anstalt03 17.06.2007 16:06 Uhr Seite 1 FESTIVALZEITUNG NR. 03 / 18.06.2007 Uraufführung: La Libertad / Freiheit Foto: Frank Heller anstalt03 17.06.2007 ✶ 2 16:06 Uhr Seite 2 MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 18.06.2007 ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ INHALTSVERZEICHNIS ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ 02 03 04 05 06 07 08 08 09 10 11 12 – – – – – – – – – – – – FREIHEIT IST ANSTECKEND – Editorial VERDAMMTE LOTTERBUBENWELT – Schwarze Minuten ALLE GEBEN ALLES – Gespräch mit Christiane J. Schneider SCHÖLLER, SCHALLER, SCHELLER – Pension Schiller MENSCHENZOO – Karneval der Tiere KEINE MACHT DEN DOGEN – Fiesque KÖNIGINNEN IM KERKER – Maria Stuart SCHILLER UND ICH – Die Zeitungsmacher EINSAME FREIHEIT – La Libertad SCHILLER UND ICH – Die Festivalmacher BEI ZUSCHAUEN ZUSCHAUEN – Foyer-Flaneur SPIELPLAN MONTAG 18. Juni / KNALLGELBE RÄDER Die 14. Internationalen Schillertage wurden ermöglicht und gefördert durch: den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, der Stadt Mannheim/Büro 2007, die Brasilianische Botschaft Berlin und das Brasilianische Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten sowie das Goethe Institut Wir bedanken uns für die großzügige Unterstützung bei unseren Partnern: Hauptsponsoren: MVV Energie AG, John Deere, Freunde und Förderer des Nationaltheaters Mannheim e.V. Co-Sponsoren: Augusta Hotel Mannheim, Comvos Medien, Dr. Haas GmbH, Engelhorn Mode GmbH, Fashionlabel Schumacher, HM Interdrink, Kurpfalzsekt Sektkellerei AG, Mercedes-Benz Niederlassung Mannheim-Heidelberg, Rhein-Neckar-Verkehr GmbH, The Cruise Cafe Hotel Mannheim und beim SWR 2. ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ SERVICE IMPRESSUM KARTENVORVERKAUF THEATERKASSE AM GOETHEPLATZ Mo & Sa 11–13 Uhr Di & Fr 11–18 Uhr An allen Vorstellungstagen außerdem von 18–20 Uhr KARTENTELEFON Telefon 0621/1680 150 Telefax 0621/1680 258 PER E-MAIL Nationaltheater.kasse@ mannheim.de FESTIVALZEITUNG DER 14. INTERNATIONALEN SCHILLERTAGE Ein Projekt des Nationaltheater Mannheim zur Förderung des kulturjournalistischen Nachwuchses ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ HERZLICHEN DANK ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ FREIHEIT IST ANSTECKEND ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ ekanntlich hat Schiller niemals das Meer gesehen. Dabei war er während seiner Mannheimer Zeit ein unermüdlicher Wanderer. Schillers lebenslange Verwurzelung in Deutschland lässt die Beziehung „Schiller und Südamerika“ auf den ersten Blick eher ungewöhnlich erscheinen; ungewohnt ist sie in jedem Falle. Dabei zeigt ein Blick auf die mit allen Insignien der Unfreiheit gezeichnete Geschichte und Gegenwart vieler südamerikanischer Länder, dass Schiller ein potenzieller spiritus rector dort lebender Menschen sein könnte. Derzeit scheitert die Popularisierung von Schillers Werken jenseits des Atlantik unter anderem noch daran, dass wenige Übersetzungen seiner Texte vorliegen. Die Beziehung des südamerikanischen Theaters zu Schiller könnte sich in nächster Zeit allerdings doch vertiefen. Immerhin inszeniert gerade eine Riege südamerikanischer Regisseure für die Schillertage. Einer von ihnen, Alejandro Tantanian aus Buenos Aires, liefert mit seinen freien Variationen zu Schillers Leben und dem Titel „La Libertad“ (Die Freiheit) geradezu die Überschrift zu einer denkbaren Liaison „SüdamerikaSchiller“. Wir sitzen in der Generalprobe. Die Zuschauer wirken wie Schüler in einer „Schule der Freiheit“ und nehmen auf Sitzbänken Platz. Das Thema der heutigen Stunde könnte „Vom Suchen und Finden der Freiheit – am Beispiel des ar- gentinischen Schiller-Verehrers Pablo Soler“ lauten. Wer Alejandro Tantanian während der Probe erlebt, bemerkt schnell, dass Freiheit für diesen Mann nicht nur eine ästhetische Kategorie, sondern eine Herzensangelegenheit und Lebenseinstellung ist. Freiheit ist ansteckend. Wer einmal die Erfahrung gemacht hat, Grenzen zu überwinden, wird nicht nur danach streben, die Erfahrung zu wiederholen, sondern verfügt über eine charismatische Ausstrahlung, die auf andere inspirierend wirkt. Tantanian ist in mehrfacher Weise ansteckend: als künstlerischer Vermittler des Freiheitsgedankens und als persönlicher Botschafter südamerikanischer Lebensfreude. Während der Generalprobe steckt Tantanian das Publikum des Öfteren durch sein Lachen an, er lacht allerdings stets mit den Menschen, nicht über sie. Scheinbare Pannen während der Probe erweisen sich schnell als elementarer Bestandteil der Inszenierung. Kurz nach der Generalprobe sitzt Tantanian mit seinem Ensemble bei der Schill-Out-Party im Nationaltheater in der vordersten Reihe und lässt sich fotografieren. Auch jetzt, am Vorabend der Premiere ist sein Lachen noch ansteckend. Soeben hat ein Kellner bei einem Zusammenstoß auf der Tanzfläche für glükksbringende Scherben gesorgt. Man könnte meinen, Tantanian sorge auch abseits der Bühne für Inszenierung. ✶ MANUEL VON ZELISCH ✶ LYDIA DARTSCH HERAUSGEBER Nationaltheater Mannheim, Mozartstraße 9, 68161 Mannheim GENERALINTENDANTIN Regula Gerber CHEFREDAKTION Jürgen Berger CHEFIN VOM DIENST Sabine Demm REDAKTION Lydia Dartsch, Kristina Faber, Jan Fischer, Moritz Hummrich, Jule D. Körber, Marcel Maas, Moni Münch, Melanie Troger, Manuel von Zelisch KONZEPT Jürgen Berger, Sabine Demm, Kristina Faber, Gerhard Fontagnier, Jochen Zulauf GESTALTUNG fathalischoen, Frankfurt LAYOUT [email protected], Mannheim DRUCK Mannheimer Morgen Großdruckerei GmbH ANZEIGEN Mannheimer Morgen AUFGEWECKT IN DEN TAG DR. HAAS GMBH Die Zeitung erscheint als Beilage im Mannheimer Morgen und wird unterstützt von Deere & Company und der Dr. Haas GmbH Alejandro Tantanian Foto: Ernesto Donegana 17.06.2007 16:06 Uhr Seite 3 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 18.06.2007 ✶ 3 ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ VERDAMMTE LOTTERBUBENWELT ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Foto: Hans Jörg Michel anstalt03 Tim Egloff (Nachbar), Ralf Dittrich (Schubart), Reinhard Mahlberg (Swan, der alte Loup) und Taner Sahintürk (Loup, der junge Swan) M it seinen „Schwarzen Minuten“ reihte der Dramatiker und Lyriker Albert Ostermaier sich am Freitag in die Riege der einträchtigen Geister ein und eröffnete die 14. Mannheimer Schillertage. Das Stück allerdings, das in der Regie von Burkhard C. Kosminski im Schauspielhaus uraufgeführt wurde, startete steil und blieb in der Bilderfülle stecken: Zu viele Antworten, zu viele Ebenen, zu eng aufeinander; im Zusammenspiel undurchsichtig dicht. In Friedrich Schillers Novelle „Verbrecher aus verlorener Ehre“, der Vorlage für