Josef Keuffer Buddhismus und Erziehung

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Josef Keuffer
Buddhismus und Erziehung: Interkulturelles Lernen aus
erziehungswissenschaftlicher Sicht1
Lieber Herr Zimmermann,
liebe Frau Schuler,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
meine Damen und Herren,
die Arbeit, über die ich heute sprechen möchte, liegt bereits einige Jahre zurück. Das Thema
meiner Dissertation lautete: Buddhismus und Erziehung – Eine interkulturelle Studie zu Tibet
aus erziehungswissenschaftlicher Sicht. Die Arbeit habe ich 1991 im Waxmann Verlag
publiziert, heute ist sie im Internet abrufbar (www.keuffer.de). Seitdem sind 17 Jahre
vergangen, Jahre in denen der Buddhismus in Europa und Amerika eine sehr viel größere
Aufmerksamkeit erfahren hat als zuvor. Insbesondere das Wirken des Dalai Lama hat viel
dazu beigetragen, dass wir heute besser informiert sind, sowohl über den Buddhismus als
auch über die schwierige politische Situation in Tibet.
Darüber hinaus hat sich ein stabiler Dialog zwischen Wissenschaft und Buddhismus etabliert.
Die vielen Aktivitäten buddhistischer Lehrerinnen und Lehrer, die Gründung von
Meditationszentren (z.B. das Tibetische Zentrum in Hamburg) und nun auch die Gründung
eines Zentrums für Buddhismuskunde an der Universität Hamburg tragen viel dazu bei, dass
der Umgang mit dem für Europa zumeist noch immer fremden Buddhismus von mehr
Wissen, Verständnis und Erfahrungen miteinander geprägt ist.
Ich habe mich Ende der 80er und zu Beginn der 90er Jahre wissenschaftlich mit den
Themenbereichen „Buddhismus, Erziehung, Bildung, Interkulturelles Lernen“ beschäftigt,
arbeite aber heute nicht in einem Institut für Buddhismuskunde, meine eigene
Berufsbiographie hat sich in eine andere Richtung entwickelt. Ich habe das Lehramt mit den
Fächern Geschichte und Deutsch studiert. Nach Abschluss meiner Dissertation habe ich mich
im Schwerpunkt mit Schulpädagogik, Didaktik und Lehrerbildung befasst. Heute arbeite ich
als Erziehungswissenschaftler an der Universität Bielefeld.
Gliederung
1.
2.
3.
4.
5.
1
Eigene Erfahrungen mit Buddhismus und Erziehungswissenschaft
Die Offenheit von Erziehung
Bildung und Interkulturelles Lernen
Lernen und Meditation
Gemeinsame Interessen und mögliche Forschungsthemen
Vortrag am 8. Januar 2008 an der Universität Hamburg, Zentrum für Buddhismuskunde.
2
1
Eigene Erfahrungen mit Buddhismus und Erziehungswissenschaft
Wenn ich mich heute wieder meinem alten Thema zuwende, so freue ich mich, dass zwei
Welten, die jedenfalls in meiner eigenen Biographie eher auseinander fallen, hier im Zentrum
für Buddhismuskunde zusammenkommen: Buddhismus und Wissenschaft. Die meisten
meiner Kollegen trennen zwischen ihrem Leben als Wissenschaftler und ihren
Sonntagsaktivitäten. Ich versuche es anders zu halten, wobei ich allerdings kein gutes Vorbild
für einen Buddhisten abgebe; denn erst die regelmäßige, langjährige meditative Praxis macht
aus einem Praktizierenden einen Buddhisten. Und diese Praxis fällt bei mir leider viel zu
schmal aus.
Dass die Lehre des Buddha sich zugleich als Religion und als nicht religiös gebundene Ethik
interpretieren lässt, darauf weist der 14. Dalai Lama in vielen Reden und Publikationen immer
wieder hin. Eine „neue Ethik für unsere Zeit“ (14. Dalai Lama) ist mit Blick auf die
Bewahrung des Friedens und der Sorge um eine weltweite soziale Gerechtigkeit notwendig.
Eine solche Ethik bedarf jedoch keiner übergreifenden Kanonisierung in Form einer Religion
oder Doktrin, sondern sie ist in den verschiedenen Kulturen und spirituellen Traditionen
verwurzelt. Nur wenn es gelingt, verschiedene ethische Ansätze zusammenzuführen, werden
wir in die Lage versetzt, die langfristigen und globalen Folgen unseres Verhaltens zu
bedenken und im Blick auf kommende Generationen zu begrenzen (Dauber 2007). Der
Buddhismus kann dabei eine besondere Rolle spielen. Er ist einerseits kulturell
anpassungsfähig, andererseits reich gesegnet mit Schriften, Riten und grundlegenden Regeln
menschlichen Wachstums.
Ich habe mich während zweier Indienreisen Anfang der 80er Jahre mit der indischen und
tibetischen Kultur befasst und habe 1982 an einem Retreat unter der Leitung von Lama
Thuben Yeshe in Dharamsala teilgenommen. Das war der Ausgangspunkt für meine spätere
wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Buddhismus. An dem (Dreimonats-)Retreat haben
damals ca. 100 Teilnehmer aus der ganzen Welt teilgenommen, Höhepunkt war ein
einwöchiges Mahamudra-Teaching des Dalai Lama. Für mich war das damals eine viel zu
große Anzahl an Menschen und eher eine Überforderung. Ich hatte zudem kaum ein
Vorverständnis über den tibetischen Buddhismus. Vergleiche ich diese ersten Erfahrungen
mit dem Besuch des Dalai Lama in Hamburg im letzten Jahr mit über 10.000 Teilnehmern,
dann weiß ich heute, in welch günstiger Lage ich mich 1982 befunden habe.
