Evolution wohin? - Content

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Rainer C. Schwinges
Evolution wohin?
Die Folgen der darwinschen Theorie
Herausgegeben von
Martina Dubach
Mit Beiträgen von
Reinhold Bernhardt, Monika Betzler, Jan D. Kramers, Christian Kropf,
Christian Leumann, Wolfgang Lienemann, Pascal Mäser, Hansjakob Müller,
Kärin Nickelsen, Ernst Peterhans, Ruth E. Reusser, Virginia Richter,
Jens Schlieter, Hans-Konrad Schmutz, Daniel Schümperli, Ole Seehausen,
Michael Taborsky
Projektleitung: Dr. Martina Dubach
Projektgruppe: Prof. Dr. Beatrice Lanzrein, Prof. Dr. Samuel Leutwyler
Prof. Dr. Virginia Richter, Prof. Dr. Gabriele Rippl
vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich
Evolution wohin?
Als Darwin 1859 sein bahnbrechendes Werk «On the Origin of Species by
Means of Natural Selection» veröffentlichte, kam dessen Wirkung auf
das menschliche Selbstverständnis einer Katastrophe gleich, ähnlich dem
Aufkommen des heliozentrischen Weltbildes von Kopernikus im 16. Jahrhundert. Darwins Theorie war einerseits ein fundamentaler Bruch mit
dem herkömmlichen Weltbild. Andererseits hat Darwin der Gesellschaft
mit diesem Buch einen enormen kulturellen und wissenschaftlichen
Schatz hinterlassen. Mittelpunkt des darwinschen Evolutionsgedanken ist
die Aussage, dass die Entstehung und Veränderung der Arten eng mit
der natürlichen Auswahl gekoppelt ist: Wer besser an seinen Lebensraum
angepasst ist, hat bessere Überlebenschancen, wird mehr Nachkommen
haben und seine Gene häufiger vererben. Evolution durch natürliche
Selektion ist ein Naturgesetz, das nicht nur für die Beschreibung der
Entwicklung von Tieren und Pflanzen essentiell ist, sondern heute einen
zentralen Ausgangspunkt für eine ganze Reihe von wissenschaftlichen
Fragen bietet – von der Molekularbiologie bis zu den Wirtschaftswissenschaften. Die Evolutionstheorie ist für die Biologie ebenso fundamental
wie die klassische Mechanik für die Physik.
Auch wenn Darwin damals einige der Evolution zugrunde liegende Mechanismen, wie z.B. jene der Vererbung, noch nicht kannte, gelten die in
seinem Buch beschriebenen Grundprinzipien heute noch genauso wie vor
150 Jahren. Sie bilden die Basis für die moderne Evolutionsforschung von
der Molekulargenetik über die synthetische Evolutionsbiologie bis hin zur
Populationsgenetik und Verhaltensökologie. Darwins Werk überrascht bis
heute durch die Tiefgründigkeit der Analyse und den grossen Schatz an
gesammelten Daten. «On the Origin of Species» ist wohl einzigartig als es
sowohl eine wissenschaftliche Revolution ausgelöst hat als auch gleichzeitig allgemeinverständlich geschrieben ist. Die erste Ausgabe (1859) war
bereits nach wenigen Wochen ausverkauft. Neuauflagen und Übersetzungen folgten rasch. Bereits 1860 erschien die erste deutsche Ausgabe.
Die Grundideen Darwins scheinen noch immer auf in den aktuellen Debatten über selbstreplizierende Moleküle, Bio- und Gentechnologie,
Altruismus und Kooperation. Auch die Theologie muss sich seit Darwin
mit naturwissenschaftlich-kausalen Theorien zum Ursprung und zur
Entwicklung des Lebens als Gegenvorschlag zum Schöpfungsmythos
auseinandersetzen. Und seit die «Perfektionierung» von Lebewesen
nicht mehr nur Science Fiction ist, sondern in den Bereich des Machbaren
vorstösst, stellen sich auch ethische und juristische Fragen in Bezug auf
die Tier- und Menschenwürde. Damit nicht genug, Darwins Interpretationen haben auch in der Literatur deutliche Spuren hinterlassen. Viele
Schriftsteller wurden dazu angeregt, seine Theorie weiterzuspinnen,
abzuwandeln oder im Sinne einer Rückentwicklung sogar umzudrehen.
Die Implikationen von Darwins Theorie für die heutige Zeit waren Grund
genug, dass sich das Forum für Universität und Gesellschaft der Universität Bern entschloss, 2009 eine Reihe von Veranstaltungen zu den Auswirkungen der Evolutionstheorie auf die heutige Wissenschaft und Gesellschaft zu organisieren. Rund um das Darwin-Jubiläumsjahr entstanden
viele Bücher und Artikel, die das Lebenswerk des britischen Naturforschers in allen Facetten ausleuchten. Das Forum wollte diesem Reichtum
nicht einfach eine weitere Würdigung beifügen. So sollten die vier halbtägigen Workshops und eine Vorlesungsreihe in Zusammenarbeit mit
dem Collegium generale der Universität Bern auch weniger die historische Evolutionstheorie nachzeichnen als vielmehr auf die immer noch
ungebrochene Aktualität und Relevanz des darwinschen Konzeptes hinweisen. Das Projekt sollte den verschiedenen Fachbereichen der modernen Evolutionsforschung eine Plattform sein, für ihr Wissen und die sich
daraus entwickelnden neuen Fragestellungen zu sensibilisieren. Der interessierten Öffentlichkeit sollte es Einblicke geben in die vielfältigen Einflüsse einer wissenschaftlichen Theorie auf die Gesellschaft und ihre Entwicklung. So hat das Forum nachgefragt, was von Darwins Theorie
übriggeblieben ist und welche Fragen aktuell im Mittelpunkt des Interesses stehen. Evolutionsbiologen und Philosophinnen, Geologen, Theologen und Mediziner, Juristinnen und Ethikerinnen berichten im vorliegenden Sammelband aus ihrer Forschung und bieten Informationen aus
erster Hand zum modernen Verständnis der Evolutionstheorie und ihrer
Auswirkungen. Die Auslegeordnung führt vom historischen Kontext und
einem kleinen ABC der Evolutionstheorie hin zu Fragen nach der Ersetzbarkeit der Schöpfungsgeschichte durch die Evolutionstheorie oder «Sollen wir der Evolution ins Handwerk pfuschen»? Der vorliegende Band
versammelt die Beiträge dieser Reihe.
Unser Dank geht an alle, die diesen reichhaltigen Zyklus ermöglicht haben: an das Forum, welches die Projektidee unterstützt hat, an die Mitglieder der Begleitgruppe (Professorinnen Beatrice Lanzrein, Virginia
Richter, Gabriele Rippl), die mit viel Engagement und Ausdauer geholfen
haben, das Projekt aus der Taufe zu heben, an die Stiftung Universität
und Gesellschaft, welche die Durchführung der Workshops und der Vorlesungsreihe finanziell ermöglichte, an die Vortragenden, die ihre Referate
in mühevoller Kleinarbeit zu Manuskripten für den Sammelband umgearbeitet haben und auch an die Teilnehmenden aus allen Bereichen der
Gesellschaft, die unsere Arbeit mit ihrem Interesse und mit ihren Fragen
und Kommentaren belohnt haben.
Lassen Sie sich einladen und überraschen von der Vielfalt der Beiträge
und gönnen Sie sich vertiefte Einblicke in die modernen Ergebnisse der
Evolutionsforschung.
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Das Kernproblem der Evolutionstheorie:
Kooperation und Altruismus
MICHAEL TABORSKY
Charles Darwin, der große Wegbereiter der modernen Biologie, erkannte bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts, dass Kooperation
im Tierreich auf naturwissenschaftlicher Basis schwerer zu erklären
ist, als jegliche anderen Verhaltensmerkmale. In seiner Theorie der
natürlichen Selektion, die auf dem Prinzip beruht, dass die Stärksten
und Eigennützigsten sich in der Konkurrenz um Ressourcen durchsetzen und damit in einer Population von Generation zu Generation
an Häufigkeit zunehmen, hatte die Beobachtung von Verzicht und
Hilfeleistung zum alleinigen Vorteil anderer zunächst keinen Platz.
