Arbeitsblatt 107 Intersexualität – Leben zwischen den Geschlechtern Am Anfang seines Lebens ist jeder Mensch Die Entwicklung des biologischen Ge- zweigeschlechtlich: Beim Embryo sind bis zur schlechts ist auch, aber nicht nur abhängig von fünften Schwangerschaftswoche die Keimdrü- den Chromosomen (XX-Chromosom bzw. sen und inneren Geschlechtsanlagen gleich, XY-Chromosom). Vielmehr spielen hier auch bis zur neunten Schwangerschaftswoche auch Gene, Gonaden (Keimdrüsen), vorgeburtliche die Genitale. Ein XY-Chromosomenpaar sorgt Sexualhormonmechanismen, Reproduktions- für XX- organe und äußere Geschlechtsorgane, Ge- Chromosomenpaar eine weibliche Entwick- hirnregionen und Sexualhormone eine Rolle. lung. Diese biologischen Ursachen sind aber auch eine männliche, ein Nur wenige Menschen wissen von der mitentscheidend dafür, wie eine Person sich Existenz intersexueller Personen – Menschen, (als Mann oder Frau) fühlt, erlebt, sich sexuell die körperlich weder eindeutig Mann noch verhält und sich zu Männern oder Frauen hin- eindeutig Frau sind. Fremd sind dem ‚norma- gezogen fühlt. In den letzten Jahren werden len‘ Menschen Gefühle und Körperempfinden jedoch 40% der geschlechtlichen Fehlbildun- intersexueller Menschen. gen ursächlich in Zusammenhang gebracht mit Umweltverschmutzung (Weichmacher in Die Entstehung des Geschlechts, sein Vorhandensein, sein Aussehen und seine biologischen Substanzen (v.a. Hormone) verdan- Plastikartikeln, hormonhaltige Medikamentenrückstände im Grundwasser und damit in der Nahrungskette). ken sich vielen hochkomplexen Prozessen beim ungeborenen Kind wie auch in den ers- Das biologische Geschlecht setzt sich aus ten Lebensjahren bis zur Pubertät. Diese bio- folgenden Elementen zusammen: logischen Prozesse wirken sich auch auf das (1) Chromosomales Geschlecht (XX / XY- Erleben und auf das Verhalten eines Menschen aus, sind also auch beteiligt an der Ausbildung der individuellen Geschlechtsrolle, der Gefühle, der Geschlechtsidentität, der sexuellen Identität und der sexuellen Orientierung. Chromosom) (2) Gonadales Geschlecht (Keimdrüsen: Eierstöcke / Hoden) (3) Hormonelles Geschlecht (Östrogene / Androgene) (4) Inneres genitales Geschlecht (Vagina, Uterus, Eileiter / Prostata, Samenleiter) Arbeitsblatt 107 – Intersexualität. Leben zwischen den Geschlechtern © MMMag. Dr. Christoph Thoma Anselm-von-Canterbury-Akademie für Christliche Philosophie und Katholische Theologie (www.Anselm-von-Canterbury-Akademie.at Seite | 1 (5) Äußeres genitales Geschlecht (Klitoris, Komplette (CAIS) und partielle (PAIS) An- kleine und große Schamlippen / Penis, drogenresistenz: Diese Störung ist die häu- Hodensack) figste Ursache der Intersexualität bei Personen mit einem XY-Chromosomensatz. Sie besteht Medizinische Definition der Intersexualität darin, dass die männlichen Geschlechtshor- ‚Intersexualität‘ bezeichnet in der Medizin mone (Androgene, also Testosteron und Di…) eine Störung bzw. Besonderheit der Ge- nicht wirken können, da sie sich nicht mit den schlechtsentwicklung: Nicht alle biologischen Rezeptoren ihrer Zielzellen verbinden können. Merkmale, die bestimmen d sind für das bio- Da die in der frühen Embryonalzeit stattfin- logische Geschlecht eines Menschen, können dende männliche Genitalentwicklung nur bei eindeutig einem der beiden Geschlechter normal wirkenden Androgenen stattfinden (männlich/weiblich) zugeordnet werden. Be- kann, kommt es bei kompletter Androgenre- troffen ist von dieser Undifferenziertheit pro sistenz zu vollständig weiblichen Genitalen 2000 Geburten ein Mensch. (trotz männlichem Chromosomensatz), be- Formen der Intersexualität merkt wird sie oft erst in der Pubertät (Ausbleiben der Menstruation).Bei partieller An- Androgenitales Syndrom: Diese Störung der drogenresistenz reicht das äußere Erschei- Nebennierenfunktionen ist die häufigste Ursa- nungsbild von fast komplett weiblichen Geni- che der Intersexualität bei Personen mit einem talaussehen bist zum fast komplett männlichen XX-Chromosomensatz. Sie