festivalzeitung

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anstalt03
17.06.2007
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FESTIVALZEITUNG
NR. 03 / 18.06.2007
Uraufführung: La Libertad / Freiheit
Foto: Frank Heller
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MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 18.06.2007
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INHALTSVERZEICHNIS
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FREIHEIT IST ANSTECKEND – Editorial
VERDAMMTE LOTTERBUBENWELT – Schwarze Minuten
ALLE GEBEN ALLES – Gespräch mit Christiane J. Schneider
SCHÖLLER, SCHALLER, SCHELLER – Pension Schiller
MENSCHENZOO – Karneval der Tiere
KEINE MACHT DEN DOGEN – Fiesque
KÖNIGINNEN IM KERKER – Maria Stuart
SCHILLER UND ICH – Die Zeitungsmacher
EINSAME FREIHEIT – La Libertad
SCHILLER UND ICH – Die Festivalmacher
BEI ZUSCHAUEN ZUSCHAUEN – Foyer-Flaneur
SPIELPLAN MONTAG 18. Juni / KNALLGELBE RÄDER
Die 14. Internationalen Schillertage wurden ermöglicht und gefördert durch:
den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien,
dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg,
der Stadt Mannheim/Büro 2007, die Brasilianische Botschaft Berlin und
das Brasilianische Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten
sowie das Goethe Institut
Wir bedanken uns für die großzügige Unterstützung bei unseren Partnern:
Hauptsponsoren: MVV Energie AG, John Deere, Freunde und Förderer
des Nationaltheaters Mannheim e.V.
Co-Sponsoren:
Augusta Hotel Mannheim, Comvos Medien, Dr. Haas GmbH, Engelhorn Mode GmbH,
Fashionlabel Schumacher, HM Interdrink, Kurpfalzsekt Sektkellerei AG, Mercedes-Benz
Niederlassung Mannheim-Heidelberg, Rhein-Neckar-Verkehr GmbH,
The Cruise Cafe Hotel Mannheim und beim SWR 2.
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SERVICE
IMPRESSUM
KARTENVORVERKAUF
THEATERKASSE AM
GOETHEPLATZ
Mo & Sa 11–13 Uhr
Di & Fr 11–18 Uhr
An allen Vorstellungstagen
außerdem von 18–20 Uhr
KARTENTELEFON
Telefon 0621/1680 150
Telefax 0621/1680 258
PER E-MAIL
Nationaltheater.kasse@
mannheim.de
FESTIVALZEITUNG DER
14. INTERNATIONALEN
SCHILLERTAGE
Ein Projekt des Nationaltheater
Mannheim zur Förderung des
kulturjournalistischen Nachwuchses
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HERZLICHEN DANK
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BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM
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FREIHEIT IST ANSTECKEND
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ekanntlich hat Schiller niemals
das Meer gesehen. Dabei war er
während seiner Mannheimer
Zeit ein unermüdlicher Wanderer. Schillers lebenslange Verwurzelung
in Deutschland lässt die Beziehung
„Schiller und Südamerika“ auf den ersten
Blick eher ungewöhnlich erscheinen; ungewohnt ist sie in jedem Falle. Dabei
zeigt ein Blick auf die mit allen Insignien
der Unfreiheit gezeichnete Geschichte
und Gegenwart vieler südamerikanischer
Länder, dass Schiller ein potenzieller spiritus rector dort lebender Menschen sein
könnte.
Derzeit scheitert die Popularisierung
von Schillers Werken jenseits des Atlantik
unter anderem noch daran, dass wenige
Übersetzungen seiner Texte vorliegen.
Die Beziehung des südamerikanischen
Theaters zu Schiller könnte sich in nächster Zeit allerdings doch vertiefen.
Immerhin inszeniert gerade eine Riege
südamerikanischer Regisseure für die
Schillertage. Einer von ihnen, Alejandro
Tantanian aus Buenos Aires, liefert mit
seinen freien Variationen zu Schillers
Leben und dem Titel „La Libertad“ (Die
Freiheit) geradezu die Überschrift zu
einer denkbaren Liaison „SüdamerikaSchiller“.
Wir sitzen in der Generalprobe. Die
Zuschauer wirken wie Schüler in einer
„Schule der Freiheit“ und nehmen auf
Sitzbänken Platz. Das Thema der heutigen Stunde könnte „Vom Suchen und
Finden der Freiheit – am Beispiel des ar-
gentinischen Schiller-Verehrers Pablo
Soler“ lauten. Wer Alejandro Tantanian
während der Probe erlebt, bemerkt
schnell, dass Freiheit für diesen Mann
nicht nur eine ästhetische Kategorie,
sondern eine Herzensangelegenheit und
Lebenseinstellung ist. Freiheit ist ansteckend. Wer einmal die Erfahrung gemacht hat, Grenzen zu überwinden,
wird nicht nur danach streben, die Erfahrung zu wiederholen, sondern verfügt
über eine charismatische Ausstrahlung,
die auf andere inspirierend wirkt.
Tantanian ist in mehrfacher Weise ansteckend: als künstlerischer Vermittler
des Freiheitsgedankens und als persönlicher Botschafter südamerikanischer Lebensfreude. Während der Generalprobe
steckt Tantanian das Publikum des Öfteren durch sein Lachen an, er lacht allerdings stets mit den Menschen, nicht über
sie. Scheinbare Pannen während der
Probe erweisen sich schnell als elementarer Bestandteil der Inszenierung.
Kurz nach der Generalprobe sitzt
Tantanian mit seinem Ensemble bei der
Schill-Out-Party im Nationaltheater in der
vordersten Reihe und lässt sich fotografieren. Auch jetzt, am Vorabend der Premiere ist sein Lachen noch ansteckend.
Soeben hat ein Kellner bei einem Zusammenstoß auf der Tanzfläche für glükksbringende Scherben gesorgt. Man
könnte meinen, Tantanian sorge auch abseits der Bühne für Inszenierung.
✶ MANUEL VON ZELISCH
✶ LYDIA DARTSCH
HERAUSGEBER
Nationaltheater Mannheim,
Mozartstraße 9, 68161 Mannheim
GENERALINTENDANTIN
Regula Gerber
CHEFREDAKTION
Jürgen Berger
CHEFIN VOM DIENST
Sabine Demm
REDAKTION
Lydia Dartsch, Kristina Faber, Jan Fischer,
Moritz Hummrich, Jule D. Körber,
Marcel Maas, Moni Münch, Melanie
Troger, Manuel von Zelisch
KONZEPT
Jürgen Berger, Sabine Demm, Kristina
Faber, Gerhard Fontagnier, Jochen Zulauf
GESTALTUNG
fathalischoen, Frankfurt
LAYOUT
[email protected], Mannheim
DRUCK Mannheimer Morgen
Großdruckerei GmbH
ANZEIGEN Mannheimer Morgen
AUFGEWECKT IN DEN TAG
DR. HAAS GMBH
Die Zeitung erscheint als
Beilage im Mannheimer Morgen
und wird unterstützt von
Deere & Company
und der Dr. Haas GmbH
Alejandro Tantanian
Foto: Ernesto Donegana
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BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM
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VERDAMMTE LOTTERBUBENWELT
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Foto: Hans Jörg Michel
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Tim Egloff (Nachbar), Ralf Dittrich (Schubart), Reinhard Mahlberg (Swan, der alte Loup) und Taner Sahintürk (Loup, der junge Swan)
M
it seinen „Schwarzen Minuten“ reihte der Dramatiker
und Lyriker Albert Ostermaier
sich am Freitag in die Riege der einträchtigen Geister ein und eröffnete die
14. Mannheimer Schillertage. Das Stück
allerdings, das in der Regie von Burkhard
C. Kosminski im Schauspielhaus uraufgeführt wurde, startete steil und blieb in
der Bilderfülle stecken: Zu viele Antworten, zu viele Ebenen, zu eng aufeinander;
im Zusammenspiel undurchsichtig dicht.
