Kant II

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Klassiker der praktischen Philosophie
6.12.2011
Kants Grundlegung: Wiederholung und Vertiefung
Ziel: „Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“ (GMS 392, 4) → festes Fundament
der Ethik → allgemeines Gesetz, das nach Kant „absolute Notwendigkeit bei sich führ[t]“ (GMS 389, 13 f.)
Vernunft:
Die praktische Vernunft ist keine andere als die theoretische; es gibt nur eine Vernunft, die entweder praktisch
oder theoretisch tätig wird. Allgemein meint Vernunft das Vermögen, den Bereich der Sinne, der Natur zu
übersteigen. Das Übersteigen der Sinne beim Erkennen ist der theoretische Gebrauch, das beim Handeln der
praktische Gebrauch der Vernunft. […] Die praktische Vernunft […] bedeutet die Fähigkeit, sein Handeln
unabhängig von sinnlichen Bestimmungsgründen, den Trieben, Bedürfnissen und Leidenschaften, den
Empfindungen des Angenehmen und Unangenehmen, zu wählen. 1
I. Der gute Wille als höchstes Gut, nicht die Glückseligkeit
Bestimmung der Glückseligkeit bei Kant: a) sehr enge Bedeutung von „Wohlbefinden und Zufriedenheit“
(GMS 393, 16 f.); b) Glückseligkeit als „Absicht“, die man „bei jedem Menschen voraussetzen kann, weil sie
zu seinem Wesen gehört“ (GMS 415, 38 f.) → Glückseligkeit wird nicht von uns gefordert, sie wird uns nicht
geboten, sondern wir streben von selbst danach.
→ Sollte das höchste Gut in der Glückseligkeit bestehen, dann müßte es Aufgabe der Vernunft sein, uns auf
dem Weg zur Glückseligkeit zu unterstützen (indem sie Mittel zu diesem Zweck ist).
Gegenargumente von Kant:
1. Es stellt sich schnell heraus, daß die Vernunft diese Aufgabe des Erreichens von Glückseligkeit schlecht
erfüllt. Im Gegenteil, „je mehr eine kultivierte Vernunft sich mit der Absicht auf den Genuß des Lebens und der
Glückseligkeit abgibt“ (GMS 395, 28ff.), desto weniger wird sie sie erreichen. → Daraus müßte man schließen,
daß es dann sinnvoller gewesen wäre, uns nicht mit Vernunft auszustatten, sondern uns statt dessen mit besser
ausgebildeten Instinkten zu versehen, um so schneller und erfolgreicher auf dem Weg zu Wohlbefinden und
Zufriedenheit voranzuschreiten. Nun haben wir aber Vernunft; und darüber hinaus kann man nach Kant davon
ausgehen, daß die Naturanlagen eines Lebewesens „optimal an dessen Zweckausrichtung angepaßt sind“ 2 . →
Wenn nun also die Vernunft eine äußerst schlechte Ratgeberin in bezug auf die Glückseligkeit ist, „so muß die
wahre Bestimmung derselben sein, einen nicht etwa in anderer Absicht als Mittel, sondern an sich selbst guten
Willen hervorzubringen, wozu schlechterdings Vernunft nötig war, wo anders die Natur in Austeilung ihrer
Anlagen zweckmäßig zu Werke gegangen ist.“ (GMS 396, 20ff.) D.h.: Wir müssen laut Kant feststellen, daß
die wahre Bestimmung der Vernunft nicht ihre Nützlichkeit zu einem anderen Zweck (wie z.B. Glückseligkeit)
sein kann, sondern sie hierfür sogar ungeeignet ist. Statt dessen hat die Vernunft entsprechend ihren Zweck in
sich selbst zu entdecken. Und sie entdeckt diesen Zweck im an sich guten Willen, womit auch das gefunden
wurde, was allein als uneingeschränkt gut, als das höchste Gut denkbar ist.