Ja, sie lief Darwin’s Theorie so grundlegend entgegen, dass er diese,
bereits ihm wohlbekannten Phänomene im Tierreich als Stolperstein
für seine Evolutionstheorie ansah. So schrieb er in seinem epochalen
Werk «On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or
the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life» (1859;
Abb. 1), das alsbald zur «Heiligen Schrift» der Biologie werden sollte:
«Natural Selection will never produce in a being anything injurious
to itself, for natural selection acts solely by and for the good of
each» – um dann aber eingestehen zu müssen «I … will confine myself to one special difficulty, which at first appeared to me insuperable, and actually fatal to my whole theory. I allude to the neuters or
sterile females in insect-communities.» Die Bedeutung dieser «besonderen Schwierigkeit» für die Evolutionstheorie durch die Existenz
steriler Kasten bei staatenbildenden Insekten wird vielleicht am
deutlichsten in Darwins Aussage «… this is by far the most serious
special difficulty, which my theory has encountered.»
Was ist nun die «besondere Schwierigkeit», die die Kooperation zwischen Tieren für die Evolutionstheorie darstellt? Um das zu verstehen, sollten wir uns die Grundprinzipien der biologischen Evolution
in Erinnerung rufen. Die Wirkung natürlicher Selektion beruht auf
drei Bausteinen: (1) einem Überangebot an Individuen in einer Population, (2) erblicher Merkmalsvariation zwischen ihnen und (3) dem
Überleben und der Vermehrung der konkurrenzfähigeren Individuen. Wenn ein Individuum nun, zum Vorteil eines anderen, zum Beispiel auf die eigene Fortpflanzung verzichtet, wie dies bei den steri-
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DAS KERNPROBLEM DER EVOLUTIONSTHEORIE: KOOPERATION UND ALTRUISMUS
Abb. 1: Charles Darwin, als er mit seinem Buch
über die Entstehung der Arten die Welt wachrüttelte. Kein anderes Werk hat in der Biologie
eine annähernd grosse Bedeutung wie dieses, mit
dem Darwin seine Erkenntnisse zur natürlichen
Evolution nicht nur als Hypothese formulierte,
sondern auch gleich mit einer Fülle von Ergebnissen seiner sich über Jahrzehnte erstreckenden
Recherchen untermauerte. Nicht zu unrecht wird
seither die Begründung der Evolutionstheorie in
der Bedeutung auf eine Ebene gestellt mit den
Erkenntnissen der Physiker Kopernikus, Newton
und Einstein – bewirkte sie doch eine «kopernikanische Wende» in der Biologie. Von vielen
wird dieses Werk als das bedeutendste wissenschaftliche Buch aller Zeiten gesehen.
len Arbeiterinnen von Bienen und Ameisen der Fall ist, werden die
Merkmale dieses Tieres nicht in die nächste Generation weitergegeben, seine «genetische Fitness» ist also null. Wie kann sich dieser
altruistische Reproduktionsverzicht, bzw. auch das andere, altruistische Hilfeverhalten von Bienen- und Ameisenarbeiterinnen, das nicht
der Förderung eigener Nachkommen dient, von Generation zu Generation aufrecht erhalten? Um diese Frage klären zu können, müssen
wir zunächst wissen, dass Arbeiterinnen und Geschlechtstiere, oder
Königinnen, im Insektenstaat genetisch identisch sind. Das heisst, ob
aus einer weiblichen Larve einst eine Königin oder Arbeiterin wird,
bestimmt nicht ihre genetische Struktur, sondern das Fütterungsverhalten der Arbeiterinnen, die sie aufziehen. Das verschiebt die Frage
um eine Ebene. Es ist also nicht mehr die Frage, warum Arbeiterinnen
auf eigene Fortpflanzung verzichten, sondern warum ihre Ammen
sie durch suboptimale Versorgung dazu bringen, selbst zu sterilen
Ammen zu werden – mit anderen Worten ein Programm abzurufen,
das ihre eigene Fortpflanzung auf Lebenszeit unterdrückt.
Es hat über ein Jahrhundert nach Darwins «Origin» gedauert, bis der
– ebenfalls britische – Biologe William D. Hamilton 1964 mithilfe theoretischer Modelle eine plausible Antwort auf diese Frage fand. Er
wusste nämlich, was Darwin vor der Geburtsstunde der Genetik noch
nicht wissen konnte: dass Schwestern bei den Hautflüglern näher
miteinander verwandt sind, als Mütter mit ihren eigenen Nachkommen. Die Ursache für diese, auf den ersten Blick absurd anmutenden
Verwandtschaftsverhältnisse liegt in der Tatsache, dass Hautflüglermännchen nur einen einfachen Chromosomensatz tragen – also im
Gegensatz zu den meisten anderen mehrzelligen Lebewesen nicht
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MICHAEL TABORSKY
Abb. 2: Charles Darwin, als er zwölf Jahre nach
Erscheinen der «Origin of Species» in seinem
Buch über die Abstammung des Menschen den
Beweis antrat, dass auch der Mensch in der
selben Art und Weise von anderen Lebewesen
abstammt, wie alle anderen Organismen, mit
denen er die Erde teilt. Hier hat Darwin auch die
Theorie der sexuellen Selektion im Detail erläutert und in bezeichnender Konsequenz auch auf
den Menschen angewendet.
diploid, sondern haploid sind. Männchen entwickeln sich nämlich aus
unbefruchteten Eiern. Da Männchen also nur einen Chromosomensatz haben, und nicht zwei, bekommen alle ihre Nachkommen dieselben genetischen Anlagen mit. Wenn nun der Verwandtschaftsgrad
zwischen Schwestern (3/4) höher ist, als zwischen Müttern mit ihren
Töchtern (1/2), kann sich genetisch bedingter Altruismus – also z.B.
der Verzicht auf eigene Nachkommen zugunsten einer Schwester – in
der Population gegenüber eigennützigem Verhalten – also der Produktion eigener Töchter – im Verlauf von Generationen durchsetzen.
Die Auswirkungen dieser «Haplodiploidie» der Hautflügler auf ihr
Verhalten sind weitreichend. Da die Verwandtschaft zwischen den
Geschlechtern asymmetrisch ist, teilen Weibchen mit ihren Söhnen
die Hälfte ihres Genoms, mit ihren Brüdern allerdings nur ein Viertel – das heisst, Weibchen verbreiten genetisch kodierte Merkmale
besser durch die Produktion eigener Söhne, als durch die Förderung
von Brüdern. Damit sollte ein Ameisenweibchen also zwar zugunsten
einer Schwester auf die Produktion eigener Töchter verzichten, aber
eher eigene Söhne produzieren. Verzicht auf eigene Nachkommenschaft zugunsten von Schwestern ist tatsächlich die Regel bei Ameisen und staatenbildenden Bienen, weswegen wir dort von einer
«Königin» (Geschlechtstier) und «Arbeiterinnen» (sterile Brutpflegehelfer) sprechen. Jedoch werden entgegen der aus den Verwandtschaftsverhältnissen abgeleiteten Erwartung auch Männchen in der
Regel von der Königin produziert und nicht von den Arbeiterinnen.
Der Grund hierfür liegt, wie es scheint, in einem Überwachungssystem der Arbeiterinnen, die – obgleich sie selbst Söhne produzieren
sollten, aufgrund der Verwandtschaftsverhältnisse aus der Produktion von Söhnen anderer Arbeiterinnen geringere Fitnessvorteile ziehen würden. Bei verschiedenen Arten fand man, dass Arbeiterinnen
durch gezielten Kannibalismus die Produktion und Aufzucht von
Eiern gegenseitig verhindern.