In Friedrich Schillers Novelle „Verbrecher
aus verlorener Ehre“, der Vorlage für
Ostermaiers Stück, bezeichnen die
„schwarzen Minuten“ jenen Augenblick,
die den Mörder zum Mörder machen,
den letzten, in dem das Gewissen noch
eine ernsthafte Rolle spielt.
Schiller erzählt von Christian Wolf,
der aus Eifersucht zum Mörder wird, ins
Gefängnis geht und erst dort zum wahrhaft schlechten Menschen wird. Ostermaier mischt eine Menge anderer Geschichten unter, die allesamt das gleiche
erzählen. Sein Antiheld heißt Loup Swan,
ist Wolf und Schwan, wie Christian Wolf
auch schon beides war: Christ und Bestie.
Taner Sahintürk gibt den jungen Loup
„weidwund“ und sentimental: Er ist ein
Was macht den Mensch zum Menschen? Wird eine Frage so oft
gestellt, verwundert es nicht, dass die Antworten einander gleichen. Dass der Mensch die Anlage zum Bösen qua Geburt erbt;
dass er ein Produkt seiner Umgebung ist; dass er nicht gut sein
kann, wenn der Staat schlecht ist – auf diese Eckpfeiler der conditio humana haben Dichter und Denker sich stets geeinigt.
Monster und doch der Einzige, der noch
auf die Härte einer Welt reagiert, in der
Sex und Geld Gefühle ersetzen. Er tut das
mit wachsender Härte, passt sich an, driftet ins Extrem. Die Fragmentierung des
Menschen, die Schiller wortreich umschreibt, übersetzen Ostermaier und Kosminski plakativ. Sie schicken den jungen
und alten Swan (Reinhard Mahlberg) gemeinsam auf die Bühne – der Mensch ist
immer auch das, was er war und irgendwann sein wird.
Doch zunächst ist Swan ein junger
Mann mit großen Plänen und kleinem
Geldbeutel, der seine Jeanne (Hannah
von Peinen) an den finanzstarken Profitgeier Robert (Michael Fuchs) verliert und
sich rächt. Im Gefängnis wird sein Weg in
die Verdammnis unausweichlich: „Ich betrat die Festung als ein Verirrter und verließ sie als Lotterbube“.
So weit, so simpel. Auf dem Weg zu
eindringlichen Bildern ziehen Ostermaier
und Kosminski allerdings mehr Register
als sie müssten, öffnen eine Assoziationskiste nach der anderen. Kosminski hat die
Handlung in die Zeit breiter Koteletten
und toupierter Pferdeschwänze verlegt, in
die Siebziger. Sein Swan steht mit Pilotenbrille und in Unterhose im Gefängnis,
spricht ins Megafon und davon, den Millionär herauszugeben und sich gegen die
Isolationshaft zu wehren. Ein bisschen
Christian Klar, ein bisschen Baader-Meinhof, ein bisschen viel ach-so-deutsche
RAF-Vergangenheit. Freilich ließe sich
auch die Geschichte des Franzosen Jacques Mesrine in die Szene lesen: Mesrine,
der Ende der Siebziger den Millionär Lelièvre entführte, zum Staatsfeind Nummer Eins erklärt und von Polizisten erschossen wurde.
Das Problem: Die „Schwarzen Minuten“ beginnen bürgerlich und enden als
Staatsschelte, subtextlastig, collagenartig
und handlungsberaubt. Ostermaier und
Kosminski gelingt keine allgemeingültige
Parabel, sondern in der zweiten Hälfte
des Stücks lediglich ein Panoptikum der
Eindrücke.
Die allerdings wühlen im Hirn: Das
Gefängnis etwa ist ein Sinnbild des feindlichen Staates, eine Stätte totaler Entmenschlichung, Swans Heimatviertel ein
Ort ohne Ausweg. Auf Florian Ettis
Bühne ist nichts Schönes, nichts Menschliches. Alles spielt in einer düsteren Welt,
in der die Alten die Jungen nicht verstehen können und die Jungen die Alten
nicht verstehen wollen. Swanns Mutter,
packend derbe gespielt von Ragna Pitoll,
zerbricht daran.
Die Moral gibts am Ende grob gehäckselt obenauf, damit niemand sie
übersehe: „Die Menschen sind Verbrecher. Sie kommen unschuldig auf die
Welt, aber sie bleiben es nicht.“ Loup
Swan kann auf seinen Widersacher zwar
schießen, die Roberts unter den Menschen allerdings sind niemals aus dem
Weg. Loup dagegen erstickt an seinen
Worten. Wahrheit will die Welt nicht
hören. Sie könnte zuviel erfahren. Über
sich selbst.
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MONI MÜNCH
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MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 18.06.2007
BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM
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ALLE GEBEN ALLES
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Christiane J. Schneider hat
fünf Jahre in Frankfurt inszeniert und ist seit 2006 als
Hausregisseurin am Mannheimer Nationaltheater.
Betrachtet man die Riege der Regisseure in diesem Jahr, sind sie als
junge Frau noch immer die Ausnahme. Nehmen Sie die Regie als
Männerdomäne wahr?
Schneider: Ich habe das extrem so
wahrgenommen, als ich anfing, Regie zu
studieren. Das hat sich aber innerhalb
der letzten fünf Jahre rapide verändert.
Als ich studiert habe, gab es durchaus
noch Schauspieler, die sich nicht vorstellen konnten, mit einer Frau zu arbeiten,
erst recht nicht mit einer jüngeren. Das
kann heute keiner mehr sagen, sonst
hätte er ein Problem. Aber auch ich persönlich habe Zeit gebraucht, um so weit
zu kommen: Regie zu führen, ohne
männlich zu sein, ohne Ellenbogen. Dieses Ego-Ding wird allerdings weniger,
stattdessen nimmt man den Schauspieler als eigenständige Person immer ernster. Auch viele Männer arbeiten inzwischen so.
G
ibt es einen Unterschied zwischen dem Frankfurter und
Mannheimer Publikum?
Christiane J. Schneider: Ja klar, das
ist ein Unterschied wie Tag und Nacht.
Frankfurt ist größer, aber die Menschen
dort gehen nicht ins Theater. Es ist ganz
schwer, ans Publikum ranzukommen,
man hat immer das Gefühl, die Menschen haben keinen Bezug zur Stadt.
Hier in Mannheim ist es das krasse
Gegenteil: Es gibt Reaktionen, die Leute
setzen sich mit den Inszenierungen auseinander. Die Mannheimer sind einfach
wahnsinnig dabei. Das ist toll, weil es ein
ganz direktes und emotionales Feedback
gibt. Das kenne ich aus Frankfurt überhaupt nicht.
Wie haben die Mannheimer Sie aufgenommen?
Schneider: Ich fühle mich wohl und
gut aufgenommen. Ich habe hier bisher
drei Arbeiten gemacht; „Kabale und
Liebe“ läuft im Moment und das ganz
gut.
Was hat Sie an „Kabale und Liebe“
gereizt?
Schneider: Mich fasziniert Schiller
an sich wahnsinnig, weil ich seine Sprache kraftvoll und modern finde. Außerdem ist jede seiner Figuren gebrochen
und dem Leben ausgesetzt. Gerade
Luise: Von ihr kommen manchmal Sätze,
die mich überraschen. Dadurch sind die
Charaktere sehr lebendig.
Steht man unter besonders strenger
Beobachtung, wenn man Schiller in
Mannheim macht?
Schneider: Die Mannheimer kennen ihren Schiller. Sie achten auf jedes
Detail. Ich saß einmal in der Vorstellung
von „Kabale und Liebe“ und vor mir
saßen drei Damen, die jede kleine Veränderung bemerkt und ziemlich kritisch
reagiert haben. Dabei hatten wir überhaupt nicht versucht, das Stück zu brechen.
CHRISTIANE SCHNEIDER
Trifft Sie das?
Schneider: In diesem Fall fand ich
es ganz lustig, aber ich habe mir natürlich Gedanken gemacht. Manchmal gibt
es aber auch Dinge, da denke ich mir:
Die haben Recht. Man ist ja selbst sehr
kritisch mit der eigenen Arbeit.
