Meine sehr verehrten Damen und Herren, jeder zweite Deutsche hält den Islam für eine Bedrohung. 50 Prozent der Deutschen sind zudem davon überzeugt, dass der Islam nicht nach Deutschland passt. Dieses Ergebnis förderte der neue Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung vor einigen Monaten zu Tage. (Für den Religionsmonitor wurden im November und Dezember 2012 insgesamt rund 14.000 Menschen in 13 Ländern zu ihrer persönlichen Religiosität, ihren Wertehaltungen und dem Verhältnis von Religion, Politik und Gesellschaft befragt). Wenn es also einen Grund gibt, für den Dialog zu werben, dann diesen: Wir, wir Muslime, brauchen den Dialog, um die eine Hälfte der deutschen Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die andere Recht hat: Dass der Islam keine Bedrohung darstellt und sehr wohl nach Deutschland paßt. Es ist meiner Meinung nach unser Job dafür zu sorgen, dass wir nicht als Bedrohung gesehen werden. Sollten wir das nicht schaffen, dann ist das Eis, auf dem wir uns hier bewegen dünn, sehr dünn. Aber der aktuelle Religionsmonitor förderte auch eine weitere erschreckende Erkenntnis zu Tage: 39 Prozent der Muslime in Deutschland sind der Ansicht, dass in religiösen Fragen nur ihre Religion Recht habe und die anderen Unrecht. Die Zahlen unter den Christen sehen hier weit besser aus: Bei den Christen sind es nur zwölf Prozent, die das glauben. Das halte ich für eine sehr bedenkliche Haltung in meiner Glaubensgemeinschaft, die sicher nicht förderlich für das Zusammenleben ist. Und ich frage mich: wie wollen wir Dialog führen, wenn wir unser Gegenüber nicht anerkennen? Wie will ich mit jemandem in Dialog treten, dem ich nicht auf Augenhöhe begegne? Leider wird sehr oft – auf muslimischer allerdings durchaus auch auf nicht-muslimischer Seite – der Dialog so geführt, dass jeder Partner nur seinen eigenen Glauben bezeugt; jeder Partner geht dabei implizit davon aus, dass sein Glaube die absolute Wahrheit ist, dem Glauben seines Gesprächspartners vielleicht gerade noch ein Stückchen Wahrheit zukommt. Man redet dann zwar miteinander, doch miteinander zu reden, ist nicht unbedingt ein echter Dialog. Geredet, ja, in der Tat, geredet, haben Muslime und Christen und Juden schon immer. Doch diese Dialoge dienten nicht der Wahrheitsfindung, sondern der Wahrheitsdurchsetzung. Aber das ist kein echter Dialog. Echter Dialog ist die wahrheitssuchende Form des Dialogs. Bei dieser Form des Dialogs sind sich die Partner dessen bewußt, dass die transzendente Wirklichkeit unendlich viel größer ist als die je eigene begrenzte Vision von ihr. Sie wollen daher ihre Visionen in der Hoffnung austauschen, einander dadurch zu einer umfassenderen Erkenntnis der göttlichen Wirklichkeit zu verhelfen. Diese Art von Dialog ist etwas anderes als der Dialog, der mit dem Ziel der Missionierung geführt wird; er ist auch etwas anderes als 1 der gelehrte Dialog, der mit dem Ziel eines intellektuellen Verstehens geführt wird. Und er ist auch etwas anderes als der Dialog, der politisch motiviert ist und der im Dienste erstrebenswerter Ziele – wie beispielsweise Friede, soziale Gerechtigkeit oder Menschenrechte – eine gemeinsame Grundlage zwischen religiösen Menschen schaffen will. Gerade letzteren halte ich zwar für besonders verdienstvoll, aber das ist trotzdem nicht das, was ich hier meine. Sondern ich meine den Dialog, der mit dem Ziel geführt wird, das eigene Begreifen der Wahrheit zu erweitern – wie der Religionssoziologe Peter Berger es einmal formuliert hat. Man will also von dem anderen und seiner Religiosität ernsthaft etwas lernen. Voraussetzung dafür ist eben zunächst einmal, dass man den anderen, den religiös anderen, überhaupt anerkennt. Mein Ziel ist es daher im folgenden in den islamischen Quellen selbst nach Anhaltspunkten, nach Anknüpfungspunkten, nach Traditionen zu suchen, die für die Anerkennung des religiös anderen plädieren. Anknüpfungspunkte, Ansätze also, die dem Anderen, dem religiös anderen, zugestehen, dass auch seine Religion ein Weg ist zu Gott. Meine zentrale Frage hier ist: Werden – von muslimischer Seite - auch andere als der islamische als Wege zu Gott anerkannt? Ich will also die Anerkennung des religiös Anderen, die mir in der pluralistischen Welt, in der wir leben, unabdingbar erscheint, aus den islamischen Quellen selbst heraus begründet sehen und dann auch selber begründen. Denn nur die Anerkennung des religiös anderen, das Zugestehen, dass auch der religiös andere der Wahrheit teilhaftig werden kann: so wie eben jeder Mensch der Wahrheit nur teilhaftig werden kann und niemand beanspruchen kann, sie ganz zu besitzen - nur dieses Zugeständnis ermöglicht es uns, ernsthaft mit jemandem in Dialog zu treten. In der Tat sind in den gegenwärtigen Diskursen islamischer Gelehrter zunehmend Stimmen zu