|8 Leuschner Studien zur Politischen Soziologie Studies on Political Sociology Politische Freundschaften Vincenz Leuschner ISBN 978-3-8329-5964-7 8 Politische Freundschaften Informelle Beziehungen im Deutschen Bundestag Nomos http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 Schriftenreihe „Studien zur Politischen Soziologie“ The series „Studies on Political Sociology“ herausgegeben von is edited by Prof. Dr. Andrew Arato, The New School for Social Research, New York Prof. Dr. Hauke Brunkhorst, Universität Flensburg Prof. Dr. Regina Kreide, Justus Liebig Universität Gießen Band 8 Wissenschaftlicher Beirat Amy Allen (Dartmouth College, USA) Gurminder Bhambra K. (University of Warwick, GB) Craig Calhoun (Social Science Research Council an der New York University, USA) Sergio Costa (Freie Universität Berlin) Robert Fine (University of Warwick, GB) Gerd Grözinger (Universität Flensburg) Christian Joerges (Universität Bremen) Ina Kerner (Humboldt Universität Berlin) Christoph Möllers (Freie Universität Berlin) Marcelo Neves (Universität São Paulo, Brasilien) Patrizia Nanz (Universität Bremen) Uta Ruppert (Goethe-Universität Frankfurt am Main) Rainer Schmalz-Bruns (Leibniz Universität Hannover) BUT_Leuschner_5964-7.indd 2 11.08.11 12:17 http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 Vincenz Leuschner Politische Freundschaften Informelle Beziehungen im Deutschen Bundestag Nomos BUT_Leuschner_5964-7.indd 3 11.08.11 12:17 http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Die Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data is available in the Internet at http://dnb.d-nb.de . Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Philosophische Fakultät III, Diss., 2010 ISBN 978-3-8329-5964-7 1. Auflage 2011 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2011. Printed in Germany. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. This work is subject to copyright. All rights are reserved, whether the whole or part of the material is concerned, specifically those of translation, reprinting, re-use of illus­trations, broadcasting, reproduction by photocopying machine or similar means, and storage in data banks. Under § 54 of the German Copyright Law where copies are made for other than private use a fee is payable to »Verwertungsgesellschaft Wort«, Munich. BUT_Leuschner_5964-7.indd 4 11.08.11 12:17 http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 Vorwort Der geneigte Leser mag sich zunächst vielleicht darüber wundern, dass der Begriff der Freundschaft in dieser Untersuchung in einen engen Zusammenhang mit informellen Netzwerken politischer Führungsgruppen gebracht wird. Unser Verständnis von Freundschaft auf der einen, und politischen Entscheidungsprozessen sowie informellen Politik-Netzwerken auf der anderen Seite ist durch die Annahme einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit gekennzeichnet. Und doch hoffe ich, zeigen zu können, dass die Praxis der politischen Vernetzung in starkem Maße von Freundschaftsvorstellungen und Freundschaftnormen bestimmt wird und sich aus der Analyse dieser Praxis ein genereller Mehrwert für das Verständnis des Handelns politischer Führungsgruppen ergibt, der unser bisheriges Wissen erweitert. Das Gelingen dieses Buches wäre ohne die Unterstützung vieler Menschen nie möglich gewesen, denen ich an dieser Stelle herzlich danken möchte. Als erster ist dabei mein Doktorvater Professor Hans-Peter Müller zu nennen, mit dem ich in vielen Gesprächen und Diskussionen diese Arbeit erörtert habe und der mich durch die letzten Jahre begleitet hat. Professor Harald Bluhm hat mir mit seinen Anregungen und Kommentaren sehr geholfen und war zudem bereit, diese Arbeit als Zweitgutachter zu betreuen. Danken möchte ich ferner Erika Alleweldt, mit der mich nicht nur das gemeinsame Interesse am Thema verbindet; desweiteren Henry Band, Inka Greusing, Prof. Dr. Jürgen Gries, Nicoletta Grillo, Anke Fuhrhop, Norbert Krakau, Petra Lucht, Elke Redemann-Paul, Jenny Schmithals, Stefan Thomas, Hanna Thon und Michaela Wieandt. Die Berlin Graduate School of Social Sciences (BGSS) hat diese Arbeit gefördert und mit ihrer strukturierten Doktorantenausbildung einen Rahmen bereitgestellt, in dem ich wertvolle fachliche Unterstützung erfahren habe. Einen großen Anteil am Gelingen hat außerdem die Friedrich-Ebert-Stiftung, durch deren Förderung diese Dissertation möglich wurde. Mein Dank gilt des Weiteren allen derzeitigen und früheren Bundestagsabgeordneten sowie den beiden Mitarbeitern, die sich die Zeit genommen haben mit mir offen und vertrauensvoll über ihre politischen Beziehungen zu sprechen. 5 http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 Nicht zuletzt danke ich meiner Familie; meinen Eltern für ihre Unterstützung, meinen Kindern für ihre Geduld und meiner Frau Christina für ihre Liebe. Ich widme diese Arbeit meinem Großvater Siegfried Gunkel. Berlin, Mai 2011 6 Vincenz Leuschner http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 Inhaltsverzeichnis Einleitung 11 Fragestellung Rahmenkonzept Der Deutsche Bundestag als Untersuchungsfeld Aufbau des Buches 17 18 19 22 I Theoretische Perspektiven und methodischer Zugang 25 I.1 Historische Konzepte und Formen politischer Freundschaft 26 Freundschaft in archaischen Gesellschaften Aristoteles’ Konzept der politischen Freundschaft Politische Freundschaft in der römischen Antike Politische Freundschaften im Mittelalter Freunde werden zur Bedrohung Die Verselbstständigung des Staatsapparates Carl Schmitt und die deutschen Männerbünde Moderne Formen politischer Freundschaft Konstitutive Elemente politischer Freundschaft 27 29 32 35 37 39 42 44 46 I.2 Zwischen Korruption und effektiver Steuerung 49 Informelle Beziehungen Informale Politik Legalistisch-problemzentrierte Perspektive Theoretische Perspektive Klientelismus und Korruption Politische Führungsgruppen als „Politische Klasse“ Demokratie- und Transformationsforschung Informelle Beziehungen als Reste der Vormoderne Steuerungstheoretisch-netzwerkorientierte Perspektive Theoretische Perspektive Politik-Netzwerke Politische Führungsgruppen als „politische Elite“ Zum Stellenwert informaler Netzwerke in Deutschland Zusammenfassung Organisationssoziologische