Ostermaiers Stück, bezeichnen die „schwarzen Minuten“ jenen Augenblick, die den Mörder zum Mörder machen, den letzten, in dem das Gewissen noch eine ernsthafte Rolle spielt. Schiller erzählt von Christian Wolf, der aus Eifersucht zum Mörder wird, ins Gefängnis geht und erst dort zum wahrhaft schlechten Menschen wird. Ostermaier mischt eine Menge anderer Geschichten unter, die allesamt das gleiche erzählen. Sein Antiheld heißt Loup Swan, ist Wolf und Schwan, wie Christian Wolf auch schon beides war: Christ und Bestie. Taner Sahintürk gibt den jungen Loup „weidwund“ und sentimental: Er ist ein Was macht den Mensch zum Menschen? Wird eine Frage so oft gestellt, verwundert es nicht, dass die Antworten einander gleichen. Dass der Mensch die Anlage zum Bösen qua Geburt erbt; dass er ein Produkt seiner Umgebung ist; dass er nicht gut sein kann, wenn der Staat schlecht ist – auf diese Eckpfeiler der conditio humana haben Dichter und Denker sich stets geeinigt. Monster und doch der Einzige, der noch auf die Härte einer Welt reagiert, in der Sex und Geld Gefühle ersetzen. Er tut das mit wachsender Härte, passt sich an, driftet ins Extrem. Die Fragmentierung des Menschen, die Schiller wortreich umschreibt, übersetzen Ostermaier und Kosminski plakativ. Sie schicken den jungen und alten Swan (Reinhard Mahlberg) gemeinsam auf die Bühne – der Mensch ist immer auch das, was er war und irgendwann sein wird. Doch zunächst ist Swan ein junger Mann mit großen Plänen und kleinem Geldbeutel, der seine Jeanne (Hannah von Peinen) an den finanzstarken Profitgeier Robert (Michael Fuchs) verliert und sich rächt. Im Gefängnis wird sein Weg in die Verdammnis unausweichlich: „Ich betrat die Festung als ein Verirrter und verließ sie als Lotterbube“. So weit, so simpel. Auf dem Weg zu eindringlichen Bildern ziehen Ostermaier und Kosminski allerdings mehr Register als sie müssten, öffnen eine Assoziationskiste nach der anderen. Kosminski hat die Handlung in die Zeit breiter Koteletten und toupierter Pferdeschwänze verlegt, in die Siebziger. Sein Swan steht mit Pilotenbrille und in Unterhose im Gefängnis, spricht ins Megafon und davon, den Millionär herauszugeben und sich gegen die Isolationshaft zu wehren. Ein bisschen Christian Klar, ein bisschen Baader-Meinhof, ein bisschen viel ach-so-deutsche RAF-Vergangenheit. Freilich ließe sich auch die Geschichte des Franzosen Jacques Mesrine in die Szene lesen: Mesrine, der Ende der Siebziger den Millionär Lelièvre entführte, zum Staatsfeind Nummer Eins erklärt und von Polizisten erschossen wurde. Das Problem: Die „Schwarzen Minuten“ beginnen bürgerlich und enden als Staatsschelte, subtextlastig, collagenartig und handlungsberaubt. Ostermaier und Kosminski gelingt keine allgemeingültige Parabel, sondern in der zweiten Hälfte des Stücks lediglich ein Panoptikum der Eindrücke. Die allerdings wühlen im Hirn: Das Gefängnis etwa ist ein Sinnbild des feindlichen Staates, eine Stätte totaler Entmenschlichung, Swans Heimatviertel ein Ort ohne Ausweg. Auf Florian Ettis Bühne ist nichts Schönes, nichts Menschliches. Alles spielt in einer düsteren Welt, in der die Alten die Jungen nicht verstehen können und die Jungen die Alten nicht verstehen wollen. Swanns Mutter, packend derbe gespielt von Ragna Pitoll, zerbricht daran. Die Moral gibts am Ende grob gehäckselt obenauf, damit niemand sie übersehe: „Die Menschen sind Verbrecher. Sie kommen unschuldig auf die Welt, aber sie bleiben es nicht.“ Loup Swan kann auf seinen Widersacher zwar schießen, die Roberts unter den Menschen allerdings sind niemals aus dem Weg. Loup dagegen erstickt an seinen Worten. Wahrheit will die Welt nicht hören. Sie könnte zuviel erfahren. Über sich selbst. ✶ MONI MÜNCH anstalt03 17.06.2007 ✶ 4 16:06 Uhr Seite 4 MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 18.06.2007 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ ALLE GEBEN ALLES ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Christiane J. Schneider hat fünf Jahre in Frankfurt inszeniert und ist seit 2006 als Hausregisseurin am Mannheimer Nationaltheater. Betrachtet man die Riege der Regisseure in diesem Jahr, sind sie als junge Frau noch immer die Ausnahme. Nehmen Sie die Regie als Männerdomäne wahr? Schneider: Ich habe das extrem so wahrgenommen, als ich anfing, Regie zu studieren. Das hat sich aber innerhalb der letzten fünf Jahre rapide verändert. Als ich studiert habe, gab es durchaus noch Schauspieler, die sich nicht vorstellen konnten, mit einer Frau zu arbeiten, erst recht nicht mit einer jüngeren. Das kann heute keiner mehr sagen, sonst hätte er ein Problem. Aber auch ich persönlich habe Zeit gebraucht, um so weit zu kommen: Regie zu führen, ohne männlich zu sein, ohne Ellenbogen. Dieses Ego-Ding wird allerdings weniger, stattdessen nimmt man den Schauspieler als eigenständige Person immer ernster. Auch viele Männer arbeiten inzwischen so. G ibt es einen Unterschied zwischen dem Frankfurter und Mannheimer Publikum? Christiane J. Schneider: Ja klar, das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Frankfurt ist größer, aber die Menschen dort gehen nicht ins Theater. Es ist ganz schwer, ans Publikum ranzukommen, man hat immer das Gefühl, die Menschen haben keinen Bezug zur Stadt. Hier in Mannheim ist es das krasse Gegenteil: Es gibt Reaktionen, die Leute setzen sich mit den Inszenierungen auseinander. Die Mannheimer sind einfach wahnsinnig dabei. Das ist toll, weil es ein ganz direktes und emotionales Feedback gibt. Das kenne ich aus Frankfurt überhaupt nicht. Wie haben die Mannheimer Sie aufgenommen? Schneider: Ich fühle mich wohl und gut aufgenommen. Ich habe hier bisher drei Arbeiten gemacht; „Kabale und Liebe“ läuft im Moment und das ganz gut. Was hat Sie an „Kabale und Liebe“ gereizt? Schneider: Mich fasziniert Schiller an sich wahnsinnig, weil ich seine Sprache kraftvoll und modern finde. Außerdem ist jede seiner Figuren gebrochen und dem Leben ausgesetzt. Gerade Luise: Von ihr kommen manchmal Sätze, die mich überraschen. Dadurch sind die Charaktere sehr lebendig. Steht man unter besonders strenger Beobachtung, wenn man Schiller in Mannheim macht? Schneider: Die Mannheimer kennen ihren Schiller. Sie achten auf jedes Detail. Ich saß einmal in der Vorstellung von „Kabale und Liebe“ und vor mir saßen drei Damen, die jede kleine Veränderung bemerkt und ziemlich kritisch reagiert haben. Dabei hatten wir überhaupt nicht versucht, das Stück zu brechen. CHRISTIANE SCHNEIDER Trifft Sie das? Schneider: In diesem Fall fand ich es ganz lustig, aber ich habe mir natürlich Gedanken gemacht. Manchmal gibt es aber auch Dinge, da denke ich mir: Die haben Recht. Man ist ja