besteht in einem Genitalaussehen. genetisch verursachten Enzymmangel, der jedoch nur bei Mädchen zu genitalen Auffälligkeiten führt. Die Nebenniere bildet zu viel männliche Sexualhormone, wodurch es zu einer Vermännlichung des weiblichen Genitals kommt (Klitorishypertrophie, in schwerwiegenden Fällen intersexuelles oder komplett männliches Genital). Zugleich bildet die Nebenniere zu wenig Korisol und/oder Aldosteron, so dass es u.a. zu einer Störung des Salzund Wasserhaushaltes kommt. Betroffene Kinder werden zumeist als Mädchen aufgezogen. Weitere Formen: Störungen der Androgenbiosynthese, Gonadendysgenesien (Gemischte Gonadendysgenesie, Hermaphroditismus verus) Behandlungsrichtlinien bei Intersexualität Bereits in der Antike war Intersexualität bekannt. Medizinisch blieb Intersexualität lange Zeit unerforscht, in Europa galten dann zumeist kirchenrechtliche Regeln: Die intersexuelle Person soll selbst entscheiden, ob er als Mann oder Frau leben will. Nur in Streitfällen hatten die damaligen Ärzte über das ‚wahre‘ Geschlecht zu entscheiden. In Frankreich Arbeitsblatt 107 – Intersexualität. Leben zwischen den Geschlechtern © MMMag. Dr. Christoph Thoma Anselm-von-Canterbury-Akademie für Christliche Philosophie und Katholische Theologie (www.Anselm-von-Canterbury-Akademie.at Seite | 2 blieb dies bis ins 19. Jahrhundert Gesetz, in lich, dem Kind / Jugendlichen eine weibliche Preußen bis ins 20. Jahrhundert (‚Zwitterpara- Identität und Geschlechtsrolle zu vermitteln. graph‘). Als Bruce / Brenda von seiner Geschichte Zwischen den 1950-er und Mitter der erfuhr, entschied sie / er sich, als Mann leben 1990-er Jahre ist der US-amerikanische Psy- zu wollen, ließ sich entsprechend operieren chologe und Sexuloge John Money (John und „David“ nennen. David nahm sich 38- Hopkins Universität) die Instanz in Fragen des jährig das Leben. Umgangs mit intersexuellen Menschen. Seine Das Geschlecht entsteht im Kopf drei Thesen: Gegen eine Operation im frühen Kindesalter (1) Die Geschlechtszuweisung muss möglichst früh erfolgen. spricht vor allem, dass das gefühlte Geschlecht eines Menschen im Gehirn (im Hypo- (2) Die operative Abgleichung an ein Ge- thalamus und in den angrenzenden Regionen) schlecht sollte möglichst in den ersten Le- entsteht: Wie wir uns geschlechtlich-sexuell bensmonaten bzw. -jahren erfolgen. fühlen, ob / wie wir uns als Mann oder Frau (3) Den betroffenen Personen gegenüber ist fühlen, hängt von diesen Hirnregionen ab. Sie als Erwachsenen die Diagnose und Opera- bildet sich jedoch erst in der zweiten Schwan- tion geheim zu halten. gerschaftshälfte und dann noch nachgeburtlich Money ging davon aus, dass man bei je- aus und ist dabei von vielen weiteren Faktoren dem Kind das erwünschte Geschlecht durch abhängig. Die äußeren Genitalien hingegen entsprechende Erziehung formen kann. Er bilden sich ab der fünften bzw. neunten führte ein entsprechendes Experiment bei ei- Schwangerschaftswoche aus. Es kann also zu nem männlichen Zwillingspaar durch, bei dem diesem Zeitpunkt nicht gesagt werden, in wel- ein Baby aufgrund eines defekten Gerätes bei che Richtung sich das Gehirn endgültig entwi- der Beschneidung seinen Penis verloren hatte. ckeln wird. Mit einer Operation müsste daher Money empfahl, das Kind – nach entspr. äu- gewartet werden, bis das Gehirn morpholo- ßerer Operation – als Mädchen zu erziehen, gisch und neurophysiologisch in der Lage ist, aus Bruce wurde Brenda. Trotz massiver Er- in einer geschlechtlich differenzierten Art und ziehungsversuche erwies es sich als unmög- Weise zu arbeiten. Information zum Text: Quelle: Radiodoktor-Infomappe zur Sendung vom 07. Februar 2011: Medizin und Gesundheit – Intersexualität. Eine Service von OEF und Österreichischer Apothekerkammer (strak geändert). Arbeitsblatt 107 – Intersexualität. Leben zwischen den Geschlechtern © MMMag. Dr. Christoph Thoma Anselm-von-Canterbury-Akademie für Christliche Philosophie und Katholische Theologie (www.Anselm-von-Canterbury-Akademie.at Seite | 3