Perspektiven 49 51 54 54 56 59 60 61 64 65 67 70 72 74 76 7 http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 I.3 Das politische Feld als Rahmenkonzept 81 Die Grenzen des Feldes Die „Verwandlung“ zum Berufspolitiker Sozialkapital und politisches Kapital Das Feldkonzept Bourdieus als heuristischer Rahmen Untersuchungsebenen und methodische Anlage Forschungsstrategie und Methode 82 83 85 87 88 91 II Sinnhorizont, Prozesse und Formen politischer Freundschaft 95 II.1 Professionalisierung und Praxissinn 98 Die Trennung von Amt und Person und die Logik des „Menschenfischers“ Professionelle Politik als „Kampfraum“ Professionelles Misstrauen und Halbmaskerade Statusbewahrung Verflechtungs- und Abhängigkeitszusammenhänge Betriebsförmige Verfahren und bürokratische Hürden Gesellschaftliche Komplexität und Kontaktinfarkt Vernetzte Spezialisten statt Gesinnungsethiker Der politische Profi 100 106 111 113 114 117 120 123 126 II.2 Der Sinnhorizont politischer Freundschaft 129 Politische Bedingtheit und politischer Bezug Verschwiegenheit und Diskretion Authentizität und Offenheit Der Verpflichtungsmechanismus des Geheimnistauschs Persönliches Vertrauen „Stimmende Chemie“ Verlässlichkeit und Loyalität Der Verpflichtungsmechanismus der Treue Freiwillige Hilfe und Solidarität Der Verpflichtungsmechanismus des Gabentauschs Zusammenfassung 130 131 133 139 140 144 146 149 150 154 155 II.3 157 Politische Freundschaften im Karriereverlauf Karriere, Relevanz und geteilte Lebenswirklichkeit Politische Freunde am Anfang der Karriere Parteiinterne Förderverhältnisse – am Übergang zur professionellen Politik Kollegialität und politische Projekte 8 157 160 166 171 http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 In höheren Positionen Politische Freundschaften im Prozess 177 179 II.4 182 Typen politischer Freundschaften Zur Schlüsselkategorie Drei Typen politischer Freundschaft Intime politische Freundschaften Balancierte politische Freundschaften Strategische politische Freundschaften Zusammenfassung 182 186 187 194 200 205 II.5 208 Das Spiel mit der Freundschaft Die Eigendynamik politischer Freundschaften Freundschaftsfallen Spannungsmanagement Defensive Bewegungen - Decoupling Offensive Bewegungen - Coupling Räumliche Spiele und die Praxis des „Biertrinkens“ Sprachspiele 209 212 214 216 218 220 224 III 228 Die praktische Bedeutung politischer Freundschaften III.1 Erlangung, Absicherung und Erweiterung von Positionsmacht 230 Praktiken der Hilfe und Unterstützung Individualisten und Netzwerker – Zur Akkumulation politischen Kapitals Der Netzwerkrepräsentant Der parteiinterne Patron Der Fachexperte Der populäre Individualist „Feudale Inseln“ der Positionsmacht 232 235 240 242 244 246 248 III.2 Die Organisation von Mehrheiten 251 Mehrheitsorganisation durch einzelne Beziehungen Mehrheitsorganisation durch Gruppenbildung Vom Nutzen Parteiübergreifender Freundschaften Banalisierung und Substanzverlust der Politik 253 254 257 259 9 http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 III.3 Geheime Kommunikationsräume 262 Das Problem mit der Öffentlichkeit Mediendemokratie Intransparenz und fehlerhafte Entscheidungen 266 267 269 III.4 Beratungsräume und Informationsflüsse 273 Informationsflüsse Beratungsräume Komplexitätsanforderungen Zeitstrukturen Der Verlust der Unabhängigkeit 273 277 281 282 284 III.5 Zur Bewältigung des politischen Alltags 287 Schutz in der Auseinandersetzung Persönliche Identifikation und soziale Anerkennung Tranquillitas Animi - „Wohlfühlen“ in der politischen Arbeit Fehlende Privatsphäre und Entfremdung Der Verlust der Unterscheidungsfähigkeit 290 291 293 296 299 IV 302 Zum Konzept politischer Freundschaft Zwischen Institutioneller Trennung und Vernetzung Berufspolitiker aus der Perspektive eines Feld-Habitus-Konzeptes Zum konzeptionellen Mehrwert einer Perspektive politischer Freundschaft Feinde, Freunde und der Sinnhorizont politischer Freundschaft Verpflichtungsmechanismen politischer Freundschaft Typen politischer Freundschaft auf der Grundlage differentieller Balance Persönliche Verpflichtung und feldspezifische Rücksichtslosigkeit Anwendungsbereiche und Handlungsrelevanz politischer Freundschaften Ausblick 302 305 307 308 310 313 314 315 321 Literaturverzeichnis 323 Anhang 341 10 http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 Einleitung Wo ich einen Freund aus der Union im Wahlkampf unterstützen kann, tue ich das gerne und aus Überzeugung. Jetzt habe ich erst einmal Roland Koch versprochen, ihn zu unterstützen. Mit ihm verbindet mich mehr als politische Freundschaft. Wir kennen uns schon sehr lange und haben auch schwierige Entscheidungen gemeinsam getroffen. (Edmund Stoiber nach seinem Rücktritt als Ministerpräsident 2007)1 Es gibt wohl kaum einen Begriff des politischen Sprachgebrauchs, der so häufig verwendet wird und gleichzeitig so unklar ist, wie der des „politischen Freundes“ bzw. der „politischen Freundschaft“. Die Rede von „politischen Freunden“ durchzieht sowohl die mediale Berichterstattung über den professionellen Politikbetrieb als auch die Interviews und Reden von Politikern. Dabei werden mit dem Begriff sehr unterschiedliche Arten von Beziehungen bezeichnet, wie zum Beispiel die Beziehungen zwischen Staatsoberhäuptern im außenpolitischen Bereich, die Beziehungen von Politikern innerhalb von Parteien bzw. innerparteilichen Flügeln und Kreisen, die Beziehungen von Politikern zu außerpolitischen Eliten in Wirtschaft und Gesellschaft oder enge Vertrauensbeziehungen zwischen einzelnen Politikern. Betrachtet man die Verwendungsweisen der Bezeichnungen genauer, entsteht der Eindruck, dass der Begriff der „politischen Freunde“ häufig genug nur eine rhetorische Bedeutung besitzt, die keine reale Abbildung tatsächlicher Beziehungen zwischen politischen Akteuren impliziert. Aufgrund seiner Bedeutungsoffenheit eignet sich der Begriff der „Freundschaft“ sehr gut zur unbestimmten und vagen Andeutung einer wie auch immer gearteten Form von Übereinstimmung oder Zusammenarbeit hinsichtlich eines politischen Themas, oder er dient als Markierung einer politischen Abgrenzungslinie, die den Feinden und Konkurrenten anzeigt, wer im Zweifelsfall zu Hilfe kommt. Insofern scheint die Rede von „politischen Freunden“ nicht mehr zu sein, als eine mehr oder weniger nützliche Redewendung in der öffentlich-medialen Auseinandersetzung. Auch die allseits bekannte und gern zitierte Steigerungsformel „Feind, Todfeind, Parteifreund“ lässt Zweifel an der Existenz politischer Freundschaften aufkommen. Steht hinter dem Begriff „politische Freunde“ also nichts anderes als die zynische Beschreibung einer politischen Gegnerschaft oder eines rein instrumentellen Zweckbündnisses? 