selbst sehr kritisch mit der eigenen Arbeit. Welche Bedeutung hat ein Festival wie die Schillertage? Schneider: Ich habe hier festgestellt, dass es eine enorme Bedeutung hat: Einerseits für die Stadt, aber auch für das Theater. Es wird sehr dankbar aufgenommen, dass auch Stücke aus anderen Städten gezeigt werden. Da die Mann- Foto: Lydia Dartsch heimer so theaterbegeistert sind, erleben sie sehr intensiv, dass sie über ihren eigenen Tellerrand schauen und vergleichen können. Und auch im Nationaltheater selbst geht man und fiebert man mit, alle geben alles. Diese Spielzeit – mit Neuanfang, Jubiläum und Schillertagen – war auch nur mit dem Feedback zu stemmen, das von der Stadt kam. Finden die Theatermacher während des Festivals Zeit zum Austausch? Schneider: Auf jeden Fall. Man kann sich nicht alles ansehen. Aber ich weiß, dass sich die Schauspieler total darauf freuen, andere Stücke anzuschauen. Merkt das auch der Zuschauer? Schneider: Ich glaube, dass es im Theater heute sehr um eine neue Ehrlichkeit geht und weniger um das Behaupten von Gefühlen. Das hat viel damit zu tun, dass sich die Sehweise und damit auch die Machart geändert hat. Wir zeigen nicht mehr die großen Gefühle, da wir das mittlerweile als verlogen empfinden. Wir erleben eben einen Ideologie- oder Utopieverlust. Anstelle der Utopien sind andere Dinge getreten: Angreifbarkeit, Verletzlichkeit, gepaart mit Ehrlichkeit, jenseits von Perfektion. Eine Illusion des Perfekten kann das Theater ohnehin nicht bieten, dazu ist der Film da. Also machen wir diese Schwäche zu einer Stärke. Und diese Arbeitsweise entspricht mir zumindest als Frau sehr. Trotzdem muss man als Regisseurin natürlich den Leithammel geben. Gibt es männliches und weibliches Inszenieren? Schneider: Nein. Ich würde sagen, es gibt eine männliche und weibliche Seite, viele Frauen, die eine sehr männliche Seite beim Inszenieren haben, und umgekehrt. Gespräch: ✶ LYDIA DARTSCH ✶ MONI MÜNCH anstalt03 17.06.2007 16:06 Uhr Seite 5 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 18.06.2007 Im Kiosk am Wasserturm logiert die Pension Schiller ✶ 5 Foto: Hans Jörg Michel ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ SCHÖLLER, SCHALLER, SCHELLER ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ S o viele Stücke gehen hier ernst an Schiller ran“, sagt Oliver KrietschMatzura, Regisseur der Pilotfolge von „Pension Schiller“. „Wir sind mehr so die Spaßfraktion.“ Volker Bürger, Dramaturg am Nationaltheater Mannheim sagt es knapper: „Die Irren“, nennt er die bunte Truppe von „Drama Köln“, die ihre Schiller-Soap an verschiedenen, noch geheimen Orten der Stadt spielt. Bürger lächelt, als er das sagt. „Drama Köln“ und Bürger verbindet eine Freundschaft. Man traf sich. Man wollte was zusammen machen. „Irgendwann kamen wir auf die Schillertage“, sagt Krietsch-Matzura. Und darauf, eine Schiller-Soap zu schreiben und zu inszenieren. Live, mit vier Autoren und vier Regisseuren. Geschrieben wird nachts, im Kiosk am Wasserturm, einem mit Heu ausgelegtem Glaskasten. Insgesamt liegen 36 Stunden zwischen den einzelnen Folgen. „Das kann auch schief gehen“, sagt Krietsch-Matzura. Gespielt wird die Pilotfolge auf dem Großmarkt, einem grauen Industriegelände irgendwo in den Outskirts von Mannheim. Bei den Proben platziert Krietsch-Matuzra eine der Soap-Figuren um eine tapsige Weltkugel mit Entenfüßen. Die Weltkugel fragt, ob es vielleicht besser ist, wenn sie statt dem Plüschkätzchen den Plüschelch nimmt. Es gibt Glitzer, es gibt Leoparden-Stilettos, es gibt Jack Johnson. Es gibt Moses P., es gibt einen goldenen Kronleuchter, es gibt einen Stuntfahrer. Friedrich Schiller kommt erstmal nicht vorbei. Nein, sagt der Regisseur, die Katze wäre besser, wegen der sexuellen Komponente. Pussy und so. Gegenüber bleiben mehrere Kisten Melonen erstmal unverladen. Rauchende Verladearbeiter schauen immer wieder herüber. Krietsch-Matzura beginnt im Kostümlager zu kramen, zündet eine Zigarette an. Er wirkt gestresst, natürlich, er soll ein vierzigminütiges Stück in drei Tagen inszenieren. Nein, sagt er, er wäre immer so. Anders ginge das gar nicht. Für die Pilotfolge gibt es noch drei Tage Zeit. Danach ist die Aufgabe, ein Stück in 36 Stunden zu schreiben und zu inszenieren. Kai Ivo Baulitz ist der zweite Autor der „Pension Schiller“. Eigentlich ist er Schauspieler. Er hat zwei Kinder und „zweieinhalb Stücke“. Das nächste Stück schreibt er in einer Nacht, in einem vollverglasten Kiosk, an dessen Scheiben ständig Leute klopfen. „Die Verabredung ist, dass die beklopptesten Sachen gehen“, sagt er, sitzt zwischen Notizen und Red-Bull-Dosen im Kiosk am Wasserturm. Gerade hat er die Pilotfolge gesehen. Die beginnt mit quietschenden Reifen. Jack Johnson salbadert seichte Strandmusik, der Großmarkt tut sein bestes, nicht wie ein Strand auszusehen. Dann kommen die Stilettos, die Weltkugel, der goldene Kronleuchter, MetteMarit, „Kaiserin von Norwegen“. Die Story ist ganz einfach: Moses P. will Teile Mannheims sprengen, um Xavier Naidoo zu dissen, aber drei tapfere Ein-EuroKräfte vereiteln den Plan erstmal, gehen dabei über Leichen und entführen jemanden namens Fritz Schaller oder Franz Schöller, auf keinen Fall aber Klaus Scheller, der eigentlich Stadtschreiber von Mannheim ist, aber verdeckt für Moses P. arbeitet. „Pension Schiller“ ist eine typische „Drama Köln“-Inszenierung. „Als Regisseur“, sagt Matzura, „muss man an einem bestimmten Punkt vergessen, was man gelernt hat.“ Die Produktionen von „Drama Köln“ sind gerne mal abseitig, spielen gerne mal an ungewöhnlichen Orten, spielen gerne mal mit Theaterkonventionen. So auch in Mannheim: All die Stücke, Diskussionen, Seminare während der Schillertage beschäftigen sich mit Schiller, setzen sich mit ihm auseinander, sezieren ihn, setzen ihn voraus. „Pension Schiller“ beginnt damit, ihn erst einmal zu suchen. Die Autoren probieren, wie es ist, in Mannheim zu schreiben. In den am Kiosk ununterbrochen laufenden Videos entdeckt die Truppe von Drama Köln die Stadt. Die inhaltliche Suche nach Schiller ist ein Spiel mit Vokalen: Schöller, Schaller, Scheller. All dieses poppige, bunte, glitzernde, all der Witz ist kaum etwas anderes als der Deckmantel für eine durchaus ernste und wichtige Frage, nur eben mit Mitteln von Menschen beantwortet, die bei dem Wort Mannheim nicht zuerst an Schiller denken, sondern an Xavier Naidoo: Wo ist dieser Schiller eigentlich? Eine Frage, die auch wichtig für die Schillertage ist, vielleicht sogar die wichtigste. Pension Schiller gibt gleich die Antwort: Nicht hier. Vielleicht kommt er später. Aber nicht zum Großmarkt. Der ist erstmal ausgespielt. „Das nächste mal sind wir in einem Trafowerk“, sagt KrietschMatzura, „ ungefähr so groß wie zwei Fußballfelder. Eigentlich ist das unmöglich zu bespielen.