Welche Bedeutung hat ein Festival
wie die Schillertage?
Schneider: Ich habe hier festgestellt,
dass es eine enorme Bedeutung hat: Einerseits für die Stadt, aber auch für das
Theater. Es wird sehr dankbar aufgenommen, dass auch Stücke aus anderen
Städten gezeigt werden. Da die Mann-
Foto: Lydia Dartsch
heimer so theaterbegeistert sind, erleben
sie sehr intensiv, dass sie über ihren eigenen Tellerrand schauen und vergleichen
können. Und auch im Nationaltheater
selbst geht man und fiebert man mit, alle
geben alles. Diese Spielzeit – mit Neuanfang, Jubiläum und Schillertagen – war
auch nur mit dem Feedback zu stemmen,
das von der Stadt kam.
Finden die Theatermacher während
des Festivals Zeit zum Austausch?
Schneider: Auf jeden Fall. Man kann
sich nicht alles ansehen. Aber ich weiß,
dass sich die Schauspieler total darauf
freuen, andere Stücke anzuschauen.
Merkt das auch der Zuschauer?
Schneider: Ich glaube, dass es im
Theater heute sehr um eine neue Ehrlichkeit geht und weniger um das Behaupten von Gefühlen. Das hat viel
damit zu tun, dass sich die Sehweise und
damit auch die Machart geändert hat.
Wir zeigen nicht mehr die großen Gefühle, da wir das mittlerweile als verlogen empfinden. Wir erleben eben einen
Ideologie- oder Utopieverlust. Anstelle
der Utopien sind andere Dinge getreten:
Angreifbarkeit, Verletzlichkeit, gepaart
mit Ehrlichkeit, jenseits von Perfektion.
Eine Illusion des Perfekten kann das Theater ohnehin nicht bieten, dazu ist der
Film da. Also machen wir diese Schwäche zu einer Stärke. Und diese Arbeitsweise entspricht mir zumindest als Frau
sehr. Trotzdem muss man als Regisseurin
natürlich den Leithammel geben.
Gibt es männliches und weibliches
Inszenieren?
Schneider: Nein. Ich würde sagen,
es gibt eine männliche und weibliche
Seite, viele Frauen, die eine sehr männliche Seite beim Inszenieren haben, und
umgekehrt.
Gespräch:
✶ LYDIA DARTSCH
✶ MONI MÜNCH
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BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM
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Im Kiosk am Wasserturm logiert die Pension Schiller
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Foto: Hans Jörg Michel
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SCHÖLLER, SCHALLER, SCHELLER
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S
o viele Stücke gehen hier ernst an
Schiller ran“, sagt Oliver KrietschMatzura, Regisseur der Pilotfolge
von „Pension Schiller“. „Wir sind mehr
so die Spaßfraktion.“ Volker Bürger, Dramaturg am Nationaltheater Mannheim
sagt es knapper: „Die Irren“, nennt er die
bunte Truppe von „Drama Köln“, die ihre
Schiller-Soap an verschiedenen, noch geheimen Orten der Stadt spielt. Bürger lächelt, als er das sagt. „Drama Köln“ und
Bürger verbindet eine Freundschaft. Man
traf sich. Man wollte was zusammen machen. „Irgendwann kamen wir auf die
Schillertage“, sagt Krietsch-Matzura. Und
darauf, eine Schiller-Soap zu schreiben
und zu inszenieren. Live, mit vier Autoren und vier Regisseuren. Geschrieben
wird nachts, im Kiosk am Wasserturm,
einem mit Heu ausgelegtem Glaskasten.
Insgesamt liegen 36 Stunden zwischen
den einzelnen Folgen. „Das kann auch
schief gehen“, sagt Krietsch-Matzura.
Gespielt wird die Pilotfolge auf dem
Großmarkt, einem grauen Industriegelände irgendwo in den Outskirts von
Mannheim. Bei den Proben platziert
Krietsch-Matuzra eine der Soap-Figuren
um eine tapsige Weltkugel mit Entenfüßen. Die Weltkugel fragt, ob es vielleicht besser ist, wenn sie statt dem
Plüschkätzchen den Plüschelch nimmt.
Es gibt Glitzer, es gibt Leoparden-Stilettos, es gibt Jack
Johnson. Es gibt Moses P., es gibt einen goldenen Kronleuchter, es gibt einen Stuntfahrer. Friedrich Schiller kommt erstmal
nicht vorbei.
Nein, sagt der Regisseur, die Katze wäre
besser, wegen der sexuellen Komponente.
Pussy und so. Gegenüber bleiben mehrere Kisten Melonen erstmal unverladen.
Rauchende Verladearbeiter schauen
immer wieder herüber. Krietsch-Matzura
beginnt im Kostümlager zu kramen, zündet eine Zigarette an. Er wirkt gestresst,
natürlich, er soll ein vierzigminütiges
Stück in drei Tagen inszenieren. Nein,
sagt er, er wäre immer so. Anders ginge
das gar nicht.
Für die Pilotfolge gibt es noch drei
Tage Zeit. Danach ist die Aufgabe, ein
Stück in 36 Stunden zu schreiben und zu
inszenieren. Kai Ivo Baulitz ist der zweite
Autor der „Pension Schiller“. Eigentlich
ist er Schauspieler. Er hat zwei Kinder
und „zweieinhalb Stücke“. Das nächste
Stück schreibt er in einer Nacht, in einem
vollverglasten Kiosk, an dessen Scheiben
ständig Leute klopfen. „Die Verabredung
ist, dass die beklopptesten Sachen
gehen“, sagt er, sitzt zwischen Notizen
und Red-Bull-Dosen im Kiosk am Wasserturm. Gerade hat er die Pilotfolge gesehen. Die beginnt mit quietschenden
Reifen. Jack Johnson salbadert seichte
Strandmusik, der Großmarkt tut sein bestes, nicht wie ein Strand auszusehen.
Dann kommen die Stilettos, die Weltkugel, der goldene Kronleuchter, MetteMarit, „Kaiserin von Norwegen“. Die
Story ist ganz einfach: Moses P. will Teile
Mannheims sprengen, um Xavier Naidoo
zu dissen, aber drei tapfere Ein-EuroKräfte vereiteln den Plan erstmal, gehen
dabei über Leichen und entführen jemanden namens Fritz Schaller oder
Franz Schöller, auf keinen Fall aber Klaus
Scheller, der eigentlich Stadtschreiber
von Mannheim ist, aber verdeckt für
Moses P. arbeitet.
„Pension Schiller“ ist eine typische
„Drama Köln“-Inszenierung. „Als Regisseur“, sagt Matzura, „muss man an
einem bestimmten Punkt vergessen, was
man gelernt hat.“ Die Produktionen von
„Drama Köln“ sind gerne mal abseitig,
spielen gerne mal an ungewöhnlichen
Orten, spielen gerne mal mit Theaterkonventionen.
So auch in Mannheim: All die
Stücke, Diskussionen, Seminare während
der Schillertage beschäftigen sich mit
Schiller, setzen sich mit ihm auseinander,
sezieren ihn, setzen ihn voraus. „Pension
Schiller“ beginnt damit, ihn erst einmal
zu suchen. Die Autoren probieren, wie
es ist, in Mannheim zu schreiben. In den
am Kiosk ununterbrochen laufenden Videos entdeckt die Truppe von Drama
Köln die Stadt. Die inhaltliche Suche
nach Schiller ist ein Spiel mit Vokalen:
Schöller, Schaller, Scheller. All dieses poppige, bunte, glitzernde, all der Witz ist
kaum etwas anderes als der Deckmantel
für eine durchaus ernste und wichtige
Frage, nur eben mit Mitteln von Menschen beantwortet, die bei dem Wort
Mannheim nicht zuerst an Schiller denken, sondern an Xavier Naidoo: Wo ist
dieser Schiller eigentlich? Eine Frage, die
auch wichtig für die Schillertage ist, vielleicht sogar die wichtigste. Pension Schiller gibt gleich die Antwort: Nicht hier.