1 Vgl. Cicero. Magazin für politische Kultur 12/2007, S. 90 ff. 11 http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 Einer solchen Interpretation stehen wiederum die zahlreichen Ausführungen zur Nutzung persönlicher Beziehungen durch politische Führungsgruppen entgegen, die besonders in Zeiten politischer Skandale diskutiert werden. Hier ist dann von „freundschaftlichen Verflechtungen“, „Freundschaftsdiensten“ und „Ehrenwörtern zwischen Freunden“ die Rede, und nicht selten wird der Eindruck erweckt, politische Entscheidungsprozesse basierten nur auf den persönlichen Netzwerken politischer Akteure, auf der nicht sichtbaren, informellen Hinterbühne des politischen Betriebes. Was ist also unter „politischen Freundschaften“ zu verstehen? Handelt es sich dabei, dem alltäglichen Sprachgebrauch folgend, um private, persönliche Beziehungen? Und wenn ja, wie beeinflussen diese Beziehungen das Verhalten politischer Führungsgruppen? Für die Beschreibung informeller Netzwerke und ihrer Nutzung durch politische Führungsgruppen steht ein umfangreiches und vielfach diffuses Arsenal an Begrifflichkeiten zur Verfügung, wie zum Beispiel: Seilschaften, Filz2, Klüngel,3 Cliquenwirtschaft, Klientelismus, Patronage, Lobbyismus4, informale Politik5 oder Schattenpolitik.6 Wie Kirner (2003: 168) bemerkt, bekunden alle diese Begriffe eine Irritation des emanzipatorischen Selbstverständnisses von Staat und Politik in Abgrenzung von früheren historischen Epochen, deren politische Spielregeln und gebräuchliche Praktiken man durch den rationalen Anstaltsstaat und die moderne rechtsstaatliche Demokratie überwunden glaubt. All diese Begriffe und die damit verbundenen Assoziationen dienen letztlich dazu, die Deformation demokratischer Entscheidungsverfahren durch vormoderne Beziehungsreste zu beklagen, und stehen für das häufig als abweichend interpretierte Verhalten politischer Führungsgruppen, persönliche Beziehungen in strategischer Absicht zu nutzen, statt sich an formalen und rational begründeten Erwartungsstrukturen zu orientieren. Eine solche Sichtweise, die sich besonders in der Forschung zu Parteipatronage, Klientelismus, Korruption oder Transformationsprozessen findet, neigt sehr stark zur Bewertung informeller Beziehungen politischer Akteure als dysfunktional, problembehaftet oder gar kriminell und betrachtet sie als „abweichende Besonderheiten“, die besonders in instabilen politischen Systemen, so genannten „defekten Demokratien“ (Merkel/Croissant 2000), breitere Geltung erlangen. Unterlegt werden solche Bewertungen durch theoretische Annahmen zum Beispiel systemtheoretischer Provenienz. So meint Niklas Luhmann (1994), dass die funktional differenzierten gesellschaftlichen Subsysteme über persönliche Netzwerke auf Kosten der funktionssystemspezifischen Ratio2 3 4 5 6 12 Vgl. Wilker 1998: 80 ff. Vgl. Überall 2007. Vgl. Leif/Speth 2006; Speth 2006; Alemann/Eckert 2006. Vgl. Lauth/Liebert 1999; Köllner 2005. Vgl. Alemann 1994. http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 nalitätschancen kurzgeschlossen werden. Persönliche Netzwerke organisieren auf höchst effektive Weise Unterstützung, ohne zur Legitimität der Institutionen beizutragen, der sie sich bedienen. Formalen Institutionen wird Legitimität entzogen, weil sie der Fähigkeit beraubt werden, selbst für Unterstützung zu sorgen. Da Netzwerke gegenseitiger Gunsterweise auf der Basis dyadischer Beziehungen bzw. persönlicher Vermittler operieren, sind sie relativ ungreifbar und daher auch nicht reformierbar, organisierbar oder zentralisierbar. Selbst Illegalität kann im Netzwerk als Ressource genutzt werden (Baecker 2000). Im Gegensatz zu dieser äußerst kritischen Betrachtungsweise des Einflusses persönlicher Netzwerke politischer Führungsgruppen wird in anderen Bereichen der sozialwissenschaftlichen Forschung (Policyforschung, Steuerungstheorie) die Meinung vertreten, dass der Komplexität moderner Gesellschaften auf der politischen Ebene nur durch die schnelle und unbürokratische Koordination in der „Vormodernität“ unverdächtigen „Policy-Netzwerken“ begegnet werden kann. Darunter versteht man Geflechte einflussreicher Politik-Akteure, die sich in einem sachlich abgrenzbaren Politikfeld bilden. Informale Netzwerke stehen für Schnelligkeit und Effizienz politischer Entscheidungsverfahren, sparen Transaktionskosten und gelten somit als die steuerungstechnische Antwort auf komplexe Fragestellungen und Akteurskonstellationen (Powell 1990; Kenis/Schneider 1991). Sie sind vorrangig positiv besetzt und eine Mitwirkung des politischen Personals steht außer Frage. Auf diese Weise hat sich in den letzten Jahren in den Politikwissenschaften eine regelrechte Netzwerkeuphorie verbreitet, die mit einer generellen Aufwertung des Netzwerkparadigmas in westlichen Gesellschaften in Verbindung steht. Die beiden dargestellten konträren Perspektiven diskutieren den Einfluss persönlicher Beziehungen auf das Handeln politischer Führungsgruppen jeweils vor dem Hintergrund eines normativen Rahmens: Während sich die erste Perspektive an einem Modell bürokratisch-rationalen Fortschritts orientiert wird die zweite Perspektive von den ökonomischen Effizienzkriterien der „projektbasierten Polis“ als gegenwärtiger Ausformung des kapitalistischen Systems dominiert.7 In beiden Fällen bleibt die genaue Beschäftigung mit den jeweils fokussierten „Beziehungsgeflechten“ und den hinter ihrer Nutzung stehenden Handlungslogiken politischer Akteure jedoch weitestgehend aus. Dies verhindert einerseits, sich mit politikbezogenen, interpersonellen Beziehungen politischer Akteure als alltägli7 Die beiden Perspektiven sind zum Teil auch zeitlich zu unterscheiden. Wie Boltanski/Chiapello (2003:191ff.) zeigen, wird der Begriff des Netzes bis in die 1980er Jahre hinein fast ausschließlich zur abwertenden Bezeichnung von Formen heimlicher, illegitimer oder illegaler Beziehungen benutzt, während er heute eher neutral-instrumentell verwendet und als eine effizientere und gerechtere soziale Form dargestellt wird. Diese Verschiebung der Bedeutung des Netz-Begriffs ist sowohl in der Managementliteratur als auch in der soziologischen und politikwissenschaftlichen Literatur zu beobachten. 