2. Begriff der Glückseligkeit ist zu unbestimmt (vgl. GMS 418, 2), weil an die Erfahrungswelt gebunden. a)
Bereits die Bestimmung dessen, was unter Glückseligkeit zu verstehen ist, ist einer empirischen Unsicherheit
ausgesetzt → führt dazu, „daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals
bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle“ (GMS 418, 2 ff.).
b) Mensch kann nicht wissen, ob das erhoffte Glück auch wirklich eintritt:
Nun ist’s unmöglich, daß das einsehendste und zugleich allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich einen
bestimmten Begriff vom dem mache, was er hier eigentlich wolle. Will er Reichtum, wie viel Sorge, Neid und
Nachstellung könnte er sich dadurch auf den Hals ziehen. Will er viel Erkenntnis und Einsicht, vielleicht könnte
das ein nur um desto schärferes Auge werden, um die Übel, die sich für ihn jetzt noch verbergen und doch nicht
vermieden werden können, ihm nur um desto schrecklicher zu zeigen, oder seinen Begierden, die ihm schon
genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzubürden. Will er ein langes Leben, wer steht ihm dafür,
daß es nicht ein langes Elend sein würde? (GMS 418, 12 ff.)
⇒ Aufgrund der Bedingtheit durch empirische Zufälligkeiten kann Glückseligkeit nicht das höchste Gut
darstellen, denn das höchste Gut muß mit Notwendigkeit uneingeschränkt gut sein.
1
Höffe, Otfried: Immanuel Kant. 7., überarb. Aufl. München: Beck 2007, 178.
Horn, Christoph; Mieth, Corinna u. Sarano, Nico: „Kommentar“. In: Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.
Kommentar von Christoph Horn, Corinna Mieth u. Nico Sarano. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007; 105-343; hier 172.
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II. Nähere Bestimmung des Willens und des guten Willens
Wille bei Kant als rational gekennzeichnet; Unterscheidungsmerkmal von reinen Naturwesen /Sinnenwesen
(wie Tieren) und Menschen, die sowohl Naturwesen als auch Vernunftwesen sind: „Nur ein vernünftiges
Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien zu handeln, oder einen
Willen.“ (GMS 412, 27 f.) → Über diesen Willen sind wir in der Lage, zu unseren Neigungen und Instinkten in
Distanz zu treten, und per Vernunft unsere Handlungen aus Gesetzen abzuleiten (vgl. GMS 412, 29 f.): „Der
Wille bezeichnet die Fähigkeit, die naturwüchsigen Impulse zwar nicht auszulöschen, aber sich von ihnen zu
distanzieren und sie als letzten Bestimmungsgrund zu suspendieren.“ (Höffe 2007, 179)
Guter Wille: 1. „ohne Einschränkung […] gut“ (GMS 393, 6); 2. gut unabhängig von den Handlungsfolgen:
Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung
irgendeines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut, und, für sich selbst betrachtet,
ohne Vergleich weit höher zu schätzen als alles, was durch ihn zu Gunsten irgendeiner Neigung, ja wenn man will, der
Summe aller Neigungen nur immer zustandegebracht werden könnte. (GMS 394, 13 ff.)
→ Die Bestimmung des Willens als gut orientiert sich nicht an seinem möglichen Wirken (nicht daran, wie
tauglich er dazu ist, mit seiner Hilfe bestimmte Zwecke zu erreichen). Worauf es Kant ankommt, ist nicht die
Frage, ob die Handlung als gut zu beurteilen ist, weil sie etwas Bestimmtes bewirkt hat (Orientierung an
Handlungsfolgen), sondern ob der gute Wille der Beweggrund der Handlung ist (Orientierung an Motivation).
→ Aber: Nicht mit einem „bloße[n] Wunsch“ zu verwechseln, denn der gute Wille ist „als die Aufbietung aller
Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind“, zu verstehen (GMS 394, 23f.)
→ Vorrang des Beweggrundes einer Handlung vor den Folgen einer Handlung in Zusammenhang damit, daß
wir uns im Bereich der Handlungsfolgen bereits wieder im empirischen und damit zufälligen Bereich befinden:
Es liegt also der moralische Wert einer Handlung nicht in der Wirkung, die daraus erwartet wird, also auch nicht
in irgendeinem Prinzip der Handlung, welches seinen Beweggrund von dieser zu erwarteten Wirkung zu
entlehnen bedarf. Denn alle diese Wirkungen (Annehmlichkeiten seines Zustandes, ja gar Beförderung fremder
Glückseligkeit) konnten auch durch andere Ursachen zu Stande gebracht werden, und es brauchte also dazu nicht
des Willens eines vernünftigen Wesens, worin gleichwohl das höchste und unbedingte Gute allein angetroffen
werden kann. (GMS 401, 6 ff.)
3. Im Unterschied zur Glückseligkeit ist der gute Wille keine „Privatabsicht des Menschen“ (GMS 396, 13),
sondern durch Allgemeinheit gekennzeichnet.