Vielleicht kommt er später.
Aber nicht zum Großmarkt. Der ist
erstmal ausgespielt. „Das nächste mal sind
wir in einem Trafowerk“, sagt KrietschMatzura, „ ungefähr so groß wie zwei
Fußballfelder. Eigentlich ist das unmöglich
zu bespielen.“ „Außerdem“, sagt Baulitz,
„gibt es in der eine Überraschung“. Vielleicht kommt Schiller ja vorbei.
✶ JAN FISCHER
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BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM
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MENSCHENZOO
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Karneval der Tiere
Foto: Frank Heller
ir klopfen zu dritt gegen die
Schaufensterscheibe eines
Woolworth. „Wir“, das sind
ein Schaf und ich, ein Tiger. Der Wolf
klopft um die Ecke. Nur kurz vorher hat
mich ein Gorilla angekläfft, als gerade
eine Katze rückwärts laufend vorbei kam.
Das Pferd, das vorhin seine Nüstern an
meinen Schnurrharren rieb, habe ich
schon länger nicht gesehen.
„Der Mensch (...) erhält sein tierisches Leben, um ein geistiges länger
leben zu können.“ schrieb Schiller in seiner Dissertation „Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen
mit seiner geistigen.“ Was passiert, wenn
man Schillers Erkenntnisse an sich selbst
forschend nachvollzieht? Wie wird man
zur Chimäre, zum menschlichen Tier?
Diesen Fragen geht die Radiogruppe
LIGNA nach mit ihrer Performance „Karneval der Tiere – Ästhetische Übungen
zum Tierwerden“, in der das Publikum
zum Akteur in der Fußgängerzone wird.
Uns hilft dabei eine Tüte mit einer
Tiermaske, einer Matte, einer Blume und
- ein Radio mit Kopfhörern. Die Stimmen
von LIGNA führen uns durch Mannheim
in einem Ton zwischen Märchenerzähler
und Lern-CD. Die ersten Übungen sind
einfach. Es kostet kaum Überwindung,
sich lauschend auf die Pflastersteine zu
legen, um die Ameisen, das tierische
Leben unter dem vom Menschen Geord-
neten, zu hören. Schwierig wird es erst
auf der Breiten Straße. In der Fußgängerzone fallen wir schnell auf, von unsichtbarem Theater kann nicht mehr die Rede
sein. Doch wer ist hier Zuschauer, wer
Akteur? Wir sind auf einer zu großen Fläche verteilt, haben uns nicht mehr gegenseitig im Blick, das macht unsicher. Überall andere Menschen.
Als ich liegend meine Blume esse,
fragt mich eine Frau, ob ich Hilfe
bräuchte, ob sie einen Arzt holen solle.
Wir setzen unsere Tiermasken auf, sie
wirken wie ein Schutz, machen uns als
Theater sichtbar. Als wir tanzen, blitzt es
um uns herum, Handykameras filmen.
Ein Mann steckt mir einen Flyer zu: „Suchen Sie verzweifelt Arbeit? Wir haben
den richtigen Job für Sie!“
Kurz vor dem Ende kreisen wir mehr
durch Zufall eine Gruppe Jugendlicher ein,
die eingeschüchtert fragen: „Warum machen Sie das? Was ist hier los?“ Umzingelt
von Chimären bekommen sie Angst. Laut
Schiller haben wir ihnen nach den LIGNA
Übungen etwas voraus, denn: „Der Flor
des tierischen Lebens ist, wie wir wissen,
für den Flor der Seelenwirkungen äußerst
wichtig und darf ohne die Totalaufhebung
dieser letztern niemals aufgehoben werden.“ LIGNA zeigten mir an diesem Vormittag das Tier in mir und der Mannheimer Fußgängerzone einen Menschenzoo.
✶ JULE D. KÖRBER
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BESTIENFORSCHUNG EINS
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V
ier smarte Herren in adretten Anzügen sitzen locker plaudernd
am Diskussionstisch. Es herrscht
entspannt-kultiviertes Gesprächsklima.
Die gelöste Atmosphäre lässt nicht unbedingt auf den Inhalt des Gespräches
schließen. Geht es doch um die Menschzur-Bestienwerdung. „Wie viel Trieb
steckt in der Tat? Wenn der Mensch zu
Bestie wird.“ So der Auftakt der SWR2
Gesprächsreihe „Schiller on air“.
Um den schwer verdaulichen Stoff zu
erörtern, lässt man gleich drei Koryphäen
ihres Fachs an die Bestie ran. Stephan
Harbort, Kriminalist und Deutschlands
führender Serienmordexperte kommt
gleich richtig zur Sache. Er berichtet von
Gesprächen mit Mördern und wie einer
erklärte, dass er „die Frau einfach kaputt
machen musste...“ In dieser Tonart geht
es weiter, wenn Harald Welzer, Sozialpsychologe und Autor des Buches „Opa
war kein Nazi“ übernimmt. Und Albert
Ostermaier erzählt von seiner Annäherung an die Bestie, wie er die Abgründe
der eigenen Seele erforschte, um die Protagonisten seiner „Schwarzen Minuten“
so authentisch wie möglich zu gestalten.
Das Publikum folgt gebannt den Ausführungen, wenngleich niemandem ein
kalter Schauer über den Rücken zu jagen
scheint. Eine kleine alte Frau ganz vorne
nickt eifrig, der Rest des Publikums hat
ein Pokerface aufgesetzt. Wen wundert
es. Werden uns pünktlich zum Abendessen doch fernsehtechnisch blutige Mordfälle en detail serviert. Zwangsläufiges
Abstumpfen eben nicht auszuschließen.
SWR2 Moderator Dietrich Brants, äußerst fit, was Bestienzitate der Weltliteratur angeht, gibt das Wort wieder an Stephan Harbort. Er beschreibt, wie das
Morden eine identitätsstiftende Wirkung
haben kann. Nach dem Motto: „Der Versager ist tot, es lebe der Mörder!“ Schaurig. Er führt aus, dass Mörder die Menschen ihrer Umgebung häufig in „Opfer“
und „Nicht-Opfer“ kategorisieren. Gruselig. Ostermaier spricht über die morbide Faszination all dessen, was dunkel
und geheimnisvoll ist. „Mit Räuberro-
mantik ist ein gewisser Schick verbunden.“ Wer kann schon abstreiten, dass
vieles, das Gänsehaut verursacht, nicht
auch ein bisschen reizvoll ist.
Die Bestie umgarnt uns. Antworten
wurden gegeben. Noch mehr Fragen aufgeworfen. Die Diskussionsteilnehmer
hatten Ihre Hausaufgaben gemacht, das
Publikum schien keinen Moment gelangweilt. Vielleicht war alles ein bisschen zu sehr durchgeplant. Denn richtig
spannend schien es erst zu werden, als
das Publikum den Saal verließ und die
Experten ohne Regieanweisung weiterdiskutierten. Schade. Man darf gespannt
sein auf das nächste Bestien-Sezieren.
✶ MELANIE TROGER
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KEINE MACHT DEN DOGEN
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Foto: Hans Jörg Michel
Der Vorhang zur szenischen Welturaufführung von Édouard
Lalos Grand Opéra „Fiesque“ fällt, das Publikum avanciert vom
Betrachter zum Betrachteten: das Porträt des Genueser Dogen
Doria überragt die Szenerie; der Blick der Diktatur trifft den Zuschauer auf Augenhöhe.
B
ig brother is watching you? Kein
Zweifel: Schillers republikanisches
Trauerspiel „Die Verschwörung
des Fiesko zu Genua“ ist von zeitloser
Aktualität. Die Frage nach dem Verhältnis von Macht und Moral inspirierte
1868 in Frankreich auch den Komponisten Lalo und Librettisten, Charles Beauquier, zur Bearbeitung von Schillers Textvorlage. Der Regisseur der Mannheimer
Uraufführung, Jens-Daniel Herzog, nähert seine Inszenierung deutlich der heutigen Zeit an.