hören, die für eine Anerkennung religiöser Vielfalt plädieren. Zu diesen Denkern gehören Mohammed Arkoun, Hasan Askari, Mahmut Aydin, Ali Asghar Engineer, Farid Esack, Seyyed Hossein Nasr, Nasr Hamid Abu Zayd, Abdulaziz Sachedina, Abdolkarim Soroush und Mohammad Shabestari - um nur ein paar sehr bekannte Namen zu nennen. Für die meisten Denker, die dem islamisch begründeten Pluralismus positiv gegenüber stehen, beruht grundsätzlich sein theologisches Fundament auf drei koranischen Säulen, also drei zentralen Aussagen des Korans: Erstens ist dies die Bekräftigung einer allgemeinen Heilsmöglichkeit für all jene, die in wahrer Gottesfurcht und Rechenschaft leben, auch wenn sie keine Muslime sind. Das sagen die Suren 2:62; 2:112 und 2:213 aus sowie 20:112. Zweitens ist es die Überzeugung, dass Gott kein Volk ohne die erforderliche Offenbarung beziehungsweise prophetische Rechtleitung gelassen hat. Das sagen die Suren 5:19 und 5:48, 10:47, 14:4 und 35:24 aus. Und drittens ist es das Bekenntnis zu der alle menschlichen 2 Ausdrucksformen übersteigenden Transzendenz Gottes. Das wiederum wird in den Suren 17:43, 37:180 und 112:4 formuliert. Für die moderne Zeit geht der Ansatz, dass auch andere Religionen dem Islam gleichwertig, also auch sie Wege zu Gott sind, u.a. auf Mahmoud Ayoubs hermeneutischem Zugang zum Koran zurück. Laut Ayoub, einem der bedeutendsten lebenden muslimischen Theoretiker zur Frage des religiösen Pluralismus, will der Koran selbst religiösen Pluralismus. Pluralität ist gottgewollt und wird im Koran als Wille Gottes formuliert. Dies leitet er vor allem aus den Suren 2:62 und 5:69 ab. Sie erste sei hier zitiert – in der Übersetzung von Hartmut Bobzin: Siehe, diejenigen, die glauben, die sich zum Judentum bekennen, die Christen und die Sabier – wer an Gott glaubt und an den jüngsten Tag und rechtschaffen handelt, die haben ihren Lohn bei ihrem Herrn, sie brauchen keine Furcht zu haben und sollen auch nicht traurig sein! Ayoubs koranischer Hermeneutik zufolge sind alle die Religionen als Wege zu Gott anzuerkennen, die über vier Prinzipien verfügen, die er dem Koran entnimmt. Diese Prinzipien sind: 1. Eine wahre Religion muss ein über eine Schrift oder ein göttliches Gesetz verfügen und sie muss – zweitens - Gottes Einheit anerkennen. Drittens muss ein wahrer Glaube, wie Ayoub ihn versteht, von der Existenz des Jüngsten Gerichts ausgehen, und er muss – viertens - zu gutem Handeln anstiften. Diese Prinzipien sieht Ayoub im Christentum, Judentum, Zoroastrismus, Buddhismus und Hinduismus verwirklicht. Und laut Ayoub wollte der Koran eben gerade nicht, dass die, die diese Prinzipien verwirklichen, ihre Religion aufgeben. Sein Ansatz der Akzeptanz geht damit über den in der islamischen Geschichte tatsächlich verwirklichten weit hinaus – denn: islamische Gesellschaften schrieben ja durchaus eine rechtliche Ungleichheit von Muslimen und Nicht-Muslimen fest. Folgt man aber der Auffassung Ayoubs, dass der Koran die Wege der Nicht-Muslime zu Gott als dem islamischen gleichwertig anerkennt, dann hätten sie das nicht tun dürfen. – und Christenund/oder Judenverfolgung darf es schon gar nicht geben. Kommen wir wieder zu Ayoub. Er erklärt uns auch, warum es zu solchen rechtlichen Diskriminierungen kam, bzw. er erklärt, warum die muslimischen Herrscher nicht so handelten wie der Koran ihnen gebot: 3 Diese koranische Sicht der religiösen Diversität stellte für muslimische Herrscher, Juristen und politische Ideologen ein ernsthaftes rechtliches und politisches Problem dar. Deshalb gingen die meisten Interpreten des Korans hin und negierten diese zentrale koranische Lehre. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Ayoub behauptet also, dass die Politik, also das aktive Handeln des Staates, die koranische Botschaft ganz bewußt verfälschte; denn aus politischen Gründen war den Herrschenden daran gelegen, eine Hierarchisierung der Untertanen vorzunehmen. Man wollte einfach nicht alle im ‚inner circle’ haben; sah sich selbst als etwas besseres, wollte die Exklusivität der eigenen Gemeinschaft aufrecht erhalten. Den Punkt, auf den Ayoub hier hinweist, finde ich insofern nachvollziehbar, als die Araber ja auch für sich als arabische Muslime beispielsweise iranischen Muslimen gegenüber eine solche Exklusivität beanspruchten: bloß, weil sie selber die Sprache des Korans als Muttersprache sprachen. Dieser Anspruch der Araber, Gott näher zu sein als die anderen Muslime, läßt sich schon für das erste, zweite Jahrhundert des Islams nachweisen – dabei widerspricht dieses Ansinnen ganz zentral dem universalen Charakter des Islams, der eben nicht unterscheidet, zumindest nicht in der Theorie - zwischen solchen Muslimen, die die Sprache des Korans als ihre Muttersprache sprechen und solchen, die es nicht tun. Doch lassen wir diesen