“ „Außerdem“, sagt Baulitz, „gibt es in der eine Überraschung“. Vielleicht kommt Schiller ja vorbei. ✶ JAN FISCHER anstalt03 17.06.2007 ✶ 6 16:06 Uhr Seite 6 MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 18.06.2007 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ MENSCHENZOO ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ W Karneval der Tiere Foto: Frank Heller ir klopfen zu dritt gegen die Schaufensterscheibe eines Woolworth. „Wir“, das sind ein Schaf und ich, ein Tiger. Der Wolf klopft um die Ecke. Nur kurz vorher hat mich ein Gorilla angekläfft, als gerade eine Katze rückwärts laufend vorbei kam. Das Pferd, das vorhin seine Nüstern an meinen Schnurrharren rieb, habe ich schon länger nicht gesehen. „Der Mensch (...) erhält sein tierisches Leben, um ein geistiges länger leben zu können.“ schrieb Schiller in seiner Dissertation „Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen.“ Was passiert, wenn man Schillers Erkenntnisse an sich selbst forschend nachvollzieht? Wie wird man zur Chimäre, zum menschlichen Tier? Diesen Fragen geht die Radiogruppe LIGNA nach mit ihrer Performance „Karneval der Tiere – Ästhetische Übungen zum Tierwerden“, in der das Publikum zum Akteur in der Fußgängerzone wird. Uns hilft dabei eine Tüte mit einer Tiermaske, einer Matte, einer Blume und - ein Radio mit Kopfhörern. Die Stimmen von LIGNA führen uns durch Mannheim in einem Ton zwischen Märchenerzähler und Lern-CD. Die ersten Übungen sind einfach. Es kostet kaum Überwindung, sich lauschend auf die Pflastersteine zu legen, um die Ameisen, das tierische Leben unter dem vom Menschen Geord- neten, zu hören. Schwierig wird es erst auf der Breiten Straße. In der Fußgängerzone fallen wir schnell auf, von unsichtbarem Theater kann nicht mehr die Rede sein. Doch wer ist hier Zuschauer, wer Akteur? Wir sind auf einer zu großen Fläche verteilt, haben uns nicht mehr gegenseitig im Blick, das macht unsicher. Überall andere Menschen. Als ich liegend meine Blume esse, fragt mich eine Frau, ob ich Hilfe bräuchte, ob sie einen Arzt holen solle. Wir setzen unsere Tiermasken auf, sie wirken wie ein Schutz, machen uns als Theater sichtbar. Als wir tanzen, blitzt es um uns herum, Handykameras filmen. Ein Mann steckt mir einen Flyer zu: „Suchen Sie verzweifelt Arbeit? Wir haben den richtigen Job für Sie!“ Kurz vor dem Ende kreisen wir mehr durch Zufall eine Gruppe Jugendlicher ein, die eingeschüchtert fragen: „Warum machen Sie das? Was ist hier los?“ Umzingelt von Chimären bekommen sie Angst. Laut Schiller haben wir ihnen nach den LIGNA Übungen etwas voraus, denn: „Der Flor des tierischen Lebens ist, wie wir wissen, für den Flor der Seelenwirkungen äußerst wichtig und darf ohne die Totalaufhebung dieser letztern niemals aufgehoben werden.“ LIGNA zeigten mir an diesem Vormittag das Tier in mir und der Mannheimer Fußgängerzone einen Menschenzoo. ✶ JULE D. KÖRBER ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ BESTIENFORSCHUNG EINS ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ V ier smarte Herren in adretten Anzügen sitzen locker plaudernd am Diskussionstisch. Es herrscht entspannt-kultiviertes Gesprächsklima. Die gelöste Atmosphäre lässt nicht unbedingt auf den Inhalt des Gespräches schließen. Geht es doch um die Menschzur-Bestienwerdung. „Wie viel Trieb steckt in der Tat? Wenn der Mensch zu Bestie wird.“ So der Auftakt der SWR2 Gesprächsreihe „Schiller on air“. Um den schwer verdaulichen Stoff zu erörtern, lässt man gleich drei Koryphäen ihres Fachs an die Bestie ran. Stephan Harbort, Kriminalist und Deutschlands führender Serienmordexperte kommt gleich richtig zur Sache. Er berichtet von Gesprächen mit Mördern und wie einer erklärte, dass er „die Frau einfach kaputt machen musste...“ In dieser Tonart geht es weiter, wenn Harald Welzer, Sozialpsychologe und Autor des Buches „Opa war kein Nazi“ übernimmt. Und Albert Ostermaier erzählt von seiner Annäherung an die Bestie, wie er die Abgründe der eigenen Seele erforschte, um die Protagonisten seiner „Schwarzen Minuten“ so authentisch wie möglich zu gestalten. Das Publikum folgt gebannt den Ausführungen, wenngleich niemandem ein kalter Schauer über den Rücken zu jagen scheint. Eine kleine alte Frau ganz vorne nickt eifrig, der Rest des Publikums hat ein Pokerface aufgesetzt. Wen wundert es. Werden uns pünktlich zum Abendessen doch fernsehtechnisch blutige Mordfälle en detail serviert. Zwangsläufiges Abstumpfen eben nicht auszuschließen. SWR2 Moderator Dietrich Brants, äußerst fit, was Bestienzitate der Weltliteratur angeht, gibt das Wort wieder an Stephan Harbort. Er beschreibt, wie das Morden eine identitätsstiftende Wirkung haben kann. Nach dem Motto: „Der Versager ist tot, es lebe der Mörder!“ Schaurig. Er führt aus, dass Mörder die Menschen ihrer Umgebung häufig in „Opfer“ und „Nicht-Opfer“ kategorisieren. Gruselig. Ostermaier spricht über die morbide Faszination all dessen, was dunkel und geheimnisvoll ist. „Mit Räuberro- mantik ist ein gewisser Schick verbunden.“ Wer kann schon abstreiten, dass vieles, das Gänsehaut verursacht, nicht auch ein bisschen reizvoll ist. Die Bestie umgarnt uns. Antworten wurden gegeben. Noch mehr Fragen aufgeworfen. Die Diskussionsteilnehmer hatten Ihre Hausaufgaben gemacht, das Publikum schien keinen Moment gelangweilt. Vielleicht war alles ein bisschen zu sehr durchgeplant. Denn richtig spannend schien es erst zu werden, als das Publikum den Saal verließ und die Experten ohne Regieanweisung weiterdiskutierten. Schade. Man darf gespannt sein auf das nächste Bestien-Sezieren. ✶ MELANIE TROGER anstalt03 17.06.2007 16:07 Uhr Seite 7 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 18.06.2007 ✶ 7 ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ KEINE MACHT DEN DOGEN ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Foto: Hans Jörg Michel Der Vorhang zur szenischen Welturaufführung von Édouard Lalos Grand Opéra „Fiesque“ fällt, das Publikum avanciert vom Betrachter zum Betrachteten: das Porträt des Genueser Dogen Doria überragt die Szenerie; der Blick der Diktatur trifft den Zuschauer auf Augenhöhe. B ig brother is watching you? Kein Zweifel: Schillers republikanisches Trauerspiel „Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“ ist von zeitloser Aktualität. Die Frage nach dem Verhältnis von Macht und Moral inspirierte 1868 in Frankreich auch den Komponisten Lalo und Librettisten, Charles Beauquier, zur Bearbeitung von Schillers Textvorlage. Der Regisseur der Mannheimer Uraufführung, Jens-Daniel Herzog, nähert