Zurück zu meiner Dissertation: Ich habe sie genau 10 Jahre nach meinen ersten Erfahrungen
mit dem tibetischen Buddhismus fertig gestellt. Ich bedanke mich bei meinem akademischen
Lehrer Meinert Meyer, der zuletzt hier in Hamburg am Fachbereich Erziehungswissenschaft
gelehrt hat, er hat die Arbeit betreut und das Gutachten übernommen. Das war damals
durchaus keine Selbstverständlichkeit, im Übrigen gab es Kritiker, die die Arbeit nicht gern
gesehen haben. Was heute zu einer legitimen Möglichkeit eines wissenschaftlichen
Selbstverständnisses geworden ist, die Herstellung eines Zusammenhangs von Spiritualität
und Wissenschaft, galt in den 80er und 90er Jahren in der science community als
unverzeihlicher Sonderweg. Physikern nach ihrer Emeritierung gestand man solche
Denkwege zu, ansonsten vermied man in der Wissenschaft eher den Umgang mit Religion
oder Spiritualität, weil man dies nicht für hilfreich hielt. Das erscheint mir heute anders zu
sein, insbesondere im Kontext der Naturwissenschaften und der Philosophie.
Ich hatte im September Gelegenheit, an einem Vortrag des Dalai Lama im Rahmen eines
Treffens der Graduate Schools Nordrhein-Westfalen teilzunehmen. Das Thema „Universal
Responsibility in Science and Society“ hat die jungen Wissenschaftlerinnen und
3
Wissenschaftler interessiert und der Vortrag wurde mit großer Begeisterung aufgenommen.
Der Austausch zwischen Buddhismus, Naturwissenschaften und Neurowissenschaften gilt
inzwischen als akzeptiert und fortgeschritten; auch in der Philosophie und der Psychologie
liegen vielfältige Arbeiten vor. Die Tradition der Mind and Life Conferences spricht dafür,
dass die Kommunikation fest etabliert ist.
Dies gilt allerdings nicht für mein Fach, die Erziehungswissenschaft. Hier gibt es weitaus
mehr Berührungsängste, nicht nur zum Buddhismus, sondern allgemein zu Religionen,
Weltanschauungen und normativen Systemen. Dies hat seine Ursachen insbesondere in der
früheren Verknüpfung von Theologie und Erziehung in Europa. Die Trennung von Staat und
Kirche nach der Aufklärung hat neue Verhältnisse geschaffen. Schulen sind heute in der
Regel nicht mehr konfessionell oder an eine bestimmte Religion gebunden. Es gibt einen
staatlichen Bildungsauftrag, der im Grundgesetz festgelegt ist. Darüber hinaus ist in Artikel 4
Grundgesetz die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit festgeschrieben. Ich komme
darauf später noch einmal zurück.
Anfang der 90er Jahre war es kaum verwunderlich, dass meine Arbeit wenig zur Kenntnis
genommen wurde. Für eine Dissertation verkaufte sich das Buch zwar verhältnismäßig gut,
d.h.: rund 200 Exemplare wurden damals verkauft. Das Echo in der Erziehungswissenschaft
war allerdings sehr verhalten. Man hatte Sorge, dass Erziehungswissenschaft normativ und
esoterisch aufgeladen werden könnte. Dabei hatte ich in der Arbeit versucht, einerseits
Brücken zwischen Buddhismus und Erziehungswissenschaft zu bauen, andererseits aber auch
deutliche Grenzen zwischen wissenschaftlichen und religiösen Aussagesystemen gezogen.
Aber Aufmachung und die Art der Herangehensweise waren nicht geeignet, Kritiker
zufrieden zu stellen bzw. sie genügend herauszufordern. Darüber hinaus gab es den
Vorbehalt, dass die Arbeit eher geisteswissenschaftlich und nicht sozialwissenschaftlich
ausgerichtet sei.
Auch das Echo unter den Tibet-Freunden blieb damals eher verhalten. Hier bestand der – aus
heutiger Perspektive durchaus berechtigte – Einwand, dass keine buddhistischen Originaltexte
herangezogen wurden dass ich kein Tibetisch oder Sanskrit konnte. Man riet deshalb zur
Vorsicht, zumal ich noch viel zu jung und unerfahren sei, um substantiell über Buddhismus
veröffentlichen zu können. Trotz dieser Warnungen habe ich meine Dissertation fertig
gestellt, allerdings blieben Fehler tatsächlich nicht aus. Heute gibt es weitaus verlässlichere
Darstellungen zur tibetischen Geschichte und zum Verständnis buddhistischer Basistexte. Die
damals von mir geführte Diskussion zum interkulturellen Lernen und die Aussagen zu
verschiedenen Perspektiven auf Erziehung und Bildung scheinen mir aber auch heute noch
bedenkenswert zu sein.
Ich schließe das auch aus den Ergebnissen einer Arbeit von Björn-Peter Paetow, die 2004 in
Bielefeld als Dissertationsschrift von der Fakultät für Pädagogik angenommen wurde. Der
Abschluss der Arbeit fand zum Zeitpunkt meines Wechsels nach Bielefeld statt, an der
Betreuung der Arbeit war ich nicht beteiligt. Ich war sehr erfreut, dass Herr Paetow sich des
Themas (Mahayana-) Buddhismus angenommen hat und die Lernerfahrungen durch
Meditation ebenfalls als Bildungsprozesse gedeutet hat. Ich beziehe mich im Folgenden
insbesondere auf die beiden genannten Arbeiten.
Nach diesem biographischen Zugang zum Thema komme ich zu meinem zweiten Teil. Zuvor
die These meines Vortrags, sie lautet: Erziehungswissenschaft und Buddhismus – Zwei
Welten, die voneinander lernen können.
4
2
Die Offenheit von Erziehung
Anders als beispielsweise in traditionalen Gesellschaften ist die individuelle Lebensführung
heute zunehmend weniger in allgemein gültige Regeln, Riten, Werte und Lebensformen
eingebettet. Auch die durch den Buddhismus stark geprägten Gesellschaften Asiens
unterliegen den Anforderungen, die als Komponenten einer im Umbruch befindlichen
Moderne bezeichnet werden. Man denke nur an den abrupten Wandel der Vorstellungen von
Erziehung, Bildung, Sexualität, Gesundheit, Geschlechter- und Generationenbeziehungen und
an die Vielfalt von Lebensformen. Pluralisierung und Individualisierung haben vor den
meisten Gesellschaften und auch vor den großen Religionen keinen Halt gemacht. Dies gilt
auch für den Buddhismus.