Aspekt, der in der Shu’ubiyya-Bewegung seinen Ausdruck fand, beiseite - und kommen wir zurück zu den anderen, die bald ausgeschlossen werden sollten: Um die Exklusivität der eigenen Gruppe zu erhalten, sprach man den Nicht-Muslimen ab, Muslimen gleichgestellt zu sein; weil sie Gott nicht genauso nahe stünden wie die Muslime. Und weil man ihnen das absprach, wollte man dies wiederum koranisch begründen - wie sonst? Das ist das, was wir in den folgenden Jahrhunderten beobachten konnten – und was Ayoub meint. Man las also etwas in den Koran hinein, was er so eigentlich nicht hergibt – und was auch seinem Ethos nicht entspricht. Ayoub steht nicht allein mit dieser These: Ganz genau so wie Ayoub argumentiert heute auch der Südafrikaner Farid Esack und vor allem argumentierte so der Pakistaner Fazlur Rahman, der 1988 verstorben ist und als einer der einflussreichsten Denker des letzten Jahrhunderts gilt. Auch Rahman betont, die muslimischen Exegeten hätten den Koran ganz bewußt falsch verstanden. Der Pluralismus des Korans paßte den Exegeten bzw. den Herrschenden einfach nicht in den Kram. Über die schon genannte Sure 2:62 und die ihr inhaltlich sehr ähnliche 5:69 schreibt Rahman: 4 Die muslimischen Kommentatoren haben die offensichtliche Bedeutung dieser beiden Verse außer acht gelassen: [nämlich] dass jene – und zwar von allen Teilen der Menschheit -, die an Gott glauben und an den Jüngsten Tag und Gutes tun, gerettet werden. Sie [also die Exegeten und Herrschenden] behaupteten entweder, mit Juden, Christen und Sabiern seien jene gemeint, die schon Muslime geworden seien – [...] [eine Interpretation, die er schon dadurch für ausgeschlossen hält, weil sie ja dann nicht mehr als Juden, Christen und Sabier bezeichnet werden müssten in dem Vers] oder indem sie [also die Exegeten und Herrschenden] behaupten, damit wären die guten Juden, Christen und Sabier gemeint, die vor dem Aufkommen des Islams gelebt hätten – was eine noch schlimmere Tour de Force ist. Da Rahman aber die Frage, wie der Koran zu Andersgläubigen steht neben der Frauenfrage für die zentrale Herausforderung des islamischen Denkens in der Moderne schlechthin hält, versucht er, den Koran so zu deuten, wie er es für richtiger hält – u.a. in seinem Buch Major Themes of the Qur’an, das 1982 in den USA erschienen ist: Rahmans Meinung nach hat Muhammad zwar ursprünglich gewollt, dass die Juden und Christen ihn als Propheten akzeptierten, wie er ihre Propheten anerkannte, diesen Anspruch aber durch göttliche Eingebung fallen gelassen, als er merkte, dass sie ihn nicht als solchen akzeptieren. Allerdings habe die Ablehnung speziell der Juden Muhammad vor ein ernstes theologisches Problem gestellt. Das Bewusstsein der Existenz einer Vielzahl von Religonen, die eigentlich in ihrem Ursprung eins gewesen sein müssten, habe Muhammad jahrzehntelang gepeinigt. Deshalb behandle der Koran die Frage auf verschiedenen Ebenen, so Rahman. Die Tatsache, dass die Religionen als solche sich nicht nur voneinander unterscheiden, sondern auch noch verschiedene Untergruppen haben, wird immer wieder thematisiert. In der mekkanischen Periode spreche der Koran in von Juden und Christen als Sektierern, später hingegen von den Gemeinschaften der Juden und Christen. Zwar würden sie weiterhin eingeladen, den Islam anzunehmen, aber nun als eigene Religionsgemeinschaften anerkannt. Der Prophet gab also sein ursprüngliches Ansinnen auf und trat den Juden und Christen mit einer neuen Haltung entgegen. Er erkannte sie an. Dies belegt Rahman mit dem Koran, mit mehreren Suren (2:111; 2:120; 10:19). Vor allem mit Sure 2:113: Die Juden sprechen: «Die Christen gründen ja auf nichts.» Die Christen sprechen: «Die Juden gründen ja auf nichts.» Sie aber tragen das Buch vor. 5 [...] Gott wird zwischen ihnen richten am Tag der Auferstehung in dem, worin sie uneins waren. Der Koran erkennt die Juden und Christen also an, weil sie das Buch vortragen. Das ist das eine, was Rahman aus dieser Sure liest. Aber er liest auch daraus: Die Reaktion Gottes auf die exklusivistischen Ansprüche der Juden und Christen ist absolut unmissverständlich: Keine Gemeinschaft könne beanspruchen, einzig auserwählt und rechtgeleitet zu sein. Der gesamte Tenor des Korans sei gegen das Auserwähltsein. Um diese These noch weiter zu untermauern, zitiert Rahman Sure 2:134 und Sure 2:124: Damals, als sein Herr Abraham auf die Probe stellte Durch Worte, die er [also Abraham] dann erfüllte. Da sprach er [also Gott]: «Siehe, ich mache dich zu einem Leitbild für die Menschen.» Er [also Abraham] sprach: «Und auch von meinen Kindeskindern?» Er [also Gott] sprach: «Mein Bund erstreckt sich nicht auf jene, welche freveln.» Ganz im Einklang mit dieser starken Zurückweisung von Exklusivismus und Ausgewähltsein akzeptiert der Koran, so Rahman, dass