Anthropologie und Naturrecht bei Johann Georg Hamann

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Hamann-Studien
Band 2
Herausgegeben von
Eric Achermann, Johann Kreuzer
und Johannes von Lüpke
Anja Kalkbrenner
Anthropologie und Naturrecht
bei Johann Georg Hamann
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ISSN 2366-3561
ISBN 978-3-8471-0493-3
ISBN 978-3-8470-0493-6 (E-Book)
ISBN 978-3-7370-0493-0 (V&R eLibrary)
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Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
I. Anthropologie bei Hamann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Freiheit und Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Selbstliebe und Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . .
3. Selbstgesetzgebung, Erstgeburt und Nächstenliebe . . . . .
4. Hamanns Auseinandersetzung mit materialistischen Thesen
4.1 Imbecillitas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2 Erziehung und Gewohnheit . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3 Sensus Communis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. Körper, Leib und Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1 Sexualität und Sozialität . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.2 Unschuld und Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.3 Geschlechtlichkeit und Gottesbegriff . . . . . . . . . . .
6.4 Hamanns sensualistische Begründung von Ethik . . . .
7. Hamanns Vorstellung von Frömmigkeit . . . . . . . . . . .
7.1 Abhängigkeit von Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.2 Augustinische Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.3 Hamanns Verhältnis zur Theologie des ›pur amour‹ . .
7.4 ›Inhabitatio dei‹ bei Hamann . . . . . . . . . . . . . . .
7.5 Die Leidenschaften in Hamanns Theologie . . . . . . .
7.6 Hamann und Francois de Sales . . . . . . . . . . . . . .
7.6.1 Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.6.2 Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.6.3 Das Gute und der Wille . . . . . . . . . . . . . . .
7.6.4 Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.7 Deutungen des Sündenfalls bei Hamann . . . . . . . . .
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90
92
93
6
Inhalt
7.8 Hamanns Verhältnis zur protestantischen Orthodoxie . . . . .
7.9 Glaube und Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
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178
Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
181
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185
185
189
Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
195
II. Hamanns Verhältnis zum Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Zum Stand der naturrechtlichen Diskussion um 1785 . . . . . .
2. Naturrechtliche Aspekte in Golgotha und Scheblimini . . . . . .
2.1 Kritik an spekulativer Wissenschaft . . . . . . . . . . . . .
2.2 Exkurs: Sprache, Schrift und Wissen bei Mendelssohn und
Hamann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Naturzustand und Gesellschaftsvertrag . . . . . . . . . . . . . .
4. Hamanns Auseinandersetzung mit Mendelssohns Jerusalem . .
4.1 Pflicht und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2 Hamanns sprachphilosophische Kritik . . . . . . . . . . . .
4.3 Macht und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.4 Probleme der Gleichberechtigungsthese . . . . . . . . . . .
4.5 Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.6 Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Hamanns eigener Entwurf einer naturrechtlichen Theorie . . .
5.1 Natur und Naturvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2 Natur als Verpflichtungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3 Naturrecht und Moralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.4 Die Funktion des ›status integritatis‹ . . . . . . . . . . . . .
5.5 Naturrecht und Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. Individuell und Allgemein bei Hamann . . . . . . . . . . . . .
7. Religion und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde am 27. 01. 2014 von der Philosophischen Fakultät
der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen.
Für den Druck habe ich sie geringfügig überarbeitet.
An dieser Stelle möchte ich mich bei all den Menschen bedanken, die mich
während der Promotionszeit unterstützt haben. Zuallererst danke ich meinen
Eltern Norbert und Petra Kalkbrenner, die mich stets dazu ermutigt haben,
meine Forschungsinteressen zu verfolgen und mir gerade auch in schwierigen
Zeiten eine unersetzliche Hilfe gewesen sind. Ihnen ist daher dieses Buch gewidmet. Ebenfalls bedanke ich mich bei meinen Großeltern Adolf und Gisela
Wiercke, die immer großen Anteil an meinem Studium genommen und mich
dabei unterstützt haben.
Meinem Doktorvater Prof. Dr. Eric Achermann habe ich für vieles zu danken:
Seine Lehrveranstaltungen und sein umfangreiches Wissen haben es mir überhaupt erst ermöglicht, mich mit einem so schwierigen Autor, wie es Hamann ist,
zu befassen. Während der Promotionsphase hat er mir stets wichtige Hinweise
und hilfreiche Tipps gegeben.
Prof. Dr. Peter Heßelmann danke ich für das Zweitgutachten.
Für wertvolle Hinweise zu den philosophischen Aspekten danke ich Prof. Dr.
Thomas Leinkauf.
Prof. Dr. Johannes von Lüpke danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in die
Reihe »Hamann-Studien«.
Die Studienstiftung des Deutschen Volkes hat es mir mit ihrem Promotionsstipendium ermöglicht, meiner Forschungstätigkeit ungestört nachzugehen.
Elvira Protte danke ich für Diskussionen und für Hinweise zu den religionsgeschichtlichen Themen.
Nadine Lenuweit danke ich für Lektorat und Korrektur.
Einleitung
In einem Brief an Lavater bemerkt Hamann: »Auch mir ist es bald wie ein Traum,
bald ein Geheimniß oder trait de génie, wodurch ich […] so tief verborgen
meinen συμψύχοις bleibe.«1
Hamann ist sich der Schwierigkeiten, mit denen er seine Leser konfrontiert,
durchaus bewusst, wenngleich er sie nicht erklären kann. Zwar ist er für Lavater
»offenbar« geworden, wird von ihm verstanden; doch gerade seinen συμψύχοις,
den Gleichgesinnten, die Überzeugungen mit ihm teilen, bleibt er »verborgen«.
Zu Recht nennt Goethe ihn rückblickend »einen tiefdenkenden gründlichen
Mann«, der seinen Zeitgenossen »damals ein eben so großes Geheimnis war, als
er es immer seinem Vaterlande geblieben ist.«2 Was hier über die zeitgenössischen Hamannleser gesagt wird, muss verstärkt für heutige Leser gelten. Die
vorliegende Arbeit ist ein Versuch, gerade das ›Verborgene‹ für einen Aspekt des
Hamannschen Denkens ans Licht zu bringen. Hamann ist als religiöser Denker
bekannt, setzt sich selbst aber auch – gerade weil sein Religionsverständnis vom
Sinnlichen ausgeht – ins Spannungsfeld naturrechtlicher und anthropologischer
Fragen, wie sie während der Zeit der Aufklärung diskutiert werden. Von ›Aufklärungsgegner‹ und ›Irrationalist‹3 bis ›radikaler Aufklärer‹4 reichen die Urteile
heutiger Hamann-Leser; verborgen geblieben ist bisher noch, wie Hamann seine
1 An Johann Caspar Lavater am 18. 01. 1778. In: Johann Georg Hamann: Briefwechsel. 7 Bde. Hg.
von Walther Ziesemer u. Arthur Henkel. Bd. IV. Wiesbaden 1959, S. 4. Im Folgenden mit ZH
abgekürzt zitiert. Mit dem griechischen ›συμψύχος‹ (einmütig, gleichgesinnt, harmonisch)
spielt Hamann auf eine Stelle aus dem Philipperbrief (Phil. 2,2) an. Paulus ermahnt die
Philipper dazu, angesichts ihrer gemeinsamen Liebe zu Christus einmütig zu sein und demgemäß zu handeln.
2 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. von Klaus-Detlef
Müller. Frankfurt a. M. 2007, S. 558.
3 Isaiah Berlin: Der Magus in Norden. J. G. Hamann und der Ursprung des modernen Irrationalismus. Hg. v. Henry Hardy. Aus dem Englischen übers. von Jens Hagestedt. Berlin 1995,
S. 22–26.
4 Oswald Bayer: Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer.
München: Pieper 1988.