13 http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 cher Realität auseinanderzusetzen, und verkennt andererseits die von den Strukturen des politischen Systems selbst geschaffenen Zwänge und Widersprüche, denen politische Akteure ausgesetzt sind und mit denen sie sich arrangieren müssen. In diesem Zusammenhang wurden in der Vergangenheit einzelne Forderungen erhoben, die Sozialwissenschaften sollten neutrale Modelle zum analytischen Verständnis politikrelevanter interpersonaler Beziehungen entwickeln, die weder einer „moralisierenden Korruptionssemantik“ (Kirner 2003) noch einer netzwerkorientierten Steuerungseuphorie verfallen. Mit der vorliegenden Arbeit möchte ich diese Forderung aufgreifen und den Versuch unternehmen, über eine empirische Untersuchung bei Mitgliedern des Deutschen Bundestages Erklärungsmuster für das Phänomen der Nutzung persönlicher Beziehungen innerhalb politischer Führungsgruppen zu entwickeln. Das Ziel der Untersuchung ist es, einen Beitrag zum besseren Verständnis der Verhaltens- und Handlungsweisen politischer Führungsgruppen zu leisten. Der zentrale Ausgangspunkt dieser Arbeit ist dabei der Begriff der „politischen Freundschaft“. Damit wird einerseits, wie oben ausgeführt, die Verankerung des Begriffs in der Alltagssprache politischer Akteure aufgegriffen und andererseits eine gewisse Tradition des Freundschaftsbegriffs in der politischen Theorie weiterverfolgt. Sowohl die Alltagsprache als auch die politische Ideengeschichte geben uns somit einen Begriff vor, dessen Ambivalenz und Widersprüchlichkeit bereits Rückschlüsse auf das Wesen des damit bezeichneten Phänomens zulassen und der in dieser Arbeit für die Analyse der Bedeutung persönlicher Netzwerke für politische Führungsgruppen fruchtbar gemacht werden soll. Nach unserem heutigen Verständnis schließen sich die Begriffe „Politik“ und „Freundschaft“ auf den ersten Blick gegenseitig aus. Während „Politik“ das professionalisierte, unpersönliche, öffentliche System der Herstellung bindender Entscheidungen meint, dominiert ein Begriffsverständnis von „Freundschaft“ als einer in freiwilliger Gegenseitigkeit konstruierten, symmetrischen, dyadischen, persönlichen Privatbeziehung zwischen Nicht-Verwandten, die sich durch Intimität und emotionale Nähe auszeichnet (Nötzoldt-Linden 1994, Auhagen 1991). Mit den beiden Begriffen werden demnach zwei entgegengesetzte Sphären verbunden: der öffentliche Handlungsbereich und der private Handlungsbereich. Gleichzeitig steht der Begriff der „Politik“ für die politische Auseinandersetzung und die Konkurrenz um Machtpositionen, während der Begriff der „Freundschaft“ ein positiv bewertetes Zusammenwirken impliziert, das frei von Konkurrenz ist. Behält man diese gegensätzlichen Begriffsbedeutungen bei, so erscheinen „politische Freundschaften“ als ein höchst unwahrscheinliches Phänomen, was rationalen Überlegungen widerspricht. Grundsätzlich lassen sich zwei unterschiedliche Sichtweisen auf den Begriff „politische Freundschaft“ entwickeln, je nachdem, ob sie sich eher über den Begriff des „Politischen“ nähern oder über den Begriff der „Freundschaft“. Nehmen 14 http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 wir zunächst das „Politische“ zum Ausgangspunkt der Überlegungen: Für gewöhnlich bezeichnet man Dinge und Sachverhalte als politisch, wenn sie sich auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung beziehen. In diesem Zusammenhang können politische Freundschaften im Sinne politischer Übereinstimmung verstanden werden bzw. als das solidarische Zusammenwirken von Akteuren bezüglich der Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung. Genau dies ist das Verständnis, mit dem Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik als erster den Begriff der „politischen Freundschaft“ (politike philia) verwendet. Der Begriff steht hier für politische Übereinstimmung oder politische Eintracht, also für die Möglichkeit, dass alle Bürger eines Gemeinwesens im politischen Sinne Freunde sind und in Gemeinschaftsinstitutionen investieren. In dieser Tradition wird politische Freundschaft besonders in der politischen Theorie bis heute als „civic friendship“ diskutiert (Derrida 2002, Schwarzenbach 1996) und in einzelnen Beiträgen (z.B. Krippendorf 2002) gar als die Grundlage des Politischen selbst angesehen. Teilweise haben diese Vorstellungen auch Eingang in die Alltagssprache gefunden, etwa wenn sich Mitglieder von Parteien untereinander als politische Freunde bezeichnen, um damit auszudrücken, dass sie in ihren politischen Zielen und Interessen übereinstimmen, oder aber wenn sich Staatsoberhäupter auf internationaler Ebene der gegenseitigen Freundschaft ihrer Völker versichern. Noch weitergehender könnten sich sogar all diejenigen, die die Demokratie als Staatsform anerkennen, in Anbetracht dieser Übereinstimmung als politische Freunde bezeichnen. Wie man sieht, wird politische Freundschaft hier als Metapher benutzt, um ein positives, einander zugewandetes, kooperatives Verhältnis auszudrücken und Feindschaft auszuschließen. Eine persönliche Bekanntschaft wird dabei nicht vorausgesetzt, vielmehr wird gar vom konkreten Status einer Person abstrahiert. Hannah Arendt umschreibt dies mit dem Begriff „Respekt“: Der Respekt ist wie die Aristotelische phila politikè eine Art „politischer Freundschaft“, die der Nähe und Intimität nicht bedarf; er drückt die Achtung vor der Person aus, die aber in diesem Fall aus der Entfernung gesehen ist, welche der weltliche Raum zwischen uns legt, wobei diese Achtung ganz unabhängig ist von Eigenschaften der Person, die wir bewundern mögen, oder von Leistungen, die wir hochschätzen. (Arendt 1967: 310) Im übertragenen Sinne können mit dem Begriff der „politischen Freundschaft“ damit