seine Inszenierung deutlich der heutigen Zeit an. Genua 1547? Paris 1789? Peking 1968? Oder doch Berlin 1989? Die Bühnenoptik und Kostüme rufen Erinnerungen hervor: Hitler, Stalin, Mao, Honecker – man erkennt sie im „Tyrannen“ wieder. Dass Schillers Texte zu musikalischer Bearbeitung inspirieren, hat Beethoven bereits in seiner Vertonung von Schillers „Ode an die Freude“ bewiesen. Große Gefühle, große Gedanken, große Symphonie, große Oper? Wie aber ist es im Falle des „Fiesque“? Ist der letzte Schritt hin zur großen Oper tatsächlich gelungen? Bemerkenswert unentschlossen ertönt die Ouvertüre – der Kampf von Hörnern und Streichern um die musikalische Vorherrschaft scheint einzustimmen auf den Gewissenskonflikt Fieskos. Soll oder wird er sich zum Befreier Genuas entwickeln und die alte republikanische Ordnung wiederherstellen? Oder ziert sein Gesicht am Ende das neue Tyrannenporträt? Die zentrale Frage, inwieweit Macht den Menschen verändert, macht Fiesko in Schillers Originaltext zur moralisch tief gespaltenen und unentschlossenen Figur. Völlig anders hingegen der „Fiesque“. Zwar spielt der Protagonist der Oper wie in Schillers Text bis zum zweiten Akt die Rolle des unpolitischen Vergnügungssüchtigen. Im Moment seines Eintritts in den gewalttätigen Umsturz offenbart sich die Opernfigur allerdings schlagartig als gewissenloser Machtmensch. Die Demaskierung ist kurz und in Herzogs Inszenierung mit einem Kleiderwechsel abgeschlossen. Plötzlich wandelt sich der Dandy Fiesque zum Diktator im militäri- schen Hussein-Look. Zwischen beiden liegt – nichts. In keiner Arie des Fiesque gibt es Platz für innere Konflikte. Der Reiz, den die Figur gerade auch für Schiller gehabt hat, bleibt auf der Strecke. Francesco Petrozzi, Mannheims Fiesque, befindet sich hier in der undankbaren Situation, wenig Spielraum für differenzierten Vortrag zu haben, da der „wahre“ Fiesque, an den sich Verrina und Léonore sehnsuchtsvoll erinnern, bereits vor dem Beginn der Oper zur Diktatur entschlossen ist. Es sind bezeichnenderweise die anderen Figuren, deren Gefühlswelten eindringlicher hervortreten: Fiesques Ehefrau Léonore, die Geliebte Julie sowie Verrina, der sich als moralisch integrer Verfechter der Republik auf überzeugende Weise vom Freund zum Feind Fiesques wandelt. Sehr eindringlich gelingt es Theodor Carlson, den Konflikt Verrinas darzustellen. Er muss sich zwischen Freundschaft und politischem Prinzip entscheiden, kann im alten Freund aber nur den neuen Tyrannen erblicken. Das größte Zugeständnis an die Oper im Vergleich zu Schillers Vorlage ist die Vergrößerung der Frauenrollen. Der eifersüchtigen Ehefrau und der emotional kalten Geliebten werden ausladende Arien zugestanden, die in keinem Verhältnis zur Handlung des Stückes stehen. Hier obliegt es allein dem Vortrag von Galina Shesterneva und Andrea Szántó, die Aufführung sicher über den schmalen Grat von ästhetischem Genuss und Stillstand zu balancieren. In Herzogs Inszenierung führt der gewissenlose Kampf um die Macht ebenso folgerichtig wie zwangsläufig zum finalen Blutbad. Auch hier arbeitet der Regisseur mit historischen Bildern, etwa wenn ein wahrer Konfetti-Regen von Akten im Bühnenvordergrund an die friedliche Erstürmung der Stasi-Zentrale 1989 erinnert. Herzog deutet die Möglichkeit einer friedlichen Revolution an und inszeniert den Verrina als eigentlich tragische Figur des Stücks. Sein Motiv, die Vergewaltigung der Tochter zu rächen und die erneute Diktatur seines ehemaligen Freundes durch dessen Tötung zu verhindern, macht seine Figur zur interessantesten. Das Wissen um die Außergewöhnlichkeit einer Uraufführung verleiht dem Mannheimer „Fiesque“ einen Charme, der jedoch nicht darüber hinwegtäuschen kann, warum diese Oper bislang in der Schublade verschwand. Aber eines ist der Mannheimer „Fiesque“ mit Sicherheit nicht: ein „Fiasque“. ✶ MANUEL VON ZELISCH anstalt03 17.06.2007 ✶ 8 16:07 Uhr Seite 8 MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 18.06.2007 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ KÖNIGINNEN IM KERKER ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ SCHILLER UND ICH ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Wann hat Schiller Sie zum ersten Mal berührt? Ganz klassisch, irgendwann in der Mittelstufe, „Kabale und Liebe“ stand auf dem Lehrplan. Wie sehr die Charaktere sich bestimmt sahen von Faktoren wie Gott oder Stand. Das hat mich lange beschäftigt. Ohne dieses Stück hätte ich mit Schillers Zeitalter vielleicht Zahlen und Fakten verbunden, aber niemals Gefühle. Über was würden Sie mit Schiller sprechen wollen? Über das extreme Regietheater. Findet er es klasse, Ausgangspunkt für das immer Neue zu sein? Oder ist er in seinem Autorenstolz verletzt? Maria Stuart E in Thron, zwei Frauen, hier werden noch Köpfe rollen. In Georg Schmiedleitners Inszenierung von „Maria Stuart“ kämpfen zwei Königinnen um Thron und Macht: Silja von Kriegstein als Maria Stuart und Ragna Pitoll als Elisabeth. Beide sind Gefangene eines Chors, der zu Beginn aus dem Hintergrund der Bühne nach vorne tritt und eine Kiste wie einen Sarg trägt. Der Tod der Maria Stuart wird vorweg genommen. Plötzlich allerdings spuckt der Chor die Maria aus. Sie ist, anders als erwartet, keine fromme, gebrochene Frau, sondern gibt sich trotzig, wie ein ungerecht behandeltes Kind. Die Gefangene tobt, ist plötzlich aber wieder stolz wie eine Königin. Elisabeth dagegen wird vom Chor als Star präsentiert. Sie badet in der Menge, lässt sich feiern. Ragna Pitoll ist eine attraktive Königin, gekleidet in dunkelviolettem Samt, mit langer Schleppe. So eine liebt die Macht, muss dafür aber über Leichen gehen. Die Exekution von Maria steht an. Elisabeth, die die Verantwortung nicht übernehmen will, sollte unterzeichnen. Sie ist eine Gefangene des Staatsapparats. Dass auch sie wie Maria immer wieder vom Chor der Männer ausgespuckt wird, ist das prägende Stil- Foto: Frank Heller element von Georg Schmiedleitners Inszenierung. Der Chor ist Bühnenbild, choreographisches Element, Requisite – und nicht weniger wichtig wie Burleigh. Er ist die einzige männliche Figur, die mit den beiden Königinnen nicht auf erotische Weise verbandelt ist. Schmiedleitner hat sie mit Gabriela Badura besetzt. Dadurch verändert sich die Beziehung zwischen Burleigh und Elisabeth: Ist Burleigh eine Frau, wird er zur Mutter der Elisabeth, die ihr uneinsichtiges Kind ermahnt. Und sie ist die einzige Figur, die nicht vom Chor dominiert wird und stets weit weg von diesem Menschenklumpen auftritt. Um Macht braucht sie nicht zu kämpfen. Zwar ist Schmiedleitners Version des Königinnendramas nur zwei Stunden lang. Das reicht aber