III. Der Begriff der Pflicht
Menschen sind keine reinen Vernunftwesen, sondern haben nicht nur Vernunft, sondern auch Neigungen →
Vernunft und Neigungen geraten beim Menschen des öfteren in Widerstreit (vgl. GMS 405, 6 ff.).
→ Weil unser Wille nicht nur durch die Vernunft bestimmt, sondern auch durch Neigungen beeinflußt wird,
benötigen wir Gebote, Imperative, Pflichten. „Von Pflicht kann man nur dort reden, wo es neben einem
vernünftigen Begehren noch konkurrierende Antriebe der naturwüchsigen Neigungen, wo es neben dem guten
noch ein schlechtes […] Wollen gibt. (Höffe 2007, 182)
→ Pflichtgemäß – aus Pflicht: Beispiel Wohltätigkeit: Menschen, die Anderen gern Gutes tun („teilnehmend
gestimmte Seelen“; GMS 398, 9), nicht aus Eitelkeit oder eigennütziger Absicht, sondern weil sie „ein inneres
Vergnügen daran finden, Freude um sich zu verbreiten“ (GMS 398, 11 f.). → pflichtgemäßes Handeln: Es gibt
eine von außen betrachtet der Pflicht entsprechende Handlung, die aber gleichzeitig durch eine unmittelbare
Neigung der handelnden Person motiviert ist. ⇒ „liebenswürdig“ (GMS 398, 14), „ehrenwert“, sie verdienen
„Lob und Aufmunterung“ (GMS 398, 18). Allerdings haben sie noch „keinen wahren sittlichen Wert“ (GMS
398, 15). → Dieser wahre sittliche Wert kommt erst im Rahmen eines Handelns aus Pflicht zutage. Gemüt des
Menschenfreunds plötzlich „vom eigenen Gram umwölkt“, gleichgültig gegenüber dem Befinden anderer
Menschen: „und nun, da keine Neigung ihn mehr dazu anreizt, risse er sich doch aus dieser tödlichen
Unempfindlichkeit heraus und täte die Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht, alsdenn hat sie erst ihren
echten moralischen Wert.“ (GMS 398, 24)
⇒ Ob ein Handeln moralisch wertvoll ist oder nicht, kann für Kant nicht daran gemessen werden, welche
Wirkungen es hat (ob nun für mich oder für andere), sondern nur daran, aus welcher Motivation heraus
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gehandelt wird. → Denn wenn moralisches Handeln nur dann für uns in Frage kommt, wenn wir gerade selbst
in guter Verfassung sind oder wenn wir grundsätzlich gerne anderen Menschen helfen o. ä., dann läßt sich nicht
von Moral sprechen, sondern von persönlicher Vorliebe oder einem Handeln nach Tagesverfassung.
→ Unterscheidung Legalität – Moralität; Handeln gemäß dem Gesetz oder „um des Gesetzes willen“:
Das Wesentliche alles sittlichen Werts der Handlungen kommt darauf an, daß das moralische Gesetz
unmittelbar den Willen bestimme. Geschieht die Willensbestimmung zwar gemäß dem moralischen Gesetze,
aber nur vermittelst eines Gefühls, welcher Art es auch sei, das vorausgesetzt werden muß, damit jenes ein
hinreichender Bestimmungsgrund des Willens werde, mithin nicht um des Gesetzes willen: so wird die
Handlung zwar Legalität, aber nicht Moralität enthalten. 3
⇒ Eine Handlung hat nur dann „echten moralischen Wert“, wenn sie „ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht“
geschieht (GMS 398, 27). → Zusammenhang mit gutem Willen als dem höchsten Gut, der nicht Mittel zu
einem Zweck, sondern Selbstzweck der Vernunft ist.
IV. Der Begriff der Maxime
Maxime: „subjektive[s] Prinzip des Wollens“ (GMS 400, 34). 1. Handlungsgrundsatz, der für die eigene Person
Gültigkeit hat (verschiedene Personen können verschiedene Maximen haben) und nach dem diese Person auch
handelt (vgl. GMS 421 26 f.). 2. Maximen sind keine konkreten Regeln für konkrete Situationen, sondern
„Grundhaltungen, die einer Vielzahl, auch Vielfalt konkreter Absichten und Handlungen ihre gemeinsame Richtung
geben“ (Höffe 2007, 191). 3. Maximen als „Willensbestimmungen“, d.h. als „Prinzipien, die der Akteur selbst als
die eigenen anerkennt“ (Höffe 2007, 191).
