Josef Keuffer Buddhismus und Erziehung: Interkulturelles Lernen aus erziehungswissenschaftlicher Sicht1 Lieber Herr Zimmermann, liebe Frau Schuler, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, die Arbeit, über die ich heute sprechen möchte, liegt bereits einige Jahre zurück. Das Thema meiner Dissertation lautete: Buddhismus und Erziehung – Eine interkulturelle Studie zu Tibet aus erziehungswissenschaftlicher Sicht. Die Arbeit habe ich 1991 im Waxmann Verlag publiziert, heute ist sie im Internet abrufbar (www.keuffer.de). Seitdem sind 17 Jahre vergangen, Jahre in denen der Buddhismus in Europa und Amerika eine sehr viel größere Aufmerksamkeit erfahren hat als zuvor. Insbesondere das Wirken des Dalai Lama hat viel dazu beigetragen, dass wir heute besser informiert sind, sowohl über den Buddhismus als auch über die schwierige politische Situation in Tibet. Darüber hinaus hat sich ein stabiler Dialog zwischen Wissenschaft und Buddhismus etabliert. Die vielen Aktivitäten buddhistischer Lehrerinnen und Lehrer, die Gründung von Meditationszentren (z.B. das Tibetische Zentrum in Hamburg) und nun auch die Gründung eines Zentrums für Buddhismuskunde an der Universität Hamburg tragen viel dazu bei, dass der Umgang mit dem für Europa zumeist noch immer fremden Buddhismus von mehr Wissen, Verständnis und Erfahrungen miteinander geprägt ist. Ich habe mich Ende der 80er und zu Beginn der 90er Jahre wissenschaftlich mit den Themenbereichen „Buddhismus, Erziehung, Bildung, Interkulturelles Lernen“ beschäftigt, arbeite aber heute nicht in einem Institut für Buddhismuskunde, meine eigene Berufsbiographie hat sich in eine andere Richtung entwickelt. Ich habe das Lehramt mit den Fächern Geschichte und Deutsch studiert. Nach Abschluss meiner Dissertation habe ich mich im Schwerpunkt mit Schulpädagogik, Didaktik und Lehrerbildung befasst. Heute arbeite ich als Erziehungswissenschaftler an der Universität Bielefeld. Gliederung 1. 2. 3. 4. 5. 1 Eigene Erfahrungen mit Buddhismus und Erziehungswissenschaft Die Offenheit von Erziehung Bildung und Interkulturelles Lernen Lernen und Meditation Gemeinsame Interessen und mögliche Forschungsthemen Vortrag am 8. Januar 2008 an der Universität Hamburg, Zentrum für Buddhismuskunde. 2 1 Eigene Erfahrungen mit Buddhismus und Erziehungswissenschaft Wenn ich mich heute wieder meinem alten Thema zuwende, so freue ich mich, dass zwei Welten, die jedenfalls in meiner eigenen Biographie eher auseinander fallen, hier im Zentrum für Buddhismuskunde zusammenkommen: Buddhismus und Wissenschaft. Die meisten meiner Kollegen trennen zwischen ihrem Leben als Wissenschaftler und ihren Sonntagsaktivitäten. Ich versuche es anders zu halten, wobei ich allerdings kein gutes Vorbild für einen Buddhisten abgebe; denn erst die regelmäßige, langjährige meditative Praxis macht aus einem Praktizierenden einen Buddhisten. Und diese Praxis fällt bei mir leider viel zu schmal aus. Dass die Lehre des Buddha sich zugleich als Religion und als nicht religiös gebundene Ethik interpretieren lässt, darauf weist der 14. Dalai Lama in vielen Reden und Publikationen immer wieder hin. Eine „neue Ethik für unsere Zeit“ (14. Dalai Lama) ist mit Blick auf die Bewahrung des Friedens und der Sorge um eine weltweite soziale Gerechtigkeit notwendig. Eine solche Ethik bedarf jedoch keiner übergreifenden Kanonisierung in Form einer Religion oder Doktrin, sondern sie ist in den verschiedenen Kulturen und spirituellen Traditionen verwurzelt. Nur wenn es gelingt, verschiedene ethische Ansätze zusammenzuführen, werden wir in die Lage versetzt, die langfristigen und globalen Folgen unseres Verhaltens zu bedenken und im Blick auf kommende Generationen zu begrenzen (Dauber 2007). Der Buddhismus kann dabei eine besondere Rolle spielen. Er ist einerseits kulturell anpassungsfähig, andererseits reich gesegnet mit Schriften, Riten und grundlegenden Regeln menschlichen Wachstums. Ich habe mich während zweier Indienreisen Anfang der 80er Jahre mit der indischen und tibetischen Kultur befasst und habe 1982 an einem Retreat unter der Leitung von Lama Thuben Yeshe in Dharamsala teilgenommen. Das war der Ausgangspunkt für meine spätere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Buddhismus. An dem (Dreimonats-)Retreat haben damals ca. 100 Teilnehmer aus der ganzen Welt teilgenommen, Höhepunkt war ein einwöchiges Mahamudra-Teaching des Dalai Lama. Für mich war das damals eine viel zu große Anzahl an Menschen und eher eine Überforderung. Ich hatte zudem kaum ein Vorverständnis über den tibetischen Buddhismus. Vergleiche ich diese ersten Erfahrungen mit dem Besuch des Dalai Lama in Hamburg im letzten Jahr mit über 10.000 Teilnehmern, dann weiß ich heute, in welch günstiger Lage ich mich 1982 befunden habe. Zurück zu meiner Dissertation: Ich habe sie genau 10 Jahre nach meinen ersten Erfahrungen mit dem tibetischen Buddhismus fertig gestellt. Ich bedanke mich bei meinem akademischen Lehrer Meinert Meyer, der zuletzt hier in Hamburg am Fachbereich Erziehungswissenschaft gelehrt hat, er hat die Arbeit betreut und das Gutachten übernommen. Das war damals durchaus keine Selbstverständlichkeit, im Übrigen gab es Kritiker, die die Arbeit nicht gern gesehen haben. Was heute zu einer legitimen Möglichkeit eines wissenschaftlichen Selbstverständnisses geworden ist, die Herstellung eines Zusammenhangs von Spiritualität und Wissenschaft, galt in den 80er und 90er Jahren in der science community als unverzeihlicher Sonderweg. Physikern nach ihrer Emeritierung gestand man solche Denkwege zu, ansonsten vermied man in der Wissenschaft eher den Umgang mit Religion oder Spiritualität, weil man dies nicht für hilfreich hielt. Das erscheint mir heute anders zu sein, insbesondere im Kontext der