es auch in anderen Gemeinschaften gute Menschen gebe – denen dann eben auch das jenseitige Heil offenstehe. Rahman beantwortet auch die Frage, warum es überhaupt so viele verschiedene Religionen und Gemeinschaften gibt. Warum also Gott es vorgezogen hat, die Menschen zu vielen Gemeinschaften statt zu einer einzigen zu machen. Der positive Wert dieses Pluralismus liegt für ihn darin, dass sie miteinander um das Gute wetteifern sollen. Es hat ein jeder eine Richtung, nach welcher er sich wendet. Wetteifert daher um das Gute! (Sure 2:148) Das sagt für ihn auch Sure 2:177 aus: Die Frömmigkeit besteht nicht darin, dass ihr euer Angesicht gen Osten oder Westen wendet, vielmehr ist Frömmigkeit, an Gott zu glauben und an den Jüngsten Tag und an die Engel, an das Buch und die Propheten; 6 und das Geld, auch wenn man’s liebt, für die Verwandten, die Waisen und die Armen auszugeben und für den <Sohn des Weges> und die Bittenden und für den Sklavenfreikauf; und das Gebet zu verrichten und die Almosensteuer zu entrichten. Die den Vertrag einhalten, wenn sie ihn abgeschlossen haben, und die geduldig sind in Not und Missgeschick und Kriegszeit – die sind es, die wahrhaftig sind, die sind es, die Gott fürchten. Die muslimische Gemeinschaft in Medina, die zwar gelobt wird (in Sure 2:144) und sogar als die beste für die Menschheit gepriesen (in Sure 3:110), hat denoch keine Garantie – Zitat: „automatisch Gottes Liebling zu sein“ (Rahman 1982, 167). Dazu muss sie erst gut handeln – wie Sure 22:41 aussagt. Und in Sure 47:38 werden die Muslime sogar davor gewarnt, dass Gott ihnen seine Liebe entziehen könnte – im Falle eines Fehlverhaltens: Ihr aber seid nun die, die zum Spenden für Gottes Weg aufgerufen sind. Unter euch gibt es manchen, der geizig ist. Doch wer geizig ist, der ist es nur zu seinem Nachteil. Gott ist der Reiche, und ihr seid die Armen. Wenn ihr euch abwendet, wird er euch durch ein anderes Volk ersetzen. [...]. Abgesehen von Christentum und Judentum äußert sich Rahman nicht konkret zu anderen Religionen – was in dem Kontext des hier zitierten Buches logisch ist, denn es geht ja um die Hauptthemen des Korans, und im Koran kann es logischerweise nicht um die Religionen gehen, auf die ich jetzt anspiele, nämlich die post-islamischen. Grundsätzlich sind sie aber die größte theologische Herausforderung heute für den Islam und für die meisten islamischen Gekehrten auch. Mahmoud Ayoub beispielsweise macht mit seiner Hermeneutik, die ja - wie wir gesehen haben - auch den Christen und Juden und sogar den Hindus und Buddhisten zugesteht, einen Weg zum Heil zu bieten, bei der Religion halt, die ihm als Schiiten die größte theologische Herausforderung ist: bei den Baha’is. Die Baha’is gelten ihm nicht als Religionsgemeinschaft, sondern als politische Sekte, wie er sagt. 7 Meiner Meinung gilt es jedoch die Herausforderung, die post-islamische Religionen für die Muslime darstellen, anzunehmen: auch beispielsweise den Baha’is oder den Aleviten kann nicht abgesprochen werden, dass ihr Glaube ebenfalls ein Weg zu Gott ist. Gerade in unserem Umfeld muss diese Herausforderung angenommen werden. Denn in unserer DiasporaSituation treffen wir Muslime verstärkt auf aus dem Islam hervorgegangene Religionen oder Gläubige, die sich selbst als Muslime sehen, von vielen anderen Muslimen aber nicht als solche anerkannt werden. Eine besondere Herausforderung für eine Theologie, die hier, also in einer freiheitlichen Atmosphäre die Möglichkeit hat sich zu entwickeln, stellt zudem der intra-religiöse Dialog zwischen Sunniten und Schiiten dar. Die immer stärker werdende politische Konkurrenz zwischen den regionalen Großmächten Iran und Saudi-Arabien bewirkt, dass die Eiferer in beiden Ländern immer mehr Öl ins Feuer giessen und die jeweils andere Konfession verketzern. Mit dem verstärkten Aufkommen des Salafismus, der sich vornehmlich aus dem wahabitischen Islam Saudi-Arabiens speist, ist dieser Konflikt auch mehr und mehr in der Diaspora präsent - und so ist auch hier bei uns in den letzten Jahren eher eine Verschärfung denn eine Entspannung des Gegensatzes zu beobachten. Deshalb sollte eine moderne Theologie sich um einen hermeneutischen Zugang zum Koran bemühen, der alle mit einschließt. Deutschland kann zu dem werden, was der Hamburger Religionsgelehrte Imam Mehdi Razvi einmal als Denkraum bezeichnet hat. Denn in Deutschland läßt sich vieles denken, so hoffe ich zumindest, was in vielen islamischen Ländern zurzeit undenkbar ist. Es ginge dabei darum, die islamischen Quellen verstärkt danach abzusuchen, inwieweit eine Dialogoffenheit, bzw. eine Öffnung zum Anderen vorliegt. Hiermit ist eine Dekonstruktion von bisherigen theologischen Ansätzen verbunden, denn es kann - wie Rahman und Ayoub meiner Meinung überzeugend und nachvollziehbar argumentieren - angenommen werden, dass der Koran oftmals aus politischen Gründen bewusst falsch verstanden wurde. Es gab aber andererseits auch immer solche Denker, die – wie ich finde – den Koran so gelesen haben, wie er selber nahelegt. Und ihrer Lesart gilt es, so meine ich, zu mehr Popularität zu verhelfen; sie, diese offene, tolerante Lesart gilt es wieder ins Zentrum unserer Theologie, unseres Denkens zu rücken. Einer von diesen Denkern war Ibn Arabi, der große arabische Mystiker, der 1240 in Damaskus starb. Er war eines der größten Genies, die der Islam hervorgebracht hat. Sehr bekannt von ihm ist folgender Ausspruch: 8 Welche Herrlichkeit. Ein Garten inmitten der Flammen. Mein Herz hat sich für jegliche Form geöffnet: Es ist eine Weide für Gazellen. und ein Kloster für christliche Mönche. und ein Tempel für Götzenbilder. und die Kaaba der Pilgernden. und die Tafeln der Tora. und das Buch des Korans. Ich folge der Religion der Liebe: Welchen Weg die Kamele der Liebe auch einschlagen. das ist meine Religion und mein Glaube. Von Ibn Arabi stammen zahlreiche in diese Richtung weisende Sentenzen. Und er erklärt immer wieder, und das ist mir hier wichtig, dass alles, was er sagt, auf den Koran zurückgehe. In den Fusus al-hikam, den Ringsteinen der Weisheit, auf Deutsch übersetzt unter dem Titel Die Weisheit der Propheten schreibt Ibn Arabi: Indem er lobt, woran er glaubt, preist der Gläubige seine eigene Seele; und deswegen verurteilt er einen anderen Glauben als den seinigen. Wäre er gerecht, würde er das nicht tun. Nur: Wer einer solch besonderen Anbetung verhaftet ist, verkennt mit Notwendigkeit [die innere Wahrheit anderer Glaubensformen] eben dadurch, dass sein Glauben an Gott eine Verneinung anderer Glaubensformen zur Folge hat. Würde er den Sinn des Wortes von Junayd: „Die Farbe des Wassers ist die Farbe ihres Behälters“ kennen, so würde er die Gültigkeit einer jeglichen Glaubensform zulassen, und er würde Gott erkennen in jeder Form und in jedem Objekt des Glaubens. Ein weiterer Bezugspunkt für diese pluralismus-offene Deutung des Korans ist natürlich der oft in diesem Zusammenhag zitierte Moulana Dschelaleddin, hier genannt Rumi. Rumi, der im Jahre 1273 im türkischen Konya starb, gilt in Iran und ebenso in der Türkei als einer der allerwichtigsten Bezugspunkte und Autoritäten. Sein Grabmal ist ein Wallfahrtsort bis heute. Sein Hauptwerk, das Mathnavi, ist nach den Worten Maulana Jamis, geboren im heutigen Afghanisten, der Koran in persischer Sprache. Qor’an be zaban-e parsi. Das ist etwas 9 ketzerisch ausgedrückt. Etwas weniger ketzerisch formuliert, ist das Mathnavi jedenfalls ein Korankommentar, ein mystischer Korankommentar. Er ist ein spiritueller Akt im Erfassen der innerlichen Bedeutung des Korans; der innerlichen, batin, die es nämlich neben der äußerlichen, zahir, die jeder erfassen kann, auch noch gibt. Es gibt eine lange Tradition der hermeneutischen Kommentare durch die Sufis, wie Rumi einer war, die zu dieser innerlichen Bedeutung des Korans vorgedrungen sind – und das Mathnavi ist sicherlich der bedeutendste unter ihren Korankommentaren. Man könnte so weit gehen zu sagen, das Mathnavi sei für die Iraner, aber auch für viele Türken der wichtigste Korankommentar schlechthin. Fakt ist: Es ist sicherlich das bekannteste und berühmteste Werk Rumis, was auch an den zahlreichen Vertonungen durch persische Musiker liegt. Mohammad Reza Shajarian, der bekannteste klassische Sänger Irans, der vielen als die Stimme des Volkes gilt, vertont überwiegend RumiTexte. Viele werden die berühmte Geschichte mit dem Elefanten kennen, die Rumi in seinem Mathnavi erzählt. Sie handelt von dem Elefanten, den mehrere Inder in einer dunklen Kammer anfassen und den sie dementsprechend unterschiedlich beschrieben, wie sie ihn zu fassen kriegten: Der eine hielt den Elefanten also für eine Regenrinne, der andere für eine Säule, der dritte für einen Thron. So unterscheidlich die Erkenntnis des einen selben Dings. Und Rumi sinniert weiter, wenn die Menschen eine Kerze in der Hand gehabt hätten, dann wären ihre Differenzen verschwunden – und hätten sie wirklich erkannt, was sie vor sich haben. Aber, in der dunklen Kammer der Natur ist unsere Kenntnis der Wahrheit – symbolisiert durch den Elefanten – eben bruchstückhaft. Wir alle halten einen Teil der Wahrheit in unserer Hand und niemand hat sie ganz. Die Elefantengeschichte ist die beste literarische Verarbeitung des ganz am Anfang von mir Gesagten: dass Dialog von der Einsicht lebt, dass die transzendente Wirklichkeit unendlich viel größer ist als die je eigene begrenzte Vision von ihr. Die Botschaft, die Rumi zu vermitteln versucht, nämlich dass unser Wissen so defizitär ist, sollte ausreichen, uns demütiger zu machen. Und Toleranz, Offenheit für Pluralität und Dialog sind nichts