Pluralisierung, Individualisierung und Beschleunigung (Geißler 1997; Rosa 2005) bestimmen
heute zunehmend die gesellschaftliche Wirklichkeit. Kinder und Jugendliche sind in diesen
Prozess verwoben. Die Kindheit wird zunehmend kürzer, das heißt es ist eine biologische
Verkürzung der Kindheit festzustellen. Das Phänomen der Akzeleration, der
Entwicklungsbeschleunigung bei Kindern lässt sich am biologischen Aspekt der früheren
Geschlechtsreife festmachen. Der Schonraum Kindheit wird zunehmend kürzer. Die
Geschlechtsreife ereignete sich für verschiedene Industriestaaten vor etwa 150 Jahren im
Alter zwischen 16 und 17 Jahren (Durchschnittswerte, zitiert nach: Rittelmeyer 2007, 145 ff.).
Heute wird die Geschlechtsreife von Mädchen in Industriestaaten im Schnitt zwischen 11 und
12 Jahren erreicht. Auch Untersuchungen von Migranten-Kindern, die aus Indien oder China
nach Europa oder in die USA kommen, zeigen diese Effekte. Unterschiede, die nicht auf
grundlegende Ernährungsgewohnheiten zurückgeführt werden können, wurden auch zwischen
Jugendlichen aus abgelegenen Bergdörfern und aus Städten Österreichs berichtet (SchenkDanziger 1993, S. 326 ff.).
Kindheit gerät aufgrund dieser Umstände zunehmend in Bedrängnis (Rittelmeyer 2007).
Darüber hinaus haben es Kinder heute vielfach mit fehlender elterlicher Fürsorge zu tun.
Kinder sind frühzeitig Gewalt oder Gewaltdarstellungen ausgesetzt, hinzu kommt eine Hektik
in der kindlichen Lebenswelt und nicht zuletzt die Konkurrenz der Bildschirmmedien zum
Spiel. Aufgrund der körperlichen Folgen einer Stress-Kultur wird es auch für Jugendliche
zunehmend schwieriger, eigene, tragfähige Identitätskonstruktionen (Keupp 1999)
herzustellen. Aus der Fülle der vorhandenen Möglichkeiten sollen sie auswählen, dies schafft
neue Freiheiten und zugleich neue Zwänge.
Das Ziel von pädagogischer Arbeit ist es, die Fülle der Möglichkeiten des Mensch-Seins zu
eröffnen und zugleich Realitätstüchtigkeit für die jeweilige Gesellschaft zu trainieren. Dies
lässt sich noch vergleichsweise einfach bestimmen, viele Menschen auch aus
unterschiedlichen Kulturen würden diesem Ziel vermutlich zustimmen. Schaut man jedoch
genauer hin, wird es komplex.
Die Erziehungswissenschaft arbeitet mit Erziehungstheorien. Dabei wurde bis in das 20.
Jahrhundert hinein nicht von unübersichtlichen Verhältnissen ausgegangen, vielmehr sah man
das Gute vor sich und konnte sich nicht vorstellen, dass man auf dem Wege dorthin vielfach
stolpern oder scheitern konnte. „Stolpern“ war immer nur Abkehr vom richtigen Weg und in
den klassischen Erziehungstheorien gibt es nur den richtigen Weg, der so genannt zu werden
verdient (Oelkers 2001, 263). Allerdings blieben die Definition des Zwecks, die Vorstellung
vom Prozess der Erziehung und die Bestimmung des Objekts der Erziehung theoretisch
unterbestimmt. Heutige Erziehungswissenschaft akzeptiert diese vorgegebenen
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Zwecksetzungen nicht mehr, auch Zwecksetzungen wie „Mündigkeit“ oder „Emanzipation“
werden nicht mehr postuliert, wie das in den 80er Jahren noch üblich war.
In meiner Dissertation habe ich auf die damals grundlegenden Begriffe „Emanzipation“ und
„Mündigkeit“ in Anlehnung an Kant im Sinne regulativer Prinzipien der Erziehung orientiert.
Diese klare normative Zuschreibung wird heute kritisiert, so auch bei Paetow (2004). Die
Verwendung dieser Begriffe hätten gezeigt – so die Kritik subjekttheoretischer
Untersuchungen –, dass eine genaue Bestimmung dessen, was den mündigen Menschen
ausmache, entweder fehlten oder inflationär wurden, weil nichts positives ausgeschlossen
werden konnte. So können auch die Ziele „Emanzipation“ und „Mündigkeit“ autoritär
werden, weil den zu Erziehenden nicht die Wahl gelassen wird, ob sie mündig werden wollen
oder nicht. Die Theorie sieht nein-Sagen nicht vor, man muss zustimmen, weil Mündigkeit als
ein Gebot der Vernunft verstanden wird, dem sich niemand entziehen kann (Oelkers 2001,
264). Unmündigkeit ist keine pädagogische Zielgröße und Mündigkeit wird heute eher als
eine Art Erziehungsverordnung aufgefasst, die alles zulässt, was zum Assoziationsfeld passt.
Wenn sich der Zweck und die Ziele der Erziehung nicht auf einfache Weise festlegen lassen,
was bedeutet das für eine theoretische Bestimmung von Erziehung? Ich möchte Sie zwar
nicht mit ausgefeilten Problemen der Erziehungstheorie behelligen, aber eines soll deutlich
werden: Wir haben es im Bereich der Erziehung mit sehr komplexen Phänomenen zu tun. So
gibt es beispielsweise keine einfache Zweck-Mittel-Relation nach der Art: Verwende eine
bestimmte Methode in der Erziehung, dann kommt folgendes Ergebnis dabei heraus. Es gilt
vielmehr die Erkenntnis, dass es in der Erziehung Antinomien gibt, die sich nicht in eine
bestimmte Richtung hin auflösen lassen.
Werner Helsper (2007, S. 30ff.) verdeutlicht vier Bezugspunkte, auf die pädagogische
Handlungen verweisen und zwischen denen sich die Antinomien konstituieren. Er benennt als
Bezugspunkte Gesellschaft, Kultur, Natur und Person und führt als soziale
Widerspruchsverhältnisse pädagogischen Handelns vier Modernisierungsparadoxien auf.
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Auf der Ebene der Gesellschaft kann das Rationalisierungsparadox benannt werden. Es
besteht darin, dass soziale Interaktion immer umfassender in ausdifferenzierten sozialen
Organisationen stattfindet, die von kommunikativen Erfordernissen und der Besonderheit der
Handelnden abstrahiert werden.