Naturwissenschaften und der Philosophie. Ich hatte im September Gelegenheit, an einem Vortrag des Dalai Lama im Rahmen eines Treffens der Graduate Schools Nordrhein-Westfalen teilzunehmen. Das Thema „Universal Responsibility in Science and Society“ hat die jungen Wissenschaftlerinnen und 3 Wissenschaftler interessiert und der Vortrag wurde mit großer Begeisterung aufgenommen. Der Austausch zwischen Buddhismus, Naturwissenschaften und Neurowissenschaften gilt inzwischen als akzeptiert und fortgeschritten; auch in der Philosophie und der Psychologie liegen vielfältige Arbeiten vor. Die Tradition der Mind and Life Conferences spricht dafür, dass die Kommunikation fest etabliert ist. Dies gilt allerdings nicht für mein Fach, die Erziehungswissenschaft. Hier gibt es weitaus mehr Berührungsängste, nicht nur zum Buddhismus, sondern allgemein zu Religionen, Weltanschauungen und normativen Systemen. Dies hat seine Ursachen insbesondere in der früheren Verknüpfung von Theologie und Erziehung in Europa. Die Trennung von Staat und Kirche nach der Aufklärung hat neue Verhältnisse geschaffen. Schulen sind heute in der Regel nicht mehr konfessionell oder an eine bestimmte Religion gebunden. Es gibt einen staatlichen Bildungsauftrag, der im Grundgesetz festgelegt ist. Darüber hinaus ist in Artikel 4 Grundgesetz die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit festgeschrieben. Ich komme darauf später noch einmal zurück. Anfang der 90er Jahre war es kaum verwunderlich, dass meine Arbeit wenig zur Kenntnis genommen wurde. Für eine Dissertation verkaufte sich das Buch zwar verhältnismäßig gut, d.h.: rund 200 Exemplare wurden damals verkauft. Das Echo in der Erziehungswissenschaft war allerdings sehr verhalten. Man hatte Sorge, dass Erziehungswissenschaft normativ und esoterisch aufgeladen werden könnte. Dabei hatte ich in der Arbeit versucht, einerseits Brücken zwischen Buddhismus und Erziehungswissenschaft zu bauen, andererseits aber auch deutliche Grenzen zwischen wissenschaftlichen und religiösen Aussagesystemen gezogen. Aber Aufmachung und die Art der Herangehensweise waren nicht geeignet, Kritiker zufrieden zu stellen bzw. sie genügend herauszufordern. Darüber hinaus gab es den Vorbehalt, dass die Arbeit eher geisteswissenschaftlich und nicht sozialwissenschaftlich ausgerichtet sei. Auch das Echo unter den Tibet-Freunden blieb damals eher verhalten. Hier bestand der – aus heutiger Perspektive durchaus berechtigte – Einwand, dass keine buddhistischen Originaltexte herangezogen wurden dass ich kein Tibetisch oder Sanskrit konnte. Man riet deshalb zur Vorsicht, zumal ich noch viel zu jung und unerfahren sei, um substantiell über Buddhismus veröffentlichen zu können. Trotz dieser Warnungen habe ich meine Dissertation fertig gestellt, allerdings blieben Fehler tatsächlich nicht aus. Heute gibt es weitaus verlässlichere Darstellungen zur tibetischen Geschichte und zum Verständnis buddhistischer Basistexte. Die damals von mir geführte Diskussion zum interkulturellen Lernen und die Aussagen zu verschiedenen Perspektiven auf Erziehung und Bildung scheinen mir aber auch heute noch bedenkenswert zu sein. Ich schließe das auch aus den Ergebnissen einer Arbeit von Björn-Peter Paetow, die 2004 in Bielefeld als Dissertationsschrift von der Fakultät für Pädagogik angenommen wurde. Der Abschluss der Arbeit fand zum Zeitpunkt meines Wechsels nach Bielefeld statt, an der Betreuung der Arbeit war ich nicht beteiligt. Ich war sehr erfreut, dass Herr Paetow sich des Themas (Mahayana-) Buddhismus angenommen hat und die Lernerfahrungen durch Meditation ebenfalls als Bildungsprozesse gedeutet hat. Ich beziehe mich im Folgenden insbesondere auf die beiden genannten Arbeiten. Nach diesem biographischen Zugang zum Thema komme ich zu meinem zweiten Teil. Zuvor die These meines Vortrags, sie lautet: Erziehungswissenschaft und Buddhismus – Zwei Welten, die voneinander lernen können. 4 2 Die Offenheit von Erziehung Anders als beispielsweise in traditionalen Gesellschaften ist die individuelle Lebensführung heute zunehmend weniger in allgemein gültige Regeln, Riten, Werte und Lebensformen eingebettet. Auch die durch den Buddhismus stark geprägten Gesellschaften Asiens unterliegen den Anforderungen, die als Komponenten einer im Umbruch befindlichen Moderne bezeichnet werden. Man denke nur an den abrupten Wandel der Vorstellungen von Erziehung, Bildung, Sexualität, Gesundheit, Geschlechter- und Generationenbeziehungen und an die Vielfalt von Lebensformen. Pluralisierung und Individualisierung haben vor den meisten Gesellschaften und auch vor den großen Religionen keinen Halt gemacht. Dies gilt auch für den Buddhismus. Pluralisierung, Individualisierung und Beschleunigung (Geißler 1997; Rosa 2005) bestimmen heute zunehmend die gesellschaftliche Wirklichkeit. Kinder und Jugendliche sind in diesen Prozess verwoben. Die Kindheit wird zunehmend kürzer, das heißt es ist eine biologische Verkürzung der Kindheit festzustellen. Das Phänomen der Akzeleration, der Entwicklungsbeschleunigung bei Kindern lässt sich am biologischen Aspekt der früheren Geschlechtsreife festmachen. Der Schonraum Kindheit wird zunehmend kürzer. Die Geschlechtsreife ereignete sich für verschiedene Industriestaaten vor etwa 150 Jahren im Alter zwischen 16 und 17 Jahren (Durchschnittswerte, zitiert nach: Rittelmeyer 2007, 145 ff.). Heute wird die Geschlechtsreife von Mädchen in Industriestaaten im Schnitt zwischen 11 und 12 Jahren erreicht. Auch Untersuchungen von Migranten-Kindern, die aus Indien oder China nach Europa oder in die USA kommen, zeigen diese Effekte. Unterschiede, die nicht auf grundlegende Ernährungsgewohnheiten zurückgeführt werden können, wurden auch zwischen Jugendlichen aus abgelegenen Bergdörfern und