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DAS KERNPROBLEM DER EVOLUTIONSTHEORIE: KOOPERATION UND ALTRUISMUS
Der Verzicht auf eigene Fortpflanzung zugunsten einer Schwester im
Insektenstaat ist aber nur eine Facette des Altruismus von vielen, die
Spitze des Eisbergs gewissermassen. Die Evolutionsbiologen John
Maynard Smith und Eörs Szathmary (1997) gliederten die evolutive
Entwicklung von einfachen zu komplexen biologischen Strukturen in
sieben aufeinanderfolgende Schritte, die alle durch die Notwendigkeit zu Kooperation und Verzicht (auf eigene Reproduktion) gekennzeichnet sind:
1) Von sich replizierenden Einzelmolekülen zu Molekülgruppen in
Kompartimenten
2) Von unverbundenen Replikatoren zu Chromosomen
3) Von RNS als Gen und Enzym zur Arbeitsteilung zwischen DNS und
Proteinen
4) Von Prokaryoten zu Eukaryoten (zellulären Organismen mit Zellkern und -membran)
5) Von asexuellen Klonen zu Organismen mit geschlechtlicher Fortpflanzung
6) Von Einzellern zu Vielzellern mit Zelldifferenzierung
7) Von Einzelindividuen zu Kolonien und arbeitsteiligen Gruppen
Kooperation – anstatt Konkurrenz – als Prinzip der Evolution? Rufen
wir uns in Erinnerung, was Charles Darwin dazu in seinem Buch The
Descent of Man, and Selection in Relation to Sex (1871; Abb. 2)
schrieb, in dem er zwölf Jahre nach seinem Werk über die Entstehung der Arten die biologischen Wurzeln des Menschen beleuchtete:
•
•
«He who was ready to sacrifice his life … rather than betray his
comrades, would often leave no offspring to inherit his noble nature»
«Therefore it seems scarcely possible … that the number of men
gifted with such virtues … could be increased through natural selection, that is, by the survival of the fittest»
Wie kann man also Kooperation und Altruismus bei Mensch und Tier
biologisch erklären, wenn dies dem Prinzip der Evolution durch natürliche Selektion so diametral entgegenläuft? Eine Erklärung haben wir
oben schon kennengelernt – die Verwandtschaftsverhältnisse. Unterstützung von Verwandten ist natürlich nicht nur bei den asymmetrischen Verwandtschaftsverhältnissen von Hautflüglern vorteilhaft.
Schliesslich ist die Verwandtschaft bei diploiden Organismen zwischen
Eltern und Kindern gleich hoch, wie zwischen Geschwistern. Dies be-
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MICHAEL TABORSKY
deutet zwar nicht, dass Tiere auf ihre eigene Fortpflanzung zugunsten
der Geschwisterproduktion verzichten sollten, wie für die haplodiploiden Hautflügler erläutert, aber wenn zum Beispiel der eigenen
Fortpflanzung widrige Umweltbedingungen entgegenstehen, kann
die Produktion von Nachkommen in der elterlichen Familie durchaus
genetische Vorteile bringen – also die Verbreitung genetischer Wurzeln von Eigenschaften wie «Geschwisterpflege» befördern. Tatsächlich findet man bei vielen Fischen, Vögeln und Säugern Familiengruppen, in denen Subdominante, die selbst keine Nachkommen erzeugt
haben, bei der Pflege der Nachkommen von Dominanten mithelfen –
und dabei Fitnesskosten auf sich nehmen, wie zum Beispiel verlangsamtes Wachstum. In der Regel sind es nahe Verwandte, wie Geschwister und Halbgeschwister, die diese «Helfer» aufziehen.
Zu den genetischen Vorteilen aus der Verwandtenförderung kommt
noch ein zweiter, wichtiger Effekt, der Kooperation zum funktionstüchtigen Evolutionsprinzip macht: die Steigerung der Effizienz. Der
Erfolg von Handlungen kann gegebenenfalls wesentlich höher sein,
wenn Individuen in Gruppen kooperieren, als wenn sie einzeln agieren (Abb. 3). Besonders deutlich wird dies wiederum bei den staatenbildenden Insekten, wo die Evolution höchster Sozialität oft durch
die Differenzierung von Gruppenmitgliedern charakterisiert ist. Dies
umfasst Spezialisierungen in Verhalten, Morphologie und Physiologie und lässt sich eindrucksvoll mit den Unterschieden in Körperbau
und Grösse zwischen Königinnen, Soldatinnen und Arbeiterinnen bei
Ameisen und Termiten illustrieren (Abb. 4). Diese morphologische
Variation geht einher mit entsprechenden Spezialisierungen im Verhalten – in diesem Fall der Eiproduktion, Verteidigung und Brutpflege im Insektenstaat. Mit dieser Arbeitsteilung sind beispielsweise
Ameisen so effizient, dass sie Staaten mit mehreren Millionen Individuen bilden können, die ganze Landstriche für sich nutzbar machen.
Ein Spiegel dieser Effizienz ist auch, dass die etwa 20.000 Arten von
Ameisen insgesamt geschätzt etwa 15–20% der Biomasse der tierischen Weltbevölkerung ausmachen – sie übertreffen damit auch die
menschliche Biomasse um ein Vielfaches.
Hochsoziale Gruppenbildung und effiziente Kooperation ist aber bei
weitem nicht auf das Insektenreich beschränkt. Bei kooperativ brütenden Wirbeltieren erhöhen Brutpflegehelfer, die in diesem Status
meist keine eigenen Nachkommen produzieren, die Produktivität
der Brutpaare, deren Junge sie aufziehen – und erhöhen durch ihr
altruistisches Verhalten auch noch die Überlebensrate dieser Jungen
(Abb. 5). Dabei nehmen sie aber Fitnesskosten auf sich, wie zum Bei-
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DAS KERNPROBLEM DER EVOLUTIONSTHEORIE: KOOPERATION UND ALTRUISMUS
Abb. 3:
Bei der Heckenbraunelle erhöht
sich die aus einem
Gelege stammende Zahl überlebender Jungen
statistisch signifikant (gekennzeichnet durch
Sternchen zwischen benachbarten Säulen), wenn
die Aufzucht vom
Brutpaar mit
mindestens einem
zusätzlichen
Männchen erfolgt
(«kooperative
Polyandrie»;
Quelle: Davies
1990).
spiel ein erhöhtes Mortalitätsrisiko oder verlangsamtes Wachstum,
die über die Lebenszeit irgendwie kompensiert werden müssen, damit sich ihr genetisch kodiertes, uneigennütziges Verhalten in der
Evolution gegenüber egoistischem, nur auf eigene Fortpflanzung
gerichteten Verhalten durchsetzen kann. Die Aufzucht von Verwandten und die damit verbundene Verbreitung genetischer Merkmale
durch Verwandtenselektion ist dabei nicht die einzige Möglichkeit.
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MICHAEL TABORSKY
Abb. 4: Extreme Beispiele morphologischer Differenzierung bei staatenbildenden Insekten, die
von entsprechender Spezialisierung im Verhalten begleitet sind: eine Ameisenarbeiterin auf dem
Kopf einer Soldatin der gleichen Art (links) sowie eine Termitenkönigin im Kreise ihres «Gefolges». Von der Königin ist vor allem der aufgeblähte Hinterleib zu sehen, der zur Eierproduktionsmaschine umgewandelt wurde. Auf der tausende von Eiern umhüllenden Membran sind noch die
Kutikulaplatten der Segmente des Hinterleibs als kleine, dunkle Querstriche zu erkennen.
