[email protected]; 2014 Von verhaltensauffälligen Schüler/innen, die den Unterricht stören und Lehrer/innen Disziplinprobleme bereiten Begriffe... Michael erscheint erst nach Unterrichtsbeginn im Klassenzimmer, beginnt noch im Stehen einem entfernt sitzenden Mitschüler ein Erlebnis zu erzählen und reagiert auf das Ersuchen der Lehrerin, sich zu setzen und seine Erzählung auf die nächste Pause zu verschieben, mit dem Hinweis, er sei ohnehin gleich fertig. Der Lehrerin sind solche Verhaltensweisen schon des Öfteren aufgefallen nicht nur bei Michael, sondern auch bei anderen Schülern dieser Klasse. Wenn ein/e Beobachter/in dieser Szene sich Gedanken über mögliche Hintergründe macht oder Überlegungen hinsichtlich des pädagogischen Umgangs mit dieser Situation anstellt, wird er rasch Begriffe einführen, die die Situation und das Verhalten des Schülers und der Lehrerin charakterisieren. Da wird vielleicht von „Unterrichtsstörungen“ die Rede sein, von einem „Problemschüler“, der sich „abnormal“ verhält oder von „Konflikten“ in der Klasse. Welche Begriffe bei diesem Nachdenken und Sprechen verwendet werden, ist alles andere als nebensächlich, im Gegenteil: Die Begriffe ordnen den Beobachtungen Bedeutungen zu, sie drücken Interpretationen aus und sie legen – oft unbemerkt - Richtungen für mögliche Lösungen fest. Der Begriff „Unterrichtsstörung“ lenkt z.B. den Blick auf die Folge von Michaels Verhalten für den Unterricht: dieser wird unterbrochen, eben „gestört“. Eine Soziologin würde das Verhalten als „abweichend“ von gesellschaftlich gültigen Standards bezeichnen, vielleicht auch als „normentsprechend“, wenn er an die spezielle soziale Norm der betreffenden Klasse denkt. Ein Unterrichtsforscher würde bei seiner Interpretation vielleicht darauf verweisen, dass der Lärmpegel in der Klasse ohnehin „statistisch normal“ in dem Sinn sei, dass er bezogen auf eine repräsentative Vergleichsstichprobe nicht signifikant vom Durchschnitt abweicht. Eine Psychologin würde bei Michael vielleicht eine „Verhaltensstörung“ konstatieren – und damit das Problem als in Michaels Person liegend definieren, ihn vielleicht sogar als „psychisch krank“ klassifizieren (was seine „Behandlung“ auf Krankenschein nahe legt ...). Ein „positiv denkender“ Pädagoge wird Michael vielleicht als „verhaltensoriginell“ einstufen und sich durch sein Auftreten nicht weiter unangenehm berührt fühlen. Ganz andere Folgerungen mag die Lehrerin Michaels aus der einleitend skizzierten Situation ziehen: Sie könnte zum Schluss kommen, dass sie – im Gegensatz zu ihren Kolleg/innen – offensichtlich „Disziplinprobleme“ hat. Damit definiert sie sich selbst als „Problemlehrerin“. Im Hinblick auf eine Lösung pädagogisch problematischer Situationen ist es meist hilfreich, zunächst die Situation möglichst nur genau zu beschreiben und bei der nachfolgenden Interpretation Begriffe zu bevorzugen, die viele Optionen offen lassen: Den Begriff „Unterrichtsstörung“ zu verwenden (und damit offen zu lassen, wie es dazu gekommen ist und was getan werden könnte) ist in diesem Sinn günstiger als von einer „Verhaltensstörung“ zu sprechen (und damit den Blick und die Lösungssuche vorschnell auf den Schüler zu richten). Da jedoch kein Begriff völlig frei von Konnotationen ist, sollte man sich diese zumindest bewusst machen. ... und Betrachtungsweisen Hennig & Knödler (1987) konstatieren eine historische Entwicklung von einer individuumsorientierten über eine interpersonale zu einer systemischen Betrachtungsweise von Störungen. Bei der individuumsorientierten Betrachtungsweise wird der einzelne als Träger von Eigenschaften gesehen: Der „Problemschüler“ wird als „dumm“, „aggressiv“, „unkonzentriert“ usw. gesehen. Prinzipiell lässt sich auch eine schwierige Schulklasse in diesem Sinn als „Individuum“ auffassen – und als faul, aufsässig oder dgl. etikettieren. Möchte man die Situation ändern, so ist es bei dieser Sichtweise naheliegend, irgendeine Art von Intervention zu setzen, die beim „gestörten“ Kind bzw. der „gestörten“ Klasse ansetzt. Man wird z.B. dem Kind ein beruhigendes Medikament verschreiben oder der Klasse eine Strafe auferlegen. In der interpersonalen Betrachtungsweise tritt eine zweite Person (oder mehrere weitere Personen) ins Blickfeld: zum Beispiel die Mutter, die ihren Sohn verwöhnt, so dass er in der Folge schulischen Anforderungen ausweicht. Oder man bemerkt, dass Lehrkräfte eine Klasse autoritär führen, so dass ein aggressives Klima in der Klasse entsteht. Für die Intervention bedeutet diese Sicht eine radikale Umorientierung: Nun sind es nicht mehr das Kind oder die Klasse, die einer „Behandlung“ bedürfen, sondern die Mutter des Kindes bzw. die Lehrkraft dieser Klasse. Für diese Personen erscheint dann z.B. Erziehungsberatung oder ein pädagogischer Fortbildungskurs ratsam, da es ja sie sind, die sich ändern müssen, um eine Verbesserung der Situation zu bewirken. In der systemischen Betrachtungsweise interessiert schließlich die Art, wie die relevanten Personen miteinander umgehen und welche Bedeutung das „auffällige“ Verhalten für das jeweilige System hat: Das Verhalten des „Symptomträgers“ (des schwierigen Kindes, der Problemklasse, aber auch des Problemlehrers!) gilt dabei als Ausdruck für Störungen im System und wird durchaus positiv gesehen: zum einen als Warnsignal, dass es eine Störung gibt, und zum anderen als individueller Lösungsversuch für diese Störung. Das Problemverhalten des Kindes kann z.B. nützlich sein für die Stabilisierung der Familie, die damit eine gemeinsame Aufgabe erhält (nämlich das Kind zu „retten“) und dadurch vor dem Zerfall bewahrt wird. Und die Lehrerin mit „Disziplinschwierigkeiten“ erlaubt ihren Kolleg/innen die Aufrechterhaltung eines überlegenen Selbstbildes – und sich selbst bewahrt sie vielleicht vor der Notwendigkeit, einen qualitätsvolleren Unterricht zu gestalten („in dieser Klasse ist Gruppenarbeit einfach nicht möglich“). In systemischer Sicht verliert die Suche nach Ursachen („Wer hat angefangen?“) an Bedeutung, da jedes Mitglied zugleich als mitverantwortlich für das Problem und auch mitverantwortlich für seine Lösung gesehen wird. Ähnlich wie bei der Begrifflichkeit geht es auch bei der Betrachtungsebene nicht darum, die „objektiv richtige“ Ebene zu finden, sondern eine für die Problemlösung möglichst gut passende. Dazu sollten zunächst alle Ebenen in Betracht gezogen werden und auch im Zuge der Intervention keine davon ausgeblendet werden, auch wenn das Hauptaugenmerk auf eine oder zwei bestimmte Ebenen gelegt wird. So wäre es z.B. ein „Kunstfehler“ zu ignorieren, dass ein Kind an einer minimalen cerebralen Dysfunktion leidet (=individuumsorientierte Betrachtungsweise) und ihm eine entsprechende Behandlung vorzuenthalten, und zugleich ist damit zu rechnen, dass eine erfolgreiche individuumsbezogene Intervention Konsequenzen für das System Familie bzw. Schulklasse nach sich zieht, da diesen Systemen auf einmal das „Problemkind“ abhanden gekommen ist (=systemische Betrachtungsweise). Einige Literaturhinweise Hennig, C. & Knödler, U. (2000). Problemschüler – Problemfamilien. Ein praktisches Lehrbuch zum systemischen Arbeiten mit schulschwierigen Kindern. Weinheim: Beltz. Lohmann, G. (2011). Mit Schülern klarkommen - Professioneller Umgang mit Unterrichtsstörungen und Disziplinkonflikten. Berlin: Cornelsen Scriptor. Schönbächler, M.-Th. (2008). Klassenmanagement. Bern: Haupt. Schulz von Thun, F.(1998). Miteinander reden, Teil 1 + Teil 2. Reinbek: Rowohlt. Watzlawick, P. (1984). Wie wirklich ist die Wirklichkeit? München: Piper