aus Städten Österreichs berichtet (SchenkDanziger 1993, S. 326 ff.). Kindheit gerät aufgrund dieser Umstände zunehmend in Bedrängnis (Rittelmeyer 2007). Darüber hinaus haben es Kinder heute vielfach mit fehlender elterlicher Fürsorge zu tun. Kinder sind frühzeitig Gewalt oder Gewaltdarstellungen ausgesetzt, hinzu kommt eine Hektik in der kindlichen Lebenswelt und nicht zuletzt die Konkurrenz der Bildschirmmedien zum Spiel. Aufgrund der körperlichen Folgen einer Stress-Kultur wird es auch für Jugendliche zunehmend schwieriger, eigene, tragfähige Identitätskonstruktionen (Keupp 1999) herzustellen. Aus der Fülle der vorhandenen Möglichkeiten sollen sie auswählen, dies schafft neue Freiheiten und zugleich neue Zwänge. Das Ziel von pädagogischer Arbeit ist es, die Fülle der Möglichkeiten des Mensch-Seins zu eröffnen und zugleich Realitätstüchtigkeit für die jeweilige Gesellschaft zu trainieren. Dies lässt sich noch vergleichsweise einfach bestimmen, viele Menschen auch aus unterschiedlichen Kulturen würden diesem Ziel vermutlich zustimmen. Schaut man jedoch genauer hin, wird es komplex. Die Erziehungswissenschaft arbeitet mit Erziehungstheorien. Dabei wurde bis in das 20. Jahrhundert hinein nicht von unübersichtlichen Verhältnissen ausgegangen, vielmehr sah man das Gute vor sich und konnte sich nicht vorstellen, dass man auf dem Wege dorthin vielfach stolpern oder scheitern konnte. „Stolpern“ war immer nur Abkehr vom richtigen Weg und in den klassischen Erziehungstheorien gibt es nur den richtigen Weg, der so genannt zu werden verdient (Oelkers 2001, 263). Allerdings blieben die Definition des Zwecks, die Vorstellung vom Prozess der Erziehung und die Bestimmung des Objekts der Erziehung theoretisch unterbestimmt. Heutige Erziehungswissenschaft akzeptiert diese vorgegebenen 5 Zwecksetzungen nicht mehr, auch Zwecksetzungen wie „Mündigkeit“ oder „Emanzipation“ werden nicht mehr postuliert, wie das in den 80er Jahren noch üblich war. In meiner Dissertation habe ich auf die damals grundlegenden Begriffe „Emanzipation“ und „Mündigkeit“ in Anlehnung an Kant im Sinne regulativer Prinzipien der Erziehung orientiert. Diese klare normative Zuschreibung wird heute kritisiert, so auch bei Paetow (2004). Die Verwendung dieser Begriffe hätten gezeigt – so die Kritik subjekttheoretischer Untersuchungen –, dass eine genaue Bestimmung dessen, was den mündigen Menschen ausmache, entweder fehlten oder inflationär wurden, weil nichts positives ausgeschlossen werden konnte. So können auch die Ziele „Emanzipation“ und „Mündigkeit“ autoritär werden, weil den zu Erziehenden nicht die Wahl gelassen wird, ob sie mündig werden wollen oder nicht. Die Theorie sieht nein-Sagen nicht vor, man muss zustimmen, weil Mündigkeit als ein Gebot der Vernunft verstanden wird, dem sich niemand entziehen kann (Oelkers 2001, 264). Unmündigkeit ist keine pädagogische Zielgröße und Mündigkeit wird heute eher als eine Art Erziehungsverordnung aufgefasst, die alles zulässt, was zum Assoziationsfeld passt. Wenn sich der Zweck und die Ziele der Erziehung nicht auf einfache Weise festlegen lassen, was bedeutet das für eine theoretische Bestimmung von Erziehung? Ich möchte Sie zwar nicht mit ausgefeilten Problemen der Erziehungstheorie behelligen, aber eines soll deutlich werden: Wir haben es im Bereich der Erziehung mit sehr komplexen Phänomenen zu tun. So gibt es beispielsweise keine einfache Zweck-Mittel-Relation nach der Art: Verwende eine bestimmte Methode in der Erziehung, dann kommt folgendes Ergebnis dabei heraus. Es gilt vielmehr die Erkenntnis, dass es in der Erziehung Antinomien gibt, die sich nicht in eine bestimmte Richtung hin auflösen lassen. Werner Helsper (2007, S. 30ff.) verdeutlicht vier Bezugspunkte, auf die pädagogische Handlungen verweisen und zwischen denen sich die Antinomien konstituieren. Er benennt als Bezugspunkte Gesellschaft, Kultur, Natur und Person und führt als soziale Widerspruchsverhältnisse pädagogischen Handelns vier Modernisierungsparadoxien auf. 6 Auf der Ebene der Gesellschaft kann das Rationalisierungsparadox benannt werden. Es besteht darin, dass soziale Interaktion immer umfassender in ausdifferenzierten sozialen Organisationen stattfindet, die von kommunikativen Erfordernissen und der Besonderheit der Handelnden abstrahiert werden. Auf der Ebene der Kultur kann das Pluralisierungsparadox angeführt werden. Es besteht in einer Spannung zwischen einer Vervielfältigung von Lebensformen und übergreifenden kulturellen Generalisierungen. Das Zivilisationsparadox befindet sich auf der Ebene der Natur und verweist auf die widerspruchsvolle Gleichzeitigkeit einer umfassenden Freisetzung affektiver Ansprüche einerseits und einer distanziert-rationalen Zurichtung sozialer Verkehrsformen andererseits. Auf der Ebene des Individuums schließlich kann das sogenannte Individualisierungsparadoxon verortet werden. Es besagt, „dass einerseits die Möglichkeiten für eine eigenverantwortete, autonome Lebensführung steigen, aber gleichzeitig auch die Belastungen und Risiken dieser Eigenverantwortung anwachsen“ (Helsper 2007). Das einzelne Individuum im organisationalen Kontext steht zwischen den beiden Polen Freiheit und Zwang. Die Antinomien lauten folglich: Freiheit vs. Zwang (Individualisierungsparadox) Nähe vs. Distanz (Zivilisationsparadox) Differenzierung vs. Einheit (Pluralisierungsparadox) Organisation vs. Interaktion (Rationalisierungsparadox) Auch wenn in diesen Spannungsverhältnissen oder Paradoxien die Balance gehalten werden soll, so werden dennoch vielfach totalisierende Kategorien in der Sprache der Erziehung verwendet. So ist es leicht, Kinder als solche oder Erziehung an sich zu thematisieren oder Glück zum Erziehungsziel zu erheben. Aber Handeln kann man immer