Auf der Ebene der Kultur kann das Pluralisierungsparadox angeführt werden. Es besteht in
einer Spannung zwischen einer Vervielfältigung von Lebensformen und übergreifenden
kulturellen Generalisierungen.
Das Zivilisationsparadox befindet sich auf der Ebene der Natur und verweist auf die
widerspruchsvolle Gleichzeitigkeit einer umfassenden Freisetzung affektiver Ansprüche
einerseits und einer distanziert-rationalen Zurichtung sozialer Verkehrsformen andererseits.
Auf
der
Ebene
des
Individuums
schließlich
kann
das
sogenannte
Individualisierungsparadoxon verortet werden. Es besagt, „dass einerseits die Möglichkeiten
für eine eigenverantwortete, autonome Lebensführung steigen, aber gleichzeitig auch die
Belastungen und Risiken dieser Eigenverantwortung anwachsen“ (Helsper 2007). Das
einzelne Individuum im organisationalen Kontext steht zwischen den beiden Polen Freiheit
und Zwang.
Die Antinomien lauten folglich:
Freiheit vs. Zwang (Individualisierungsparadox)
Nähe vs. Distanz (Zivilisationsparadox)
Differenzierung vs. Einheit (Pluralisierungsparadox)
Organisation vs. Interaktion (Rationalisierungsparadox)
Auch wenn in diesen Spannungsverhältnissen oder Paradoxien die Balance gehalten werden
soll, so werden dennoch vielfach totalisierende Kategorien in der Sprache der Erziehung
verwendet. So ist es leicht, Kinder als solche oder Erziehung an sich zu thematisieren oder
Glück zum Erziehungsziel zu erheben. Aber Handeln kann man immer nur unter bestimmten
Umständen und in bestimmten Situationen mit eingeschränkten Mitteln. Und die Effekte
lassen sich nur begrenzt kontrollieren. Und zugleich ist jedes Kind, jede Schulklasse anders,
es lassen sich keine generell gültigen Regeln aufstellen Es gibt eine Spannung von
Fallverstehen und subsumptivem Regelwissen.
Auch wenn Sie als Zuhörer möchten, dass Ihre Kinder oder die Kinder der benachbarten
Schule glücklich werden, so ist der Prozess der Erziehung zwischen den Generationen
phasenweise notwendig konflikthaft. Und Konflikt ist vermutlich Abwesenheit von Glück, es
denn, es gibt gerade jemanden, der Konflikte als Glück definiert, weil er sie als Übungen für
seine fortgeschrittene Meditationspraxis empfindet. Jedenfalls lassen sich nicht alle Konflikte
in der Erziehung durch Achtsamkeitstraining oder Methoden wie Introvision (Wagner 2007)
auflösen.
Erziehung ist fortgesetzte Problembearbeitung in wechselnden Situationen eines nicht
entlasteten Alltags, sie ist kein sakraler Dienst (Oelkers 2001). Friedrich Schleiermacher hat
die „pädagogische Einwirkung der älteren Generation auf die jüngere“ (Schleiermacher 2000,
S. 13) als Fokus der Antwort auf die Frage nach der Erziehung betrachtet. Die Bestimmung
dieser Einwirkung ist allerdings schwierig. Kinder und Jugendliche sind darauf angewiesen,
dass sie pädagogische Chancen erhalten, dass die Verteilung der Chancen im Rahmen des
Möglichen fair ist und dass die faire Verteilung über die Dauer ihrer Erfahrung hinaus
erhalten bleibt.
7
Dabei ist ein Phänomen von besonderer Bedeutung: Die Anerkennung der Kinder und
Jugendlichen durch die Erwachsenen oder andersherum der Erwachsenen durch Kinder und
Jugendliche ist kein friedvoller Zustand, es ist vielmehr ein dauerhafter Kampf in Hinblick
auf Liebe, Recht und Solidarität. Diese Kämpfe bleiben – auch wenn sie sozial abgefedert
oder religiös überhöht werden – nirgendwo aus. Sie sind Bestandteil des sozialen Lebens.
Der Kampf um Anerkennung (Honneth 1990) gilt sowohl im Autonomiebestreben der
nachwachsenden Generation als auch im Bestreben um Selbstbehauptung und Verantwortung
der erziehenden Generation. Mit Erziehung sind im Sozialisationsprozess unvermeidlich
kulturelle und soziale Konditionierungen verbunden, die unsere Wahrnehmung, unsere
Wertmaßstäbe und unsere Selbstkonzepte, damit unser Handeln prägen und beschränken.
Erziehung erfordert einen fortwährenden, altersgemäßen Dialog, in dem sich im besten Fall
Erziehung in Selbsterziehung verwandelt.
Ein besonderes Beispiel für eine sich auf Offenheit und Erfahrung gründende menschliche
Entwicklung enthält ein Zitat des Buddha, das mich in meiner Arbeit immer wieder sehr
inspiriert:
„Glaube nicht an die Macht von Traditionen,
auch wenn sie über viele Generationen hinweg
und an vielen Orten in Ehren gehalten wurden.
Glaube an nichts, nur weil viele Leute davon sprechen.
Glaube nicht an die Weisheiten aus alter Zeit.
Glaube nicht, dass deine eigenen Vorstellungen
dir von einem Gott eingegeben wurden.
Glaube nichts, was nur auf der Autorität
deiner Lehrer oder Priester basiert.
Glaube das, was du durch Nachforschungen
selbst geprüft und für richtig befunden hast
und was gut ist für dich und andere.“ 2
Gautama Buddha
3
Bildung und Interkulturelles Lernen
Acht Jahre nach Pisa, dem internationalen Leistungsvergleich in ausgewählten Domänen in
der Sekundarstufe I (Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften), besteht der eigentliche
Schock noch immer darin, dass Deutschland im internationalen Wettbewerb der Schulbildung
nur Mittelmaß ist. Für Ludger Wössmann, Bildungsforscher an der Uni München und
Abteilungsleiter im bekannten Ifo Institut für Wirtschaftsforschung ist ganz klar, dass es mehr
Leistungsüberprüfungen in Deutschland geben muss und dass diese auch zu besseren
Lernerfolgen führen werden (Wössmann 2007, 35). Wie aus der zuvor dargestellten
Diskussion um Erziehung deutlich wurde, lassen sich solche klaren Wenn-Dann-Relationen
allerdings kaum begründen. Selbst wenn das im Einzelfall in anderen Staaten so der Fall
2
Gautama Buddha/ Kalama Sutta, zitiert nach: Dalai Lama, Tensin Gyatso, der XIV. u.a.: Wege zur universellen
Verantwortung. Aus Tushita 2. Nach mündlichen Übermittlungen der Tibetanischen Tradition. Übersetzt von
Michael Hellbach. Rheinberg, 1981, S. 3.