V. Das Gesetz
„Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.“ (GMS 400, 18)
→ Unterscheidung von Achtung und Neigung: „Allein wenn Achtung gleich ein Gefühl ist, so ist es doch kein
durch Einfluß empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl und daher von allen
Gefühlen der ersteren Art, die sich auf Neigung oder Furcht bringen lassen, spezifisch unterschieden.“ (GMS
401, 20ff.) ⇒ Achtung kann man nur für das Gesetz haben.
Was kann das aber wohl für ein Gesetz sein, dessen Vorstellung, auch ohne auf die daraus erwartete Wirkung
Rücksicht zu nehmen, den Willen bestimmen muß, damit dieser schlechterdings und ohne Einschränkung gut
heißen könne? Da ich den Willen aller Antriebe beraubt habe, die ihm aus der Befolgung irgend eines Gesetzes
entspringen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig, welche
allein dem Willen zum Prinzip dienen soll, d. i. ich soll niemals anders verfahren, als so, daß ich auch wollen
könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden. (GMS 402, 1 ff.)
1. Gesetz, dessen Vorstellung allein ohne Berücksichtigung von Handlungsfolgen den Willen bestimmt. Nur
unter dieser Voraussetzung kann ein Wille als uneingeschränkt gut gelten, nur die Handlungsmotivation
kann den moralischen Wert einer Handlung bestimmen.
2. Guter Wille aus einer Mittel-Zweck-Beziehung herausgehoben („aller Antriebe beraubt“, „die ihm aus der
Befolgung irgendeines Gesetzes entspringen könnten“) → es bleibt als Prinzip des guten Willens nur noch
die „Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig“ (GMS 402, 7) → Nicht bestimmte Handlungen
werden zum Gesetz erhoben, sondern die Gesetzmäßigkeit als solche ist Gegenstand des Gesetzes.
3. Somit kann nach Kant der Mensch mit gutem Wille sich nur folgendes Prinzip zum Gesetz machen: „ich
soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines
Gesetz werden.“ (GMS 402, 8f.) → kategorischer Imperativ.
⇒ Selbstgesetzgebung aus der Vernunft des Menschen. → „Die Autonomie des Willens ist das alleinige
Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten.“ (KpV, 144 [A 59])
→ Der Pflichtcharakter ergibt sich nicht nur bereits aus dem Begriff des Gesetzes als solchem, sondern gerade
auch daraus, daß der Mensch es sich selbst gegeben hat (es ihm also nicht auferlegt wurde) und er auch dem
Gesetz zuwiderhandeln kann.
3
Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. WA Bd. VII. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, 191
[A 127].
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→ Beispiel des falschen Versprechens, das ich gebe, „wenn ich im Gedränge bin“, allerdings mit „der Absicht,
es nicht zu halten“ (GMS 402, 17). → In einer solchen Situation kann ich mir nun zwei Fragen stellen:
1. Ist es sehr klug, dieses Versprechen abzugeben, von dem ich nicht vorhabe, es zu halten? Denn es ist
zumindest möglich, daß die Folgen für mich noch weitaus negativer sind → Frage, die auf die Folgen
meines falschen Versprechens abzielt; und bei der Beantwortung ist meine „Schlauigkeit“ (GMS 402, 25)
gefragt → hypothetischer Imperativ, es geht ausschließlich um den Zweck der Handlung (mich aus der
Bedrängnis zu befreien); die Handlung ist nur das Mittel, um diesen Zweck zu erreichen.
2. Frage nach der Moralität:
[W]ürde ich damit zufrieden sein, daß meine Maxime (mich durch ein unwahres Versprechen aus Verlegenheit zu
ziehen) als ein allgemeines Gesetz (sowohl für mich als andere) gelten solle und würde ich wohl zu mir sagen
können: es mag jedermann ein unwahres Versprechen tun, wenn er sich in Verlegenheit befindet, daraus er sich
auf andere Art nicht ziehen kann? (GMS 403, 6 ff.)
→ Kants Antwort:
So werde ich bald inne, daß ich zwar die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht wollen könne; denn
nach einem solchen würde es eigentlich gar kein Versprechen geben, weil es vergeblich wäre, meinen Willen in
Ansehung meiner künftigen Handlungen anderen vorzugeben, die diesem Vorgeben doch nicht glauben, oder,
wenn sie es übereilterweise täten, mich doch mit gleicher Münze bezahlen würden, mithin meine Maxime, sobald
sie zum allgemeinen Gesetz gemacht würde, sich selbst zerstören müsse. (GMS 403, 11 ff.)