nur unter bestimmten Umständen und in bestimmten Situationen mit eingeschränkten Mitteln. Und die Effekte lassen sich nur begrenzt kontrollieren. Und zugleich ist jedes Kind, jede Schulklasse anders, es lassen sich keine generell gültigen Regeln aufstellen Es gibt eine Spannung von Fallverstehen und subsumptivem Regelwissen. Auch wenn Sie als Zuhörer möchten, dass Ihre Kinder oder die Kinder der benachbarten Schule glücklich werden, so ist der Prozess der Erziehung zwischen den Generationen phasenweise notwendig konflikthaft. Und Konflikt ist vermutlich Abwesenheit von Glück, es denn, es gibt gerade jemanden, der Konflikte als Glück definiert, weil er sie als Übungen für seine fortgeschrittene Meditationspraxis empfindet. Jedenfalls lassen sich nicht alle Konflikte in der Erziehung durch Achtsamkeitstraining oder Methoden wie Introvision (Wagner 2007) auflösen. Erziehung ist fortgesetzte Problembearbeitung in wechselnden Situationen eines nicht entlasteten Alltags, sie ist kein sakraler Dienst (Oelkers 2001). Friedrich Schleiermacher hat die „pädagogische Einwirkung der älteren Generation auf die jüngere“ (Schleiermacher 2000, S. 13) als Fokus der Antwort auf die Frage nach der Erziehung betrachtet. Die Bestimmung dieser Einwirkung ist allerdings schwierig. Kinder und Jugendliche sind darauf angewiesen, dass sie pädagogische Chancen erhalten, dass die Verteilung der Chancen im Rahmen des Möglichen fair ist und dass die faire Verteilung über die Dauer ihrer Erfahrung hinaus erhalten bleibt. 7 Dabei ist ein Phänomen von besonderer Bedeutung: Die Anerkennung der Kinder und Jugendlichen durch die Erwachsenen oder andersherum der Erwachsenen durch Kinder und Jugendliche ist kein friedvoller Zustand, es ist vielmehr ein dauerhafter Kampf in Hinblick auf Liebe, Recht und Solidarität. Diese Kämpfe bleiben – auch wenn sie sozial abgefedert oder religiös überhöht werden – nirgendwo aus. Sie sind Bestandteil des sozialen Lebens. Der Kampf um Anerkennung (Honneth 1990) gilt sowohl im Autonomiebestreben der nachwachsenden Generation als auch im Bestreben um Selbstbehauptung und Verantwortung der erziehenden Generation. Mit Erziehung sind im Sozialisationsprozess unvermeidlich kulturelle und soziale Konditionierungen verbunden, die unsere Wahrnehmung, unsere Wertmaßstäbe und unsere Selbstkonzepte, damit unser Handeln prägen und beschränken. Erziehung erfordert einen fortwährenden, altersgemäßen Dialog, in dem sich im besten Fall Erziehung in Selbsterziehung verwandelt. Ein besonderes Beispiel für eine sich auf Offenheit und Erfahrung gründende menschliche Entwicklung enthält ein Zitat des Buddha, das mich in meiner Arbeit immer wieder sehr inspiriert: „Glaube nicht an die Macht von Traditionen, auch wenn sie über viele Generationen hinweg und an vielen Orten in Ehren gehalten wurden. Glaube an nichts, nur weil viele Leute davon sprechen. Glaube nicht an die Weisheiten aus alter Zeit. Glaube nicht, dass deine eigenen Vorstellungen dir von einem Gott eingegeben wurden. Glaube nichts, was nur auf der Autorität deiner Lehrer oder Priester basiert. Glaube das, was du durch Nachforschungen selbst geprüft und für richtig befunden hast und was gut ist für dich und andere.“ 2 Gautama Buddha 3 Bildung und Interkulturelles Lernen Acht Jahre nach Pisa, dem internationalen Leistungsvergleich in ausgewählten Domänen in der Sekundarstufe I (Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften), besteht der eigentliche Schock noch immer darin, dass Deutschland im internationalen Wettbewerb der Schulbildung nur Mittelmaß ist. Für Ludger Wössmann, Bildungsforscher an der Uni München und Abteilungsleiter im bekannten Ifo Institut für Wirtschaftsforschung ist ganz klar, dass es mehr Leistungsüberprüfungen in Deutschland geben muss und dass diese auch zu besseren Lernerfolgen führen werden (Wössmann 2007, 35). Wie aus der zuvor dargestellten Diskussion um Erziehung deutlich wurde, lassen sich solche klaren Wenn-Dann-Relationen allerdings kaum begründen. Selbst wenn das im Einzelfall in anderen Staaten so der Fall 2 Gautama Buddha/ Kalama Sutta, zitiert nach: Dalai Lama, Tensin Gyatso, der XIV. u.a.: Wege zur universellen Verantwortung. Aus Tushita 2. Nach mündlichen Übermittlungen der Tibetanischen Tradition. Übersetzt von Michael Hellbach. Rheinberg, 1981, S. 3. 8 gewesen sein sollte, ist eine Verbesserung der Schülerleistungen nach Einführung weiterer Tests nicht zwangsläufig erwartbar. Der Kollege Heinrich Dauber aus Kassel ist beim Thema Leistungstest deutlich skeptischer, wenn er sagt: „Als Pädagogen, Psychotherapeuten und Meditation Praktizierende ist uns das Privileg geschenkt, auch in unserer Arbeit (und nicht nur in unserem Privatleben) immer wieder über die prägenden Muster nachdenken zu können, die unsere eigene Wahrnehmung, unsere eigenen Werthaltungen und Handlungen bestimmen. Aus meiner Sicht ist damit auch eine Verpflichtung verbunden; nicht andere besserwisserisch zu belehren, aber dafür zu sorgen, dass die damit verbundenen Fragen auch in unseren pädagogischen Institutionen nicht verloren gehen und durch ökonomistische Standards und Effektivitätskontrollen verdrängt werden.