aus, um die Gefangenschaft der beiden Hauptfiguren und die wirkliche graue Eminenz, Burleigh, herauszuarbeiten. Dafür sorgt vor allem der Chor. Silja von Kriegstein gibt der Maria Stuart das Aussehen einer Kindfrau, einer Verführerin. Ragna Pitoll verleiht der machtbewussten Elisabeth eine Größe, die die Figur sehr attraktiv macht. Ein Chor, zwei Königinnen, eine beeindruckende Inszenierung. ✶ LYDIA DARTSCH Mit welchem Schiller-Text können Sie tatsächlich was anfangen? Die Räuber, als Familiengeschichte gelesen: Weil schon in den ersten zwei Szenen das gewaltige Dilemma klar wird. So viel Hass, so viel Liebe, so viele Nachrichten, die nicht dort ankommen, wo sie hingehören. Aus diesem Stoff wird immer noch viel Unglück gestrickt, in Hollywood und vor allem im echten Leben. Was nervt Sie an Schiller? Sein Hang zum Pathos. Es fällt mir dann gelegentlich schwer, ihn ernst zu nehmen. Wann werden Sie zur Bestie? Wenn mir Grundsätzliches versagt ist: Essen, Schlaf, Gerechtigkeit, Zeit zum Atmen. Je mehr Komponenten zusammenkommen, desto explosiver das Gemisch. Moni Münch ist Seminaristin und Mitarbeiterin der Festivalzeitung Foto: Privat Wann hat Schiller Sie zum ersten Mal berührt? Zum ersten Mal mit Schiller in Kontakt gekommen bin ich natürlich während der Schulzeit. Im Deutsch-LK haben wir „Kabale und Liebe“ gelesen, doch berührt war ich noch nicht. Während des Studiums habe ich dann „Die Räuber“ gelesen und war vollkommen gefesselt. Bis dahin war Schiller so etwas wie der alte Familienstammbaum: durch die Tradition vor jeder Kritik schon gerechtfertigt, aber überhaupt nicht mit dem eigenen Leben kompatibel. Nach den „Räubern“ änderte sich das und Schiller gehörte eben dazu. Über was würden Sie mit Schiller sprechen wollen? Ich würde mit Schiller gerne einfach durch die Gegend flanieren und plaudern. Themen würden sich ergeben, Fragen und Antworten würden ineinander greifen wie gutgeschmierte Zahnräder, die Zeit würde verfliegen wie schon lange nicht mehr. Mit welchem Schiller-Text können Sie tatsächlich was anfangen? Mit allen: Ich kann sie lesen und mir eine Meinung bilden. Was nervt Sie an Schiller? An Schiller persönlich nervt mich eigentlich nichts. Was mich nervt, wenn ich an den Begriff „Schiller“ denke, sind die etwas einschläfernde Rezeption seiner Werke durch die Germanisten und ihre festgefahrenen Meinungen. Wann werden Sie zur Bestie? Ich glaube nicht, dass ich noch zur Bestie werden muss. Ein Teil von mir ist immer Bestie und diese gilt es zu zähmen. Marcel Maas ist Seminarist und Mitarbeiter der Festivalzeitung Foto: Sabine Demm anstalt03 17.06.2007 16:07 Uhr Seite 9 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 18.06.2007 ✶ 9 ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ EINSAME FREIHEIT ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Die Freiheit ist das Ziel beider: Friedrich Schillers und Pablo Solers, des Protagonisten in „La Libertad“. Geschrieben hat das Stück der argentinische Autor und Regisseur Alejandro Tantanian. Die Uraufführung war am Samstag. D er Abend ist ein großes Rätsel, ein Spiel mit Illusion und Realität. Aus vielen kleinen Fragmenten setzt sich ein Bild zusammen, entsteht eine einfühlsam erzählte Geschichte über die Freiheitssuche eines Mannes, dessen Leben von Schiller aus den Angeln gehoben wurde. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verwischen. Der Nebel klärt sich allmählich, aber das ist nebensächlich. Deutlich zu hören, wie ein Nebelhorn, ist der Schrei Pablo Solers nach Freiheit. Freiheit in absoluter Form, der Abkehr von allem Materiellen, der Entleibung. Doch wer ist Pablo Soler? Es ist Samstagabend, 20 Uhr, gespannt stürmen die Zuschauer in den 3. Stock des Probenzentrums Neckarau. Zuerst soll man sich eine Fotoausstellung mit Bildern Solers ansehen. Sie zeigen weite Landschaften, enge Straßenschluchten, Porträts von Menschen und Tieren. Auf den ersten Blick scheinen sie bunt zusammengewürfelt, doch alle thematisieren das gleiche: Freiheit. Langsam setzen sich die ersten Zuschauer und nehmen graue Mappen in die Hand. Sie enthalten Verschiedenes, einiges ist ihnen gemeinsam: ein blauer Zettel, auf dem „Freiheit ist auch Einsamkeit“ steht; und ein Briefbogen des Artzes Soler. Manche enthalten eine Kopie des Titelblatts von „Vida de Schiller“, andere eine Delphinmalvorlage. In einer Brottüte finden sich eine Spielkarte oder eine Krankenakte mit den Diagnosen Suizidgefahr und Drogensucht. Alles gibt Rätsel auf, sorgt für Spannung. Eine Bühne oder einen Zuschauerraum im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Die Zuschauer sitzen in zwei Reihen um einen großen Tisch, der aus vielen kleinen zusammengewürfelt ist. Das Ganze wirkt provisorisch, hat Werkstattcharakter. Die einzigen Requisiten sind drei Fernseher im Hintergrund und ein Mikrofon, auf das sich die Blicke richten. Eine adrett gekleidete Frau, Anfang 30, tritt auf und stellt sich als Analía Couceyro vor. Neben dem Techniker des Abends ist sie die einzige Akteurin. Sie spricht deutsch mit spanischem Akzent. Die deutsche Sprache, erzählt sie, lernte sie wegen Pablo Soler. Oberlehrerhaft setzt sie eine große Brille auf, nimmt einen Zeigestab in die Hand und beginnt anhand von Bildern und Videos Pablos Leben zu erzählen. Da ist die Kindheit in Buenos Aires. Irgendwann sieht der kleine Pablo ein Plakat für „Los Bandidos“, „Die Räuber“. Das Plakat fasziniert ihn. Es zeigt einen Löwen und Pablo will später einmal einen Löwen und ein Schloss besitzen. Es ist der Beginn einer langen Leidenschaft für Schiller. Bald darauf leiht Pablo sich „Vida de Schiller“ aus der Bibliothek und bringt es nie mehr zurück. Gefragt, was er einmal werden will, antwortet er: „Moor“, wie der Räuberhauptmann. Doch daraus wird nichts. Pablo wird Arzt, da Schiller oder sein Vater es so wollen. Er beschäftigt sich mit Fällen extremen Freiheitswahns, sammelt Materialien und Biografien. Analía Couceyro erzählt drei davon: Die Geschichte, eines Menschen, der als monströs ausgegrenzt und dadurch zum 60-fachen Mörder wird; die Geschichte eines Mannes, der seine Familie hinrichtet, weil sie ihm das Leben zur Hölle macht und der nun im Gefängnis die wahre Freiheit verspürt; und die Geschichte einer jungen Schwimmerin, die dem Leistungsdruck nicht mehr standhält, ins Meer geht und nie wieder auftaucht. Dann fährt sie mit Pablos Geschichte fort: Wie er 1986 auf Schillers Spuren durch Deutschland reist, sich unglücklich verliebt, schreibt, lebt. Immer auf der Suche nach Freiheit. Wer Analía ist, ob Geliebte, Freundin, oder die Tochter Solers, bleibt ein Geheimnis. Sobald es persönlich wird, nimmt sie die Brille ab, zeigt Emotionen. Besonders am Ende, wenn sie einen Brief öffnet, den Pablo ihr kurz vor seinem Verschwinden schrieb. Der Brief ist auf Deutsch geschrieben. Nur deswegen hat sie unsere Sprache gelernt. Sie weint. Am Ende liest der Techniker etwas auf Spanisch vor. Auf dem Bildschirm hat Schiller mit der „Jungfrau von Orleans“ das letzte Wort: „Treue Lieb hilft alle Lasten heben.