10
Einleitung
religiöse Grundintuition mit seinem Interesse an zeitgenössischer Wissenschaft
vermittelt. In der Vermittlung – und dies will die vorliegende Arbeit zeigen – liegt
auch ein hohes Potenzial neuer Betrachtungsweisen für die Wissenschaften vom
Menschen.
Hamanns Denken stellt gerade in seiner religiösen Grundorientierung den
Menschen in den Mittelpunkt. Nicht zufällig zitiert er im Zusammenhang seiner
Analyse des Sprachursprungs den homo mensura-Satz des Protagoras.5 Den
Menschen ins Zentrum seines philosophisch-theologischen Denkens zu stellen,
heißt jedoch für Hamann gerade nicht, ihn zum alleinigen Bezugspunkt seiner
Welt- und Selbstauslegung zu machen, weder als Individuum noch als Gattungswesen. Ganz im Gegenteil geht es Hamann darum, den Menschen im
Spannungsverhältnis der verschiedensten Strukturen der Freiheit und Abhängigkeit, nämlich im Bezug zu Gott, zu seinen Mitmenschen und seinen seelischen
und körperlichen Anlagen zu verstehen.
Wenn sich Hamann nun intensiv mit der Frage auseinandersetzt, wie die
komplexe Natur des Menschen beschaffen ist, über welche seelischen Fähigkeiten
er verfügt und in welchen Beziehungen er zu Seinesgleichen und zu seinem
Schöpfer steht, dann ist es nicht bloß naheliegend, sondern auch geboten, zu
fragen, wie der so beschaffene Mensch als ein soziales Wesen leben soll und kann.
Nach Hamanns Haltung zum Naturrecht zu fragen, muss daher auf die Analyse
seiner anthropologischen Überzeugungen und Einsichten folgen.
Der erste Teil der Arbeit befasst sich mit den verschiedenen Facetten von
Hamanns anthropologischem Denken. Den Ausgangspunkt bildet dabei Hamanns Intuition der menschlichen Freiheit als etwas, das der Mensch potentialiter immer (schon) hat und das er in seine Beziehungen zu Gott und zu seinem
Nächsten einbringt. Die Kapitel eins bis drei analysieren Hamanns Begriff der
Freiheit, seine Überlegungen zur Selbst- und Nächstenliebe und sein Verständnis
des Privilegs der Erstgeburt.
Hamann ist sich im Klaren darüber, dass der Mensch in Strukturen lebt, die
seine Freiheit einschränken, wenn nicht gar überhaupt in Frage stellen. Das vierte
Kapitel thematisiert deshalb Hamanns Perspektive auf soziologische, psychologische und körperliche Formen des Bestimmtseins und der Abhängigkeit des
Menschen. Im Zentrum steht dabei die Auseinandersetzung mit Vertretern des
französischen Materialismus, vor allem La Mettrie, d’Holbach und Helvétius.
Gezeigt werden soll, wie Hamann sich materialistische Thesen aneignet und
umdeutet, z. B. indem er in der ›imbecillitas‹ des Menschen nicht vorwiegend
einen Mangel, sondern eine Befähigung zum Lernen und zum Genuss sieht.
5 Johann Georg Hamann: Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. III. Historisch-kritisch hg. von Joseph Nadler. Wien 1951, S. 27. Im Folgenden
mit N abgekürzt zitiert.
Einleitung
11
Wie es nun um die intellektive Konstitution des Menschen steht, soll das
fünfte Kapitel klären. Hamanns bekannte Vernunftkritik6 wirft die Frage auf, was
er unter dem Begriff versteht und wie er argumentiert, um einerseits der sinnlichen und sozialen Bedingtheit der Vernunft gerecht zu werden, sie aber zugleich
auch als die Instanz zu setzen, die den Menschen zur Kritik an seiner Lebenswelt
befähigt.
Das Kapitel sechs widmet sich der sinnlichen Verfasstheit des Menschen,
speziell der Bedeutung der erotischen Liebe und der Sexualität in ihrem Verhältnis zur Geselligkeit und zum Gottesbezug des Menschen. Innovativ und
provokant zugleich wertet Hamann die Erotik als Kern und Motor gesellschaftlicher Ausprägungen.
Der Frage wie sich demgegenüber Hamanns Vorstellung von Frömmigkeit
verhält, geht das siebte Kapitel intensiv nach. Ziel ist es, vor allem unter Bezugnahme auf Briefstellen, seine oft unsystematischen, verstreuten Bemerkungen zu
kontextualisieren und so ihre Besonderheit herauszuarbeiten. Hamanns ausgeprägte Vorstellung einer Abhängigkeit des Menschen von und Hinordnung zu
Gott ähnelt der augustinischen Vorstellung der ›fruitio dei‹, nur unter anderen
Vorzeichen, da Hamann Gott bewusst in der sinnlich-emotionalen Ebene des
Seelischen verortet. Entsprechend weist sein Begriff der Gottesliebe durchaus ein
Moment der Unbedingtheit auf, schließt aber weltlichen und sinnlichen Genuss
mit ein. Um Hamanns Position hier zu konturieren, wird ein Vergleich mit
Theoretikern des ›pur amour‹ und mit Francois de Sales vorgenommen. Abschließend wird gefragt, wie Hamanns Position, vor allem im Hinblick auf das
Verhätnis von Glaube, Wissen und Philosophie, sich zur protestantischen Orthodoxie verhält.
Im zweiten Teil der Arbeit Hamanns Verhältnis zum Naturrecht geht es darum,
seine auf den ersten Blick ablehnende Haltung genauer zu betrachten: Er lehnt
nicht ›das‹ Naturrecht schlechthin ab, sondern nur, wenn damit ein spekulativer
Denkansatz verbunden ist. Zentrale Theoreme des klassischen Naturrechts,
Naturzustand und Gesellschaftsvertrag, werden durch metaphysikkritische und
anthropologische Argumente neu perspektiviert.
Hierfür wird im ersten Kapitel zunächst eine historische Situierung vorgenommen. Ausgehend von Hufeland, einem Rezensenten von Hamanns Golgotha
und Scheblimini, wird der Stand der naturrechtlichen Debatte um 1785 skizziert.
Daran anschließend geht es im zweiten und dritten Kapitel um den grundlegenden Denkansatz Hamanns in Golgotha und Scheblimini, also um die Frage,
wie er sich dem Thema Naturrecht in methodischer und inhaltlicher Hinsicht
nähert. Der Exkurs Sprache, Schrift und Wissen verdeutlicht, dass Hamanns
Kritik am spekulativen Denken gegenüber Mendelssohn durchaus polemische
6 Vgl. N II, S. 63.
12
Einleitung
Funktion hat. Denn bei der Frage, wie der Mensch Vorstellungen von Religion
und Moral erwirbt, stehen sich beide Denker näher, als es Hamanns harsche
Kritik vermuten lässt.
Das vierte Kapitel nimmt daran anschließend einen detaillierten Vergleich
zwischen Hamanns Argumenten und denjenigen Mendelssohns in Jerusalem
vor. Ziel ist es, basale Übereinstimmungen zwischen beiden Denkern herauszuarbeiten und davon ausgehend, Hamanns inhaltliche Abgrenzung von bloßer
Polemik zu differenzieren.