“ Dauber wehrt sich dagegen, dass sich die pädagogischen Konsequenzen aus PISA in Deutschland im wesentlichen darauf beschränken, auf allen Alterstufen noch mehr Lernleistungen zu fordern, zu messen und zu vergleichen. Was das ‚Individuum’ ausmacht, das einzigartige Ungeteilte der Person, wird für ihn dann nur noch nach bürokratisch festgelegten Standards in sog. Kompetenzbereiche aufgeteilt und skaliert. Er hält dies für eine einseitige Sichtweise in der Erziehungswissenschaft und fordert dazu auf, Achtsamkeit, meditative Selbstreflexion stärker zu gewichten. Dauber (2007) zögert allerdings, eine Achtsamkeitspädagogik zu entwerfen, die als ein Gegenentwurf zu der von ihm kritisierten und auf ökonomische Kriterien und Effektivitätskontrollen hin ausgerichtet Pädagogik gelesen werden könnte; denn die Erfahrungen mit sogenannten „neuen Pädagogiken“ sind einfach zu deprimierend, als dass ein neues, buddhistisch inspiriertes Training von Achtsamkeit als eine neue Pädagogik gelten kann. Dies war bereits das Missverständnis von Claudia Braun (1985), die in ihrer Arbeit die buddhistische Lehre allzu kühn auf pädagogische Prozesse im Kindheits- und Jugendalter hin auslegte. Das buddhistische Verständnis ist in ihrer Arbeit nach meiner Einschätzung durchaus gegeben, allerdings beschränkt sich diese Arbeit in erziehungswissenschaftlicher Hinsicht auf eine „naive Weltanschauungspädagogik“ (Keuffer 1991). Würde der tibetische Buddhismus oder eine andere Variante des Buddhismus als neue Pädagogik angeboten werden – und seien es auch nur einzelne Bestandteile daraus – so würden sofort die teils hierarchischen, teils patriarchalischen Strukturen in Frage gestellt werden, die mit den pädagogisch bedeutsamen Kategorien von Partizipationskompetenz oder Urteilskompetenz nicht vereinbar sind. Deutlich wird an den Argumentationsweisen von Wössmann (2007) und Dauber (2007), dass Erziehung und Bildung jeweils durch spezifische Vorerfahrungen, Interessen und Normen bestimmt wird. Diese sind im nationalen Rahmen bereits ausgesprochen different und schwer erfassbar, im internationalen und interkulturellen Austausch wird die Sachlage noch schwieriger. Die Erziehungswissenschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr dahin bewegt, den normativen Anteil in der Theorie so weit wie möglich zu eliminieren. In wissenschaftlicher Hinsicht ist dieses Verfahren durchaus erfolgreich, allerdings ist damit zugleich ein Dilemma verbunden; denn in wissenschaftstheoretischer Hinsicht mag es sinnvoll sein, präskriptive oder normative Anteile aus der Forschung zu entfernen, wie das etwas die empirische Psychologie oder die Soziologie tun. Der Preis ist allerdings für die 9 Erziehungswissenschaft dann zu hoch, wenn sie darüber ihren Gegenstand, die Erziehungspraxis, verliert. Dies gilt insbesondere dann, wenn Erziehungswissenschaft keine Aussagen mehr darüber formuliert, was man in der Erziehung besser oder schlechter machen kann. Es droht der Bezugspunkt verloren zu gehen. Und genau diese Unbestimmtheit ist ein zentrales Problem der gegenwärtigen Erziehungswissenschaft. Man hat der Erziehung früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte gerade im deutschsprachigen Raum immer wieder vorgeworfen, dass sie zu staatstragend sei oder dass mit ihr nur die herrschenden Normen durchgesetzt werden sollen. Die Freiheit des Individuums und die Entfaltung der Persönlichkeit sei hingegen zu wenig beachtet worden. Wenn man an die Rohrstockpädagogik denkt, ist das auch richtig. Heute allerdings ist in der pädagogischen Praxis vielfach eine Orientierungslosigkeit festzustellen. Dies hat auch mit einer empirischen Erziehungswissenschaft zu tun, die keine Maßstäbe mehr kennt, weil sie Normen und Maßstäbe aus der Forschung weitgehend eliminiert hat. Darauf hat Hartmut von Hentig in seinen Schriften immer wieder hingewiesen. Ich kann in diesem Vortrag theoretisch nicht tiefer in die Materie eindringen, ich muss es bei diesen wenigen Andeutungen zur Theorie der Erziehung belassen. Ich komme somit zu grundlegenden Gedanken des Buddhismus aus einer interkulturellen Perspektive. Alter, Krankheit und Tod sind zentrale Erfahrungen im Leben des Menschen. Im Buddhismus sind es sogar die entscheidenden Prüfpunkte des Lebens. Dem Leiden lässt sich nur entgehen, so die These Buddhas, wenn der Geist gezähmt wird. Dabei ist Zähmung des Geistes mehr als wir für gewöhnlich unter Erziehung und Bildung verstehen. Aus buddhistischer Sicht ist es das höchste aller Ziele, die Buddhaschaft zu erreichen. Um Leben sinnvoll werden zu lassen, ist es wichtig, Alter, Krankheit und Tod als Bestandteil des Lebens zu akzeptieren. Die Vollendung führt dann – so die buddhistische Lehrmeinung – zur Beendigung des Kreislaufs von Geburt, Alter, Krankheit und Tod. Das tibetische Lebensrad ist dank seiner bildlichen Darstellungskraft auch in volkstümlicher Weise verstanden worden. Es repräsentiert eine grundlegende Formel, die zentrale Sätze der buddhistischen Lehre zu visualisieren versucht. In Tibet soll das Lebensrad in jeweils unterschiedlicher künstlerischer Ausgestaltung im Eingangsbereich fast aller Tempel vorhanden gewesen sein. Ich spreche hier im Zentrum für Buddhismuskunde, deshalb werde ich mich vor weit gehenden Interpretation hüten, sie werden das allemal besser können. In der Mitte Lebensrades sehen Sie die Nabe, sie enthält einer Darstellung der Ursachen des Leidens: Hahn, Schlange und Eber symbolisieren diese Ursache des Leidens: Gier, Hass und Unwissenheit. Die sechs Wiedergeburtsbereiche finden sich im mittleren Kreis: oben Götter, oben links Asuras oder eifersüchtige Götter, rechts Menschen, links unten Tiere, unten rechts Pretas oder hungrigen Geister, unten Höllenwesen. Der äußere Kreis des Lebensrades enthält die Formel des ABHÄNGIGEN ENTSTEHENS: 1) Blindes Weib .Unwissenheit. (avidya) 2) Töpfer .karmische Bildekräfte. (samskara) 3) Affe "Bewußtsein" (vijnana) 4) Zwei Menschen in einem Boot "Geistkörperlich}eit (nama-rupa) 10 5) Haus mit sechs Fenstern "Sechs Sinne" (sadayatana) 6) Liebespaar "Berührung" (sparsa) 7) Pfeil, der das Auge eines Mannes durchbohrt .Empfindung., .Gefühl.