Dies wird klar, wenn wir uns die von William Hamilton postulierte,
bestechend einfache Formulierung der Voraussetzung für die Evolution altruistischen Verhaltens ansehen:
N/K > 1/r
wobei N für Fitnessnutzen für den Empfänger, K für Fitnesskosten für
den Akteur und r für den Verwandtschaftsgrad zwischen beiden
steht, der, wie erwähnt, zwischen Eltern und Kindern – ebenso wie
zwischen Vollgeschwistern – jeweils ½ ist. Wenn der Verwandtschaftsgrad zwischen Helfern und Hilfsempfängern klein ist, muss also
der Nutzen der Hilfsempfänger steigen – oder die Kosten der Helfer
müssen sinken – damit sich kooperatives Verhalten auf genetischer
Basis evolutiv durchsetzen kann. Dabei sind die erwähnten Nutzen
und Kosten in ihren Auswirkungen auf die genetische Fitness der
Individuen auf ihre gesamte Lebenszeit bezogen, auf die Menge an
Nachkommen oder Verwandten also, die sie im Verlauf ihres Lebens
hervorbringen können. Dies sind natürlich sehr grobe Kategorien, die
bei genauerer Betrachtung so manchen Spielraum ermöglichen.
Wir wollen uns das an einem Beispiel ansehen. Der Buntbarsch aus
dem Tanganjikasee mit dem klingenden Namen «Prinzessin von Burundi» bildet grosse Familiengruppen aus bis zu 30 Fischen, die bei der
Verteidigung und Pflege eines Territoriums sowie bei der Brutpflege
zusammenarbeiten. Dabei werden fast alle Nachkommen vom dominanten Brutpaar erzeugt. Die subdominanten Brutpflegehelfer nehmen für ihre Hilfe hohe Stoffwechselkosten in Kauf, was ihr Wachstum
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DAS KERNPROBLEM DER EVOLUTIONSTHEORIE: KOOPERATION UND ALTRUISMUS
verlangsamt. Vor ihrer Geschlechtsreife, wenn sie also noch klein bzw.
jung sind, pflegen sie dabei oft Geschwister bzw. Halbgeschwister. Je
älter sie werden, steigt aber die Wahrscheinlichkeit, dass bereits ein
oder beide Elternteile durch fremde, unverwandte Tiere aus der Umgebung ausgetauscht wurden – die Zeit, für die man ein Territorium
behaupten kann, ist begrenzt. Da die Helfer bleiben, wenn dies passiert, sinkt mit der Zeit der durchschnittliche Verwandtschaftsgrad von
Helfern und Hilfsempfängern – geschlechtsreife Helfer leisten ihre
Arbeit also oftmals für Nicht-Verwandte. Warum tun sie das? Warum
hat die natürliche Selektion nicht Fische mit eigennützigem Verhalten hervorgebracht, die das heimische Territorium verlassen, sobald
sie fortpflanzungsreif sind, um möglichst rasch möglichst viele eigene Nachkommen zu produzieren?
Abb. 5: Anteil der Jungen des Buntbarsches Neolamprologus pulcher («Prinzessin von Burundi»),
die überlebten, wenn die Hälfte der Brutpflegehelfer aus kooperativ brütenden Gruppen im Feld
experimentell entfernt wurde («Removal»), im Vergleich mit Kontrollgruppen («Control»), bei
denen die Helferzahl unverändert blieb (linke Graphik; dargestellt sind arithmetische Mittel und
Standardfehler, die Unterschiede sind statistisch signifikant). Rechts ist die Zahl der Eier dargestellt, die Weibchen im Labor produzierten, wenn sie grosse (H) oder kleine (HF) Brutpflegehelfer, beide Typen von Helfern (H + HF), oder gar keine Helfer hatten (P only). Die Zahl der Eier,
die Weibchen mit Helfern produzierten, war statistisch signifikant höher als diejenige, die sie
ohne Helfer legten (Mediane und Quartile; Quellen: Brouwer et al. 2005, Taborsky 1984).
119
MICHAEL TABORSKY
Um das besser verstehen zu können, sollte man zweierlei wissen.
Erstens sind Fische mit Erreichen der Geschlechtsreife nicht ausgewachsen, ja sie wachsen in der Regel ein Leben lang – je älter, desto
grösser also. Und zweitens ist die Grösse ein entscheidender Faktor
für die Wahrscheinlichkeit, mit der man einem Räuber zum Opfer
fällt. Je kleiner, desto gefährdeter. Wenn junge bzw. kleine Fische
das Territorium verlassen, um anderswo selbst zu brüten, haben sie
wenig Chancen, die Früchte ihrer Mühe zu ernten – sie werden
schlichtweg von grösseren Raubfischen gefressen. Zu Hause zu bleiben hat also einen Vorteil – es bietet Sicherheit. Man wächst gewissermassen aus dem Grössenbereich heraus, in dem die Überlebenswahrscheinlichkeit aufgrund des Raubdrucks zu gross wäre, um
ausserhalb des von der Gruppe verteidigten Territoriums überleben
zu können – erst dann verlässt man den sicheren Hafen, um eine
eigene Familie zu gründen.
So weit, so verständlich – aber warum pflegen diese Helfer die Nachkommen von Dominanten, mit denen sie nicht verwandt sind, und
wodurch sie langsamer wachsen – womit ihre eigene Fortpflanzungsmöglichkeit also in noch weitere Ferne rückt? Dieser selbstlose Aufwand wird von den dominanten Besitzern des Territoriums eingefordert. Im Territorium ist der Platz nicht unbeschränkt. Vor allem muss
jedes Mitglied der Gruppe in den wenigen Verstecken, die sich im Territorium befinden, bei Gefahr Unterschlupf finden können. Je mehr
Subdominante es gibt, desto mehr Konkurrenz um lebenswichtigen
Platz herrscht in der Gruppe. Damit sie dennoch im Territorium bleiben dürfen, müssen subdominante Gruppenmitglieder die Kosten, die
sie durch Platzkonkurrenz verursachen, durch nützliche Tätigkeiten
kompensieren – zum Beispiel, indem sie helfen, das Territorium zu
verteidigen, Verstecke auszugraben und sie frei von Sand zu halten,
und indem sie die Brut der Dominanten pflegen. Dieser Aufwand wird
bereitwillig geleistet, da Subdominante durch ihren Verbleib im Territorium die Wahrscheinlichkeit enorm erhöhen, so lange zu überleben,
bis sie sich dereinst selbst fortpflanzen können. Sie bezahlen also mit
ihrer Hilfe «Miete», um an einem sicheren Ort bleiben zu dürfen.
Das mag plausibel klingen – aber wie können diese Zusammenhänge
experimentell überprüft werden? Eine solche Prüfung umfasst mehrere Schritte. Zunächst muss man wissen, ob die Anwesenheit von
Subdominanten im Territorium – und vor allem ihre Hilfe – für Dominante tatsächlich von Vorteil ist. Dies haben Experimente in Labor
und Feld bewiesen, wo die Verringerung der Helferzahl in einer deutlichen Reduktion überlebender Nachkommen resultierte – und die
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DAS KERNPROBLEM DER EVOLUTIONSTHEORIE: KOOPERATION UND ALTRUISMUS
Abb. 6: Das Brutmännchen einer Familiengruppe von N. pulcher greift einen
Raubfisch an (Lepidiolamprologus elongatus), der seinen Brutpflegehelfern
(links oben) gefährlich werden könnte. Letztere geniessen durch diese Verteidigungsleistung Schutz im Territorium. Unten im Bild ist das Brutweibchen.