Hamanns eigener Entwurf einer naturrechtlichen Theorie, die mit Hilfe von
sprachphilosophischen und ethischen Argumenten entwickelt wird, steht im
Fokus des fünften Kapitels. Im Begriff der ›Natur‹ findet Hamann eine verpflichtende, normbegründende Instanz, welche zugleich auch für menschliche
Entfaltungsmöglichkeiten und Freiheit einstehen soll. Zu fragen ist zum einen,
wie Hamann mit dem Naturbegriff die Möglichkeit von Moralität und Recht
verbindet und zum anderen, wie sich sein Naturbegriff zu seiner Vorstellung von
Offenbarung verhält. Denn als religiös motivierter Autor muss es Hamann daran
gelegen sein, in seinem naturrechtlichen Denken so zu verfahren, dass eine Offenbarung nicht überflüssig wird.
Das sechste Kapitel beleuchtet ein wesentliches Spannungsverhältnis in Hamanns Denken, das sich aus der Betonung des Individuums, seinen Rechten und
Möglichkeiten einerseits und der Einsicht in die unhintergehbare Abhängigkeit
von vorgegebenen Ordnungen andererseits ergibt.
Abschließend werden im siebten Kapitel folgende Fragen angerissen: Wie
verhalten sich für Hamann Religion und Staat zueinander, vor allem im Hinblick
auf das Problem der religiösen Toleranz? Wie können Menschen unterschiedlicher Religionen und Konfessionen miteinander leben und wie können sie sich
der Verträglichkeit untereinander gewiss sein? Können Religionen ihre Spezifika
behalten oder müssen sie zu einer ›allgemeinen‹ Ethik vereinheitlicht werden?
I.
Anthropologie bei Hamann
Von Anthropologie bei Hamann zu sprechen, scheint zunächst einer Begründung
zu bedürfen. Hamann verwendet diesen Ausdruck nicht, um damit seine Überlegungen zur ›natura hominum‹ zu benennen noch hat er sich Herders Enthusiasmus angesichts der Entstehung dieser neuen Wissenschaft angeschlossen,7
indem er sie wie jener als eine neue Grundlage der Philosophie bezeichnet hätte.
Dennoch ist es sinnvoll und perspektivenreich, von ›Anthropologie‹ anstelle bloß
von einem ›Menschenbild‹ zu sprechen: Wie Manfred Beetz gezeigt hat, gibt es
bei Hamann nicht nur eine breite Kenntnis zeitgenössischer anthropologischer
Literatur, sondern auch eine »anthropologische[] Episteme,«8 welche bezeichnenderweise die Grundlage für seine Kantkritik bildet.9 Ganz im Sinne einer
solchen Episteme stellt Hamann bereits in den Brocken die Untersuchung über
das eigene Selbst in den Horizont spezifisch anthropologischer Fragestellungen:
Es ist die Frage nicht allein, wenn ich mein eigen Selbst ergründen will, zu wissen, was
der Mensch ist? sondern auch was der Stand desselben ist? Bist du frey oder ein Sclave?
Bist du ein unmündiger, ein Wayse, eine Wittwe, und in welcher Art stehst du in
Ansehung höherer Wesen, die ein Ansehen sich über dich anmaaßen, die dich unter-
7 Herder hat 1765 die Hoffnung geäußert, dass »unsre ganze Philosophie Anthropologie wird.«
( Johann Gottfried Herder: Frühe Schriften 1764–72. Werke Bd. 1. Hg. von Ulrich Gaier.
Frankfurt a.M. 1985, S. 134).
8 Manfred Beetz: Hamanns Interesse an Anthropologie. In: Die Gegenwärtigkeit Johann Georg
Hamanns. Acta des achten internationalen Hamann-Kolloquiums an der Martin-LutherUniversität Halle Wittenberg 2002. Frankfurt a. M., Berlin 2005, S. 111–132, hier S. 126.
9 Kants Verhältnis zur Anthropologie wird unterschiedlich bewertet. Marquard spricht von
einer Wende in Kants Denken, die mit seiner Metaphysikkritik zusammenhänge, wobei die
Anthropologie letztlich aber »nur Parergon« bleibe (Odo Marquard: Art. »Anthropologie.« In:
Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1. Hg. von Joachim Ritter u. Karlfried Gründer.
Basel, Stuttgart 1971, Sp. 362–374, hier Sp. 365–366). Riedel hingegen argumentiert, dass Kant
die körperlich-leibliche Seite des Menschen in seiner Anthropologie zu wenig berücksichtige
(Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer
Forschungslandschaft. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur
6 (1994), S. 93–157, hier S. 104).
14
Anthropologie bei Hamann
drücken, die dich übervortheilen, und durch deine Unwissenheit, Schwäche Thorheit zu
gewinnen suchen.10
Um also zu wissen, wer ich bin, ist die klassisch metaphysische Frage ›was ist x?‹
nicht hinreichend; sie muss vielmehr durch lebensweltliche Bezüge11 ergänzt
werden.
Ausgehend davon, dass bei einem anthropologischen Ansatz das Insistieren
auf der unauflöslichen Verbundenheit von Sinnlichkeit und Verstand maßgeblich ist,12 kann ein Fragen nach Anthropologie bei Hamann hilfreich sein, seine
Stellung zu präzisieren innerhalb jenes wissensgeschichtlichen Prozesses, in
dessen Verlauf »die Natur Bezugspunkt für die genuin anthropologische Definition des Menschen«13 wird. Bezieht man nämlich an dieser Stelle die These von
Panajotis Kondylis ein, der zufolge sich im 18. Jahrhundert ein Primat der Anthropologie gegenüber der Theologie konstituiere,14 so muss man die Position
Hamanns als quer stehend zu diesem Trend beschreiben. Dies allerdings nicht in
Form einer defensiven oder gar traditionalistischen Haltung, sondern als eine
produktive Rezeption und Aneignung, als Vermittlung von beiden, Anthropologie und Theologie.
1.
Freiheit und Gesetz
Um einen Zugang zu Hamanns anthropologischem Denken zu bekommen,
empfiehlt es sich, mit seinem Freiheitsbegriff zu beginnen und zwar aus mehreren Gründen: Erstens, weil Hamann in der oben zitierten Passage aus den
Brocken die Frage nach der Freiheit oder Unfreiheit eines Menschen als zentral
zur Bestimmung seiner lebensweltlichen Situation und mithin seines Selbst beschreibt. Zweitens, weil Hamann in den Philologischen Einfällen und Zweifeln
seine These von der Freiheit an den Anfang seiner anthropologischen Überle10 Johann Georg Hamann: Brocken. In: Ders.: Londoner Schriften. Historisch-kritische Neuedition von Oswald Bayer u. Bernd Weißenborn. München 1993, S. 409.
11 Zur Bedeutung der Lebenswelt für Hamanns Begriff des menschlichen Selbst siehe Oswald
Bayer: Wahrheit oder Methode? Hamann und die neuzeitliche Wissenschaft. In: Johann
Georg Hamann und die Krise der Aufklärung. Acta des fünften Internationalen HamannKolloquiums in Münster i.W. 1988. Hg. von Bernhard Gajek u. Albert Meier. Frankfurt a. M.
1990, S. 162–163.