(vedana) 8) Trinker, der von einer Frau bedient wird "Begierde>, "Durst" (trsna) 9) Mann, der Früchte sammelt "Haften" (upadana) 10) Geschlechtsverkehr "Werden. (bhava) 11) Gebärende Frau "Geburt" (jati) 12) Mann, der einen Leichnam auf dem Rücken trägt "Tod" (marana) (Zur Interpretation vgl. Keuffer 1991, S. 174 ff.) Pädagogisch gesehen, weisen die drei Kreise auf das selbstverantwortete Handeln des Individuums. Für die Daseinsfaktoren und das abhängige Entstehen gilt die erzieherische Bewältigung. Die Erziehung kann letztlich nur Aufklärung des Individuums über sich selbst sein und ist somit im wesentlichen Selbsterziehung und Selbsterkenntnis durch fortgesetzte Übung. Die Rolle des Buddha als Lehrer besteht im Hinweis auf die mögliche Überwindung des Leidens mit Hilfe geeigneter Mittel. Diese Gestaltungstätigkeit (samskara; Tib.: hdu-byed) wird veranschaulicht durch das erste Bild eines Töpfers. So wie der Töpfer die Formen der Töpfe gestaltet, so formt der Mensch seinen Charakter und das Schicksal durch seine Taten. Das Werden führt zur Wiedergeburt (jati; Tib.: skye-ba) in einem neuen Leben. Das elfte Bild zeigt demgemäß eine gebärende Frau. Das zwölfte Bild stellt einen Mann dar, der einen Toten (nach tibetischem Brauch in hockender Stellung in Tücher gewickelt) auf seinem Rücken zur Leichenstätte trägt und illustriert das letzte der zwölf Glieder der Formel des "abhängigen Entstehens. (pratstyasamutpdda), das besagt, dass alles Geborenwerden zu Alter und Tod (Jara-marana, Tib.: rgas-si) führt. Der Lebenskreis schließt sich, Geburt und Tod gehören in dieser Darstellung zusammen. Das Lebensrad ist Ausdruck philosophischer, religiöser und weltanschaulicher Experimente im asiatischen Raum. Das Lebensrad ist in kreisförmiges Denken eingebunden. Das Lebensrad ist mit der Philosophie des nicht-Selbst (Sanskrit: anatta) verbunden und geht von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aus. Im Alter kann man jung sein, in der Jugend bereits sehr alt. Alles ist eine Frage der Perspektive. Und auch der Anfang und das Ende sind nicht getrennt, sie gehören zusammen. Die Wiedergeburt bestimmt hier die Vorstellung von einer neuen Chance in einem neuen Leben. 4 4.1 Lernen und Meditation Lernen Leben heißt Lernen. Und wir lernen über Erfahrung. Lernen ist ein Grundbegriff der Pädagogik und wie alle Grundbegriffe – zumal wenn sie in der Alltagssprache vorkommen – vieldeutig. Einen Überblick über die Begriffsentwicklung und die theoretischen und empirischen Bestimmungen zu geben ist selbst für Spezialisten ziemlich schwierig. Ich begnüge mich heute mit einer einfachen Definition von Alfred K. Teml: 11 „Unter Lernen verstehen wir alle nicht direkt zu beobachtenden Vorgänge in einem Organismus, vor allem in seinem zentralen Nervensystem (Gehirn), die durch Erfahrung (aber nicht durch Reifung, Ermüdung, Drogen o.ä.) bedingt sind und eine relativ dauerhafte Veränderung bzw. Erweiterung des Verhaltensrepertoires zur Folge haben. Mit anderen Worten: Lernen ist eine erfahrungsbedingte Veränderung der Möglichkeit eines lebenden Systems, in einer Umwelt einen Zustand einnehmen zu können.“ (Treml 2000, S. 97). Veränderung ist der generelle Indikator für Lernen in allen Lerntheorien. Dabei kann Veränderung Erlernen oder Verlernen bzw. Anpassung oder Fehlanpassung bedeuten. Erfahrungen, auf die sich das Lernen bezieht, sind an Wahrnehmungen und Informationen aus der Umwelt und an deren Verarbeitung durch das Individuum gebunden. Lernen als Prozess der Erfahrungsbildung in der Auseinandersetzung mit der Umwelt bezieht sich auf Kognitionen, Emotionen und Verhalten. Hierzu gehören z.B. auch die Entstehung und Veränderung von Ängsten, Einstellungen, Fähigkeiten zum Problemlösen und Sprachkompetenzen. Die verschiedenen Lerntheorien unterscheiden sich in der Beschreibung und Erklärung der Bedingungen und Faktoren, unter denen Veränderungen und Erfahrungen möglich werden. 4.2 Meditation Meditation ist eine spezifische Form des Lernens. Dabei möchte auf einen Ausschnitt aus meiner Arbeit zurückgreifen: „In der tibetisch-buddhistischen Kulturtradition haben Meditation und Kontemplation den höchsten Stellenwert innerhalb dessen eingenommen, was in der deutschen Sprache als Bildung bezeichnet wird. Die größtmögliche Verwirklichung der Leere (Shunyata) repräsentiert den höchsten Grad an Bildsamkeit im historischen Tibet. Der gelehrte buddhistische Mönch oder der unkonventionelle tantrische Yogi waren die anerkannten und sichtbaren Ausdrucksformen ‚gebildeter Menschen’.“ (Keuffer 1991, 246). In Abgrenzung zu Kritikern transrationaler Erkenntnisbemühungen sehe ich im interkulturellen Austauschprozess mit asiatischen Kulturen ein kritisches Potential angelegt, das Aufklärung über eigene Begrenzungen leisten kann. Meditation und kontemplative Disziplinen sind auch aus europäischer Sicht bildend. Die Praxis der Meditation ist aus meiner Sicht Bildung. Was aber genau ist Meditation? Es gibt inzwischen viele Bücher. Sehr bekannt geworden ist das ´Tibetische Totenbuch, das in verschieden Interpretationen und Ausgaben erschienen ist. Ich möchte Ihnen jedoch keine komplexe Darlegung von Meditation präsentieren, vielmehr zitiere ich eine kurze Passagen aus dem Artikel, den der Dailai Lama in DIE ZEIT veröffentlicht hat: „Immer wieder wird Meditation als ein Leerwerden des Geistes aufgefasst oder als eine Entspannungstechnik, doch darum geht es mir hier nicht. Die Praxis des Gom führt zu keinen mysteriösen oder gar mystischen Zuständen, die nur wenigen talentierten Einzelpersonen vorbehalten wären. Es geht dabei auch nicht um Nichtdenken oder die Abwesenheit mentaler Aktivität. Gom bezeichnet beides: ein Mittel oder einen Prozess sowie einen Zustand, der aus diesem Prozess entstehen kann. Im Zusammenhang unserer Betrachtungen möchte ich Gom vor allem als Mittel 12 beschreiben, als einen Prozess der präzisen, konzentrierten und disziplinierten Introspektion und Achtsamkeit, der