auch Verhältnisse auf ganz unterschiedlichen Ebenen des Sozialen (auf individueller Ebene, Gruppenebene, Organisationsebene oder der Ebene von Staaten) bezeichnet werden. Die zweite Sichtweise nähert sich der „politischen Freundschaft“ vom Begriff der „Freundschaft“ und versteht diese als eine Variation des allgemeinen Phänomens „Freundschaft“, verstanden als eine soziale Bindung, die heute vor allem als persönliche Beziehung verstanden wird. In der Regel verwenden wir die Verbindung von Adjektiv und Substantiv, um das Substantiv genauer zu bestimmen, 15 http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 um ihm eine bestimmte Qualität zuzuweisen oder eine kontextuelle Einbettung zu verdeutlichen. Wir sprechen etwa von dem „einen“ Freund, von wahren Freunden, von nützlichen Freunden usw. Auch zusammengesetzte Wörter wie Jugendfreundschaften, Schulfreundschaften oder Männerfreundschaften sind üblich, um das allgemeine Phänomen Freundschaft genauer zu bestimmen. Legt man eine solche Perspektive zugrunde, so stehen „politische Freundschaften“ für eine spezifische Art von Freundschaften: Freundschaften, die sich im Kontext der Politik entwickeln und ihren Sinn aus diesem Kontext herleiten. Politische Freundschaften, so verstanden als persönliche Netzwerke interpersonaler Beziehungen in der Politik, scheinen demnach spezifische Qualitäten zu haben, die sich von den üblichen Eigenschaften von Freundschaftsbeziehungen unterscheiden und sich letztlich als Resultat des politischen Verhaltens betrachten lassen. Diese Perspektive soll in der vorliegenden Arbeit weiter verfolgt werden, durchaus in dem Bewusstsein, dass es sich nicht um den einzigen möglichen Zugang zum Phänomen der „politischen Freundschaft“ handelt. Die Argumentation, die ich in dieser Arbeit entwickeln möchte, folgt der zentralen These, dass politische Freundschaften ein elementares Machtmittel politischer Führungsgruppen sind und ein Reservoir nützlicher Praktiken beinhalten, das sich über die Jahrhunderte sedimentiert hat. In jeder historischen Epoche lassen sich politische Führungsgruppen ausmachen – Menschen, die aufgrund unterschiedlicher Legitimationen die Steuerung, Führung und Leitung eines wie auch immer gearteten Verbandes oder politischen Gemeinwesens (Stamm, Dorf, Stadt, Land) übernommen oder beansprucht haben. Diese Führungsgruppen waren immer in Kreise dauerhafter sozialer Beziehungen und Bindungen eingebunden, welche als Unterstützungssysteme im Kampf um politische Macht eingesetzt wurden. Man kann diese Kreise als personenzentrierte Netzwerke von Vertrauten und Unterstützern verstehen, die einen Hintergrundraum des politischen Handelns formieren und unterschiedliche Funktionen erfüllen, wie zum Beispiel Beratung zu ermöglichen, strategische Unterstützung zu gewährleisten, aber auch für eine psychische Entlastung und Alltagsbewältigung zu sorgen. Die Gründe solcher persönlichen Netzwerke sind somit zum einen in politischstrukturellen Notwendigkeiten, zum anderen in sozialen Bedürfnissen zu suchen. Diese Beziehungs- und Bindungsmomente wurden schon sehr früh mit dem Begriff der „Freundschaft“ beschrieben, freilich mit einer spezifisch politischen Konnotation. Mit politischen Freundschaften verbundene Handlungsweisen, wie die gegenseitige Hilfe oder der Schutz, galten lange als Ausdruck tugendhaften Verhaltens politischer Führungsgruppen und waren selbstverständlicher Bestandteil politischen Handelns. Erst mit der Entstehung moderner Staatlichkeit und der Trennung des Staatsmenschen im öffentlichen Amt vom Privatmenschen setzte sich eine Perspektive durch, die diese Beziehungen und Praktiken in den Bereich des Privaten, Informellen und nicht zuletzt der Korruption abdrängte (Vowinckel 16 http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 1995). Betrachtet man politische Freundschaften auf diese Weise als elementares Machtmittel oder Sozialkapital, dann heißt dies jedoch, von romantischen Freundschaftsvorstellungen, dem „Verschmelzen zweier Seelen“, wie Montaigne (1999: 90) es formuliert, Abstand zu nehmen. Politische Freundschaften erschöpfen sich nicht in „privaten“, dyadisch strukturierten Freundschaften zwischen Mitgliedern politischer Führungsgruppen, die allein aufgrund der Rolle der Beteiligten als politisch anzusehen sind. Vielmehr sind mit dem Begriff eigene Beziehungsformen und Praktiken verbunden, die in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Politischen selbst stehen – nämlich der Erlangung von Zustimmung eines Zweiten, um den eigenen Willen auch gegen den Widerstand Dritter durchzusetzen (Hitzler 2001: 47). Auf dieser Grundlage sollen all diejenigen dauerhaften, reziproken, persönlichen Beziehungen und Bindungen als politische Freundschaften bezeichnet werden, die als Mittel in der politischen Auseinandersetzung eingesetzt werden bzw. dazu benutzt werden, Machtpotentiale und damit Handlungsmöglichkeiten zu vergrößern bzw. zu erhalten. Im Sinne der Aristotelischen Freundschaftstypisierung8 sind politische Freundschaften somit schon definitorisch immer Zweckfreundschaften, da sie der Verwirklichung des Zwecks eines Machterwerbs, der Machtsteigerung und des Machterhaltes dienen. Politische Freundschaften werden hier als elementare Phänomene auf der Handlungsebene politischer Führungsgruppen betrachtet, die ihren Sinn aus der Grundlage des Politischen selbst beziehen und auch unter den heutigen politischen Bedingungen in westlichen Demokratien noch eine große Rolle spielen. Fragestellung Ausgehend von der Grundthese, dass politische Freundschaften als elementare Machtmittel auf der Handlungsebene politischer Führungsgruppen gelten können, werden in der vorliegenden Arbeit die politikbezogenen interpersonalen Beziehungen deutscher Bundestagsabgeordneter untersucht. Zwei zentrale Fragestellungen leiten dabei die Untersuchung, erstens: Wie werden politische Freundschaften aus der Sicht von Bundestagsabgeordneten beschrieben? und zweitens: Welche Bedeutung haben politische Freundschaften für das Handeln von Bundestagsabgeordneten? Das Ziel der Untersuchung ist es, eine empirisch begründete Theorie „politischer Freundschaft“ zu entwickeln und verschiedene Typen „politischer Freundschaften“ zu unterscheiden. Da es sich bei dem Untersuchungsgegenstand um ein relativ unerforschtes Phänomen handelt, wurde ein 8 Aristoteles (1991: NE 1156) unterscheidet zwischen selbstzwecklichen „wahren Freundschaften“ und Zweckfreundschaften, die um des Nutzens oder der Lust willen eingegangen werden. 