visionen glaubwürdig leben, auch wenn sie von der Mehrheit für Spinner und realitätsfremd gehalten werden, von grösster Bedeutung. Martin Luther Kings «I have a dream» zum Beispiel, das war kein blosses Träumen von einer besseren Welt, die aus lauter netten Gutmenschen besteht, aber es war auch nicht rea­ litätsfremd. Genau so sollte auch Tierethik sein: nicht blind gegenüber den vielfältigen Weisen, wie Men­ schen ihre tierischen und menschli­ chen Mitgeschöpfe unterdrücken, aber auch von der Überzeugung getragen, dass die Welt, wie sie ist, nicht so sein muss. weise meine Lust an der Bratwurst getrübt. Was will ich mit diesem tri­ vialen Beispiel sagen? Erstens das, dass es keineswegs ausgemacht ist, was es heisst, in solchen Fragen rea­ listisch zu sein und den Tatsachen ins Auge zu blicken. Und zweitens das, dass es gerade die Aufgabe der Ethik – und damit meine ich beileibe nicht nur eine akademische Disziplin mit diesem Namen – sein kann, auf sol­ che selektiven Wahrnehmungsmus­ ter und Verdrängungsmechanismen hinzuweisen und sie zu analysieren. Hier schliesst sich nun der Kreis: «Sei doch realistisch!» Wenn das heisst, sich zu überlegen, was es be­ deuten würde, z.B. auf Tierversuche oder fleischliche Produkte zu verzich­ ten, dann ist das eine wichtige Auffor­ derung. Eine realistische Sichtweise ist gerade auch eine, die solche As­ pekte der Realität nicht ausblendet. Wenn aber die Aufforderung zum Realismus gerade eine ist, die nur im Dienst bestehender Wahrneh­ mungsverzerrungen steht, die den Istzustand mit Normalität gleichsetzt und Visio­näre am liebsten in Klini­ ken einweisen würde – dann ist ein solcher Rea­lismus tatsächlich etwas, was sich mit Ethik schlecht verträgt. ■ Porträt Dr. Ch. Ammann Was bedeutet «realistisch»? Denn was heisst hier schon «realitäts­ fremd»? Nehmen wir ein ganz alltäg­ liches Beispiel: Ich sitze im Zoo, habe mir die faszinierende Tierwelt ange­ sehen, und nun esse ich meine Brat­ wurst. Das ist ganz normal, gang und gäbe. Dass diese Wurst vor mir auf dem Teller einmal ein Kalb war, ein süsses Tier, das von Anfang an dazu bestimmt war, auf dem Teller zu lan­ den, ist ein Teil der Realität, den ich ausblende. Es ist nicht so, dass ich es nicht wissen würde, aber es ist et­ was, was ich ausblende, denn würde ich daran denken, würde möglicher­ Dr. Christoph Ammann ist Ober­ assistent am Institut für Sozial­ ethik der Universität Zürich. Sein gegenwärtiger Forschungs­ schwerpunkt ist Tierethik. Er ist Mitglied der Tierversuchs­ kommission des Kantons Zürich, verheiratet und Vater von drei kleinen Kindern. 17