Bruten grösser waren, wenn Helfer an der Pflege mitwirkten (siehe
Abb. 5). Letzteres wird dadurch hervorgerufen, dass Weibchen sich
Arbeitsaufwand ersparen, weshalb sie mehr Energie zur Eiproduktion
übrig haben. Dann sollte man prüfen, ob Helfer tatsächlich im Heimterritorium Schutz geniessen (Abb. 6), und ob die verzögerte Abwanderung ihre Ursache in diesem Schutzbedürfnis hat. Experimente in
grossen Käfigen im Feld, in denen der Raubdruck systematisch variiert
werden konnte, haben gezeigt, dass Brutpflegehelfer ihre Bereitschaft, im Territorium zu bleiben und dort mitzuhelfen, tatsächlich
nach der Höhe des Raubdrucks in der Umgebung richten. Ausserdem
belegten Aquariumsexperimente, dass Gruppenmitglieder bei Anwesenheit ihrer natürlichen Fressfeinde wesentlich höhere Überlebenschancen hatten, als gleichgrosse Fische, die nicht den Schutz eines
dominanten Brutpaars geniessen. Schliesslich sollte man auch den
Nachweis erbringen, dass Subdominante mit ihrer Hilfe tatsächlich für
ihren Verbleib im Territorium bezahlen. Dieser Frage kann man nachgehen, indem man die Information für Dominante und deren Helfer
experimentell entkoppelt. Wenn erstere durch die Darbietung eines
Eindringlings ins Territorium erhöhten Bedarf an Hilfe wahrnehmen,
letztere dies aber aufgrund eines experimentellen Kniffs nicht mitkriegen und deshalb die erwartete Hilfe nicht leisten, wird eine Dis-
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100
defence before
after being
prevented to help
80
defence
121
60
40
20
0
small
large
test helper
Abb. 7: Im Experiment zeigen sowohl kleine als auch grosse Test-Helfer von
N. pulcher nach einer Periode, in der sie am Helfen gehindert wurden, erhöhte Verteidigungsleistungen gegen einen Eindringling ins Territorium
(abgebildet sind Mediane [Querstriche] und Quartile [Säulen]; die Unterschiede zwischen der Verteidigungsleistung vor der Periode, in der sie nicht
halfen, und danach, sind sowohl für kleine als auch grosse Helfer statistisch
gesichert; Quelle: Bergmüller & Taborsky 2005).
krepanz erzeugt zwischen den Erwartungen der Dominanten und
den tatsächlichen Hilfeleistungen der Subdominanten. In diesem Fall
kompensieren derart säumige Helfer bei nachfolgenden Gelegenheiten sofort die (unfreiwillig) versagte Kooperation mit erhöhtem Hilfsaufwand (Abb. 7) – und sie bemühen sich, die Dominanten mit besonders intensivem Submissivverhalten zu beschwichtigen.
Derlei Gegenseitigkeit, wie sie bei diesen Buntbarschen zu finden
ist, ist auch bei anderen Tieren für altruistische Hilfeleistungen verantwortlich. Bei der berühmt-berüchtigten Vampirfledermaus, zum
Beispiel, spenden nicht-verwandte Mitglieder von grossen Gruppen,
die sich an gemeinsamen Schlafplätzen treffen, bei Bedarf Blut von
den Beutetieren, die sie kurz zuvor zur Ader gelassen hatten. Die
Wahrscheinlichkeit, dies zu tun, hängt davon ab, ob sich der bedürftige, potentielle Empfänger vormals schon dem Spender gegenüber
hilfreich erwies. Da diese Tiere, wie die meisten Fledermäuse, sehr
klein sind und damit nur über wenig Reserven verfügen, um nahrungslose Zeiten zu überstehen, kann der Erhalt einer solchen Blutspende für ein Tier, das 2 Tage lang kein Jagdglück hatte, über
Leben und Tod entscheiden (Abb. 8). Stattdessen kann sich ein er-
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DAS KERNPROBLEM DER EVOLUTIONSTHEORIE: KOOPERATION UND ALTRUISMUS
Abb. 8: Bei Vampirfledermäusen verlieren Altruisten (D) relativ wenig durch
ihre Blutspende an hilfsbedürftige Empfänger (R): durch die Menge an Blut
(gemessen in Prozent des Körpergewichts), die sie mittels Regurgitation
abgeben, verringert sich, falls sie in der Zwischenzeit nicht wieder Nahrung
finden, die Zeitspanne bis zum Verhungern nur um einen geringen Betrag.
Für den Empfänger verlängert sich die Frist bis zum Hungertod aber beträchtlich, das heisst, sie gewinnen damit viel Zeit, um selbst wieder erfolgreich Nahrung finden zu können. Der Grund für diese Unterschiede in
Kosten (C) und Nutzen (B) für Geber und Empfänger ist der negativ exponentielle Zeitverlauf der Beziehung zwischen verfügbarer Energie und dem
Mindestbedarf an Reserven, der nötig ist, um am Leben zu bleiben
(Quelle: Wilkinson 1984).
folgreiches Tier, das den Magen noch voll hat, diese milde Gabe gut
leisten. Auch hier zeigt sich also, dass das Nutzen-/Kosten-Verhältnis
für die Hilfsbereitschaft gegenüber nicht-verwandten Artgenossen
entscheidend ist.
Neben Verwandtschaft und Gegenseitigkeit gibt es auch noch die
Möglichkeit, dass Tiere zur Hilfeleistung gezwungen werden – sie
also entgegen ihrer eigenen genetischen Fitnessinteressen kooperieren. In der Interaktion zwischen verschiedenen Arten lässt sich dieses
parasitische Verhalten besonders gut zeigen. Der europäische Kuckuck brütet nicht selber, sondern lässt seine Nachkommen von bestimmten Wirtsarten aufziehen. Letztere verlieren dadurch ihre
eigenen Jungen und können sich damit in der entsprechenden Fortpflanzungssaison oft selbst gar nicht vermehren. Solch zwischenartlicher Altruismus lässt sich dadurch erklären, dass diejenigen Vö-
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MICHAEL TABORSKY
gel, die die Kuckucke aufziehen, ihren Fehler nicht erkennen – Kuckuckseier unterlaufen durch ihre Ähnlichkeit mit den eigenen Eiern
des Wirtes dessen Erkennungsmechanismus. Eine derartige Ausbeutung kann natürlich nur funktionieren, wenn sie nicht allzu häufig
vorkommt – und sie bewirkt einen starken Selektionsdruck darauf,
die notwendige Diskriminierungsfähigkeit zu entwickeln, um solchen Irrtümern nicht aufzusitzen.
Manipulationen ähnlicher Art gibt es natürlich auch zwischen Artgenossen, nur ist sie hier viel schwieriger zu entdecken. Ein Beispiel
haben wir oben bereits kennengelernt: den durch andere Arbeiterinnen erzwungenen Verzicht von Ameisen- und Bienenweibchen,
unbefruchtete Eier zu legen und damit Söhne zu produzieren, mit
denen sie näher verwandt wären, als mit den von der Königin produzierten männlichen Nachkommen. Ein Experiment an Vögeln, bei
dem Keas kooperieren mussten, um an begehrtes Futter zu gelangen,
soll den Mechanismus der «Kooperation durch Manipulation» auf
Verhaltensebene illustrieren. Ein dominanter und ein subdominanter
Vertreter dieser neuseeländischen Bergpapageien wurden in einer
grossen Voliere vor die Aufgabe gestellt, eine Wippe zu betätigen,
damit sich der Deckel über einem Behälter mit begehrtem Eidotter
öffnete. Das heisst, einer musste öffnen, der andere konnte ernten.
Die zwei Vögel wechselten sich nun nicht in ihren Rollen ab, sodass
jeder einmal den Helfer für den anderen spielte, sondern das dominante Tier zwang das subdominante, für es den Öffnungsmechanismus zu betätigen. Der einzige Platz in der ganzen Voliere, wo ein
Subdominanter den Angriffen des Dominanten entkommen konnte,
war der Griff der Wippe, mit dem er dem Dominanten zu seinem
Leckerbissen verhalf (Abb. 9). Wenn die Dominanzverhältnisse experimentell umgedreht wurden, spielte jedes Tier sofort wieder die ihm
zugeteilte Rolle – dominante verhielten sich unkooperativ und despotisch, während subdominante die vom anderen geforderte Hilfeleistung erbrachten.