8
gewesen sein sollte, ist eine Verbesserung der Schülerleistungen nach Einführung weiterer
Tests nicht zwangsläufig erwartbar.
Der Kollege Heinrich Dauber aus Kassel ist beim Thema Leistungstest deutlich skeptischer,
wenn er sagt:
„Als Pädagogen, Psychotherapeuten und Meditation Praktizierende ist uns das Privileg
geschenkt, auch in unserer Arbeit (und nicht nur in unserem Privatleben) immer
wieder über die prägenden Muster nachdenken zu können, die unsere eigene
Wahrnehmung, unsere eigenen Werthaltungen und Handlungen bestimmen. Aus
meiner Sicht ist damit auch eine Verpflichtung verbunden; nicht andere
besserwisserisch zu belehren, aber dafür zu sorgen, dass die damit verbundenen
Fragen auch in unseren pädagogischen Institutionen nicht verloren gehen und durch
ökonomistische Standards und Effektivitätskontrollen verdrängt werden.“
Dauber wehrt sich dagegen, dass sich die pädagogischen Konsequenzen aus PISA in
Deutschland im wesentlichen darauf beschränken, auf allen Alterstufen noch mehr
Lernleistungen zu fordern, zu messen und zu vergleichen. Was das ‚Individuum’ ausmacht,
das einzigartige Ungeteilte der Person, wird für ihn dann nur noch nach bürokratisch
festgelegten Standards in sog. Kompetenzbereiche aufgeteilt und skaliert. Er hält dies für eine
einseitige Sichtweise in der Erziehungswissenschaft und fordert dazu auf, Achtsamkeit,
meditative Selbstreflexion stärker zu gewichten.
Dauber (2007) zögert allerdings, eine Achtsamkeitspädagogik zu entwerfen, die als ein
Gegenentwurf zu der von ihm kritisierten und auf ökonomische Kriterien und
Effektivitätskontrollen hin ausgerichtet Pädagogik gelesen werden könnte; denn die
Erfahrungen mit sogenannten „neuen Pädagogiken“ sind einfach zu deprimierend, als dass ein
neues, buddhistisch inspiriertes Training von Achtsamkeit als eine neue Pädagogik gelten
kann. Dies war bereits das Missverständnis von Claudia Braun (1985), die in ihrer Arbeit die
buddhistische Lehre allzu kühn auf pädagogische Prozesse im Kindheits- und Jugendalter hin
auslegte. Das buddhistische Verständnis ist in ihrer Arbeit nach meiner Einschätzung
durchaus gegeben, allerdings beschränkt sich diese Arbeit in erziehungswissenschaftlicher
Hinsicht auf eine „naive Weltanschauungspädagogik“ (Keuffer 1991). Würde der tibetische
Buddhismus oder eine andere Variante des Buddhismus als neue Pädagogik angeboten
werden – und seien es auch nur einzelne Bestandteile daraus – so würden sofort die teils
hierarchischen, teils patriarchalischen Strukturen in Frage gestellt werden, die mit den
pädagogisch bedeutsamen Kategorien von Partizipationskompetenz oder Urteilskompetenz
nicht vereinbar sind.
Deutlich wird an den Argumentationsweisen von Wössmann (2007) und Dauber (2007), dass
Erziehung und Bildung jeweils durch spezifische Vorerfahrungen, Interessen und Normen
bestimmt wird. Diese sind im nationalen Rahmen bereits ausgesprochen different und schwer
erfassbar, im internationalen und interkulturellen Austausch wird die Sachlage noch
schwieriger.
Die Erziehungswissenschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr dahin bewegt,
den normativen Anteil in der Theorie so weit wie möglich zu eliminieren. In
wissenschaftlicher Hinsicht ist dieses Verfahren durchaus erfolgreich, allerdings ist damit
zugleich ein Dilemma verbunden; denn in wissenschaftstheoretischer Hinsicht mag es
sinnvoll sein, präskriptive oder normative Anteile aus der Forschung zu entfernen, wie das
etwas die empirische Psychologie oder die Soziologie tun. Der Preis ist allerdings für die
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Erziehungswissenschaft dann zu hoch, wenn sie darüber ihren Gegenstand, die
Erziehungspraxis, verliert. Dies gilt insbesondere dann, wenn Erziehungswissenschaft keine
Aussagen mehr darüber formuliert, was man in der Erziehung besser oder schlechter machen
kann. Es droht der Bezugspunkt verloren zu gehen. Und genau diese Unbestimmtheit ist ein
zentrales Problem der gegenwärtigen Erziehungswissenschaft.
Man hat der Erziehung früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte gerade im deutschsprachigen
Raum immer wieder vorgeworfen, dass sie zu staatstragend sei oder dass mit ihr nur die
herrschenden Normen durchgesetzt werden sollen. Die Freiheit des Individuums und die
Entfaltung der Persönlichkeit sei hingegen zu wenig beachtet worden. Wenn man an die
Rohrstockpädagogik denkt, ist das auch richtig. Heute allerdings ist in der pädagogischen
Praxis vielfach eine Orientierungslosigkeit festzustellen. Dies hat auch mit einer empirischen
Erziehungswissenschaft zu tun, die keine Maßstäbe mehr kennt, weil sie Normen und
Maßstäbe aus der Forschung weitgehend eliminiert hat. Darauf hat Hartmut von Hentig in
seinen Schriften immer wieder hingewiesen.
Ich kann in diesem Vortrag theoretisch nicht tiefer in die Materie eindringen, ich muss es bei
diesen wenigen Andeutungen zur Theorie der Erziehung belassen.