anderes als die Früchte des Baums der Demut - Demut also: Das ist eine der wichtigsten Lehren, die man aus dem Gedicht Rumis ziehen sollte. An anderer Stelle, in dem Werk Fihi ma fihi argumentiert Rumi ähnlich – und das ist die Geschichte, die ich eigentlich erzählen wollte, um das Spektrum der Traditionen, auf die wir zurückgreifen können, zu erweitern. Zitat: 10 Maulana sagte: [...] Ich sprach eines Tages in einer Gruppe von Leuten; unter ihnen war eine Schar von ungläubigen Griechen. Mitten in meiner Rede begannen sie zu weinen und wurden gerührt und ekstatisch. Jemand sagte: Was verstehen sie und was wissen sie? Solche Rede versteht nur ein Muslim unter auserlesenen tausend. Was haben sie denn verstanden, dass sie geweint haben? Er antwortete: Es ist nicht nötig, dass sie diese Worte an sich verständen. Das, was die Wurzel dieser Worte ist, das verstehen sie. Schließlich bekennt jedermann die Einheit Gottes und dass Er Schöpfer und Erhalter ist, dass Er alles beherrscht, dass zu Ihm alles zurückkehren wird, und dass Strafe und Vergebung von Ihm kommen. Wenn sie diese Worte hören, die eine Beschreibung Gottes sind und Ihn erwähnen, dann überkommt alle Bewegung und Entzücken und Liebessehrsucht; denn aus diesen Worten kommt der Duft ihres Geliebten und dessen, was sie suchen. Wenn auch die Wege verschieden sind, das Ziel ist doch eines. Natürlich findet man diese Position besonders oft in der Mystik: Speziell die persische Liebesmystik ist eine reiche Quelle für das Aufspüren von pluralistischen Ansätzen: Und weil es so schön ist, hier noch kurz Foroughi Bastami: Du erschienst mir in tausendfacher Pracht – Dass ich dich mit tausend Augen bewundere. Doch diese Position (also von Rumi und von Ibn Arabi und von Bastami), die von der Richtigkeit, der Gottgewolltheit von religiösem Pluralismus ausging, war keine Außenseiterposition: Dazu wurde sie in der Geschichte zu oft gelebt. Denn nicht alle islamischen Gesellschaften haben den Koran so mißverstanden wie ich zuvor beschrieben habe – und wie Ayoub und Rahman beklagen. Mindestens vier Dynastien setzten in der Geschichte die koranische Haltung zum religiösen Pluralismus in gelebte Politik um: Die Osmanen, die Moghulen, die Omayaden in Cordoba und die Fatimiden: Und sie begründeten ihre Haltung explizit mit dem Koran: Bspw. erklärte Jafar b. Mansur al-Yaman: alle Menschen, jeder Religion, die an Gott glauben und das Leben nach dem Tode, die Gutes tun und Gott gehorchen, haben einen Platz im Himmel. Besagter al-Yaman schrieb dies im zehnten Jahrhundert unter den Fatimiden, einer ismailitischen Dynastie, die von 909 bis 1171 in Nordafrika, das heißt im Maghreb und 11 Ägypten sowie in Syrien herrschte. Ich schließe daraus, dass es eine organische Verbindung gibt zwischen dem Ethos des Korans und der toleranten Haltung bspw. der Fatimiden. So wie das ja auch Ibn Arabi für seine Lesweise des Korans behauptet: Ibn Arabi schreibt in seinen Mekkanischen Offenbarungen, dass es der Höhepunkt seines spirituellen Weges war, als er die Bedeutung des folgenden Koranverses begriff; dieser, Sure 3, Vers 84 gilt ihm als der Schlüssel zu aller Erkenntnis: Sprich: «Wir glauben an Gott und was auf uns herabgesandt ward, und was auf Abraham und Ismael, auf Isaak und Jakob und auf die Stämme herabgesandt ward. Und an das, was Mose und was Jesus überbracht ward und den Propheten von ihrem Herrn. Und wir machen zwischen keinem von ihnen einen Unterschied. Wir sind ihm ergeben!» Außerdem liegen uns Dokumente vor, die zeigen, dass aus dieser Politik der Fatimiden und der Omayyaden von Cordoba etc. eben gerade der Geist des Islams spricht. Als der vierte Kalif der Muslime und erste Imam der Schiiten, Ali ibn Abi Talib, seinen Statthalter nach Ägypten entsandte, das seinerzeit mehrheitlich von Christen bewohnt war, gab er ihm einen Regierungsauftrag mit und in diesem, dem sogenannten ahd, heißt es: ... brich nicht mit jenen Regeln und Normen, welche von den Oberhäuptern dieser Glaubensgemeinschaft stammen und Einheit und Freundschaft unter den verschiedenen Gesellschaftsschichten gestiftet sowie sich als Wohltat für das Volk erwiesen haben. Verletze diese bewährten Regeln und Traditionen nicht, und führe nicht an ihrer Stelle Neuerungen ein, welche sie beeinträchtigen. Zudem gibt es das Vorbild des Propheten, der uns vorgeführt hat, was das Ethos des Islams ist. Im Jahre 631 kam eine Abordnung von Christen zum Propheten: Man führte eine Auseinandersetzung über die Trinität und über die islamische Sicht auf Jesus. Man kam nicht zu einer Einigung in dieser Frage, aber der Prophet ließ die Christen in seiner Moschee beten. Auch die Sunna des Propheten hat hier also einiges zu bieten – und ich 12 frage mich, wie angesichts dieser Präzedenzfälle, von denen ja kein Muslim bestreitet, dass sie sich