Diese kurze Betrachtung der Mechanismen, die Kooperation und
Altruismus zwischen Verwandten und nicht-verwandten Tieren auf
biologischer Basis hervorbringen können, zeigt Möglichkeiten auf,
die auf den ersten Blick unverständlich erscheinende Selbstlosigkeit
vor dem Hintergrund der darwinschen Evolutionstheorie zu erklären. Die Existenz von Kooperation und Altruismus im Tierreich stellt
also die Evolutionstheorie nicht in Frage, sondern bietet dem Forscher eine willkommene Herausforderung, die Rahmenbedingungen
und beteiligten Mechanismen aufzuklären, die hinter dem scheinba-
124
DAS KERNPROBLEM DER EVOLUTIONSTHEORIE: KOOPERATION UND ALTRUISMUS
ren Widerspruch stecken – dass plötzlich nicht jeder nach seinem
unmittelbaren (Fitness-)Nutzen agiert, sondern zugunsten von anderen bereit ist, mitunter hohe Kosten auf sich zu nehmen bzw. Verzicht zu leisten.
Abb. 9: Keas wurden mit einer Wippe getestet, die von einem der Vögel betätigt werden musste, damit der andere an einen begehrten Leckerbissen gelangen konnte. Dies führte dazu, dass der jeweils Dominante seinen Versuchspartner zwang, für ihn den Deckel zu öffnen, wenn Futter im Behälter
war – aber nur dann. Die Abbildung zeigt am Beispiel von zwei Versuchen mit
jeweils zwei Männchen, dass die Zahl der aggressiven Annäherungen des
Dominanten an den submissiven Partner wesentlich höher war, wenn der
erstere Futter durch den durchsichtigen Deckel sehen konnte, als wenn der
Behälter leer war. Durch dieses Verhalten zwang der Dominante den Submissiven, den Wippmechanismus für ihn zu betätigen, damit er ans Futter
kam – ein Beispiel für erzwungene Hilfe (gezeigt sind Mediane und Quartile;
die statistisch gesicherten Unterschiede zwischen Test und Kontrolle sind
jeweils durch die entsprechenden Irrtumswahrscheinlichkeiten wiedergegeben (P < 0.001); Quelle: Tebbich et al. 1996).
125
MICHAEL TABORSKY
Literatur
Bergmüller, R./Taborsky, M., 2005: Experimental manipulation of helping in a
cooperative breeder: helpers ‚pay to stay‘ by pre-emptive appeasement. Animal
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181–184.
231
Zur Evolution des Menschen: Von der DNA-Analyse zum Design?
HANSJAKOB MÜLLER
1. Einleitung
Die Vorstellung, dass ein allmächtiger Gott den Menschen einfach so
erschaffen hat, findet man im Christentum und im Islam. Im Gegensatz dazu lässt Darwins naturwissenschaftliche Evolutionstheorie die
Entstehung des Menschen ohne Bezug auf «Übernatürliches» erklären. Die menschliche Evolution macht zudem – wie von vielen angenommen – heute nicht einfach Stopp, weil wir eine Art «Optimum»
erreicht hätten. Sie geht viel mehr weiter; in der Natur gibt es keinen
Stillstand. Die Menschheit wird sich mit und ohne eigenes Zutun
weiterhin verändern. Dabei ist der Homo sapiens wohl die einzige
Spezies, von der wir annehmen, dass sie versuchen könnte, dies auch
nach eigenen Wünschen zu tun. Dieser Beitrag geht vorerst mit einem Blick zurück und dann mit einem nach vorne auf die Evolution
des Menschen ein. Dabei stehen molekulargenetische und medizinische Aspekte im Vordergrund.
Unser Aussehen, wie auch unser Verhalten werden durch unser Erbgut in einem Wechselspiel mit Umwelteinflüssen bestimmt. Die genetische Forschung ist daran, den molekularen Aufbau unseres Genoms
sowie die Funktion und die Wechselwirkungen seiner einzelnen Elemente zu entschlüsseln. Dies ist eine Grundvoraussetzung, um einmal
gezielt in dieses eingreifen zu können. Design bedeutet ja, dass wir
unsere Natur nach eigenem Gutdünken gestalten möchten. Dabei
interessieren in unserer Zeit vor allem die «Gesundheit», unser Wohlergehen, das Älterwerden und die Unsterblichkeit.
2. Über das menschliche Erbgut
Unserem körperlichen und geistigen Funktionieren liegt ein genetischer Plan zugrunde. Dieser wird in der Schlüsselsubstanz der Vererbung, also in der DNA (Desoxyribonukleinsäure), gespeichert. Der in
praktisch jeder einzelnen Zelle vorhandene DNA-Faden misst für alle
46 Chromosomen zusammengenommen nahezu 2 Meter. Die einzelnen Abschnitte/Segmente der DNA haben unterschiedliche Aufgaben. Recht gut erforscht sind diejenigen, die die gegen 25’000 Eiweiss-kodierenden Gene repräsentieren. Diese Gene enthalten die
232
ZUR EVOLUTION DES MENSCHEN: VON DER DNA-ANALYSE ZUM DESIGN?
Rezepte, dank denen die Zellen spezifische Eiweisse (Proteine) mit
einer umschriebenen Anzahl und Reihenfolge von Aminosäuren
synthetisieren können.
Die genetische Forschung zeigt immer deutlicher, dass das von Francis
Crick 1958 formulierte Dogma «DNA macht RNA; RNA macht Protein»
in dieser absoluten Formulierung nicht, respektive nur für die obgenannten Gene zutrifft. Die den Einbau von Aminosäuren kodierenden
Sequenzen machen nicht einmal 2 Prozent des gesamten DNA-Fadens
aus. Andere Abschnitte haben andere Funktionen. Das im September
2003 gestartete ENCODE (ENCyclopedia Of DNA Elements)-Projekt hat
zum Ziel, alle funktionellen Elemente des menschlichen Erbgutes sowie alle DNA-Abschriften, also das ganze Transkriptom (alle RNAs), zu
identifizieren und zu charakterisieren. Neben den aus unserem Schulunterricht gut bekannten RNA-Arten (rRNA, mRNA und tRNA) gibt es
noch zahlreiche weitere. Diese dienen unter anderem der Regulierung
der Genexpression (siRNA = small interfering RNA) oder der Regulation zellulärer Prozesse wie Proliferation und Zelltod (microRNA).
Sie sind somit ebenfalls für eine artifizielle Beeinflussung unseres
Erbgutes von Interesse (siehe Abb. 1). Zudem gilt es auch jene DNASequenzen zu beachten, die nicht in RNAs übersetzt werden, die aber
im Verlaufe der Evolution konserviert blieben («conserved non-coding
Abb. 1: Ebenen der therapeutischen Beeinflussung von genetisch (mit-)bedingten Krankheiten
233
HANSJAKOB MÜLLER
sequences»). Letzteres deutet auf eine funktionelle Bedeutung dieser
DNA-Sequenzen hin, die jedoch erst noch erforscht werden muss.
3. Ein Rückblick auf die Evolution des Menschen
Unser Wissen um die Menschwerdung ist immer noch lückenhaft.
Wie schon von Darwin vermutet, lässt sich der Urspung des Menschen dorthin zurückverfolgen, wo unsere nächsten Verwandten, die
Schimpansen und Gorillas, leben, nämlich nach Afrika (Darwin, 1871).
Während sich in Europa die Neandertaler entwickelten, entstanden
dort vor etwa 500’000 bis 200’000 Jahren die Vorfahren des modernen Menschen (Schrenk und Bromage, 2002).
Dass ein multiregionaler Ursprung des Menschen unwahrscheinlich
ist, lässt sich durch die Analyse der DNA untermauern. Sie weist bei
den einzelnen Individuen vererbbare, aber verschiedene durch Mutationen entstandene Varianten auf, die man Snips (= SNPs; «single
nucleotide polymorphisms») nennt. Das Erfassen und der Vergleich
solcher Snips, wie sie bei verschiedenen Populationen vorkommen,
ermöglicht es, eigentliche Zeittafeln («molecular clocks») für Migrationsbewegungen und die Entstehung der verschiedenen Menschenrassen aufzustellen. Die Analyse der Variationen innerhalb der sogenannten mtDNA (mitochondriale DNA), erweist sich dabei als
besonders nützlich (Cann et al., 1987). Die Mitochondrien sind Organellen im Zytoplasma mit einem eigenen Erbgut. Diese werden über
die Eizellen, also nur über die Mütter, von Generation zu Generation
weitergegeben. mtDNA-Sequenzen-Varianten, die aussserhalb Afrikas vorkommen, finden sich auch bei Afrikanerinnen, während dies
umgekehrt nicht der Fall ist. DNA-Varianten des Y-Chromosoms, das
ausschliesslich von den Vätern auf die Söhne weitervererbt wird,
lassen analoge Rückschlüsse über den afrikanischen Ursprung des
Menschen zu (Seielstad et al., 1994).