17 http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 qualitatives Vorgehen gewählt, das sich an der Forschungsstrategie der Grounded Theory nach Barney Glaser und Anselm Strauss (1967/1998) orientiert. Entlang eines Stichprobenplans, der dem Prinzip der größtmöglichen Kontrastierung folgt, wurden insgesamt siebzehn problemzentrierte Interviews mit Bundestagsabgeordneten sowie zwei Interviews mit Experten durchgeführt. Diese Interviewtexte sowie vier weitere Sekundärinterviews wurden anschließend nach der Methode des theoretischen Kodierens ausgewertet. Rahmenkonzept Als theoretisches Rahmenkonzept der Untersuchung hat sich im Zuge der ersten Felderfahrungen und Auswertungsschritte Pierre Bourdieus Konzept des politischen Feldes angeboten. Bourdieu (2001: 41) charakterisiert das politische Feld als eine kleine, relativ autonome soziale Welt innerhalb der großen sozialen Welt, in der sich viele Eigenschaften, Beziehungen, Handlungen und Prozesse finden lassen, die auch in der sozialen Welt vorhanden sind, hier jedoch eine besondere Form annehmen. Beim Phänomen „politischer Freundschaft“, der Nutzung persönlicher Beziehungen zu politischen Zwecken, scheint es sich um ein solch besonderes, aus den Strukturen des Feldes herzuleitendes Phänomen zu handeln. Freundschaften nehmen im politischen Feld eine spezifische Form an, die als „politische Freundschaft“ beschrieben werden kann. In diesem Zusammenhang lässt sich ein zweite These formulieren: Die Entstehung, Führung und Nutzung derartiger politischer Freundschaften können als Teil jener Praktiken und Handlungsweisen gelten, die durch die weitgehend selbstverständliche und unhinterfragte Anerkennung der Spielregeln des Feldes hervorgebracht werden: die „illusio, jenes verzauberte Verhältnis zum Spiel“, das die Personen entwickeln, die sich in das Feld hineinbegeben (Bourdieu 1998: 141). Das heißt, im Zuge ihrer professionellen Karriere erwerben politische Führungsgruppen einen spezifischen Sinn für das politische Spiel (Praxissinn), der es ihnen erlaubt, sich „normal“, d.h. feldangemessen zu verhalten. Ein wichtiger Bestandteil dieses Praxissinns ist die spezifische Fähigkeit der Etablierung und Nutzung politischer Freundschaften. Damit ist sowohl der gezielte Aufbau politischer Freundschaften gemeint, als auch die Verwandlung bereits existierender persönlicher Beziehungen bzw. deren Nutzung im Sinne politischer Freundschaft.9 9 18 In dieser Sichtweise ist es unerheblich, ob eine Beziehung direkt zur Verfolgung politischer Zwecke begründet wurde oder aus anderen Gründen existiert, denn selbst eine rein „private“, emotionale Freundschaft kann aufgrund des tätigen Austauschs der Beteiligten dazu führen, dass sich Macht- und Durchsetzungspotentiale erhöhen. http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 Wie ich zeigen möchte, lassen sich Praktiken politischer Freundschaft letztlich originär aus den durch die Akteure wahrgenommenen Strukturen des politischen Feldes herleiten bzw. aus den Problemen und Ungewissheitszonen der strukturellen Bedingungen, mit denen ein praktischer Umgang gefunden werden muss. Welche Bedeutung politische Freundschaften für die Verhaltens- und Handlungsweisen politischer Führungsgruppen haben, hängt demnach wesentlich von den formalen und kulturellen Strukturen des politischen Systems ab. Als Opportunitätsstrukturen bieten sie unterschiedliche Chancen dafür, inwiefern und inwieweit interpersonale Beziehungen und Bindungen als Machtmittel eine Wirkung entfalten und zur Verbesserung von Handlungsmöglichkeiten führen können. Für eine Analyse politischer Freundschaft ist es daher notwendig, ein genaues Bild der Strukturen bzw. von deren Wahrnehmung durch die Akteure herauszuarbeiten. Der Konzeptualisierung des Phänomens „Freundschaft“ bei Schinkel (2003) folgend, ist es dabei notwendig, zwischen einem historisch und kulturell variablen „Sinnhorizont Freundschaft“ und „konkreten Beziehungen“ als eigenständigen sozialen Wirklichkeiten zu unterscheiden. Aus diesem Grund werden die konkreten interpersonalen Beziehungen politischer Führungsgruppen (politische Freundschaften) und der im politischen Praxissinn verankerte Sinnhorizont (politische Freundschaft) getrennt analysiert. Der Deutsche Bundestag als Untersuchungsfeld Während bislang allgemein von politischen Führungsgruppen und dem politischen Feld gesprochen wurde, so erhält diese Ausrichtung eine genauere Fokussierung durch die Spezifizierung des Untersuchungsfeldes, anhand dessen die Forschungsfragen beantwortet werden sollen. Als Untersuchungsfeld wurde der Deutsche Bundestag ausgewählt und als Untersuchungsgruppe Bundestagsabgeordnete. Zur Begründung dieser Auswahl sind zunächst einige Bemerkungen zum bereits verwendeten Begriff „politische Führungsgruppen“ notwendig. Führung10 ist ein in hohem Maße interpersonell determinierter Prozess11 und impliziert ein Machtverhältnis, welches durchgesetzt werden muss: „Der Zwang zur Führung ist die Pflicht zur Macht“ (Plessner 1981: 121). Bezieht sich dieses Machtverhältnis von Führung und Gefolgschaft auf einen politischen Verband, 10 11 Barbara Kellerman (1984: 70) definiert Führung als „process by which one individual consistently exerts more impact than others on the nature and direction of group activity.“ Wie Paris (2003: 58) ausführt, ist Führung ein Handlungsbegriff – ein aktives Tun: Der Führer ist immer eine reale Person, die unmittelbar im Hier und Jetzt agiert und für sich und andere Wirklichkeit setzt. Zur Führung muss man sich entschließen, und trotzdem wird die Frage, ob man führt, von denen beantwortet, die sich anschließen. Führen und Folgen, Führende und Folgende bzw. Gefolgschaft gehört immer zusammen. 