uns tief in die Natur eines Gegenstandes der Betrachtung vordringen lässt. (Dalai Lama, in: DIE ZEIT 38/2005). Meditation ist in aus dieser Perspektive Achtsamkeit und Introspektion. Ich habe diese als einen Prozess verstanden, der zur Freiheit in den Köpfen beitragen kann. Solidarität bedeutet Widerstand gegen Herrschaft. Herrschaft entsteht aber nicht nur innerhalb gesellschaftlicher Strukturen, sondern ebenso in den Köpfen der Individuen selbst. Meditation kann zur Schaffung eines herrschaftsfreien Raums in den Köpfen, den Körpern und den Gedankenströmen der Meditierenden beitragen, indem sie in verstärkter Achtsamkeit den Prozess zur Nicht-Identifizierung mit den Daten der Wahrnehmung überhaupt erst ermöglicht. Paetow (2004) hat dieses Verständnis noch erweitert: „So sieht Keuffer eine möglich bildungstheoretische Komplementarität von emanzipatorischen Prozessen, die auf Erkenntniserweiterung über gesellschaftliche und individuelle psychologische Macht- und Herrschaftsstrukturen ausgerichtet sind. Mit Keuffer gehe ich davon aus, dass die Meditation und die daraus gewonnene Erkenntnis der Ich-Losigkeit auch in unserem Kulturkreis das Verständnis für „Selbstkonzepte, Ich-Entwicklung und Grundstrukturen des Bewusstseins“ erweitern könnte.“ (Paetow 2004). Eine Erziehung, die sich von buddhistischer Denkweise inspirieren lässt (vgl. Geshe Thubten Ngawang 1993), hat keinen fixen Endpunkt und gründet sich in einer universellen Beförderung von ‚inherent goodness’ und Nicht-Selbst (anatta). Zielorientierung und Spezifizierung wären dann nicht die Maximen von Lehren und Lernen. Das Erkennen der eigenen Orientierungsmuster, ihre Durchdringung und Veränderung auf der Basis von ‚Achtsamkeit’ und ‚Gewahrsein’ kann nur eine Selbsterziehung sein, die den einzelnen Menschen zu einer unmittelbaren Beziehung zur Wirklichkeit führt. Der Prozess ist nicht immer angenehm, da dabei alte Verhaltensweisen als nicht mehr angemessen erkannt werden können und daraus Veränderungen resultieren, die Ängste und Unsicherheit in Bezug auf die eigene Person mit sich führen. Der Lernprozess ist zunächst ein Verlernen, nämlich ein Loslassen alter Verhaltensmuster und somit ein Prozess von der Gewissheit bisheriger Erkenntnisstrukturen hin zu einer Ungewissheit in der mit ihr verbundenen Offenheit. Dieser Vorgang wird ausgelöst durch die Praxis der Meditation. 5 Gemeinsame Interessen und mögliche Forschungsthemen Achtsamkeit als Lebensform (Belschner) Selbstreflexion im Zentrum pädagogischer Praxis (Dauber) Erziehungsvorstellungen und Erziehungspraxis im interkulturellen Vergleich Berufsverständnis und Berufsausübung von Lehrerinnen und Lehrern, die sich in der Meditation üben Buddhismus und Religionsunterricht Meditation mit Kindern und Jugendlichen Lebenslanges Lernen im Alter 13 Zu erwähnen ist beim Religionsunterricht, dass im Jahr 2003 der erste buddhistische Religionsunterricht in Berlin in Zusammenarbeit mit der „Buddhistischen Gesellschaft Berlin e. V. (BG Berlin)“ und der „Deutschen Buddhistischen Union e. V.“ stattgefunden hat. Dieser Unterricht und der diesem Unterricht zugrunde liegende Rahmenplan scheint eine Grundlage für eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Buddhismus an deutschen Schulen zu liefern; dabei scheint er auch die genannten Kriterien zu erfüllen, insofern er auf eine authentische, bekenntnisorientierte und interkulturell-dialogische Vermittlung ausgerichtet ist. Beschäftigt man sich mit Religion oder speziell mit dem Buddhismus, so geht das zwar auf einer rein akademischen oder philologischen Ebene, allerdings verlangen die Lehren, dass im Studium angewendet werden. Nur so erschließen sie sich. Das geht allerdings nur, wenn man Zeit und Rückzug einplant. Ein wichtiges Experiment ist deshalb das Erlernen von Rückzugskompetenz. Der Umgang mit sich selbst und der mit sich zu verbringenden Zeit ist dabei ein bedeutsamer Faktor für die Weiterentwicklung. Wie der (späte) Erwerb von Rückzugskompetenz konkret aussehen kann, das möchte ich an einem Beispiel skizzieren, das insbesondere in Italien zu einer großen Aufmerksamkeit geführt hat. In seinen beiden letzten Büchern, die in Italien und inzwischen auch in Deutschland zu Bestsellern geworden sind, fasst Tiziano Terzani die Summe seiner Erfahrungen zusammen. Terzani, 1938 in Florenz geboren, war von 1972 bis 1997 Korrespondent des Spiegel in Singapur, Hongkong, Peking, Tokio, Bangkok und Neu Dehli. Er schrieb für den Corriere dell Sera, für L`Espresso und La Republica. Nachdem er seine Arbeit als Korrespondent aufgegeben hatte, zog er sich für einige Jahre in den Himalaja zurück und ging bei „seinem Alten“ – wie er ihn nennt – einem tibetischen Einsiedler im Himalaja in die Lehre. Er veröffentlichte anschließend die Bücher: „Noch eine Runde auf dem Karussell – Vom Leben und Sterben“ (Originalausgabe 2004) und anschließend bringt sein Sohn biographische Interviews mit seinem Vater unter dem Titel „Das Ende ist mein Anfang – Ein Vater, ein Sohn und die große Reise des Lebens“ heraus. Es geht in beiden Publikationen über Erfahrungen im Umgang mit Alter, Krankheit und Tod. Insbesondere geht es aber darum, wie durch den Erwerb von Rückzugskompetenz das Leben eine neue, aufregende Bedeutung gewinnen kann. Im Juli 2004 erlag Terzani in Orsigna bei Florenz seiner Krebserkrankung. Den Kampf gegen den Krebs hat er verloren. Er hat jedoch das Abenteuer seines Lebens und das Experiment der letzten Lebensjahre autobiographisch und in bewegender Weise dargestellt. Terzani verbindet in seiner Erzählung Lebensweisheit mit spiritueller Offenheit. In seinem letzten Buch, dem Interview mit seinem Sohn Folco, wird deutlich, dass er am Ende seines Lebens eine Rückzugskompetenz entwickelt hat, die ihn in die Lage versetzt, die für ihn wichtigen Dinge zu tun. Er erfährt eine Freiheit, die er vorher nicht gekannt hat. Er beschreibt sich weder als erleuchtet noch als besonders wissend, jedoch hat ihn die Rückzugskompetenz dazu geführt, dass er ein Loslassen entwickelt hat, das für ihn selbst und auch für seine Umgebung erstaunlich und hoch bedeutsam ist. Der Krankheitsverlauf wird als Lernprozess erfahren. Eine seiner Erkenntnisse: „Denn ich bin immer mehr davon überzeugt, dass es eine typisch westliche Illusion ist, die Zeit für etwas Geradliniges zu halten, für Fortschritt. Nein, die Zeit ist 14 nicht vorwärtsgerichtet. Sie wiederholt sich, sie dreht sich um sich selbst. Die Zeit ist kreisförmig.