Der Vergleich des aufgrund von molekulargenetischen Daten erstellten Stammbaums von 42 Populationen mit dem weniger detaillierten, von Linguisten erstellten, ergab erfreulich viele Übereinstimmungen (Cavalli-Sforza et al., 1988). Cavalli-Sforza (1996), der Pionier
der Erforschung genetischer Unterschiede verschiedener Populationen, zeigt diese Zusammenhänge in seinem gut verständlich, geradezu populärwissenschaftlich abgefassten Buch «Genes, Peoples,
Languages» auf.
Die Analyse genetischer Marker von 270 Individuen aus 4 Populationen (Han Chinesen, Japaner, Yarubaner und Nord-Europäer) er-
234
ZUR EVOLUTION DES MENSCHEN: VON DER DNA-ANALYSE ZUM DESIGN?
gab, dass mindestens 7% der menschlichen Gene während der letzten 5’000 Jahren Veränderungen erfahren haben, die meist durch
Anpassungen an eine bestimmte Umwelt zu erklären und nicht auf
Menschenzüchtung, Eugenik oder Gentechnologie zurückzuführen
sind. Cochran und Harpending (2009) kommen daher zum Schluss,
dass der Mensch während der letzten 10’000 Jahren eine viel stärkere Evolution erfahren hat, als dies bei seinen Vorfahren der Fall
war. Der Pool von neuen DNA-Mutationen, den die Evolutionsmechanismen nutzen können, wird beim stetigen Wachstum der Erdbevölkerung immer grösser. Einige Beispiele sollen diesen Sachverhalt illustrieren:
Unsere Hautfarbe wird durch mindestens 3 verschiedene Gene bestimmt, die für die Bildung des Pigments Melanin, dessen Transport
sowie auch seine Einlagerung in Pigmentzellen verantwortlich sind.
Die Hautfarbe ist ein offensichtliches Kriterium zur Unterscheidung
von Menschenrassen. Mutationen, die zur Hellhäutigkeit führen,
haben sich bei Menschen verbreitet (Miller et al., 2007), die in nördlichere Regionen auswanderten wo weniger Sonnenlicht für die Bildung von Vitamin D vorhanden ist. Dunkelhäutige Menschen, die
heute in diesen Breiten leben, haben daher ein erhöhtes Risiko, an
einem Vitamin D-Mangel zu erkranken.
Wir Menschen – wie alle Säuger – ernähren unsere Kinder vorerst mit
Milch. Für deren Verdauung wird im Darm ein Enzym gebildet, das
den Milchzucker, das Disaccharid Laktose, in Glukose und Galaktose
spaltet. Die Fähigkeit des Galaktose-Verdaus erlischt mit Beendigung
der Kindheit. Bei den Bewohnern Europas, Afrikas und des nahen
Ostens, die in den letzten 10’000 Jahren dazu übergegangen sind,
Milch von Kühen, Ziegen oder Kamelen als Nahrungsmittel auch im
Erwachsenenalter zu verwenden, musste eine Anpassung geschehen.
Sie benötigen die Laktose weiterhin. Genetische Varianten derjenigen DNA-Region, die die Produktion des Laktose-spaltenden Enzyms
reguliert, machen dies möglich. Verschiedene Mutationen innerhalb
dieses DNA-Abschnittes haben sich in den obengenannten Populationen ereignet, um den Laktose-Verdau während des ganzen Lebens
zu erhalten (Enattah et al., 2008).
Eine weitere nahrungsbezogene Mutation stellt die Vermehrung des
Gens für die Amylase (AMY1) im Speichel dar, das für die Verdauung
von Stärke benötigt wird. Während der Gorilla nur eine Kopie davon
besitzt, findet man beim Menschen eine Vermehrung der Anzahl
dieses Gens («gene copy number variant»). Diese ist bei Mitgliedern
von Gesellschaften, bei denen Korn und Reis die Hauptnahrungsmit-
235
HANSJAKOB MÜLLER
tel darstellen, grösser als bei solchen, die vom Fischen und der Jagd
leben (Perry et al., 2007).
Die Evolution des Menschen unter Einfluss von Umweltveränderungen wird vor allem am Beispiel seiner Gefährdung durch Krankheitserreger deutlich, denn Resistenz oder Anfälligkeit gegenüber Infektionskrankheiten haben eine klare genetische Basis. Die Evolution
von Mikroorganismen ihrerseits ist gelegentlich so schnell, dass wir
sie unmittelbar im Verlaufe unseres eigenen Lebens erkennen können, wie es das AIDS verursachende HI-Virus, das Schweinegrippevirus H1N1 oder auch Antibiotikaresistenzen illustrieren. Unser komplexes, genetisch determiniertes immunologisches Abwehrsystem
muss jeweils Anpassungen vornehmen, um neuen Krankheitserregern erfolgreich begegnen zu können.
Die Evolution des Menschen geht offensichtlich auch Kompromisse
ein. Dies illustriert der sogenannte Heterozygotenvorteil für die
Sichelzellanämie in Afrika oder für die β−Thalassämien im Mittelmeerraum. Es handelt sich um schwere autosomal-rezessiv vererbte
Anomalien des Hämoglobins (roter Blutfarbstoff). Sie sind auf Mutationen der Gene für das Hämoglobin zurückzuführen (Müller, 2005).
Menschen, die von beiden Eltern ein mutiertes (defektes) Gen erben, sind schwer krank. Diejenigen, die nur von einem Teil ein solches erhalten, also die Heterozygoten, sind gesund und zudem vom
Malariaerreger, Plasmodium falciparum, besser geschützt, als diejenigen mit zwei normalen Genen. Der Malariaverursacher kann sich
bei den Heterozygoten weniger gut vermehren. Dieser Umstand hat
dazu geführt, dass sich die mutierten, krankheitsverursachenden
Hämoglobin-Gene in den obgenannten Regionen stark vermehrten,
als dort die Malaria grassierte; deren heterozygote Träger hatten
einen Überlebens- und damit Fortpflanzungsvorteil. Als Grund für
das häufige Vorkommen verschiedener autosomal-rezessiv vererbter
Krankheiten, wie die zystische Fibrose, wird ein solcher Heterozygotenvorteil postuliert, der in Zeiten wirkte, als bei uns die Cholera
oder andere zu Durchfall führende Infektionskrankheiten wüteten.
Die obgenannten Beispiele führen uns zur Frage nach den Kräften,
die die Evolution des Menschen bisher bestimmten.
4. Welche Kräfte beeinflussen die Evolution des Menschen?
Darwin baute seine Evolutionstheorie auf dem Konzept der natürlichen Selektion («Survival of the Fittest») auf: Merkmale, die es einem
Individuum erlauben, mehr Nachkommen zu produzieren, breiten
236
ZUR EVOLUTION DES MENSCHEN: VON DER DNA-ANALYSE ZUM DESIGN?
sich über Generationen hinweg aus. Im Kampf mit den begrenzten
Ressourcen in der Umwelt («in the strugle of life») setzen sich diejenigen und deren Nachkommen durch, die besser angepasst sind.
Darwins Evolutionstheorie wies jedoch eine beachtliche Lücke auf. Er
konnte noch nicht erklären, auf welche Weise Körpermerkmale von
Generation zu Generation weitergegeben werden und worauf deren
Variationen beruhen. Es fehlte ihm dazu die solche Zusammenhänge
erklärende Vererbungslehre. Die 1865 erfolgte Veröffentlichung der
Entdeckungen des Augustinerpaters Gregor Mendel über die Vererbung von Merkmalen bei Pflanzen hatte während Darwins Zeit vorerst noch keine Beachtung gefunden.