so ereignet haben, dennoch manche Muslime ernsthaft Christen als Ungläubige bezeichnen. Sollte man mir aber entgegnen wollen, warum denn, wenn der Koran dies so eindeutig vorgeben würde, diese Offenheit den anderen gegenüber nicht in mehr als ‚nur’ den vier genannten Dynastien verwirklicht worden ist oder warum denn, wenn das alles so ist, auch noch heute Ungleichheit praktiziert wird – bspw. in Iran, wo Juden und Christen keineswegs die gleichen Rechte zugestanden werden wie den Muslimen – oder warum denn speziell heute, Judenfeindschaft festzustellen ist und sogar koranisch begründet wird und ebenso Christenverfolgung, so kann ich nur mit den bereits zitierten Worten Rahmans und denen Ayoubs antworten, dass viele Interpreten den Koran aus politischen Gründen ganz bewußt falsch verstanden haben und auch immer noch falsch verstehen Warum ich der These, dass bestimmte Stellen im Koran bewußt aus politischen Gründen falsch verstanden worden sind, so viel abgewinnen kann, hängt mit Logik zusammen, aber es hängt auch an meinem Gottesbild: Meiner Meinung nach ist es unlogisch anzunehmen, dass nur zehn Prozent aller Muslime, nämlich wir Schiiten, nicht irren, alle anderen Menschen auf der Erde hingegen schon – die neunzig Prozent sunnitischen Muslime mit eingeschlossen. Denn wenn ich annehme, dass nur meine Religionsgemeinschaft rechtgeleitet ist, müssen ja folglich alle anderen irregeleitet sein. Was ist aber dann mit der Vernunft des Menschen und was hat es mit der Rechtleitung auf sich, frage ich mich: Der Koran betont die Vernunft und sagt, dass alle Menschen mit Vernunft ausgestattet sind. Warum sind sie dann nicht vernünftig genug zu erkennen, dass der schiitische Islam die einzig wahre Religion ist? Und warum leitet der Koran, der sich doch als ein Buch zur Rechtleitung versteht, nicht alle Menschen recht, sondern lässt sie der Verdammnis anheimfallen? Zumal die Religionszugehörigkeit ja letztlich nichts als Zufall ist, da sie meist auf den Geburtsort bzw. die Familie, in die man hineingeboren wird, zurückgeht. Es bedarf also einer Erklärung; es braucht einen Grund dafür, warum es die nicht zu leugnende religiöse Vielfalt auf der Welt gibt. Der Islam, speziell der schiitische Islam, versteht sich als eine hochgradig rationale Religion. Es muss also eine rationale Erklärung geben. Es geht mir also gar nicht um die Frage von Wahrheit und Falschheit der einen oder anderen Religion, sondern darum, dass es eine vernünftige Erklärung geben muss, warum es so viele Religionen gibt und warum Gott nicht alle Menschen dazu gebracht hat, den Islam anzunehmen. Und die einzig logische Erklärung ist für mich, dass Gott die Vielfalt wollte. 13 Denn sonst widerspricht es Gottes Allmacht oder dem Rechtleitungsgedanken, dass nicht alle Menschen schiitische Muslime geworden sind. Es kann nicht sein, dass Gott zuläßt, dass so viele Menschen irregeleitet sind. Denn das wäre ungerecht und wenn Gott eines nicht sein kann - nach Auffassung der Muslime -, dann ungerecht. Dass er gerecht ist, ist sein hervorstechendes Merkmal; sein wichtigstes Charakteristikum. Die Gerechtigkeit ist ihm wesenhaft. Die einzig logische Schlussfolgerung ist also: Gott wollte die Vielfalt und Vielheit. Der religiöse Pluralismus ist also meiner Meinung nach koranisch. Religiöse Diversität ist der Wille Gottes und kein beklagenswerter Unfall der Geschichte. Und aus der Tatsache, dass Gott wollte, dass mehrere Religionen existieren, folgt wiederum die ethische Verpflichtung für Muslime zur Toleranz, zur Anerkennung des religiös Anderen und zum Dialog. Religiöse Toleranz und die anerkennung des religiös Anderen ist somit ein moralischer Imperativ, der sich daraus herleitet wie Gott sich dem Menschen offenbart. Denn das einzige Kriterium, durch das eine hierarchische Distinktion unter den Menschen aufgemacht werden kann, ist taqwa, die Frömmigkeit oder auch oft übersetzt als Gottesehrfurcht. (So lese ich zum Beispiel Sure 49:13). Denn es gibt keine Parallele für das katholische ‚Extra Ecclesiam Nulla Salus“ im Islam. Nicht einmal im Falle der Propheten ist per se sicher, dass sie ins Paradies kommen. Ganz eindeutig sagt der Koran, derjenige, der Gutes tut, ist Gott der liebste –(Sure 5:69) Und daraus folgt, finde ich, das Verbot des religiösen Chauvinismus. Mit der eigenen Religion zu protzen, halte ich für unislamisch; religiöse Polemik und religiöse Arroganz verbieten sich. Stattdessen ist Demut verlangt. Und was im übrigen des ganzen Rätsels Lösung anbelangt, warum es so viele Religionen gibt: Zu Gott werden wir alle zurückkehren und Er wird uns die Wahrheit über die Religionen enthüllen. Dann wird sich auch für uns, die wir jetzt noch nicht verstehen, auflösen, worin die Einheit in dieser Vielfalt besteht. Alles andere als diese gottgewollte Vielheit könnte ich