“ (Terzani 2007, S. 402). Tiziano Terzani beschließt seine Autobiographie mit einem Haiku. Mein Vortrag soll damit enden. Der Schatten des Bambus fegt über die Steinstufen, Doch der Staub bleibt. Der Mond spiegelt sich im Teich, Ohne das Wasser zu berühren. Was heißt das nun alles? Mein kühnes Fazit lautet in Abwandlung eines tibetischen Ausspruchs: Falls Sie glauben, ich hätte etwas Tiefsinniges enthüllt, bitte ich um Verzeihung; falls Sie glauben, das sei alles eine Menge Unsinn, dann haben Sie sich hoffentlich daran erfreut. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 15 Literatur Anderson, Walt (1981): Das offene Geheimnis. Der tibetische Buddhismus als Religion und Psychologie – Eine Einführung aus westlicher Sicht. Bern/München. Bauman, Zygmunt (1996): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Frankfurt am Main. Bechert, Heinz (2000): Die Erneuerung des asiatischen und die Entstehung des abendländischen Buddhismus. In: Bechert, Heinz / Gombrich, Richard: Der Buddhismus. Geschichte und Gegenwart. München, S. 336-360. Belschner, Wilfried (u.a.) (2007): Achtsamkeit als Lebensform. Hamburg. Bertram, H. (1982): Moralische Sozialisation. In: Hurrelmann, Klaus / Ulich, Dieter (Hg.): Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim/Basel, S. 717-744. Berzin, Alexander (2002): Zwischen Freiheit und Unterwerfung. Chancen und Gefahren spiritueller Lehrer-Schüler-Beziehungen. Berlin. Blankertz, Herwig (1982): Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar. Braun, Claudia (1985): Buddhistische Erziehung. Ein Weg der Selbsterziehung des Menschen. Wien. Dalai Lama, Tenzin Gyatso (1981): Zur universellen Verantwortung. In: Wege zur universellen Verantwortung. Aus Tushita 2. Nach mündlichen Übermittlungen der tibetanischen Tradition. Rheinberg, S. 4-14. Dalai Lama, Tenzin Gyatso (1993): Das Auge einer neuen Achtsamkeit. München. Dalai Lama, Tenzin Gyatso (2002): Die Buddhanatur. Tod und Unsterblichkeit im Buddhismus. Grafing. Dalai Lama, Tenzin Gyatso (2005): Mehr Licht im Labor! Das Bewusstsein entzieht sich der objektiven Wissenschaft. Die Meditation kann helfen, das Ich zu erklären. In: DIE ZEIT, Nr. 38/2005. Dauber, Heinrich (2007): Achtsamkeit in der Pädagogik – Zur Dialektik von Selbstverwirklichung und Selbsthingabe. In: Belschner, Wilfried u.a.(Hg.) (2007): Achtsamkeit als Lebensform. Hamburg. Engler, Jack (1988): Therapeutische Ziele in Psychotherapie und Meditation: Entwicklungsstadien der Selbstrepräsentation. In: Ken Wilber, Jack Engler & Daniel P. Brown: Psychologie der Befreiung. Perspektiven einer neuen Entwicklungspsychologie die östliche und die westliche Sicht des menschlichen Reifungsprozesses. Bern/München/Wien, S. 31-66. Geißler, Karlheinz A. (1997): Zeit – „Verweile doch, du bist so schön!“. Weinheim-Berlin, Beltz Quadriga. 3. Auflage. Geshe Thubten Ngawang (1993): Erziehung im Buddhismus. (http://www.tibet.de/tib/tibu/1993/tibu27/27erziehung.html (letzter Aufruf am 5.1.2008). Helsper, Werner (2007): Pädagogisches Handeln in den Antinomien der Moderne. In: Krüger, Heinz-Hermann / Helsper, Werner (Hg.): Einführung in Grundbegriffe und Grundfragen der Erziehungswissenschaft. 7. Auflage, S. 15-34. Keuffer, Josef (1991): Buddhismus und Erziehung. Eine interkulturelle Studie zu Tibet aus erziehungswissenschaftlicher Sicht. Münster und New York: Waxmann. (Dissertatonsschrift: www.keuffer.de). Keupp, Heiner u.a. (1999): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek bei Hamburg. 16 Mall, Ram Adhar/Hülsmann, Heinz (1989): Die drei Geburtsorte der Philosophie. China, Indien, Europa. Bonn. Oelkers, Jürgen (2001): Einführung in die Theorie der Erziehung. Weinheim und Basel. Paetow, Björn-Peter (2004): Nicht-Identität als Bezugspunkt von Bildungsprozessen – Eine interkulturelle Studie zum (Mahayana-) Buddhismus aus erziehungswissenschaftlicher Sicht. Bielefeld. (Dissertationsschrift: http://bieson.ub.unibielefeld.de/volltexte/2005/651/pdf/Paetow _Dissertation_2004. pdf ). Rittelmeyer, Christian (2007): Kindheit in Bedrängnis. Zwischen Kulturindustrie und technokratischer Bildungsreform. Stuttgart. Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main. Schenk-Danziger, L. (1993): Entwicklungspsychologie. Wien, S. 326 ff. Schleiermacher, Friedrich (2000): Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe. Hg. von M. Winkler. Frankfurt am Main, S. 13 ff. Terzani, T. (2005): Noch eine Runde auf dem Karussell. Vom Leben und Sterben. Hamburg. Terzani, T. (2007): Das Ende ist mein Anfang. Ein Vater, ein Sohn und die große Reise des Lebens. München. Tillmann, Klaus-Jürgen (1996): Sozialisationstheorien. Reinbek bei Hamburg. Treml, A. K. (2007): Lernen. In: Krüger, H.-H./Helsper, W. (Hg.): Einführung in Grundbegriffe und Grundfragen der Erziehungswissenschaft. 7. Auflage. Opladen. Wagner, Angelika: Achtsamkeit und die Auflösung von Konflikten – Die Methode der Introvision. In: Belschner u.a. (Hg.) (2007): Achtsamkeit als Lebensform. Hamburg, S. 175-199. Wössmann, Ludger (2007): Letzte Chance für gute Schulen. Gütersloh.