“ Nach der Vorstellung La Libertad / Freiheit zeigt die Reaktion des Publikums, dass das Thema Freiheit heute so aktuell wie vor 200 Jahren ist. Es herrscht reger Austausch. Antworten werden gesucht, in der Fotoausstellung und im Gespräch. Alejandro Tantanian ist ein gefragter Mann. ✶ MORITZ HUMMRICH Foto: Frank Heller anstalt03 17.06.2007 ✶ 10 16:07 Uhr Seite 10 MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 18.06.2007 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ ICH UND ER ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ L est meinen Bericht und vergießt eine Träne darüber.“ So endet die Geschichte des „Sonnenwirtes“ Christian Wolf, eines Mörders und Diebes, und so endet auch die Frankfurter Adaption der Schillerschen Novelle „Der Verbrecher aus verlorener Ehre, die in zwei Erzählperspektiven erscheint. Auf der Bühne steht der Schauspieler Oliver Kraushaar einerseits als Wilddieb Wolf, andererseits aber auch als objektiver Berichterstatter. Kraushaar ist der einzige Akteur, ist gleichzeitig das Ich, das sich Wolf nennt, ist aber auch ein Er, das den Wilddieb anklagt, verteidigt und erzählt, wie einer sein Leben durch Leidenschaft und Unglück verwirkte. Noch harmlos am Anfang. Ein bieder gekleideter Mann tritt vom Beleuchtungssteg auf die Bühne, um dem Publikum von den Verbrechen eines gewissen Wilddiebes zu berichten, dann aber springt die Erzählperspektive immer schneller zwischen dramatischer Autobiographie und einem so genannten „Unterricht“ mit gewünschtem Erkenntnisgewinn. Christiane J. Schneider macht in ihrer Inszenierung wunderschön sichtbar, wie sich eine Geschichte durch den Sprecher verändert. Auslassungen und Akzentuierungen sind ausreichend, um die Zuhörer hier mitleiden und dort mitlachen zu lassen. Die durch starke Gestik unterstützte und dadurch fast karikierte Erzählweise des Ich sorgt für Heiterkeit und für Momente, die in den Köpfen leuchten. Der faktisch anmutende Bericht des Er dagegen legt durch die schnellen Wechsel der Erzählperspektive nahe, über den geschilderten Fall objektiv zu richten. Man meint, wie in einem Gerichtsverfahren, Tat und Motiv in einer Kausalkette verwoben zu sehen. Doch über dieses bewusste Spiel mit verschiedenen Erzähl-Weisen und -Ebenen stolpert es sich leicht, vor allem wenn Christiane J. Schneider irgendwann tatsächlich will, dass der Figur, wer auch immer sie gerade sei, bewusst wird, sie spiele einen Schillertext in einem Theaterstück. In diesem Moment tritt die Figur mit einem Verweis auf einen anderen Text als Schillerkenner hervor, und plötzlich fällt das komplizierte Gebilde der verzahnten Ebenen in sich zusammen. Für den Zuschauer bleibt in diesem Moment nur der Ärger über die viel zu oft gesehene Brechung des theatralen Kontextes. So endet der Abend. „Lest meinen Bericht und vergießt eine Träne darüber.“ ✶ MARCEL MAAS ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ SCHILLER UND ICH ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Foto: Hans Jörg Michel Foto: Karola Prutek Wann hat Schiller Sie zum ersten Mal berührt? Die Schulzeit hat nicht dazu beigetragen mein Interesse an Schiller zu wecken, ganz im Gegenteil. Wirklich berührt hat mich Schiller dann zum ersten Mal 2001 während der 11. Internationalen Schillertage als ich im Festivalteam tätig war. Wann hat Schiller Sie zum ersten Mal berührt? Bei meinen ersten Schillertagen 2001. Am ersten Abend beim ersten SchillOut, nach dem ersten erfolgreichen Gastspiel. Über was würden Sie mit Schiller sprechen wollen? Wenn ich in seiner Zeit gelebt hätte: Ob er ein glücklicher Mensch ist? Mit welchem Schillertext können Sie tatsächlich etwas anfangen? Auf einen Text möchte ich mich nicht festlegen, das hängt immer stark von meiner persönlichen Stimmung ab. Generell ziehe ich die Dramen aber den philosophischen Texten vor. Und da Dramen eben für die Bühne geschrieben sind, sollte man sich nie mit der puren Lektüre zufrieden geben, sondern auch immer versuchen viele Inszenierungen dazu zu sehen. Was nervt Sie an Schiller? Einige Anspielungen sind mir dann doch zu deutlich ausgefallen, zum Beispiel der „Sekretär Wurm“ aus Kabale und Liebe. Ich mags doch lieber subtiler. Wann werden Sie zur Bestie? Ich bin da wohl leider das Paradebeispiel einer gelungenen Zivilisation, und der Kulturaspekt hat auch gegriffen. Ich kann mich an keine Situation erinnern, in der ich zur Bestie wurde. Vielleicht zum Tier, wenn es um meinen Sohnemann geht, aber das ist doch nicht bestialisch, oder? Oliver Kraushaar Foto: ALEXANDER PAUL ENGLERT Yasemin Retter ist SchillertageMacherin und Leiterin des Festivalbüros. Über was würden Sie mit Schiller sprechen wollen? Ich weiß nicht. Vielleicht ein bisschen Smalltalk – übers Wetter und so. Wahrscheinlich würde ich ihn gar nicht erkennen. Mit welchem Schiller-Text können Sie tatsächlich was anfangen? Eigentlich kann ich tatsächlich mit mehreren seiner Werke „etwas anfangen“, aber das scheint offensichtlich außerhalb der Vorstellungskraft des Fragestellers zu liegen. Was nervt Sie an Schiller? Mittlerweile habe ich in den vergangenen sechs Jahren so viele verschiedene „Kabale“, „Räuber“ und „Maria Stuart“Vorstellungen gesehen, dass ich total genervt bin, wenn ich in einer Inszenierung sitze, die nichts Neues, nichts Radikales oder Verrücktes anbietet, sondern klassisch und brav vor sich hinplätschert. Wann werden Sie zur Bestie? Wenn ich denke, alles mögliche für die Schillertage getan und bedacht zu haben und dann plötzlich fünf Minuten vor dem Startschuss alles umgeschmissen und in Frage gestellt wird. Luise Weidner ist SchillertageMacherin und Technische Leiterin des Festivals. 17.06.2007 16:07 Uhr Seite 11 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 18.06.2007 ✶ 11 ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ BEIM ZUSCHAUEN ZUSCHAUEN ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ D as Trommeln hat aufgehört. Beim „Verbrecher aus verlorener Ehre“ besteht das Publikum zu gut einem Viertel aus Journalisten. Notizblöcke werden auf die Knie gelegt, Stifte werden bereit gehalten. Ein Mann mit Halbglatze schreibt mit einem Stift, der Licht an der Spitze hat. Ein Schauspieler in Anzug geht über den Beleuchtungssteg, immer wieder, er schaut ins Publikum, das Publikum schaut zurück. Der metallene Steg knarzt unter seinen Füßen. Vor „Schwarze Minuten“ schlurft ein humpelndes Samba-Zebra mit Feuerschuhen durchs Foyer an drei Stipendiatinnen vorbei, die tuscheln. S1: „Da drüben, is er das nich?