Ich komme somit zu grundlegenden Gedanken des Buddhismus aus einer interkulturellen
Perspektive. Alter, Krankheit und Tod sind zentrale Erfahrungen im Leben des Menschen. Im
Buddhismus sind es sogar die entscheidenden Prüfpunkte des Lebens. Dem Leiden lässt sich
nur entgehen, so die These Buddhas, wenn der Geist gezähmt wird. Dabei ist Zähmung des
Geistes mehr als wir für gewöhnlich unter Erziehung und Bildung verstehen. Aus
buddhistischer Sicht ist es das höchste aller Ziele, die Buddhaschaft zu erreichen. Um Leben
sinnvoll werden zu lassen, ist es wichtig, Alter, Krankheit und Tod als Bestandteil des Lebens
zu akzeptieren. Die Vollendung führt dann – so die buddhistische Lehrmeinung – zur
Beendigung des Kreislaufs von Geburt, Alter, Krankheit und Tod.
Das tibetische Lebensrad ist dank seiner bildlichen Darstellungskraft auch in volkstümlicher
Weise verstanden worden. Es repräsentiert eine grundlegende Formel, die zentrale Sätze der
buddhistischen Lehre zu visualisieren versucht. In Tibet soll das Lebensrad in jeweils
unterschiedlicher künstlerischer Ausgestaltung im Eingangsbereich fast aller Tempel vorhanden
gewesen sein.
Ich spreche hier im Zentrum für Buddhismuskunde, deshalb werde ich mich vor weit gehenden
Interpretation hüten, sie werden das allemal besser können. In der Mitte Lebensrades sehen Sie
die Nabe, sie enthält einer Darstellung der Ursachen des Leidens: Hahn, Schlange und Eber
symbolisieren diese Ursache des Leidens: Gier, Hass und Unwissenheit.
Die sechs Wiedergeburtsbereiche finden sich im mittleren Kreis: oben Götter, oben links Asuras
oder eifersüchtige Götter, rechts Menschen, links unten Tiere, unten rechts Pretas oder
hungrigen Geister, unten Höllenwesen.
Der äußere Kreis des Lebensrades enthält die Formel des ABHÄNGIGEN ENTSTEHENS:
1) Blindes Weib .Unwissenheit. (avidya)
2) Töpfer .karmische Bildekräfte. (samskara)
3) Affe "Bewußtsein" (vijnana)
4) Zwei Menschen in einem Boot "Geistkörperlich}eit (nama-rupa)
10
5) Haus mit sechs Fenstern "Sechs Sinne" (sadayatana)
6) Liebespaar "Berührung" (sparsa)
7) Pfeil, der das Auge eines Mannes durchbohrt .Empfindung., .Gefühl.(vedana)
8) Trinker, der von einer Frau bedient wird "Begierde>, "Durst" (trsna)
9) Mann, der Früchte sammelt "Haften" (upadana)
10) Geschlechtsverkehr "Werden. (bhava)
11) Gebärende Frau "Geburt" (jati)
12) Mann, der einen Leichnam auf dem Rücken trägt "Tod" (marana)
(Zur Interpretation vgl. Keuffer 1991, S. 174 ff.)
Pädagogisch gesehen, weisen die drei Kreise auf das selbstverantwortete Handeln des
Individuums. Für die Daseinsfaktoren und das abhängige Entstehen gilt die erzieherische
Bewältigung. Die Erziehung kann letztlich nur Aufklärung des Individuums über sich selbst
sein und ist somit im wesentlichen Selbsterziehung und Selbsterkenntnis durch fortgesetzte
Übung. Die Rolle des Buddha als Lehrer besteht im Hinweis auf die mögliche Überwindung
des Leidens mit Hilfe geeigneter Mittel.
Diese Gestaltungstätigkeit (samskara; Tib.: hdu-byed) wird veranschaulicht durch das erste Bild
eines Töpfers. So wie der Töpfer die Formen der Töpfe gestaltet, so formt der Mensch seinen
Charakter und das Schicksal durch seine Taten.
Das Werden führt zur Wiedergeburt (jati; Tib.: skye-ba) in einem neuen Leben. Das elfte Bild
zeigt demgemäß eine gebärende Frau.
Das zwölfte Bild stellt einen Mann dar, der einen Toten (nach tibetischem Brauch in hockender
Stellung in Tücher gewickelt) auf seinem Rücken zur Leichenstätte trägt und illustriert das
letzte der zwölf Glieder der Formel des "abhängigen Entstehens. (pratstyasamutpdda), das
besagt, dass alles Geborenwerden zu Alter und Tod (Jara-marana, Tib.: rgas-si) führt. Der
Lebenskreis schließt sich, Geburt und Tod gehören in dieser Darstellung zusammen.
Das Lebensrad ist Ausdruck philosophischer, religiöser und weltanschaulicher Experimente
im asiatischen Raum. Das Lebensrad ist in kreisförmiges Denken eingebunden. Das
Lebensrad ist mit der Philosophie des nicht-Selbst (Sanskrit: anatta) verbunden und geht von
der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aus. Im Alter kann man jung sein, in der Jugend
bereits sehr alt. Alles ist eine Frage der Perspektive. Und auch der Anfang und das Ende sind
nicht getrennt, sie gehören zusammen. Die Wiedergeburt bestimmt hier die Vorstellung von
einer neuen Chance in einem neuen Leben.
4
4.1
Lernen und Meditation
Lernen
Leben heißt Lernen. Und wir lernen über Erfahrung. Lernen ist ein Grundbegriff der
Pädagogik und wie alle Grundbegriffe – zumal wenn sie in der Alltagssprache vorkommen –
vieldeutig. Einen Überblick über die Begriffsentwicklung und die theoretischen und
empirischen Bestimmungen zu geben ist selbst für Spezialisten ziemlich schwierig. Ich
begnüge mich heute mit einer einfachen Definition von Alfred K. Teml:
11
„Unter Lernen verstehen wir alle nicht direkt zu beobachtenden Vorgänge in einem
Organismus, vor allem in seinem zentralen Nervensystem (Gehirn), die durch
Erfahrung (aber nicht durch Reifung, Ermüdung, Drogen o.ä.) bedingt sind und eine
relativ dauerhafte Veränderung bzw. Erweiterung des Verhaltensrepertoires zur Folge
haben. Mit anderen Worten: Lernen ist eine erfahrungsbedingte Veränderung der
Möglichkeit eines lebenden Systems, in einer Umwelt einen Zustand einnehmen zu
können.“ (Treml 2000, S. 97).