19 http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 so kann von politischer Führung12 gesprochen werden. Als politische Führungsgruppen können somit jene Personengruppen gelten, die mit der Leitung eines politischen Verbandes befasst sind. Dabei hängt es vom Typus des Führungssystems des politischen Verbandes ab, welche gesellschaftlichen Gruppen an der Führungsauslese und damit an der politischen Führung beteiligt sind. Die typische Organisationsform moderner Staaten, auf welche diese Untersuchung zielt, beinhaltet eine institutionelle Gewaltenteilung (checks and balances) zwischen Legislative, Exekutive, Judikative und damit auch eine Aufspaltung der politischen Führung in Gesetzgebung und Gesetzesvollzug. Des Weiteren sind moderne Staaten in der Regel als Demokratien organisiert, was bedeutet, dass die Legitimität politischer Führung durch demokratische Wahlverfahren sichergestellt wird und der Führungsstatus politischer Führungsgruppen im Idealfall von gewonnenen Wahlgängen abhängig ist. Die politische Macht in parlamentarisch-demokratischen Systemen ist somit legitimiert, geteilt und zeitlich begrenzt (Paris 2005: 47). Darüber hinaus unterliegt sie immer dem Anspruch, nicht dem Selbstzweck, sondern als Mittel der Herstellung gesellschaftlicher Ordnung zu dienen, und ist somit als Gestaltungs- oder Steuerungsmacht aufzufassen. Hinsichtlich einer wissenschaftlichen Beschreibung politischer Führungsgruppen unter diesen Kontextbedingungen sind zwei Aspekte wesentlich: Zum einen sind im Prozess zunehmender Differenzierung moderner Gesellschaften die einzelnen gesellschaftlichen Sphären auseinandergetreten, und es haben sich Systeme eigener Art konstituiert (Wirtschaft, Kultur, Politik u.a.), die spezifische Steuerungsformen und Steuerungserfordernisse sowie eigene Handlungslogiken beinhalten. Angesichts dieser Differenzierungsprozesse und der damit einhergehenden Problemkomplexität kommt dem politischen System und mit ihm politischen Führungsgruppen die Aufgabe einer effizienten Steuerung der verschiedenen teilautonomen Subsysteme zu. Mit Weßels (1992: 543) können wir dies den „funktionalen Aspekt“ der Beschreibung politischer Führungsgruppen nennen. Zum anderen hat sich in modernen Demokratien der Typus des Berufspolitikers durchgesetzt, der im Weber’schen Sinne „von der Politik lebt“.13 Nur unter der Bedingung, dass Politiker von ihrer Tätigkeit leben können, lassen sich auf den 12 13 20 „Politik meint die Leitung oder die Beeinflussung der Leitung eines politischen Verbandes, heute also eines Staates.“ (Weber 1992: 5). Für Max Weber gibt es zwei Arten, Politik zum Beruf zu machen. Entweder man lebt „für“ die Politik oder aber „von der Politik“, wobei er diesen Gegensatz im ideellen Sinne nicht als einen exklusiven verstanden wissen will, sondern auf die ökonomische Seite zielt: „Von“ der Politik als Beruf lebt man, wenn man daraus eine dauerhafte Einnahmequelle macht, wie es für heutige Politiker typisch ist. „Für“ die Politik lebt derjenige, der kein Einkommen daraus bezieht, wie beispielsweise die klassischen Honoratioren, die über genügend Eigenmittel verfügen. Würden politische Führungspositionen ausschließlich mit Honoratioren besetzt, liefe das auf eine „plutokratische Rekrutierung“ hinaus, die demokratischen Prinzipien widerspräche. http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 Prinzipien der freien und gleichen Wahl basierende Rekrutierungen umsetzen. Gleichzeitig bietet das Einkommen einen Anreiz, den prinzipiell unsicheren Beruf des Politikers einem sicheren Beruf im außerpolitischen Bereich vorzuziehen. Je mehr sich nun die Politik als eigenes Subsystem konstituierte und gleichzeitig das moderne Parteiwesen entstand, welches fast vollständig für die Rekrutierung politischer Führungsgruppen zuständig war, um so mehr professionalisierten sich auch die Karrierewege in die Politik. Der Werdegang politischer Führungsgruppen gleicht heute daher immer mehr einer beruflichen Karriere. Für die Bundesrepublik Deutschland hat besonders Dietrich Herzog (1975) diese Karrieren untersucht und festgestellt, dass die Führungsauswahl überwiegend in langfristigen, kontinuierlichen Karrieren erfolgt und Spitzenpositionen nur über bestimmte Laufbahnen erreicht werden. Nach Bernhard Weßels (1992: 543) zeichnen sich moderne politische Führungsgruppen deshalb besonders dadurch aus, „dass ein bestimmter Weg in die Politik beschritten wurde und dass dieser Weg in Ämter geführt hat, die politische Entscheidungsmacht beinhalten.“ Aufgrund der starken Stellung der Parteien in Deutschland kommt diesen bei einer derartigen Karrierisierung der Rekrutierung politischen Führungspersonals eine herausragende Rolle zu, was vielfach mit der Rede vom „Parteienstaat“ (Beyme 1993, Scheuch 1992) ausgedrückt wird. In jedem Fall stehen diese Prozesse der Professionalisierung und Karrierisierung als gemeinsame biographische Aspekte neben den geschilderten funktionalen Aspekten im Zentrum der Beschreibung heutiger politischer Führungsgruppen. Der deutsche Bundestag ist insofern für eine Untersuchung der informellen Beziehungen politischer Führungsgruppen gut geeignet, da er eine zentrale Bedeutung im politischen System Deutschlands hat, die sich sowohl aus der Aufgabenstruktur als auch aus der Position des Bundestages als Ziel- und Ausgangspunkt politischer Karrieren und „Kristallisationspunkt“ der politischen Klasse ableiten lässt (Borchert/Golsch 1995). Nach allgemeiner Auffassung zählen die Mitglieder des Deutschen Bundestags zum Kern politischer Führungsgruppen in Deutschland. Zudem ergeben sich aus der institutionellen Struktur des Bundestages vielfältige Zugänge und Anschlüsse zu allen anderen Institutionen des politischen Feldes, wie der Regierung, den Parteien, der Landes- und Kommunalpolitik sowie den auf das Feld einwirkenden Umwelten wie den Massenmedien, Interessengruppen und wissenschaftlichen Experten. Die Fokussierung auf den Bundestag versprach daher - anders als eine mögliche Eingrenzung des Forschungsschwerpunktes auf persönliche Beziehungen prominenter Spitzenpolitiker oder männerbündische Formen von Freundschaft -, das gesamte Spektrum möglicher Beziehungskonstellationen des politischen Feldes in Deutschland abzubilden. Bei den gewonnenen Ergebnissen und daraus abgeleiteten theoretischen Aussagen handelt es sich demnach um Bestandteile einer materialen (be- 21 http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 