Genua 1547? Paris 1789? Peking
1968? Oder doch Berlin 1989? Die Bühnenoptik und Kostüme rufen Erinnerungen hervor: Hitler, Stalin, Mao, Honecker
– man erkennt sie im „Tyrannen“ wieder.
Dass Schillers Texte zu musikalischer
Bearbeitung inspirieren, hat Beethoven bereits in seiner Vertonung von Schillers
„Ode an die Freude“ bewiesen. Große
Gefühle, große Gedanken, große Symphonie, große Oper? Wie aber ist es im
Falle des „Fiesque“? Ist der letzte Schritt
hin zur großen Oper tatsächlich gelungen?
Bemerkenswert unentschlossen ertönt die Ouvertüre – der Kampf von Hörnern und Streichern um die musikalische
Vorherrschaft scheint einzustimmen auf
den Gewissenskonflikt Fieskos. Soll oder
wird er sich zum Befreier Genuas entwickeln und die alte republikanische
Ordnung wiederherstellen? Oder ziert
sein Gesicht am Ende das neue Tyrannenporträt? Die zentrale Frage, inwieweit Macht den Menschen verändert,
macht Fiesko in Schillers Originaltext zur
moralisch tief gespaltenen und unentschlossenen Figur.
Völlig anders hingegen der „Fiesque“.
Zwar spielt der Protagonist der Oper wie
in Schillers Text bis zum zweiten Akt die
Rolle des unpolitischen Vergnügungssüchtigen. Im Moment seines Eintritts in
den gewalttätigen Umsturz offenbart sich
die Opernfigur allerdings schlagartig als
gewissenloser Machtmensch. Die Demaskierung ist kurz und in Herzogs Inszenierung mit einem Kleiderwechsel abgeschlossen. Plötzlich wandelt sich der
Dandy Fiesque zum Diktator im militäri-
schen Hussein-Look. Zwischen beiden
liegt – nichts. In keiner Arie des Fiesque
gibt es Platz für innere Konflikte. Der
Reiz, den die Figur gerade auch für Schiller gehabt hat, bleibt auf der Strecke.
Francesco Petrozzi, Mannheims Fiesque, befindet sich hier in der undankbaren Situation, wenig Spielraum für differenzierten Vortrag zu haben, da der
„wahre“ Fiesque, an den sich Verrina
und Léonore sehnsuchtsvoll erinnern, bereits vor dem Beginn der Oper zur Diktatur entschlossen ist. Es sind bezeichnenderweise die anderen Figuren, deren
Gefühlswelten eindringlicher hervortreten: Fiesques Ehefrau Léonore, die Geliebte Julie sowie Verrina, der sich als moralisch integrer Verfechter der Republik
auf überzeugende Weise vom Freund
zum Feind Fiesques wandelt.
Sehr eindringlich gelingt es Theodor
Carlson, den Konflikt Verrinas darzustellen. Er muss sich zwischen Freundschaft
und politischem Prinzip entscheiden,
kann im alten Freund aber nur den
neuen Tyrannen erblicken. Das größte
Zugeständnis an die Oper im Vergleich zu
Schillers Vorlage ist die Vergrößerung der
Frauenrollen. Der eifersüchtigen Ehefrau
und der emotional kalten Geliebten werden ausladende Arien zugestanden, die
in keinem Verhältnis zur Handlung des
Stückes stehen. Hier obliegt es allein
dem Vortrag von Galina Shesterneva und
Andrea Szántó, die Aufführung sicher
über den schmalen Grat von ästhetischem Genuss und Stillstand zu balancieren.
In Herzogs Inszenierung führt der
gewissenlose Kampf um die Macht
ebenso folgerichtig wie zwangsläufig
zum finalen Blutbad. Auch hier arbeitet
der Regisseur mit historischen Bildern,
etwa wenn ein wahrer Konfetti-Regen
von Akten im Bühnenvordergrund an
die friedliche Erstürmung der Stasi-Zentrale 1989 erinnert. Herzog deutet die
Möglichkeit einer friedlichen Revolution
an und inszeniert den Verrina als eigentlich tragische Figur des Stücks. Sein
Motiv, die Vergewaltigung der Tochter
zu rächen und die erneute Diktatur seines ehemaligen Freundes durch dessen
Tötung zu verhindern, macht seine Figur
zur interessantesten.
Das Wissen um die Außergewöhnlichkeit einer Uraufführung verleiht dem
Mannheimer „Fiesque“ einen Charme,
der jedoch nicht darüber hinwegtäuschen kann, warum diese Oper bislang
in der Schublade verschwand. Aber
eines ist der Mannheimer „Fiesque“ mit
Sicherheit nicht: ein „Fiasque“.
✶ MANUEL VON ZELISCH
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KÖNIGINNEN IM KERKER
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SCHILLER
UND
ICH
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Wann hat Schiller Sie zum
ersten Mal berührt?
Ganz klassisch, irgendwann in der
Mittelstufe, „Kabale und Liebe“ stand
auf dem Lehrplan. Wie sehr die Charaktere sich bestimmt sahen von Faktoren
wie Gott oder Stand. Das hat mich lange
beschäftigt. Ohne dieses Stück hätte ich
mit Schillers Zeitalter vielleicht Zahlen
und Fakten verbunden, aber niemals
Gefühle.
Über was würden Sie mit
Schiller sprechen wollen?
Über das extreme Regietheater. Findet er
es klasse, Ausgangspunkt für das immer
Neue zu sein? Oder ist er in seinem Autorenstolz verletzt?
Maria Stuart
E
in Thron, zwei Frauen, hier werden noch Köpfe rollen. In Georg
Schmiedleitners Inszenierung von
„Maria Stuart“ kämpfen zwei Königinnen um Thron und Macht: Silja von
Kriegstein als Maria Stuart und Ragna Pitoll als Elisabeth. Beide sind Gefangene
eines Chors, der zu Beginn aus dem
Hintergrund der Bühne nach vorne tritt
und eine Kiste wie einen Sarg trägt. Der
Tod der Maria Stuart wird vorweg genommen. Plötzlich allerdings spuckt der
Chor die Maria aus. Sie ist, anders als erwartet, keine fromme, gebrochene Frau,
sondern gibt sich trotzig, wie ein ungerecht behandeltes Kind. Die Gefangene
tobt, ist plötzlich aber wieder stolz wie
eine Königin.
Elisabeth dagegen wird vom Chor als
Star präsentiert. Sie badet in der Menge,
lässt sich feiern. Ragna Pitoll ist eine attraktive Königin, gekleidet in dunkelviolettem Samt, mit langer Schleppe. So eine
liebt die Macht, muss dafür aber über Leichen gehen. Die Exekution von Maria
steht an. Elisabeth, die die Verantwortung nicht übernehmen will, sollte unterzeichnen. Sie ist eine Gefangene des
Staatsapparats. Dass auch sie wie Maria
immer wieder vom Chor der Männer
ausgespuckt wird, ist das prägende Stil-
Foto: Frank Heller
element von Georg Schmiedleitners Inszenierung. Der Chor ist Bühnenbild,
choreographisches Element, Requisite –
und nicht weniger wichtig wie Burleigh.
Er ist die einzige männliche Figur, die
mit den beiden Königinnen nicht auf erotische Weise verbandelt ist. Schmiedleitner hat sie mit Gabriela Badura besetzt.
Dadurch verändert sich die Beziehung
zwischen Burleigh und Elisabeth: Ist Burleigh eine Frau, wird er zur Mutter der
Elisabeth, die ihr uneinsichtiges Kind ermahnt. Und sie ist die einzige Figur, die
nicht vom Chor dominiert wird und stets
weit weg von diesem Menschenklumpen
auftritt. Um Macht braucht sie nicht zu
kämpfen.
Zwar ist Schmiedleitners Version des
Königinnendramas nur zwei Stunden
lang. Das reicht aber aus, um die Gefangenschaft der beiden Hauptfiguren und
die wirkliche graue Eminenz, Burleigh,
herauszuarbeiten. Dafür sorgt vor allem
der Chor. Silja von Kriegstein gibt der
Maria Stuart das Aussehen einer Kindfrau, einer Verführerin. Ragna Pitoll verleiht der machtbewussten Elisabeth eine
Größe, die die Figur sehr attraktiv macht.