12 Vgl. dazu Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung, S. 95.
13 Marquard: Art. »Anthropologie,« Sp. 363.
14 Panajotis Kondylis: Die Neuzeitliche Metaphysikkritik. Stuttgart 1990, S. 277: »[D]ie
Durchsetzung der Erkenntnistheorie gegenüber der traditionellen Metaphysik und Ontologie
stellte ihrerseits die Folge einer umfangreichen weltanschaulichen Verschiebung dar, die kurz
als Ersetzung Gottes und der Theologie durch den Menschen und die Anthropologie bezeichnet werden könnte.«
Freiheit und Gesetz
15
gungen stellt.15 Der Freiheit als Charakteristikum des Menschen, welche ihrerseits zugleich αρχή und τέλος, Voraussetzung und Zweck menschlichen Daseins
ist, wird also schon durch die ›dispositio‹ der Schrift Priorität zugewiesen.16
Diese herausragende Bedeutung bestätigt sich auch auf inhaltlicher Ebene,
nämlich dort, wo Hamann psychische, intellektive und moralische Fähigkeiten
des Menschen auf seine Freiheit zurückführt: »Das Bewußtseyn, die Aufmerksamkeit, die Abstraction und selbst das moralische Gewissen scheinen größtentheils Energien unsrer Freiheit zu seyn.«17 Liest man hier die Bezeichnung
›Energien‹ als ενέργεια, ergibt sich folgendes Verhältnis zwischen Freiheit und
spezifisch menschlichen Vermögen: Freiheit ist einerseits – als δύναμις – dasjenige, was es dem Menschen ermöglicht, seine Fähigkeiten, durch die er allererst
zu dem wird, was er ist, zu entfalten. Andererseits ist sie auch dasjenige, was
durch diese Fähigkeiten selbst verwirklicht wird.
Wenn nun die Freiheit derart am Ausgangspunkt und im Zentrum der anthropologischen Überlegungen situiert ist, entstehen einige Fragen: Wie verhält
sich Hamanns Freiheitsbegriff zu sowohl theologischen als auch anthropologischen Formen des Bestimmt- bzw. Gebundenseins? In welchem Verhältnis steht
er zu Hamanns Begriffen von menschlichem Selbst, dessen Begründung im
Schöpfungswort18 und nicht zuletzt auch zur Körperlichkeit?
Ich möchte im Folgenden zu begründen versuchen, erstens, dass Freiheit bei
Hamann nicht in völligem Gegensatz zur Gebundenheit verstanden, sondern als
ein sich selbst Binden und Verpflichten aufgefasst wird und zweitens, dass sich in
15 Vgl.:«Die Freiheit ist das Maximum und Minimum aller unsrer Naturkräfte, und sowol der
Grundtrieb als Endzweck ihrer ganzen Richtung, Entwickelung und Rückkehr.« ( N III, S. 38).
16 Aufschlussreich für die Zentralstellung von Freiheit im Denken Hamanns ist fernerhin, dass
er einen Artikel aus der Encyclopédie, welche er ansonsten bekanntlich nicht schätzte (vgl. N
III, S. 72–73), für übersetzenswert hielt: »Es ist […] Eitelkeit und Fluch hingegen einen Theil
der Encyclopedie durchzublättern. […] Bliebe also noch einziger übrig, der würklich eine
Übersetzung verdiente. Er handelt von dem Schaarwerk und Gehorcharbeitern. Jeder verständige Leser […] wird […] auch das Mitleiden mit allen Gehorcharbeitern haben, was der
Verfaßer meines Artikels mit ihnen hat, und die Missbräuche zu verbessern suchen, wodurch
es ihnen unmöglich gemacht wird gute Gehorcharbeiter zu seyn.« (An Immanuel Kant,
27. Juli 1759. ZH I, S. 374). Gemeint ist der Artikel »Corvée,« in dem eine Milderung der
Fronarbeit gefordert wird: »Le peuple est si misérable, dit-on; je conviens à la vérité de sa
misere […] Ainsi ce ne doit point être quant à l’exactitude & à la précision du service, qu’il
faut modérer la corvée; c’est seulement à sa durée.« (Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné
des Sciences des Arts et des Métiers. Nouvelle impression en facsimile de la première edition
de 1751–1780. Bd. 4. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, S. 288. Das Volk ist so elend, sagt man; ich
stimme der Wahrheit seines Elends zu. So muss man die Fronarbeit nicht so sehr hinsichtlich
der Genauigkeit und der Präzision des Dienstes mildern, sondern nur hinsichtlich ihrer
Dauer. Übers. A.K.).
17 N III, S. 38.
18 Siehe dazu: Johannes von Lüpke: Anthropologische Einfälle. Zum Verständnis der ›ganzen
Existenz‹ bei Johann Georg Hamann. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 3
(1988), S. 225–268, hier S. 231.
16
Anthropologie bei Hamann
Hamann Denken ideengeschichtlich heterogene Quellen, konkret hier lutherisches, stoisches und aristotelisches Gedankengut zu etwas Neuem, Eigenständigen verbinden.
Um den Horizont von Fragen und Problemen zu skizzieren, lohnt es sich,
nochmals mit einer Passage aus den Philologischen Einfällen und Zweifeln zu
beginnen:
Ohne die Freyheit böse zu seyn findt kein Verdienst und ohne die Freyheit gut zu seyn
keine Zurechnung einiger Schuld, ja selbst keine Erkenntniß des Guten und Bösen statt.
Die Freiheit ist das Maximum und Minimum aller unsrer Naturkräfte, und sowol der
Grundtrieb als Endzweck ihrer ganzen Richtung, Entwickelung und Rückkehr.19
Freiheit meint hier ›Freiheit zu etwas‹, wird also als eine Entscheidungs- und
Handlungsfreiheit verstanden und als solche implizit schon mit der Frage nach
der praktischen Möglichkeit und Anwendbarkeit rechtlicher und moralischer
Kriterien auf menschliches Tun verbunden, wobei Moral und Recht hier noch
nicht klar differenziert sind. Wenn wir nicht zumindest annehmen, dass der
Mensch frei ist – ohne noch die Frage nach der Faktizität von Freiheit zu stellen –
ist es unmöglich, einen Menschen zu loben oder zu tadeln. Ohne zumindest
vorauszusetzen, dass jemand frei ist, entfällt mithin die Möglichkeit, jemanden
als Urheber einer Handlung anzusehen.20 Hamann geht jedoch noch einen Schritt
weiter, indem er Freiheit mit der Möglichkeit von Erkenntnis verbindet. Sie
besagt nämlich: Ist der Mensch nicht in der Lage, handlungsmäßig zwischen zwei
Alternativen zu wählen, ist er auch nicht fähig dazu, den wertmäßigen Unterschied zwischen Handlungen zu erfassen. ›Freiheit‹ ist also nicht nur etwas, das
wir Anderen unterstellen müssen, um sie als verantwortlich Handlende wahrnehmen zu können, sondern auch etwas, das wir selbst besitzen müssen, um
überhaupt urteilen zu können. Hamann vertritt hier eine Auffassung, die derjenigen des frühen Augustinus in De libero arbitrio verwandt und möglicherweise
sogar direkt auf sie bezogen ist.21 Augustinus hatte dargelegt, dass moralische
Urteile Verantwortung voraussetzen, was aber ohne freien Willen gar nicht
möglich wäre, so dass »die Grundlage der moralischen Unterscheidung von ›gut‹
19 N III, S. 38.
20 Vgl. Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. In: Kants Werke. Akademie-Textausgabe.
Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie
der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften. Bd. VI.
Berlin1968, S. 227: »Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das Urteil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann Tat (factum) heißt und
unter Gesetzen steht, angesehen wird.«
21 Die Biga verzeichnet folgende Ausgabe: »Augustine opera ex ed. Er. Roterodami, Tom. I–IV.
VII–X. Bas. 529. Tom. V. VI. Fehlen.« (N V, S. 16).
Freiheit und Gesetz
17
und ›böse‹ im Ansatz […] von einer Seinsordnung […] auf den Willen verlagert
[ist].«22
Daran schließt sich eine weitere Begründung der Freiheit an, die anthropologisch-pragmatischer Natur ist: »Ohne das vollkommene Gesetz der Freyheit
würde der Mensch gar keiner Nachahmung fähig seyn, auf die gleichwol alle
Erziehung und Erfindung beruht, denn der Mensch ist von Natur unter allen
Thieren der größte Pantomim.«23
Hamann erläutert das Zitat aus der lutherischen Bibelübersetzung mit einer
Fußnote, in welcher er die griechische Passage aus dem Jacobusbrief zitiert. Von
›Freiheit‹ ist dort die Rede im Zusammenhang mit Ausführungen über die Bewährung des Glaubens. Kriterium dafür ist die Unterscheidung zwischen Hörern
(ακροαται λόγου) und Tätern (ποιηταί λόγου) des Wortes. Letztere unterscheiden
sich in ihrem Verhältnis zum Wort durch verschiedene Arten des Sehens.