Veränderung ist der generelle Indikator für Lernen in allen Lerntheorien. Dabei kann
Veränderung Erlernen oder Verlernen bzw. Anpassung oder Fehlanpassung bedeuten.
Erfahrungen, auf die sich das Lernen bezieht, sind an Wahrnehmungen und Informationen aus
der Umwelt und an deren Verarbeitung durch das Individuum gebunden. Lernen als Prozess
der Erfahrungsbildung in der Auseinandersetzung mit der Umwelt bezieht sich auf
Kognitionen, Emotionen und Verhalten. Hierzu gehören z.B. auch die Entstehung und
Veränderung von Ängsten, Einstellungen, Fähigkeiten zum Problemlösen und
Sprachkompetenzen. Die verschiedenen Lerntheorien unterscheiden sich in der Beschreibung
und Erklärung der Bedingungen und Faktoren, unter denen Veränderungen und Erfahrungen
möglich werden.
4.2
Meditation
Meditation ist eine spezifische Form des Lernens. Dabei möchte auf einen Ausschnitt aus
meiner Arbeit zurückgreifen:
„In der tibetisch-buddhistischen Kulturtradition haben Meditation und Kontemplation
den höchsten Stellenwert innerhalb dessen eingenommen, was in der deutschen
Sprache als Bildung bezeichnet wird. Die größtmögliche Verwirklichung der Leere
(Shunyata) repräsentiert den höchsten Grad an Bildsamkeit im historischen Tibet. Der
gelehrte buddhistische Mönch oder der unkonventionelle tantrische Yogi waren die
anerkannten und sichtbaren Ausdrucksformen ‚gebildeter Menschen’.“ (Keuffer 1991,
246).
In Abgrenzung zu Kritikern transrationaler Erkenntnisbemühungen sehe ich im
interkulturellen Austauschprozess mit asiatischen Kulturen ein kritisches Potential angelegt,
das Aufklärung über eigene Begrenzungen leisten kann. Meditation und kontemplative
Disziplinen sind auch aus europäischer Sicht bildend. Die Praxis der Meditation ist aus
meiner Sicht Bildung.
Was aber genau ist Meditation? Es gibt inzwischen viele Bücher. Sehr bekannt geworden ist
das ´Tibetische Totenbuch, das in verschieden Interpretationen und Ausgaben erschienen ist.
Ich möchte Ihnen jedoch keine komplexe Darlegung von Meditation präsentieren, vielmehr
zitiere ich eine kurze Passagen aus dem Artikel, den der Dailai Lama in DIE ZEIT
veröffentlicht hat:
„Immer wieder wird Meditation als ein Leerwerden des Geistes aufgefasst oder als
eine Entspannungstechnik, doch darum geht es mir hier nicht. Die Praxis des Gom
führt zu keinen mysteriösen oder gar mystischen Zuständen, die nur wenigen
talentierten Einzelpersonen vorbehalten wären. Es geht dabei auch nicht um
Nichtdenken oder die Abwesenheit mentaler Aktivität. Gom bezeichnet beides: ein
Mittel oder einen Prozess sowie einen Zustand, der aus diesem Prozess entstehen
kann. Im Zusammenhang unserer Betrachtungen möchte ich Gom vor allem als Mittel
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beschreiben, als einen Prozess der präzisen, konzentrierten und disziplinierten
Introspektion und Achtsamkeit, der uns tief in die Natur eines Gegenstandes der
Betrachtung vordringen lässt. (Dalai Lama, in: DIE ZEIT 38/2005).
Meditation ist in aus dieser Perspektive Achtsamkeit und Introspektion. Ich habe diese als
einen Prozess verstanden, der zur Freiheit in den Köpfen beitragen kann. Solidarität bedeutet
Widerstand gegen Herrschaft. Herrschaft entsteht aber nicht nur innerhalb gesellschaftlicher
Strukturen, sondern ebenso in den Köpfen der Individuen selbst. Meditation kann zur
Schaffung eines herrschaftsfreien Raums in den Köpfen, den Körpern und den
Gedankenströmen der Meditierenden beitragen, indem sie in verstärkter Achtsamkeit den
Prozess zur Nicht-Identifizierung mit den Daten der Wahrnehmung überhaupt erst ermöglicht.
Paetow (2004) hat dieses Verständnis noch erweitert: „So sieht Keuffer eine möglich
bildungstheoretische Komplementarität von emanzipatorischen Prozessen, die auf
Erkenntniserweiterung über gesellschaftliche und individuelle psychologische Macht- und
Herrschaftsstrukturen ausgerichtet sind. Mit Keuffer gehe ich davon aus, dass die Meditation
und die daraus gewonnene Erkenntnis der Ich-Losigkeit auch in unserem Kulturkreis das
Verständnis für „Selbstkonzepte, Ich-Entwicklung und Grundstrukturen des Bewusstseins“
erweitern könnte.“ (Paetow 2004).
Eine Erziehung, die sich von buddhistischer Denkweise inspirieren lässt (vgl. Geshe Thubten
Ngawang 1993), hat keinen fixen Endpunkt und gründet sich in einer universellen
Beförderung von ‚inherent goodness’ und Nicht-Selbst (anatta). Zielorientierung und
Spezifizierung wären dann nicht die Maximen von Lehren und Lernen. Das Erkennen der
eigenen Orientierungsmuster, ihre Durchdringung und Veränderung auf der Basis von
‚Achtsamkeit’ und ‚Gewahrsein’ kann nur eine Selbsterziehung sein, die den einzelnen
Menschen zu einer unmittelbaren Beziehung zur Wirklichkeit führt. Der Prozess ist nicht
immer angenehm, da dabei alte Verhaltensweisen als nicht mehr angemessen erkannt werden
können und daraus Veränderungen resultieren, die Ängste und Unsicherheit in Bezug auf die
eigene Person mit sich führen. Der Lernprozess ist zunächst ein Verlernen, nämlich ein
Loslassen alter Verhaltensmuster und somit ein Prozess von der Gewissheit bisheriger
Erkenntnisstrukturen hin zu einer Ungewissheit in der mit ihr verbundenen Offenheit. Dieser
Vorgang wird ausgelöst durch die Praxis der Meditation.