nicht mit meinem Gottesbild in Einklang bringen. Und ich kann es nicht mit meinen persönlichen Erfahrungen in Einklang bringen: Da meine Eltern beide arbeiteten, und meine deutsche Oma bei uns wohnte, hat sie mich wesentlich in meinen ersten Lebensjahren aufgezogen. Meine Oma Gertrud war eine sehr, sehr gläubige Christin. Und ich habe diese meine Oma so sehr geliebt, weil sie so unerschütterlich gut war, dass ich mir vermutlich schon als Kind meine interreligiöse Theologie zurecht gelegt hatte: Es konnte gar nicht sein, dass meine Oma nicht in Himmel kommt. Wenn nicht sie, wer dann? 14 Ich habe im Übrigen den Eindruck, dass es bei recht vielen Vertretern einer pluralistischen Religionstheologie der persönliche Kontakt zu den Gläubigen anderer Religionen war, der sie zu dem Schluß kommen ließ, dass auch ihr Weg ein Weg zu Gott ist. Wenn John Hick, der quasi Erfinder der modernen pluralistischen Religionstheologie, erzählt, wie er zum Verfechter dieser Art von Theologie wurde, dann liest sich das gar nicht so anders als meine Erfahrungen mit meiner Großmutter. Mit dieser interreligiösen Theologie meiner Kindheit, einer zugegeben sehr einfachen Jugendtheologie, läßt sich zudem vielleicht auch die Frage beantworten, ob pluralistische Religionstheologie nicht eine abgehobene Elfenbeinturmtheologie ist, die an der Basis nicht ankommt. Ich kann Ihnen – das ehrlich gesagt - nicht so genau sagen: aber ich habe die Vermutung, dass gerade Kinder und Jugendliche so denken wie ich als Kind. An dieser Stelle ist vermutlich auch dem Vorwurf zu begegnen, bei dieser Theologie des Dialogs käme eine eklektizistische Lesart heraus. Doch diese Art den Koran zu lesen, ist speziell hier in Hamburg recht weit verbreitet. Schon aus dem Jahre 1997 stammt eine Stellungnahme der Konferenz Muslime Hamburg, in der diese begründet, warum sie den Rufa, also den Religionsunterricht für alle, der hier in Hamburg praktiziert wird, für so wichtig hält. Ich zitiere die Konferenz Muslime Hamburg – und diese Aussage wurde später von der Schura Hamburg übernommen: Wie sollten wir uns also in Bezug auf andere Religionen und religiöse Gemeinschaften verhalten? Als Muslime sind wir prinzipiell gehalten, alle Propheten und alle Bücher anzuerkennen und zu achten, sowohl die, die im Koran namentlich erwähnt werden, als auch die, die nicht genannt werden. Um noch einmal auf den Vorwurf zurück zu kommen, diese Theologie des Dialogs sei eine eklektizistische Lesart. Dazu ist folgendes zu sagen: Ob diese Art den Koran zu lesen, die richtige ist, kann ich nicht sagen. Wa allahu a’lam. Gott ist Wissender. Mit dieser Formal schlossen klassische Korankommentare. Ähnlich dem Midrasch wurde früher kommentiert. Es wurde zuerst die Sure XY notiert. Dann nannte der Exeget die Interpretation der Autorität A zu dieser Sure. Danach zitierte er die Autorität B und dann C. Es waren meist Dutzende von Kommentatoren, deren Ansicht wiedergegeben wurde. Ansichten, die sich durchaus sehr unterscheiden konnten und oft genug einander komplett widersprachen und dennoch Auslegungen ein- und derselben Sure waren. Und am Ende stand der Satz: Wa allahu a’lam – und gemeint war: und letztlich weiss es doch nur Gott. 15 Natürlich mag der Vorwurf stimmen, meine Lesart oder Rahmans Lesart sei durch eine bestimmte Art des Erkenntnisinteresses geleitet und durch ein Vorverständnis vorherbestimmt; ich würde mir hier einen Islam basteln. Das mag sein, aber objektive Lektüre gibt es sowieso nicht. Das wissen wir hier im Westen spätestens seit Gadamer, vielleicht schon seit Schleiermacher. Und der Koran ist, seinem Selbstverständnis nach, ein offener Text – ganz im Sinne Umberto Ecos. Denn er versteht sich als Buch für die Ewigkeit. Außerdem erfolgt mein Neu-LESEN oder auch Traditionell-LESEN – je nachdem - in guter Absicht und im Islam zählt die niyya. Und es stimmt eben auch, dass Religionen gar nicht so sehr durch das bestimmt werden, was die Texte den Menschen vorgeben, sondern eher durch das, was die Menschen aus ihnen machen. All das sind Grundprinzipien der Hermeneutik, die wohl niemand außer Kraft wird setzen können. Hinzu kommt: Dass ein bestimmtes Erkenntnisinteresse und ein bestimmtes Vorverständnis eine bestimmte Lesart präjudizieren, wie Gadamer es formuliert hat, oder dass es - wie Kant uns gelehrt hat, das Problem der geschichtlichen Gebundenheit menschlichen Denkens und Verstehens gibt, - ist für die islamische Welt weder als Idee neu, noch wurde das ehemals als bedrohlich oder ketzerisch angesehen. Schon der erste Imam der Schia sagte, und das ist das Leitwort aller Exegese in der Schia geworden: Der Koran ist eine Schrift, die zwischen zwei Buchdeckeln versteckt ist. Er spricht nicht. Es bedarf eines Übersetzers, und wahrlich es sind die Menschen, die ihn zum Sprechen bringen. 16