Während der Hörer bloß sich beschaut im Spiegel und, sich abwendend, das
Gesehene wieder vergisst, tut der Täter etwas ganz anderes: ὁ δὲ παρακύψας ει᾿ς
νόμον τέλειον τὸν τῆς ἐλευθερίας καὶ παραμείνας, οὐκ ἀκροατὴς ἐπιλησμονῆς
γενόμενος ἀλλὰ ποιητὴς ἔργου, οὗτος μακάριος ἐν τῇ ποιήσει αὐτοῦ ἔσται.24
Wichtig ist die Bedeutung von παρακύβω, was einmal ›sich bücken, um nach
etwas zu schauen‹ und zugleich ›hingucken, hineinschauen‹ heißt. Es handelt sich
dabei um ein mit Aufmerksamkeit verbundenes Sehen, das intentional auf etwas
gerichtet ist, welches nicht das bloße Spiegelbild ist, sondern über die sichtbare
Oberfläche hinausgeht. Anders gesagt, der ποιητής sieht ausgehend vom Spiegelbild über die äußere Gestalt hinaus oder genauer gesagt hinein, er sieht ins
Innere, um zur Erkenntnis des Eigentümlichen und Charakteristischen für den
(gläubigen) Menschen fortzuschreiten. Und dieses Eigentümliche liegt in der
Freiheit. Der ποιητής verbleibt nicht beim Sich anschauen, sondern verwirklicht
und bewährt sein Selbst im Handeln. Dadurch wird das Sehen, das sinnliche
Wahrnehmen zum Verstehen und diese Selbsterkenntnis zeigt sich im Handeln.
Hörer und Täter fassen so ihr πρόσωπον, das sie εν εσόπτρω erblicken, je unterschiedlich auf: der Hörer als sein Antlitz, seine äußere Gestalt, der Täter
hingegen auch als seine soziale und moralische Person.
Bemerkenswert dabei ist vor allem das Verhältnis, in dem Hamann Freiheit
zur Natur sieht. Er geht nämlich nicht von der Entgegensetzung einer geistigen
Freiheit und einer naturhaften Notwendigkeit aus, sondern versteht Freiheit als
22 Karl-Heinz Ilting: Naturrecht und Sittlichkeit. Begriffsgeschichtliche Studien. Stuttgart 1983,
S. 164.
23 N III, S. 38.
24 Novum testamentum Graece. Hg. v. Eberhard Nestle u. Barbara Aland. 27. rev. Auflage.
Stuttgart 2007: Jac. I, 25. [Wer aber in das vollkommene Gesetz der Freiheit hineinschaut und
dabei bleibt, und kein vergesslicher Hörer wird, sondern ein Täter, derjenige wird in seinem
Tun selig sein. Übers. A.K.].
18
Anthropologie bei Hamann
diejenige anthropologische Komponente, welche erst die Entwicklung der ›Naturkräfte‹, also der vitalen Anlagen im Menschen ermöglicht. Damit liegt ein,
wenn man so will, zweistufiger Freiheitsbegriff vor. In ihrer ursprünglichen Form
als ›Gnadengeschenk des großen Allgebers‹ ist Freiheit dasjenige, was als αρχή
Anfang und Prinzip menschlicher Entwicklung ist. Zugleich aber ist sie auch
dasjenige, was durch diese Entwicklung erreicht werden soll.
Auffällig ist dabei der dreigliedrige Ausdruck ›Richtung, Entwicklung und
Rückkehr‹, evoziert dieser doch die neuplatonische Denkstruktur von μονή,
πρόοδος, επιστροφή,25 welche den Übergang vom einfachen, sich jenseits des
Seins befindenden Ursprungs zur Vielheit des Seins erklärt. Entscheidend dabei
ist, dass diese Vielheit sich nicht beim Hervortreten aus dem Einen verliert,
sondern indem sie sich an dieses zurückbindet, zugleich ihr Selbst, ihr Sein
konstituiert. Bei Plotin und Augustinus wendet sich der Geist zu seinem Ursprung hin und nur erst in dieser Rückwendung konstituiert er sich als er selbst.26
Für den Begriff von ›Selbst‹ heißt dies, dass zwar ein Hervortreten, ein sich
Entwickeln und Ablösen stattfindet, aber dann auch wieder eine Rückkehr zum
Ursprung, um dort das spezifisch Eigene zu finden.27 Hamann nun scheint mit
Hilfe des Ausdrucks ›Rückkehr‹ eine analoge Beschaffenheit der menschlichen
Freiheit in ihrem Verhältnis zum göttlichen Ursprung anzunehmen, wenngleich
ohne dabei die neoplatonischen metaphysischen Voraussetzungen anzunehmen.
2.
Selbstliebe und Selbsterkenntnis
Interessant ist, dass Hamanns Auffassung von Freiheit auf psychologischer
Ebene mit einer Vorstellung von Gesetz verknüpft ist, nämlich in Verbindung mit
der Selbstliebe als demjenigen psychologischen Moment, was Freiheit allererst
ermöglicht.28
Der Vorstellung von Selbstliebe kommt aus zwei Gründen eine zentrale Bedeutung für das anthropologische Denken Hamanns zu. Zum einen, weil Hamann innerhalb der moralphilosophischen Diskussion des 18. Jahrhunderts mit
seiner positiven Bewertung der Selbstliebe hinsichtlich Sozialität und Gottesbezug des Menschen, wie unten gezeigt werden soll, eine Pionierposition einnimmt.
25 Vgl. Plotinus: Ennead V. 4: Πως απο του πρωτου το μετα το πρωτον και περι του ενος. In:
Plotinus. With an English translation by A.H. Armstrong. Bd. V. London 1984, S. 137–149.
26 Zu Augustinus siehe Edward Booth: St. Augustine’s ›notitia sui‹ related to Aristotle and the
Early Neoplatonists. In: Augustiniana 28 (1978), S. 183–221, 29 (1979), S. 97–124.
27 Zum Begriff der Rückwendung siehe Paul Aubin: Le Problème de la ›Conversion.‹ Étude sur
un terme commun a l’Hellénisme et au christianisme des trois premiers siècles. Paris 1963.
28 Vgl. Hamann: Brocken, S. 416: »Wo diese [die Selbstliebe] nicht ist, kann auch keine Freyheit
sein.«
Selbstliebe und Selbsterkenntnis
19
Zum anderen, weil Konzeptionen von Selbstliebe einen wichtigen Aspekt der
anthropologischen Voraussetzungen sowohl des säkularen als auch des christlichen Naturrechts des 17. Jahrhunderts darstellen und dabei – im ersteren Fall –
eine nicht unerhebliche theologische Brisanz beinhalten.29 Hamanns Begriff von
Selbstliebe zu untersuchen hat zum Ziel, die Individualität seines Menschenbildes in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung zu konkurrierenden
zeitgenössischen Positionen herauszuarbeiten.