→ Will ich wissen, was geboten wäre, um eine Handlung aus Pflicht zu tätigen, muß ich mich fragen, ob ich wollen
können würde, daß meine subjektive Maxime zu einem für alle verbindlichen Gesetz verallgemeinert wird.
→ In dem Moment, wo es allgemeines Gesetz wird, eine für die jeweilige Person schwierige Situation durch
ein falsches Versprechen zu erleichtern, wird die Institution des Versprechens hinfällig. Denn nun ist es nicht
nur möglich, ein falsches Versprechen abzugeben, sondern es ist sogar geboten, dies zu tun. Das würde dazu
führen, daß niemand mehr einem Versprechen Glauben schenken würde. → Mein persönlicher
Handlungsgrundsatz (die Maxime, in einer schwierigen Situation ein falsches Versprechen abzugeben) wäre
zerstört, wenn er verallgemeinert würde. = Meine Maxime würde den Test, ob sie auch allen anderen
vernünftigen Wesen als Maxime dienen könnte, nicht bestehen, sie hat keine Gesetzestauglichkeit.
⇒ Somit gibt es laut Kant ein ganz einfaches, „keine weit ausholende Scharfsinnigkeit“ benötigendes
Verfahren (GMS 403, 19), um herauszufinden, ob „mein Wollen sittlich gut“ ist (GMS 403, 18): Wenn eine
Maxime den Verallgemeinerungstest nicht besteht, dann „ist sie verwerflich, und das zwar nicht um eines dir
oder anderen daraus bevorstehenden Nachteils willen, sondern weil sie nicht als Prinzip in eine mögliche
allgemeine Gesetzgebung passen kann […].“ (GMS 403, 23ff.)
→ Unterscheidung zur Goldenen Regel: 1. Goldene Regel ist an mich persönlich gebunden, an meine
Neigungen, an meinen eigenen Nutzen; über die Goldene Regel werden meine eigenen Neigungen anderen
aufgezwungen; ändern sich meine Neigungen, ändert sich auch das, was ich von meinen Mitmenschen
erwarte/fordere ↔ KI fordert auf, vom Subjekt und seinen Neigungen zu abstrahieren.
→ Zusammenhang der Formulierungen des KI: Kant stellt „den Akt der Selbstbestimmung in eine[n]
kollektiven Kontext vernünftiger Handlungssubjekte“ 4 .
Das Problem, das mit dem Stichwort ‚soziale Verantwortung’ angesprochen ist, kann an den beiden Bestandteilen
des Begriffs Autonomie festgemacht werden. Welches Gewicht wird auf autós (das Selbst) und welches auf
nomos (das Gesetz) gelegt? Kant betont das Selbst insofern, als der Akt der Selbstbestimmung von der
individuellen Person vollzogen werden muss. Niemand kann stellvertretend für jemand anderen seinen Willen frei
bestimmen. Der Nomos hingegen, an dem sich das Selbst orientiert, schlägt eine Brücke zu den anderen
Individuen. Dies zeigt der kategorische Imperativ, der dazu auffordert, den eigenen Nomos (die Maxime, an der
ein Individuum sein Handeln orientiert) daraufhin zu testen, ob er auch als allgemeiner Nomos (als Gesetz) für
alle anderen Individuen tauglich ist. Nur ein Nomos, der diesen Universalisierungstest besteht, ermöglicht
Freiheit, die nicht allein meine, sondern immer auch die Freiheit der anderen ist. Insofern impliziert der Kantische
Autonomiebegriff den Anspruch an den einzelnen, im Bewusstsein der Verantwortung für die Gemeinschaft so zu
handeln, dass jedes Mitglied der Gemeinschaft von seinem Recht auf freie Selbstbestimmung ungehindert
Gebrauch machen kann. (Pieper 2005, 30f.)
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Annemarie Pieper: „Freiheit ohne soziale Verantwortung? ‚Freigeisterei’ (Kant) versus ‚Freigeist’ (Nietzsche)“. In: Heinrich
Schmidinger u. Clemens Sedmak (Hg.): „Der Mensch – ein freies Wesen? Autonomie – Personalität – Verantwortung. Darmstadt:
WBG, 21-32.
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