Ein Chor, zwei Königinnen, eine beeindruckende Inszenierung.
✶ LYDIA DARTSCH
Mit welchem Schiller-Text können
Sie tatsächlich was anfangen?
Die Räuber, als Familiengeschichte gelesen: Weil schon in den ersten zwei Szenen das gewaltige Dilemma klar wird. So
viel Hass, so viel Liebe, so viele Nachrichten, die nicht dort ankommen, wo sie
hingehören. Aus diesem Stoff wird
immer noch viel Unglück gestrickt, in
Hollywood und vor allem im echten
Leben.
Was nervt Sie an Schiller?
Sein Hang zum Pathos. Es fällt mir
dann gelegentlich schwer, ihn ernst zu
nehmen.
Wann werden Sie zur Bestie?
Wenn mir Grundsätzliches versagt ist:
Essen, Schlaf, Gerechtigkeit, Zeit zum
Atmen. Je mehr Komponenten zusammenkommen, desto explosiver das
Gemisch.
Moni Münch ist Seminaristin und
Mitarbeiterin der Festivalzeitung
Foto: Privat
Wann hat Schiller Sie zum
ersten Mal berührt?
Zum ersten Mal mit Schiller in Kontakt gekommen bin ich natürlich während der
Schulzeit. Im Deutsch-LK haben wir „Kabale und Liebe“ gelesen, doch berührt war
ich noch nicht. Während des Studiums
habe ich dann „Die Räuber“ gelesen und
war vollkommen gefesselt. Bis dahin war
Schiller so etwas wie der alte Familienstammbaum: durch die Tradition vor jeder
Kritik schon gerechtfertigt, aber überhaupt
nicht mit dem eigenen Leben kompatibel.
Nach den „Räubern“ änderte sich das und
Schiller gehörte eben dazu.
Über was würden Sie mit
Schiller sprechen wollen?
Ich würde mit Schiller gerne einfach
durch die Gegend flanieren und plaudern.
Themen würden sich ergeben, Fragen und
Antworten würden ineinander greifen wie
gutgeschmierte Zahnräder, die Zeit würde
verfliegen wie schon lange nicht mehr.
Mit welchem Schiller-Text können
Sie tatsächlich was anfangen?
Mit allen: Ich kann sie lesen und mir eine
Meinung bilden.
Was nervt Sie an Schiller?
An Schiller persönlich nervt mich eigentlich nichts. Was mich nervt, wenn ich an
den Begriff „Schiller“ denke, sind die
etwas einschläfernde Rezeption seiner
Werke durch die Germanisten und ihre
festgefahrenen Meinungen.
Wann werden Sie zur Bestie?
Ich glaube nicht, dass ich noch zur Bestie
werden muss. Ein Teil von mir ist immer
Bestie und diese gilt es zu zähmen.
Marcel Maas ist Seminarist und
Mitarbeiter der Festivalzeitung
Foto: Sabine Demm
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EINSAME FREIHEIT
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Die Freiheit ist das Ziel beider: Friedrich Schillers und Pablo
Solers, des Protagonisten in „La Libertad“. Geschrieben hat
das Stück der argentinische Autor und Regisseur Alejandro
Tantanian. Die Uraufführung war am Samstag.
D
er Abend ist ein großes Rätsel,
ein Spiel mit Illusion und Realität. Aus vielen kleinen Fragmenten setzt sich ein Bild zusammen,
entsteht eine einfühlsam erzählte Geschichte über die Freiheitssuche eines
Mannes, dessen Leben von Schiller aus
den Angeln gehoben wurde. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verwischen. Der Nebel klärt sich allmählich,
aber das ist nebensächlich. Deutlich zu
hören, wie ein Nebelhorn, ist der Schrei
Pablo Solers nach Freiheit. Freiheit in absoluter Form, der Abkehr von allem Materiellen, der Entleibung.
Doch wer ist Pablo Soler? Es ist Samstagabend, 20 Uhr, gespannt stürmen die
Zuschauer in den 3. Stock des Probenzentrums Neckarau. Zuerst soll man sich
eine Fotoausstellung mit Bildern Solers
ansehen. Sie zeigen weite Landschaften,
enge Straßenschluchten, Porträts von
Menschen und Tieren. Auf den ersten
Blick scheinen sie bunt zusammengewürfelt, doch alle thematisieren das gleiche: Freiheit.
Langsam setzen sich die ersten Zuschauer und nehmen graue Mappen in
die Hand. Sie enthalten Verschiedenes,
einiges ist ihnen gemeinsam: ein blauer
Zettel, auf dem „Freiheit ist auch Einsamkeit“ steht; und ein Briefbogen des
Artzes Soler. Manche enthalten eine
Kopie des Titelblatts von „Vida de Schiller“, andere eine Delphinmalvorlage. In
einer Brottüte finden sich eine Spielkarte
oder eine Krankenakte mit den Diagnosen Suizidgefahr und Drogensucht. Alles
gibt Rätsel auf, sorgt für Spannung.
Eine Bühne oder einen Zuschauerraum im eigentlichen Sinne gibt es nicht.
Die Zuschauer sitzen in zwei Reihen um
einen großen Tisch, der aus vielen kleinen zusammengewürfelt ist. Das Ganze
wirkt provisorisch, hat Werkstattcharakter. Die einzigen Requisiten sind drei
Fernseher im Hintergrund und ein
Mikrofon, auf das sich die Blicke richten.
Eine adrett gekleidete Frau, Anfang
30, tritt auf und stellt sich als Analía Couceyro vor. Neben dem Techniker des
Abends ist sie die einzige Akteurin. Sie
spricht deutsch mit spanischem Akzent.
Die deutsche Sprache, erzählt sie, lernte
sie wegen Pablo Soler. Oberlehrerhaft
setzt sie eine große Brille auf, nimmt
einen Zeigestab in die Hand und beginnt
anhand von Bildern und Videos Pablos
Leben zu erzählen.
Da ist die Kindheit in Buenos Aires.
Irgendwann sieht der kleine Pablo ein
Plakat für „Los Bandidos“, „Die Räuber“.
Das Plakat fasziniert ihn. Es zeigt einen
Löwen und Pablo will später einmal
einen Löwen und ein Schloss besitzen. Es
ist der Beginn einer langen Leidenschaft
für Schiller. Bald darauf leiht Pablo sich
„Vida de Schiller“ aus der Bibliothek und
bringt es nie mehr zurück. Gefragt, was
er einmal werden will, antwortet er:
„Moor“, wie der Räuberhauptmann.
Doch daraus wird nichts. Pablo wird
Arzt, da Schiller oder sein Vater es so
wollen. Er beschäftigt sich mit Fällen extremen Freiheitswahns, sammelt Materialien und Biografien. Analía Couceyro erzählt drei davon: Die Geschichte, eines
Menschen, der als monströs ausgegrenzt
und dadurch zum 60-fachen Mörder
wird; die Geschichte eines Mannes, der
seine Familie hinrichtet, weil sie ihm das
Leben zur Hölle macht und der nun im
Gefängnis die wahre Freiheit verspürt;
und die Geschichte einer jungen Schwimmerin, die dem Leistungsdruck nicht
mehr standhält, ins Meer geht und nie
wieder auftaucht.
Dann fährt sie mit Pablos Geschichte
fort: Wie er 1986 auf Schillers Spuren
durch Deutschland reist, sich unglücklich
verliebt, schreibt, lebt. Immer auf der
Suche nach Freiheit. Wer Analía ist, ob
Geliebte, Freundin, oder die Tochter Solers, bleibt ein Geheimnis. Sobald es persönlich wird, nimmt sie die Brille ab,
zeigt Emotionen. Besonders am Ende,
wenn sie einen Brief öffnet, den Pablo ihr
kurz vor seinem Verschwinden schrieb.
Der Brief ist auf Deutsch geschrieben.