Zu Beginn seiner Überlegungen zum Thema Selbstliebe in den Brocken äußert
Hamann Skepsis bezüglich der Ursprünglichkeit von Freiheit als menschlicher
Selbsterfahrung. So fragt er: »Sind es nicht die bloßen Erscheinungen der
Selbstliebe, die wir mit dem Begriff der Freyheit belegt?«30 Von Freiheit ist hier die
Rede im Sinne eines sozialen Dafürhaltens. Handeln Menschen entsprechend der
Bejahung ihres Selbst, so nehmen sie dies als ihre Freiheit wahr. Insofern, als
Menschen die ihnen je nach kulturellem und sozialem Umfeld vermittelten Güter
mit sich selbst identifizieren, ist es für sie eine Bestätigung ihrer Freiheit, sich für
eben diese einzusetzen: »Der Abergläubische, der Sclave und der Republikaner
streiten daher mit gleicher Wuth, und Verdienst für den Gegenstand ihrer
Selbstliebe, und aus einem gleichen Grunde der Freyheit, und Eyfer für selbige.«31
Hamann kann daher als psychologischen Grundsatz formulieren: »Wir lieben
was uns eigen gehört. Hier ist also die Freyheit nichts als Eigennutz, und ein Ast
der Selbstliebe gegen unsere Güter.«32 Die Selbstliebe ist hier ein affektives
Prinzip, welches das menschliche Streben organisiert und auf Ziele hin ausrichtet: »Diese Selbstliebe ist das Herz unseres Willens, aus dem alle Neigungen
und Begierden gleich den Blut= und Pulsadern entspringen und zusammen
laufen.«33
Was Hamann ›Selbstliebe gegen unsere Güter‹ nennt, erinnert an die vor allem
in der französischen Sozialphilosophie des 17. Jahrhunderts konzeptuell von der
Selbstliebe abgegrenzte, negativ konnotierte Eigenliebe oder ›amour propre‹, bei
der es dem Menschen vor allem um seinen eigenen Vorteil zu tun ist, unter
Umständen auch auf Kosten anderer. So findet sich bei La Rochefoucauld folgende Definition:
L’amour.propre est l’amour de soi-même, et de toutes choses pour soi; il rend les
hommes idolâtres d’eux mêmes, et les rendrait les tyrans des autres si la fortune leur en
29 Vgl. dazu Friedrich Vollhardt: Die Grundregel des Naturrechts. In: Aufklärung als praktische
Philosophie, Werner Schneiders zum 65. Geburtstag. Hg. von Frank Grunert u. Friedrich
Vollhardt. Tübingen 1998, S. 139–140.
30 Hamann: Brocken, S. 407.
31 Hamann: Brocken, S. 407.
32 Hamann: Brocken, S. 407.
33 Hamann: Brocken, S. 407.
20
Anthropologie bei Hamann
donnait les moyens; il ne se repose jamais hors de soi, et ne s’arrête dans les sujets
étrangers que comme les abeilles sur les fleurs, pour en tirer ce qui lui est propre.34
Die Eigenliebe ist die Liebe zu sich selbst und aller Dinge für sich; sie macht die
Menschen zu Götzendienern ihrer selbst und würde sie zu Tyrannen der anderen
machen, wenn das Glück ihnen dazu die Mittel gäbe; außerhalb ihrer selbst ruht sie nie,
und hält bei fremden Gegenständen nur wie die Bienen in den Blumen inne, um daraus
das ihr Eigene zu ziehen.35
In diesem Sinn einer allgemein menschlichen psychologischen Grunddisposition, den eigenen Vorteil zu suchen, wird diese Konzeption der Eigenliebe von
Friedrich II aufgegriffen und in Betracht gezogen als eine mögliche Quelle, um
den Menschen zu moralischem Handeln zu veranlassen:
Larochefoucauld hat in seinen Untersuchungen über das menschliche Herz die
Triebfeder der Eigenliebe sehr glücklich aufgedeckt, aber leider nur, um unsre Tugenden zu lästern und zu zeigen, dass sie nur Schein sind. Ich wünschte, man benutzte
diese Triebfeder, um den Menschen zu beweisen, dass es ihr eigner Vorteil erheischt,
gute Staatsbürger, gute Väter, gute Freunde zu sein, kurz, alle moralischen Tugenden zu
besitzen.36
Hamanns Überlegungen im fünften Paragraphen der Brocken zeigen, dass er eine
vergleichbare Auffassung in politischer Hinsicht durchaus teilt. Gesetze haben
»ihre Kraft bloß durch den Grundtrieb der Selbstliebe, der Belohnungen v Strafen
als Bewegungsgründe würksam macht.«37 Menschen werden dadurch zu gesetzmäßigem Tun veranlasst, dass ihnen die Vor- oder Nachteile für sie selbst als
Konsequenzen ihrer Handlungen durch Gesetze bekannt sind. Weil Gesetze sich
auf die ›triebhafte‹, also vorreflexive psychische Veranlagung des Menschen
gründen, werden sie nicht als Einschränkung wahrgenommen, sondern als »eine
Stütze meiner Selbsterhaltung und Selbstliebe«38 eben befolgt. Indem Hamann
von Selbsterhaltung in unmittelbarem Zusammenhang mit Selbstliebe spricht,
macht er deutlich, worauf es ihm hier ankommt. Es geht noch nicht um ein
Selbstverhältnis, das sich mit der Frage, wer ich als Mensch bin, auseinandersetzt,
sondern, dem stoischen Begriff der οικείωσις ähnlich, um einen »primären natürlichen Impuls«39 des Menschen als Lebewesen, seine eigene Existenz zu er-
34 Francois de La Rochefoucauld: Réflexions ou Sentences et Maximes morales. Edition présentée, établie et annotée par Jean Lafond. Paris 1976, S. 129.
35 Übers. A.K.
36 Friedrich der Große: Eigenliebe als moralische Triebfeder. In: Friedrich der Große und die
Philosophie. Texte u. Dokumente. Mit einem einleitenden Essay hg. von Bernhard Taureck.
Stuttgart 1986, S. 90–110, hier S. 106.
37 Hamann: Brocken, S. 415.
38 Hamann: Brocken, S. 416.
39 Christoph Horn: Art. »Zueignung (Oikeiosis).« In: Historisches Wörterbuch der Philosophie.
Selbstliebe und Selbsterkenntnis
21
halten. Vor allem im Vergleich zu der zitierten Passage bei La Rochefoucauld lässt
sich bei Hamann eine Verschiebung in der Bewertung ausmachen: In Hamanns
Beschreibung nimmt sich das menschliche Streben, etwas für sich zu besitzen, als
etwas ganz Natürliches und an sich nicht zwangsläufig Antisoziales oder gar
Verwerfliches aus, sondern ist bereits ein Indiz für die menschliche Fähigkeit, zu
wählen. Der Mensch mag zwar in seinen weltanschaulichen und politischen
Grundhaltungen durch seine Sozialisation bestimmt sein; nichtsdestoweniger
aber ist es dem »Grund der Freiheit«, also eines psychologisch nicht festgelegten
Seins zu verdanken, dass er sich für das kulturell vermittelte aus freier Entscheidung einsetzen kann.