reichsbezogenen) Theorie, die immer auf ihren Gegenstand, den deutschen Bundestag, bezogen bleibt. Aufbau des Buches Das Buch ist in drei Teile gegliedert, die jeweils unterschiedlichen Forschungsinteressen folgen. Im ersten Teil werden die theoretischen Grundlagen für den Untersuchungsgegenstand dargestellt. Das Kapitel I.1 beginnt mit einer historischen Spurensuche zum Phänomen der „politischen Freundschaft“ und zeigt, wie sich in den verschiedenen historischen Epochen Beziehungsformen politischer Führungsgruppen und Freundschaftsbegriffe zueinander verhielten. Die Analyse wird dabei von der Frage geleitet, welche konstitutiven Elemente eines Sinnhorizonts „politischer Freundschaft“ sich finden lassen. Im darauf folgenden Kapitel I.2 wird die oben angeschnittene Gegenüberstellung von zwei unterschiedlichen, wissenschaftlichen Perspektiven zum Einfluss informeller Beziehungen auf das Handeln politischer Führungsgruppen aufgegriffen und vertiefend behandelt. Ausgehend von organisationssoziologischen Konzepten zu informellen Beziehungen innerhalb formaler Organisation über die Beiträge der Klientelismusund Korruptionsforschung, Transformationsforschung, Regierungslehre und Steuerungstheorie wird ein Bogen bis zur Parlamentarismusforschung gespannt und die jeweiligen Konzeptualisierungs- und Problematisierungsversuche dargestellt. Ausgehend von der Kritik bisheriger Konzeptualisierungen informeller Beziehungen politischer Führungsgruppen wird im Kapitel I.3 das Boudieu’sche Konzept des politischen Feldes als Rahmenkonzept der Untersuchung eingeführt, um im Anschluss die Anlage der empirischen Untersuchung zu präzisieren und die verwendeten Forschungsmethoden vorzustellen. Der zweite Teil der Arbeit wird von der Fragestellung geleitet, wie politische Freundschaften von Bundestagsabgeordneten beschrieben werden können. In diesem Zusammenhang werden die empirischen Ergebnisse vorgestellt, wobei das politikbezogene Netzwerk interpersonaler Beziehungen der Abgeordneten den Ausgangspunkt darstellt. Kapitel II.1 beschreibt die Entwicklung zentraler Denk- und Verhaltensstrukturen, die sich Abgeordnete im Zuge ihrer professionellen Sozialisation angeeignet haben, und geht bereits auf den Zusammenhang dieses Praxissinns mit den von den Akteuren wahrgenommenen institutionellen Strukturen des Bundestages im Speziellen und des politischen Feldes im Allgemeinen ein. Im darauf folgenden Kapitel II.2 werden auf der Grundlage von Erzählungen der Abgeordneten über Krisen und Abbrüche freundschaftlicher Beziehungen die Verhaltensnormen ermittelt, die sie diesen Beziehungen zugrunde legen und die einen Sinnhorizont „politischer Freundschaft“ formieren. Da sich dieser Sinnhorizont letztlich aus der Wahrnehmung des politischen Feldes durch 22 http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 die Akteure ergibt, werden im Kapitel II.3 die konkreten Beziehungen, die sich als politische Freundschaften verstehen lassen, im Kontext der politischen Karriere der Abgeordneten untersucht. Unter anderem diese Analyse ist dann die Voraussetzung dafür, in Kapitel II.4 die zentrale Schlüsselkategorie der Untersuchung, das Spannungsverhältnis zwischen formalen Erwartungen und praktischer Logik und die daraus resultierende differentielle Balance zwischen Rollenverhältnis und persönlicher Beziehung vorzustellen, anhand derer sich drei verschiedene Typen politischer Freundschaften unterscheiden lassen. Diese Typen werden anhand verschiedener Kategorien genauer charakterisiert. In dem diesen zweiten Teil abschließenden Kapitel II.5 steht der Umgang mit und in Freundschaften unter dem Titel „Das Spiel mit der Freundschaft“ im Mittelpunkt. Damit sind Praktiken der strategischen Annäherung und Zurückweisung gemeint, die auf drei verschiedenen Ebenen beschrieben werden: erstens auf der Ebene zwischenmenschlicher Nähe und Distanz, zweitens auf der räumlichen Ebene und drittens auf der sprachlichen Ebene als Spiel mit Freundschaftsbegriffen. Der dritte und letzte Teil behandelt dann die Frage, welche Bedeutung politische Freundschaften für das Handeln der Bundestagsabgeordneten haben. Unter Berücksichtigung der drei zuvor entwickelten Typen politischer Freundschaften werden jeweils Praktiken der Anwendung und Nutzung der Beziehungen vorgestellt sowie die Grenzen und Nebenfolgen der Anwendung politischer Freundschaften diskutiert. Dieser dritte Teil gliedert sich entlang der Handlungsbereiche, in denen politische Freundschaften genutzt werden. Kapitel III.1 geht auf die Erlangung, Sicherung und Erweiterung von Positionsmacht ein, dem zentralen Anwendungsbereich politischer Freundschaften. Hierfür werden vier unterschiedliche Strategien der Akkumulation von Positionsmacht und daraus resultierende Politikertypen dargestellt. Kapitel III.2 widmet sich dann dem Handlungsbereich der Sachpolitik bzw. der Rolle von Praktiken politischer Freundschaft im Prozess der Durchsetzung politischer Gestaltungsentwürfe und verdeutlicht die Notwendigkeit politischer Freundschaften vor dem Hintergrund der alltäglichen Aufgabe der Organisation von Mehrheiten. Das Kapitel III.3 stellt die Rolle politischer Freundschaften als „geheime Kommunikationsräume“ in den Mittelpunkt und geht auf die Probleme ein, die sich für die Abgeordneten aus einer umfassenden Öffentlichkeit ergeben. Kapitel III.4 schließt daran an und fokussiert den Bereich der Informationserlangung und Beratung, der sich mit dem Problem der Sach- und Prozesskomplexität moderner Politik verknüpft. Politische Freundschaften wirken in diesem Bereich sowohl beschleunigend was den Informationstransfer angeht als auch entschleunigend hinsichtlich der Meinungsbildung und Beratung. Kapitel III.5 zeigt dann wiederum eine ganz andere Seite und verdeutlicht den Wert politischer Freundschaften als Praktiken der Alltagsbewältigung und Form sozialer Anerkennung und Zugehörigkeit angesichts einer fehlenden Privatsphäre. Das abschließende Kapitel IV „Zum Konzept poli23 http://www.nomos-shop.de/Leuschner-Politische-Freundschaften/productview.aspx?product=12914 tischer Freundschaft“ bündelt noch einmal die zentralen Argumente des Buches und bietet einen Ausblick auf weitere Forschungsfragen, die sich aus dieser Untersuchung ergeben. 24