Nur deswegen hat sie unsere Sprache gelernt. Sie weint.
Am Ende liest der Techniker etwas
auf Spanisch vor. Auf dem Bildschirm hat
Schiller mit der „Jungfrau von Orleans“
das letzte Wort: „Treue Lieb hilft alle
Lasten heben.“ Nach der Vorstellung
La Libertad / Freiheit
zeigt die Reaktion des Publikums, dass
das Thema Freiheit heute so aktuell wie
vor 200 Jahren ist. Es herrscht reger Austausch. Antworten werden gesucht, in
der Fotoausstellung und im Gespräch.
Alejandro Tantanian ist ein gefragter
Mann.
✶ MORITZ HUMMRICH
Foto: Frank Heller
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ICH
UND
ER
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L
est meinen Bericht und vergießt
eine Träne darüber.“ So endet die
Geschichte des „Sonnenwirtes“
Christian Wolf, eines Mörders und Diebes, und so endet auch die Frankfurter
Adaption der Schillerschen Novelle „Der
Verbrecher aus verlorener Ehre, die in
zwei Erzählperspektiven erscheint. Auf
der Bühne steht der Schauspieler Oliver
Kraushaar einerseits als Wilddieb Wolf,
andererseits aber auch als objektiver Berichterstatter. Kraushaar ist der einzige
Akteur, ist gleichzeitig das Ich, das sich
Wolf nennt, ist aber auch ein Er, das den
Wilddieb anklagt, verteidigt und erzählt,
wie einer sein Leben durch Leidenschaft
und Unglück verwirkte.
Noch harmlos am Anfang. Ein bieder
gekleideter Mann tritt vom Beleuchtungssteg auf die Bühne, um dem Publikum von den Verbrechen eines gewissen
Wilddiebes zu berichten, dann aber
springt die Erzählperspektive immer
schneller zwischen dramatischer Autobiographie und einem so genannten
„Unterricht“ mit gewünschtem Erkenntnisgewinn. Christiane J. Schneider macht
in ihrer Inszenierung wunderschön sichtbar, wie sich eine Geschichte durch den
Sprecher verändert. Auslassungen und
Akzentuierungen sind ausreichend, um
die Zuhörer hier mitleiden und dort mitlachen zu lassen. Die durch starke Gestik
unterstützte und dadurch fast karikierte
Erzählweise des Ich sorgt für Heiterkeit
und für Momente, die in den Köpfen
leuchten. Der faktisch anmutende Bericht des Er dagegen legt durch die
schnellen Wechsel der Erzählperspektive
nahe, über den geschilderten Fall objektiv zu richten. Man meint, wie in einem
Gerichtsverfahren, Tat und Motiv in
einer Kausalkette verwoben zu sehen.
Doch über dieses bewusste Spiel mit
verschiedenen Erzähl-Weisen und -Ebenen stolpert es sich leicht, vor allem
wenn Christiane J. Schneider irgendwann tatsächlich will, dass der Figur, wer
auch immer sie gerade sei, bewusst wird,
sie spiele einen Schillertext in einem Theaterstück. In diesem Moment tritt die
Figur mit einem Verweis auf einen anderen Text als Schillerkenner hervor, und
plötzlich fällt das komplizierte Gebilde
der verzahnten Ebenen in sich zusammen. Für den Zuschauer bleibt in diesem
Moment nur der Ärger über die viel zu
oft gesehene Brechung des theatralen
Kontextes. So endet der Abend. „Lest
meinen Bericht und vergießt eine Träne
darüber.“
✶ MARCEL MAAS
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SCHILLER
UND
ICH
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Foto: Hans Jörg Michel
Foto: Karola Prutek
Wann hat Schiller Sie
zum ersten Mal berührt?
Die Schulzeit hat nicht dazu beigetragen
mein Interesse an Schiller zu wecken,
ganz im Gegenteil. Wirklich berührt hat
mich Schiller dann zum ersten Mal 2001
während der 11. Internationalen Schillertage als ich im Festivalteam tätig war.
Wann hat Schiller Sie
zum ersten Mal berührt?
Bei meinen ersten Schillertagen 2001.
Am ersten Abend beim ersten SchillOut, nach dem ersten erfolgreichen
Gastspiel.
Über was würden Sie
mit Schiller sprechen wollen?
Wenn ich in seiner Zeit gelebt hätte:
Ob er ein glücklicher Mensch ist?
Mit welchem Schillertext können
Sie tatsächlich etwas anfangen?
Auf einen Text möchte ich mich nicht festlegen, das hängt immer stark von meiner
persönlichen Stimmung ab. Generell ziehe
ich die Dramen aber den philosophischen
Texten vor. Und da Dramen eben für die
Bühne geschrieben sind, sollte man sich
nie mit der puren Lektüre zufrieden
geben, sondern auch immer versuchen
viele Inszenierungen dazu zu sehen.
Was nervt Sie an Schiller?
Einige Anspielungen sind mir dann doch
zu deutlich ausgefallen, zum Beispiel der
„Sekretär Wurm“ aus Kabale und Liebe.
Ich mags doch lieber subtiler.
Wann werden Sie zur Bestie?
Ich bin da wohl leider das Paradebeispiel
einer gelungenen Zivilisation, und der Kulturaspekt hat auch gegriffen. Ich kann
mich an keine Situation erinnern, in der
ich zur Bestie wurde. Vielleicht zum Tier,
wenn es um meinen Sohnemann geht,
aber das ist doch nicht bestialisch, oder?
Oliver Kraushaar
Foto: ALEXANDER PAUL ENGLERT
Yasemin Retter ist SchillertageMacherin und Leiterin des Festivalbüros.
Über was würden Sie
mit Schiller sprechen wollen?
Ich weiß nicht. Vielleicht ein bisschen
Smalltalk – übers Wetter und so. Wahrscheinlich würde ich ihn gar nicht
erkennen.
Mit welchem Schiller-Text können
Sie tatsächlich was anfangen?
Eigentlich kann ich tatsächlich mit mehreren seiner Werke „etwas anfangen“,
aber das scheint offensichtlich außerhalb
der Vorstellungskraft des Fragestellers
zu liegen.
Was nervt Sie an Schiller?
Mittlerweile habe ich in den vergangenen sechs Jahren so viele verschiedene
„Kabale“, „Räuber“ und „Maria Stuart“Vorstellungen gesehen, dass ich total genervt bin, wenn ich in einer Inszenierung sitze, die nichts Neues, nichts
Radikales oder Verrücktes anbietet, sondern klassisch und brav vor sich hinplätschert.
Wann werden Sie zur Bestie?
Wenn ich denke, alles mögliche für die
Schillertage getan und bedacht zu haben
und dann plötzlich fünf Minuten vor
dem Startschuss alles umgeschmissen
und in Frage gestellt wird.
Luise Weidner ist SchillertageMacherin und Technische Leiterin
des Festivals.
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BEIM ZUSCHAUEN ZUSCHAUEN
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D
as Trommeln hat aufgehört.
Beim „Verbrecher aus verlorener Ehre“ besteht das Publikum
zu gut einem Viertel aus Journalisten. Notizblöcke werden auf die Knie gelegt,
Stifte werden bereit gehalten. Ein Mann
mit Halbglatze schreibt mit einem Stift,
der Licht an der Spitze hat. Ein Schauspieler in Anzug geht über den Beleuchtungssteg, immer wieder, er schaut ins
Publikum, das Publikum schaut zurück.
Der metallene Steg knarzt unter seinen
Füßen. Vor „Schwarze Minuten“ schlurft
ein humpelndes Samba-Zebra mit Feuerschuhen durchs Foyer an drei Stipendiatinnen vorbei, die tuscheln.
S1: „Da drüben, is er das nich?“ S2,
laut: „Wer?“ S3 zischt. S1: „Na, ER!“ S2:
„Häh?“ S3, flüsternd, jeden Buchstaben
betonend: „Ostermaier“. S2: „Oh“. S1
und S3 nicken. S2: „Den hätt ich jetzt
nicht erkannt.“ Schweigen. Starren. Sabbern, innerlich. S1: „Die Schuhe“ S3:
„Dacht ich auch grad.“ Alle Drei nicken.