Im Unterschied zu dieser unwillkürlichen, vorreflexiven Form von Selbstbejahung spricht Hamann aber auch von Selbstliebe als etwas Gesolltem, dem
Menschen erst noch Aufgegebenem. Dabei wird besonders deutlich, wie er rezipierte Vorstellungen eigenständig neu bedenkt und auf Probleme neue Antworten findet. Durch seine Übersetzung von Shaftesburys Essay Sensus Communis musste ihm die Verknüpfung des Themas Selbstliebe mit dem moralphilosophischen Problem der Glückseligkeit bekannt sein. Für Shaftesbury steht
außer Frage, dass Glückseligkeit ein ethisches Desiderat ist. Unklarheit bestehe
nur hinsichtlich der Mittel, sie zu erreichen. Er erwägt drei Alternativen. Der
Mensch kann entweder »der Natur folgen und einer gemeinschaftlichen Neigung
[sich] überlassen« oder »selbige unterdrücken und jede Leidenschaft zu [seinem]
privaten Vortheil« nutzen oder aber sie »zum Erhaltungs Mittel des bloßen Lebens«40 machen. Sich sozial akzeptabel zu verhalten ist demnach nicht bloß ein
pflichtmäßiges Sollen, sondern etwas, das schon in der emotionalen Natur des
Menschen verortet wird. Entsprechend erscheint aus dieser Perspektive ein rein
egoistisches Verhalten als unnatürlich, wenngleich auch dies zur Glückseligkeit
führen könnte. Shaftesbury unterscheidet resümierend zwischen ›richtiger‹ und
›falscher‹ Selbstliebe, wobei das Kriterium für Richtigkeit in der positiven Frage
einer Handlung für den Einzelnen besteht: »Es ist nicht die Frage: wer sich selbst
liebt oder nicht; sondern: wer sich selbst am richtigsten liebt und auf die sicherste
Art dient.«41
Hamanns ›Antwort‹ auf die hier skizzierte Problematik wird, wie jetzt gezeigt
werden soll, darin bestehen, die Glückseligkeit als Gut für das Individuum in
seiner Beziehung zum Anderen zu verorten und die Möglichkeit eines solchen
Verhaltens bereits in der psychischen Disposition des Menschen anzusetzen.
Bd. 12. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel. Basel 2004, Sp. 1403–
1408, hier Sp. 1403.
40 N IV, S. 179.
41 N IV, S. 179.
22
Anthropologie bei Hamann
In den Brocken wird deutlich, dass die Selbstliebe erst in der zweiten Bedeutung, als etwas noch zu Verwirklichendes, moralphilosophisch als Tugend gelten
kann:42
So wie alle unsere Erkenntniskräfte die Selbsterkenntnis zum Gegenstand haben, so
unsere Neigungen v Begierden die Selbstliebe. Das erste ist unsere Weisheit, das letzte
unsere Tugend. So lange es den Menschen nicht mögl. ist, sich selbst zu kennen; so lange
bleibt es eine Unmöglichkeit für ihn sich selbst zu lieben.43
Selbstliebe in diesem moralphilosophischen Sinn setzt Selbsterkenntnis voraus.
Gemeint ist damit bei Hamann jedoch keine vorwiegend intellektive oder introspektive Leistung, sondern eine Aufforderung an den Menschen, sich von der
Fixierung auf die eigene Person und ihre Interessen zu lösen. Wenn der Mensch
zu seiner Selbsterkenntnis sowohl die »erste Ursache aller Dinge« als auch alle
»Mittelwesen, die mit uns in Verbindung stehen«44 benötigt, wird er dazu genötigt, sich selbst als etwas zu begreifen, das nur in einem Zusammenhang
existiert. Die geeignete ›Methode‹ einzusehen, wer und was er ist, besteht anders
gesagt nicht darin, zu versuchen, sich abzugrenzen, sondern umgekehrt sich in
den Zusammenhang, die »Reyhe der erschaffenen Dinge«45 einzuordnen. Besonders hebt Hamann dabei das Sich-im-Andern-Erkennen, also den Bezug zum
Nächsten hervor. Hatte er zuvor noch von einer »Unmöglichkeit uns selbst zu
kennen«46 gesprochen, erwägt er nun die für das menschliche Selbst konstitutive
Beziehung zum Anderen:
Um die Erkenntnis unserer Selbst zu erleichtern, ist in jedem Nächsten mein eigen
Selbst als in einem Spiegel sichtbar. Wie das Bild meines Gesichts im Wasser wiederscheint; so ist mein Ich in jedem Nebenmenschen zurückgeworfen. Um mir dieses Ich so
lieb als mein eigenes zu machen, hat die Vorsehung so viele Vortheile und Annehmlichkeiten in der Gesellschaft der Menschen zu vereinigen gesucht.47
Aufschlussreich für Hamanns Neubewertung der Selbstliebe ist die Metaphorik
von Spiegel und Wasser. Wie in Umkehrung zu derjenigen emblematischen
Tradition, welche die tadelnswerte, weil auf das bloße Eigeninteresse gerichtete
42 In diesem Punkt zeigt sich die Differenz zu Friedrich II. Während dieser für seinen Begriff von
Tugend nur die Handlungen als solche, nicht aber deren Motive als ausschlaggebend ansieht,
also Handlungen, die jemand um seines eigenen Interesses willen vollzieht, durchaus moralisch nennen kann, spricht Hamann in diesem Kontext eben nicht von Moral. Vgl.:
Friedrich der Große: Eigenliebe als moralische Triebfeder, S. 107: »Wie viele Züge von Tugend,
wie viele unsterbliche Ruhmestaten hat man nicht tatsächlich dem Instinkt der Selbstliebe zu
verdanken?«
43 Hamann: Brocken, S. 408.
44 Hamann: Brocken, S. 409.
45 Hamann: Brocken, S. 413.
46 Hamann: Brocken, S. 408.
47 Hamann: Brocken, S. 410.
Selbstliebe und Selbsterkenntnis
23
Selbstliebe, als Narziss darstellt,48 macht Hamann die Selbstliebe zur positiven
Voraussetzung für die Liebe des Menschen zu seinem Nächsten – gemäß dem
Gebot »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Selbstliebe wird nicht
in Opposition zu und als potentielle Gefährdung für Gottes- und Nächstenliebe
gesehen, sondern als dasjenige, was Nächstenliebe als Gebot ermöglicht und
darüber hinausgehend zur Selbsterkenntnis verhilft. Dass mir ›mein Ich in jedem
Nebenmenschen zurückgeworfen‹ ist, kann ja zwei Bedeutungen haben: Einmal
bedeutet es, dass der Mensch, indem er Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen sich
und Anderen wahrnimmt, diesen eben dieselbe Wertschätzung und Anerkennung entgegenbringt wie auch seiner eigenen Person. Zum zweiten heißt es, dass
er mit Hilfe des Anderen allererst in Erfahrung bringt, was sein Selbst ausmacht.
Die primär affektive, auf das eigene Interesse zielende Selbstliebe wird zur
Grundlage für die moralische Ausübung der Nächstenliebe: Aufgrund der ersteren sucht der Mensch die Nähe Seinesgleichen. Die Vorteile, welche er dadurch
erfährt, haben dann – in Hamanns teleologischer Interpretation – den Zweck, ihn
über bloßen Eigennutz hinaus zur Liebe des Anderen hin zu führen. An diesem
Punkt zeigt sich deutlich der Unterschied Hamanns zu derjenigen theologischen
Tradition, welche in der Selbstliebe eine Quelle von Sünde und Abwendung von
Gott sieht. Ludwig Prasch spricht zwar von einem inneren Naturrecht, welches
ein Recht der Selbstliebe beinhalte,49 spricht aber letztlich in direkter Bezugnahme auf Luther50 der Beziehung zum Anderen Priorität zu51 und zwar solchermaßen, dass ein Aufgeben des eigenen Selbst als moralisches Desiderat erscheint.52 Hamann vertritt demgegenüber eine entgegengesetzte Position, indem
er den Selbstbezug des Menschen sowohl in theoretischer als auch in praktischer
Hinsicht zum Maßstab seiner Bezugnahme auf Äußeres macht. So notiert er 1776
in einer Anmerkung zu seiner Buffon-Übersetzung: »Die einheimische Selbsterkenntniß scheint die Einheit zu seyn, welche das Maß und Gehalt aller äußerlichen Erkenntniß bestimmt; so wie die Selbstliebe der Grundtrieb aller unserer Wirksamkeit ist.«53 Darin zeigt sich ideengeschichtlich betrachtet zwar
48 Ulrich Dierse: Art. »Selbstliebe I.« In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9. Hg.
von Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Basel 1995, Sp. 465–476, hier Sp. 471.