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Gemeinsame Interessen und mögliche Forschungsthemen
„ Achtsamkeit als Lebensform (Belschner)
„ Selbstreflexion im Zentrum pädagogischer Praxis (Dauber)
„ Erziehungsvorstellungen und Erziehungspraxis im interkulturellen Vergleich
„ Berufsverständnis und Berufsausübung von Lehrerinnen und Lehrern, die sich in der
Meditation üben
„ Buddhismus und Religionsunterricht
„ Meditation mit Kindern und Jugendlichen
„ Lebenslanges Lernen im Alter
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Zu erwähnen ist beim Religionsunterricht, dass im Jahr 2003 der erste buddhistische
Religionsunterricht in Berlin in Zusammenarbeit mit der „Buddhistischen Gesellschaft Berlin e.
V. (BG Berlin)“ und der „Deutschen Buddhistischen Union e. V.“ stattgefunden hat. Dieser
Unterricht und der diesem Unterricht zugrunde liegende Rahmenplan scheint eine Grundlage
für eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Buddhismus an deutschen Schulen zu liefern; dabei
scheint er auch die genannten Kriterien zu erfüllen, insofern er auf eine authentische,
bekenntnisorientierte und interkulturell-dialogische Vermittlung ausgerichtet ist.
Beschäftigt man sich mit Religion oder speziell mit dem Buddhismus, so geht das zwar auf
einer rein akademischen oder philologischen Ebene, allerdings verlangen die Lehren, dass im
Studium angewendet werden. Nur so erschließen sie sich. Das geht allerdings nur, wenn man
Zeit und Rückzug einplant. Ein wichtiges Experiment ist deshalb das Erlernen von
Rückzugskompetenz. Der Umgang mit sich selbst und der mit sich zu verbringenden Zeit ist
dabei ein bedeutsamer Faktor für die Weiterentwicklung. Wie der (späte) Erwerb von
Rückzugskompetenz konkret aussehen kann, das möchte ich an einem Beispiel skizzieren, das
insbesondere in Italien zu einer großen Aufmerksamkeit geführt hat.
In seinen beiden letzten Büchern, die in Italien und inzwischen auch in Deutschland zu
Bestsellern geworden sind, fasst Tiziano Terzani die Summe seiner Erfahrungen zusammen.
Terzani, 1938 in Florenz geboren, war von 1972 bis 1997 Korrespondent des Spiegel in
Singapur, Hongkong, Peking, Tokio, Bangkok und Neu Dehli. Er schrieb für den Corriere dell
Sera, für L`Espresso und La Republica. Nachdem er seine Arbeit als Korrespondent aufgegeben
hatte, zog er sich für einige Jahre in den Himalaja zurück und ging bei „seinem Alten“ – wie er
ihn nennt – einem tibetischen Einsiedler im Himalaja in die Lehre. Er veröffentlichte
anschließend die Bücher: „Noch eine Runde auf dem Karussell – Vom Leben und Sterben“
(Originalausgabe 2004) und anschließend bringt sein Sohn biographische Interviews mit seinem
Vater unter dem Titel „Das Ende ist mein Anfang – Ein Vater, ein Sohn und die große Reise
des Lebens“ heraus.
Es geht in beiden Publikationen über Erfahrungen im Umgang mit Alter, Krankheit und Tod.
Insbesondere geht es aber darum, wie durch den Erwerb von Rückzugskompetenz das Leben
eine neue, aufregende Bedeutung gewinnen kann. Im Juli 2004 erlag Terzani in Orsigna bei
Florenz seiner Krebserkrankung. Den Kampf gegen den Krebs hat er verloren. Er hat jedoch das
Abenteuer seines Lebens und das Experiment der letzten Lebensjahre autobiographisch und in
bewegender Weise dargestellt. Terzani verbindet in seiner Erzählung Lebensweisheit mit
spiritueller Offenheit.
In seinem letzten Buch, dem Interview mit seinem Sohn Folco, wird deutlich, dass er am Ende
seines Lebens eine Rückzugskompetenz entwickelt hat, die ihn in die Lage versetzt, die für ihn
wichtigen Dinge zu tun. Er erfährt eine Freiheit, die er vorher nicht gekannt hat. Er beschreibt
sich weder als erleuchtet noch als besonders wissend, jedoch hat ihn die Rückzugskompetenz
dazu geführt, dass er ein Loslassen entwickelt hat, das für ihn selbst und auch für seine
Umgebung erstaunlich und hoch bedeutsam ist. Der Krankheitsverlauf wird als Lernprozess
erfahren.
Eine seiner Erkenntnisse: „Denn ich bin immer mehr davon überzeugt, dass es eine typisch
westliche Illusion ist, die Zeit für etwas Geradliniges zu halten, für Fortschritt. Nein, die Zeit ist
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nicht vorwärtsgerichtet. Sie wiederholt sich, sie dreht sich um sich selbst. Die Zeit ist
kreisförmig.“ (Terzani 2007, S. 402).
Tiziano Terzani beschließt seine Autobiographie mit einem Haiku. Mein Vortrag soll damit
enden.
Der Schatten des Bambus fegt über die Steinstufen,
Doch der Staub bleibt.
Der Mond spiegelt sich im Teich,
Ohne das Wasser zu berühren.
Was heißt das nun alles? Mein kühnes Fazit lautet in Abwandlung eines tibetischen
Ausspruchs: Falls Sie glauben, ich hätte etwas Tiefsinniges enthüllt, bitte ich um Verzeihung;
falls Sie glauben, das sei alles eine Menge Unsinn, dann haben Sie sich hoffentlich daran
erfreut.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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Literatur
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Psychologie – Eine Einführung aus westlicher Sicht. Bern/München.
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Dalai Lama, Tenzin Gyatso (1993): Das Auge einer neuen Achtsamkeit. München.
Dalai Lama, Tenzin Gyatso (2002): Die Buddhanatur. Tod und Unsterblichkeit im
Buddhismus. Grafing.
Dalai Lama, Tenzin Gyatso (2005): Mehr Licht im Labor! Das Bewusstsein entzieht sich der
objektiven Wissenschaft. Die Meditation kann helfen, das Ich zu erklären. In: DIE ZEIT,
Nr. 38/2005.
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Selbstverwirklichung und Selbsthingabe. In: Belschner, Wilfried u.a.(Hg.) (2007):
Achtsamkeit als Lebensform. Hamburg.
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16
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