“ S2, laut: „Wer?“ S3 zischt. S1: „Na, ER!“ S2: „Häh?“ S3, flüsternd, jeden Buchstaben betonend: „Ostermaier“. S2: „Oh“. S1 und S3 nicken. S2: „Den hätt ich jetzt nicht erkannt.“ Schweigen. Starren. Sabbern, innerlich. S1: „Die Schuhe“ S3: „Dacht ich auch grad.“ Alle Drei nicken. Seufzen. S2: „Holt euch doch nen Autogramm. Aufs Programmheft.“ S1 und S3 runzeln die Stirn. S2 schweigt betreten, schaut auf ihre Füße. S2, seufzend: „Der weiß das aber schon.“ S2: „Was?“ S1: „Na, wie gut der aussieht.“ S2: „Ist doch viel zu alt für Dich. Und verheiratet.“ S3: „Aber schon geil.“ Schweigen. S1: „Wollen wir?“ Premierenpublikum ist immer eine Spur spezieller und einen genauen Blick wert. Freitag: die Premieren von „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ und „Schwarze Minuten“. Samstag: unter anderem „Karneval der Tiere“, „Fiesque“ und der „Pension Schiller“. Wir schauen bei und nach dem Zuschauen zu. Beim „Verbrecher aus verlorener Ehre“ geht das Licht aus. Eine ältere Frau schaukelt auf ihrem Stuhl hin und her, immer wieder, als wäre ihr unbequem und sie könne ihr Problem nicht lösen. Die ganze Vorstellung hindurch. Auf der Bühne die Geschichte, wie ein ganzes Nonnenkloster von einer Räuberbande geschwängert wird. Anzügliches Lachen aus der letzten Reihe. Das ganze Publikum schreckt zusammen, als der Schauspieler plötzlich „Plötzlich!“ schreit. Eine ältere Dame mit Turmfrisur fasst sich an die Brust, lacht dann erleichtert. Ihre Mundwinkel ziehen sich ein wenig herab, den Rest der Vorstellung lächelt sie nur noch. Drüben im Foyer nach „Schwarze Minuten“, ein Mann mittleren Alters, sich panisch umschauend, suchend, sein Blick, schneller noch als seine Schritte, gehetzten Atems, er läuft zu seiner Frau zurück, seine Krawatte passt farblich zu ihrem Kleid, er schüttelt den Kopf, schon auf den letzten Schritten zu ihr, ihr Blick, böse, dann enttäuscht. Er sagt: „Steht nirgends etwas von einer Premierenfeier.“ Frankensteins Braut trägt zur Premiere von „Schwarze Minuten“ goldene Creolen und ein weißes Kostüm. Stolziert durchs Foyer mit Zehn-ZentimeterStiletto-Absätzen, strassbesetzt. Samstag mittags, nach den ersten paar gelaufenen Metern des „Karneval der Tiere“ bleiben plötzlich alle stehen, hocken sich auf den Boden. Die Verkäuferinnen in einem Geschäft für Brautkleider schauen ungläubig aus dem Schaufenster. Später in der Breiten Straße laufen sie wild umher, bleiben stehen, laufen rückwärts, seitwärts, stellen sich den Menschen in den Weg. Dann legen sie sich hin. Ein alter Mann hält einer Liegenden einen Sonnenschirm über den Kopf. „Ist besser so, ohne Sonne, oder?“ Abends vor der Schranke des Großmarkts wartet das Publikum auf die Pilotfolge der „Pension Schiller“. Ein kleiner Junge verteilt, vor Freude und Stolz über seine Aufgabe fast platzend, Programmhefte. Man bekommt eins, ob man will oder nicht. Bei „Fiesque“ sind die Untertitel Übertitel. Augen hasten bei jedem neuen Satz nach oben, schießen ein Foto und springen zurück auf die Bühne. Inhaltlich kommt man voran. Die Übertitel werden von Hand weitergedrückt, manchmal zu Foto: Fontagnier anstalt03 spät, seltener zu früh. Jeder Satz bekommt Ausrufezeichen, manchmal sogar mehr als eins. Auch ein Komma ist irgendwo überflüssig, niemand murrt. Eine Frau in Grün, Mitte vierzig, berührt mich unabsichtlich am Bein, nach der Pause sitzt sie eine Reihe weiter vorn. Das Ende ist deprimierend und provinziell. Vier Leute stehen auf, der Rest klatscht mit hohler Hand oder nicht. Die Buhrufe sind das Orchester des Volkes, niemand ist politisch, doch es ist das Mittelmaß, was sich anfühlt wie Schleim auf der Haut und manche protestieren lässt. Zu Recht finden tut sich danach keiner. Die meisten fliehen mit krummem Rücken ins Foyer, nur wenige hören auf den Ruf der Helfer und humpeln nach oben zum Uraufführungssekt. Eine Frau mit schwarzer Walkürenfrisur isst ein Lachsbrot, dazu gibts ImWeg-Herumstehen und Küsschen-aufbeide-Wangen für andere Frauen ohne Lachsbrötchen und ohne Haarkranz. Ein Stipendiat hält sein T-Shirt nur in der Hand, zieht es aber nicht an. Auf die Frage hin, warum er es nicht anzieht, antwortet er ganz empört: „Ich bin doch keine Bestie!“ ✶ ✶ Beobachter: JF/JDK/LD/MH/MAM Schnitt: JULE D. KÖRBER anstalt03 17.06.2007 ✶ 12 2 16:07 Uhr Seite 12 MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 18.06.2007 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM SPIELPLAN MONTAG 18.06.07 ✶ AB 14.00 ✶ ✶ AB 17.00 ✶ ✶ AB 18.30 ✶ 18:30 Studio Werkhaus -Iller (UA) Martin Nachbar € 18,– / 8,– anschließend Publikumsgespräch ✶ AB 19.00 ✶ ✶ AB 22.00 ✶ ✶ AB 22.30 ✶ 19:30 Schauspielhaus GASTSPIEL KABALE UND LIEBE Schauspielhaus Zürich PREISE G anschließend Publikumsgespräch 20:00 Alte Feuerwache PIMP THE CITY Sozial-Trash nach Schiller Nationaltheater Mannheim € 13,– / 8,– anschließend Publikumsgespräch 20:00 Probenzentrum Neckarau 22:00 Großmarkt Mannheim 22:30 Unteres Foyer/Theatercafé ALEJANDRO TANTANIAN LA LIBERTAD / FREIHEIT (UA) Cia Pablo Soler – Argentinien € 13,– / 8,– PREMIERE PENSION SCHILLER FOLGE 2 (UA) Drama Köln € 13,– / 8,– SCHILL-OUT mit YE:SOLAR und HANS PLATZGUMER Eintritt frei! ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ KNALLGELBE FESTIVALLIEBLINGE ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Seit Beginn des Schillerfestivals erobern sie zunehmend das Stadtbild: Knallgelbe Flitzer im Festivaldesign, mit denen die Besucher schnell mal vom Nationaltheater in die Innenstadt oder zu anderen Spielstätten radeln können. Der Arbeitsförderungsbetrieb BIOTOPIA stellt während des Festivalzeitraums 80 fabrikneue Fahrräder im eigenen Outfit zur Verfügung. Jeder Teilnehmer kann sich die Räder gegen ein Pfand von 50 Euro für einen beliebigen Zeitraum ausleihen. Auch die Macher dieser Festivalzeitung nutzen diesen Service gerne und begeben sich mit dem Rad auf Recherche. Bei Reifenpannen oder anderen technischen Problemen ist für Hilfe gesorgt: Zwei Azubis von BIOTOPIA führen kleinere Reparaturen und Wartungen durch. Wer sich in den City-Cruiser verliebt hat und ihn behalten möchte, kann ihn kaufen. Am letzten Festivaltag, Samstag, den 23. Juni, organisiert das Nationaltheater eine große Verkaufsaktion auf dem Theatervorplatz. Die Räder können dann für 190 Euro erstanden werden. Der Erlös kommt BIOTOPIA zugute, die sich als gemeinnützige GmbH die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zum Ziel gesetzt hat. ✶ SABINE DEMM Foto: Fontagnier