49 Vgl. dazu: Hans-Peter Schneider: Justitia Universalis. Quellenstudien zur Geschichte des
christlichen Naturrechts bei Gottfried Wilhelm Leibniz. Frankfurt a.M. 1967, S. 303–304.
50 Zu Luthers Verurteilung der Selbstliebe vgl.: Susanne Knoche. Art. »Selbstliebe II.« In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer,
Sp. 465–487, hier Sp. 476.
51 Friedrich Vollhardt: Die christliche Liebe und das Naturrecht der Sozialität: Problembezüge
im Werk von Ludwig Prasch (1637–1690). In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter.
Hg. von Wolfgang Adam Bd. I. Wiesbaden 1997 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung Bd. 28), S. 275–287, hier S. 282.
52 Vgl.: »In Theologiâ Teitonicâ à Luthero & Arndio editâ, saepe legitur, daß die Ichheit/
Meinheit/ Selbstheit muß zu nichte warden.« (zitiert nach: Vollhardt: Problembezüge, S. 282).
53 N IV, S. 424 (Über den Styl).
24
Anthropologie bei Hamann
gewiss eine Aufwertung des Individuums, jedoch nicht so, dass diese in einen
Solipsismus führen würde: nicht nur, weil Hamann die Angewiesenheit des
Menschen auf Seinesgleichen betont, sondern auch weil er in der liebenden
Bezugnahme auf den Anderen nicht so sehr eine Pflicht sieht, als vielmehr etwas,
das der Mensch gerne tut. Dies veranschaulichen insbesondere zwei Äußerungen
Hamanns. Zum einen folgende enthusiastisch formulierte Passage aus den
Brocken: »Was für ein Gesetz, was für ein entzückender Gesetzgeber, der uns
befiehlt ihn selbst mit ganzem Herzen zu lieben und unseren Nächsten als uns
selbst.«54 Durch die Konjunktion ›und‹ werden die Gebote der Gottes- und
Nächstenliebe (5. Mose 6,5 und 3. Mose 19,18) gemäß der Auslegung Jesu in
Math. 22,37–40 einander gleich geordnet. Dadurch wird letztlich die Beziehung
des einzelnen Menschen zu einem anderen konstitutiv für seinen Bezug zu Gott.
Zum anderen hat Hamann in einem Brief an Herder von 1776 das Gebot der
Nächstenliebe in einem entscheidenden Detail umformuliert:
Ich hoffe, liebster Gevatter, sie werden aus meiner Selbstliebe die beste Ahndung auf die
Liebe meines Nächsten ziehen. Vielleicht ist dies der höchste Grad, höher als das wie,
seine Freunde in sich selbst zu lieben, als die wahren Glieder unsers Glückssystems, als
die Eingeweide seines Lebens.55
Indem Hamann das vergleichende ›wie‹ durch ›in‹ ersetzt, intensiviert er die
Beziehung zwischen Selbst und Gegenüber. Der Andere ist nicht nur jemand, zu
dem ich in Beziehung treten kann oder soll, sondern jemand, der auf eine unmittelbar praktische und vor allem vitale Weise mit mir verbunden ist, was vor
allem die Metapher der Eingeweide nahe legt. Die oben zitierten drei Alternativen
Shaftesburys, Glückseligkeit zu erlangen, werden von Hamann klar zugunsten
der ersten entschieden. Ohne andere Menschen zu lieben, ist es für den Menschen unmöglich, glücklich zu sein.
In ihren Ergebnissen, vor allem dadurch, dass Hamann die soziale Qualität der
primären Selbstliebe hervorhebt, zeigt sich, dass seine Konzeption durchaus mit
der innerhalb der Naturrechtsdiskussion entwickelten Anthropologie konkurrieren kann. Friedrich Vollhardt hat gezeigt, dass im 17. Jahrhundert, vor allem
bei Pufendorf, Paradigmen christlicher Anthropologie, nämlich Sündhaftigkeit
und Gottesebenbildlichkeit, »Konkurrenz durch eine ›ex origine‹ erwiesene Sozialisationstheorie« erhielten, deren besondere Leistung darin bestand, der »als
verderbt gedachten (Trieb)natur des Menschen soziale Züge und eine Sphäre
subjektiver Rechte«56 abzugewinnen. Hamanns Theorie leistet im Wesentlichen
54 Hamann: Brocken, S. 410.
55 An Johann Gottfried Herder, 09. 08. 1776. ZH III, S. 241.
56 Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2001, S. 68.
Selbstgesetzgebung, Erstgeburt und Nächstenliebe
25
dasselbe: Sie erklärt aus dem Umstand, dass der Mensch nach ›Vorteilen und
Annehmlichkeiten‹ für sich strebt, die Möglichkeit geselligen und moralischen
Handelns.
Allerdings unterläuft Hamanns Begriff von Selbstliebe die im Naturrechtsdiskurs getroffenen Unterscheidungen und Annahmen an zwei Stellen. Wenn
erstens mein Selbst auf vitale Art und Weise mit dem eines Anderen verbunden
ist und ich ohne Bezugnahme auf einen Anderen keinen Begriff von meinem Ich
bekommen kann, dann scheint es nicht mehr sinnvoll zu sein, Selbst- und
Fremdwahrnehmung nach Priorität voneinander zu unterscheiden.57 Und wenn
zweitens meine Beziehung zum anderen schon affektiv bestimmt ist, dann lassen
sich Selbstliebe und Sozialität nicht einer Unterscheidung von Sinnlichem und
Vernünftigem entsprechend zuordnen.58
3.
Selbstgesetzgebung, Erstgeburt und Nächstenliebe
Die Problematik folgender Passage lässt sich nun näher erschließen und explizieren: »Jeder ist sein eigener Gesetzgeber, aber zugleich der Erstgeborne und der
Nächste seiner Unterthanen.«59 Ich vertrete hier die These, dass Hamanns Behauptung von einer prima facie widersprüchlich anmutenden Gleichzeitigkeit
von Rechten und Pflichten des Individuums sich aus der Verschiedenheit des hier
in komprimierter Form zusammengeführten Gedankenguts ergibt.
Zum Privileg der Erstgeburt ist ein Blick in Luthers Schrift Von der Freiheit
eines Christenmenschen aufschlussreich. Dort findet sich eine Deutung des
Konzepts der Erstgeburt, welche diese mit einer auf der Christusgleichheit des
Gläubigen basierenden Teilhabe an Rechten verbindet:
Um weiter zu sehen, was wir an Christus haben und was für ein großes Gut ein rechter
Glaube ist, muß man wissen, dass im Alten Bunde […] Gott sich alle männliche Erstgeburt von Menschen und von Tieren aussonderte und vorbehielt […]. Die Erstgeburt
war etwas Kostbares und hatte zwei große Vorzüge vor allen andern Kindern, nämlich
die Herrschaft und die Priesterschaft (oder das Königtum und das Priestertum), so dass
auf Erden das erstgeborene Knäblein ein Herr über alle seine Brüder und vor Gott ein
Priester oder Papst war. Damit ist gleichnishaft auf Jesus Christus hingedeutet, der in
57 Nach Pufendorf nimmt der Mensch natürlicherweise zunächst sich selbst und erst dann die
Existenz Anderer wahr: »naturaliter prius est sentire sui quam aliorum existemtiam.« (zitiert
nach: Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit, S. 80, Anm. 82).
58 Vgl. Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit, S.84.
59 N III, S. 38.
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