Seufzen. S2: „Holt euch doch nen Autogramm. Aufs Programmheft.“ S1 und S3
runzeln die Stirn. S2 schweigt betreten,
schaut auf ihre Füße. S2, seufzend:
„Der weiß das aber schon.“ S2: „Was?“
S1: „Na, wie gut der aussieht.“ S2: „Ist
doch viel zu alt für Dich. Und verheiratet.“ S3: „Aber schon geil.“ Schweigen.
S1: „Wollen wir?“
Premierenpublikum ist immer eine Spur spezieller und einen
genauen Blick wert. Freitag: die Premieren von „Der Verbrecher
aus verlorener Ehre“ und „Schwarze Minuten“. Samstag: unter
anderem „Karneval der Tiere“, „Fiesque“ und der „Pension
Schiller“. Wir schauen bei und nach dem Zuschauen zu.
Beim „Verbrecher aus verlorener
Ehre“ geht das Licht aus. Eine ältere Frau
schaukelt auf ihrem Stuhl hin und her,
immer wieder, als wäre ihr unbequem
und sie könne ihr Problem nicht lösen.
Die ganze Vorstellung hindurch. Auf der
Bühne die Geschichte, wie ein ganzes
Nonnenkloster von einer Räuberbande
geschwängert wird. Anzügliches Lachen
aus der letzten Reihe. Das ganze Publikum schreckt zusammen, als der Schauspieler plötzlich „Plötzlich!“ schreit. Eine
ältere Dame mit Turmfrisur fasst sich an
die Brust, lacht dann erleichtert. Ihre
Mundwinkel ziehen sich ein wenig
herab, den Rest der Vorstellung lächelt sie
nur noch.
Drüben im Foyer nach „Schwarze
Minuten“, ein Mann mittleren Alters,
sich panisch umschauend, suchend, sein
Blick, schneller noch als seine Schritte,
gehetzten Atems, er läuft zu seiner Frau
zurück, seine Krawatte passt farblich zu
ihrem Kleid, er schüttelt den Kopf, schon
auf den letzten Schritten zu ihr, ihr Blick,
böse, dann enttäuscht. Er sagt: „Steht
nirgends etwas von einer Premierenfeier.“ Frankensteins Braut trägt zur Premiere von „Schwarze Minuten“ goldene
Creolen und ein weißes Kostüm. Stolziert durchs Foyer mit Zehn-ZentimeterStiletto-Absätzen, strassbesetzt.
Samstag mittags, nach den ersten
paar gelaufenen Metern des „Karneval
der Tiere“ bleiben plötzlich alle stehen,
hocken sich auf den Boden. Die Verkäuferinnen in einem Geschäft für Brautkleider schauen ungläubig aus dem Schaufenster. Später in der Breiten Straße
laufen sie wild umher, bleiben stehen,
laufen rückwärts, seitwärts, stellen sich
den Menschen in den Weg. Dann legen
sie sich hin. Ein alter Mann hält einer Liegenden einen Sonnenschirm über den
Kopf. „Ist besser so, ohne Sonne, oder?“
Abends vor der Schranke des Großmarkts
wartet das Publikum auf die Pilotfolge
der „Pension Schiller“. Ein kleiner Junge
verteilt, vor Freude und Stolz über seine
Aufgabe fast platzend, Programmhefte.
Man bekommt eins, ob man will oder
nicht.
Bei „Fiesque“ sind die Untertitel
Übertitel. Augen hasten bei jedem neuen
Satz nach oben, schießen ein Foto und
springen zurück auf die Bühne. Inhaltlich
kommt man voran. Die Übertitel werden
von Hand weitergedrückt, manchmal zu
Foto: Fontagnier
anstalt03
spät, seltener zu früh. Jeder Satz bekommt Ausrufezeichen, manchmal sogar
mehr als eins. Auch ein Komma ist
irgendwo überflüssig, niemand murrt.
Eine Frau in Grün, Mitte vierzig, berührt
mich unabsichtlich am Bein, nach der
Pause sitzt sie eine Reihe weiter vorn.
Das Ende ist deprimierend und provinziell. Vier Leute stehen auf, der Rest
klatscht mit hohler Hand oder nicht. Die
Buhrufe sind das Orchester des Volkes,
niemand ist politisch, doch es ist das
Mittelmaß, was sich anfühlt wie Schleim
auf der Haut und manche protestieren
lässt. Zu Recht finden tut sich danach keiner. Die meisten fliehen mit krummem
Rücken ins Foyer, nur wenige hören auf
den Ruf der Helfer und humpeln nach
oben zum Uraufführungssekt.
Eine Frau mit schwarzer Walkürenfrisur isst ein Lachsbrot, dazu gibts ImWeg-Herumstehen und Küsschen-aufbeide-Wangen für andere Frauen ohne
Lachsbrötchen und ohne Haarkranz. Ein
Stipendiat hält sein T-Shirt nur in der
Hand, zieht es aber nicht an. Auf die
Frage hin, warum er es nicht anzieht,
antwortet er ganz empört: „Ich bin doch
keine Bestie!“
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✶ Beobachter:
JF/JDK/LD/MH/MAM
Schnitt: JULE D. KÖRBER
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SPIELPLAN MONTAG 18.06.07
✶ AB 14.00 ✶
✶ AB 17.00 ✶
✶ AB 18.30 ✶
18:30 Studio Werkhaus
-Iller (UA)
Martin Nachbar
€ 18,– / 8,–
anschließend Publikumsgespräch
✶ AB 19.00 ✶
✶ AB 22.00 ✶
✶ AB 22.30 ✶
19:30 Schauspielhaus GASTSPIEL
KABALE UND LIEBE
Schauspielhaus Zürich
PREISE G anschließend Publikumsgespräch
20:00 Alte Feuerwache
PIMP THE CITY
Sozial-Trash nach Schiller
Nationaltheater Mannheim
€ 13,– / 8,– anschließend Publikumsgespräch
20:00 Probenzentrum Neckarau
22:00 Großmarkt Mannheim
22:30 Unteres Foyer/Theatercafé
ALEJANDRO TANTANIAN
LA LIBERTAD / FREIHEIT (UA)
Cia Pablo Soler – Argentinien
€ 13,– / 8,– PREMIERE
PENSION SCHILLER
FOLGE 2 (UA)
Drama Köln
€ 13,– / 8,–
SCHILL-OUT
mit YE:SOLAR
und HANS PLATZGUMER
Eintritt frei!
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KNALLGELBE FESTIVALLIEBLINGE
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Seit Beginn des Schillerfestivals erobern sie zunehmend das Stadtbild: Knallgelbe Flitzer im Festivaldesign, mit denen die Besucher schnell mal vom
Nationaltheater in die Innenstadt oder zu anderen
Spielstätten radeln können. Der Arbeitsförderungsbetrieb BIOTOPIA stellt während des Festivalzeitraums 80 fabrikneue Fahrräder im eigenen Outfit zur
Verfügung. Jeder Teilnehmer kann sich die Räder
gegen ein Pfand von 50 Euro für einen beliebigen
Zeitraum ausleihen. Auch die Macher dieser Festivalzeitung nutzen diesen Service gerne und begeben
sich mit dem Rad auf Recherche. Bei Reifenpannen
oder anderen technischen Problemen ist für Hilfe gesorgt: Zwei Azubis von BIOTOPIA führen kleinere
Reparaturen und Wartungen durch. Wer sich in den
City-Cruiser verliebt hat und ihn behalten möchte,
kann ihn kaufen. Am letzten Festivaltag, Samstag,
den 23. Juni, organisiert das Nationaltheater eine
große Verkaufsaktion auf dem Theatervorplatz. Die
Räder können dann für 190 Euro erstanden werden.
Der Erlös kommt BIOTOPIA zugute, die sich als gemeinnützige GmbH die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zum Ziel gesetzt hat.
✶ SABINE DEMM
Foto: Fontagnier
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