Mendel erfasste aufgrund der mit mathematischem Verstand ausgewerteten Ergebnisse aus Kreuzungsexperimenten mit Erbsen die
Existenz der Gene. Die von ihm abgeleiteten Vererbungsgesetze ermöglichen es, verlässlich voraussagen, in welchem Verhältnis Merkmale bei Nachkommen wieder auftreten. Zudem kam er den Mutationen, den vererbbaren Veränderungen im genetischen Bauplan,
auf die Spur, die dazu führen, dass von einem Gen verschiedene Varianten, sogenannte Allele, vorliegen, die unterschiedliche Auswirkungen auf das Erscheinungsbild, den Phänotyp, haben können.
Ronald A. Fisher (1930), John Haldane (1933) und Sewall Wright
(1932) begannen die Evolutionsbiologie mit mathematischen Modellen zu untermauern und begründeten damit die Populationsgenetik.
Evolution basiert auf der Veränderung der genetischen Ausstattung
einer Population. Die Zusammensetzung des Bestandes bestimmter
Allele kann sich dabei in einer kleinen, abgespaltenen Population
durch Zufallsschwankungen viel schneller verändern, als in einer
grossen. Diese zufällige Änderung wird nach Wright «genetic drift»
genannt. Dieser Gendrift spielt bei der Entstehung der Menschenrassen eine grosse Rolle. Er dient auch zur Erklärung, warum gewisse
Krankheitsgene, wie z.B. dasjenige für das Ellis-van Creveld-Syndrom,
bei den «Amish people», einer Abspaltung der Mennoniten-Gemeinschaft in den USA, häufiger vorkommt, als in der europäischen Bevölkerung, aus der sie hervorging.
Die Fähigkeit zur Kooperation erweist sich auch für den Menschen
als weiterer evolutionärer Vorteil, obwohl gerade in Biologie-Lehrbüchern im Gegensatz zu Selektion, Mutation oder Gendrift darauf
kaum eingegangen wird. Wenn ein Individuum z.B. sehr erfolgreich
bei der Nahrungsbeschaffung ist, kann es die Beute mit andern teilen und davon profitieren, wenn einmal die letzteren erfolgreich
sind (Trivers, 1971; Axelrod and Hamilton, 1981). Dies wirkt sich im
Hinblick auf Durchsetzung und Vermehrung günstig aus.
237
HANSJAKOB MÜLLER
Erfolgreiche Kooperationsstrategien zeichnen sich durch Generosität, Hoffnung und Verzeihen aus. Generosität bedeutet, dass man
nicht mehr bekommen will, als der Kontrahent. Hoffungsvoll ist eine
Kooperation, wenn sie schon bei der ersten Aktion oder beim Fehlen
von Informationen stattfindet. Verzeihen beinhaltet die Kooperation
dann, wenn sich schon einmal ein Nachteil ergeben hat. Die Kooperationsfähigkeit dürfte eine Erklärung dafür sein, warum einzelne
Religionsgemeinschaften Überlebens- und Reproduktionsvorteile
haben. Mathematische Modelle erlauben heute die Analyse derartig
grundlegender Aspekte menschlichen Verhaltens und die Erfassung
deren evolutionären Bedeutung (Nowak, 2009). Die menschliche
Kooperationsfähigkeit gilt als Erfolgsgeheimnis in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und allen sozialen Institutionen.
5. Heutige Kultur als Evolutionsfaktor
Im Gegensatz zu unseren Vorfahren, die sich in der freien Natur
behaupten mussten, leben wir heute in einer durch Zivilisation und
Technik geprägten Umwelt, in der man sich vor allem auch sozial
behaupten muss. Sie entspricht nicht mehr derjenigen, in der sich
unsere Vorfahren entwickelt haben.
Die Gefährdung unseres Erbgutes durch Strahlung und Umweltschadstoffe nimmt zu. Das Reproduktionsalter steigt stetig an. Es ist
allgemein bekannt, dass mit der Zunahme des mütterlichen Alters
bei den Kindern numerische Chromosomenstörungen, wie sie zum
Down-Syndrom (Trisomie 21) führen, zunehmen (Müller, 2005). Am
Beispiel mehrerer Erbkrankheiten wie Achondroplasie, Marfan- oder
Apert-Syndrom konnte abgeleitet werden, dass die Genmutationsrate mit zunehmendem Alter des Vaters ansteigt, was mit der Zahl der
Zellteilungen der Spermatogonien, respektive der jeweils vorangehenden DNA-Replikation zusammenhängt.
Die Medizin und die Familienplanung beeinflussen das Evolutionsgeschehen ebenfalls. Gesundheit und immer mehr einfach nur «Wohlbefinden» stehen in unserer kulturellen Werteskala an oberster Stelle. Die Evolution hat ursprünglich dafür gesorgt, dass unser Körper
Wunden heilen, Infektionen bekämpfen, respektive Krankheitserreger austricksen kann. Symptome wie Schmerz, Fieber, Husten, Erbrechen, Durchfall sind somit körpereigene Warnsignale oder Abwehrmechanismen. Heute werden sie als unangenehme Beschwerden
unterdrückt oder bekämpft. Man vergisst dabei, dass Kranksein auch
nützlich sein kann.
238
ZUR EVOLUTION DES MENSCHEN: VON DER DNA-ANALYSE ZUM DESIGN?
Die Ziele der «klassischen» Medizin lauten: Krankheiten diagnostizieren, therapieren und verhindern. In den letzten Jahren hat sich immer
mehr die «Enhancement-Medizin» ausgebreitet, die sich nicht auf die
Bekämpfung von Krankheit, sondern auf die Veränderung oder Verbesserung nicht-pathologischer Merkmale richtet. Deren Kunden
wollen bessere körperliche (Sport) oder geistige (Schule) Leistungen
erbringen können, respektive «schöner» sein oder älter werden.
Während früher die natürliche Selektion einen Grossteil der krankheitsbegünstigenden Veranlagungen ausmerzte, können sich heute
dank medizinischer Massnahmen deren Träger fortpflanzen. Genetisch mitbedingte Herzfehler werden früh im Leben korrigiert; die
Betroffenen erreichen das fortpflanzungsfähige Alter. Solche Einflüsse der Medizin fördern evolutionäre Veränderungen, die die
Menschheit nicht fitter machen, ganz im Gegenteil. Man spricht von
«reverser Evolution». Die Familienplanung und die Schwangerschaftsüberwachung mittels Ultraschall und Markern im mütterlichen Blut
führen ihrerseits zu einer medizinisch gesteuerten, unnatürlichen
Selektion.
Ethnische und soziale Barrieren fallen. Die heutigen Verkehrsmittel
erleichtern die Migration. Dies führt zu einer verstärkten Vermischung des menschlichen Erbgutes innerhalb der ganzen Menschheit.
Wir steuern daher auf eine Globalisierung des menschlichen Genoms
zu; dieses weist allerdings eine grosse Diversität (Vielfalt) auf.
Die Auswirkungen solch zivilisatorischer Einwirkungen auf die Zukunft des Menschen sind schwierig einzuschätzen, zumal die sie beeinflussende Technik sich rasch entwickelt.
6. Gentests und deren evolutionären Auswirkungen
Trotz der beachtlichen Erfolge der biomedizinischen Forschung sind
heute erst etwa ein Drittel aller Krankheiten heilbar. Aus dem präziseren Wissen um die Ursachen, auch die genetischen, einer Krankheit
auf molekularer Ebene werden innovative Therapien ableitbar. Jedoch nicht nur die Verursachung einer Krankheit und deren Verlauf
werden durch die Veranlagung mitbestimmt. Erbeigenschaften beeinflussen auch die Aufnahme eines Medikamentes, dessen Transport, Verteilung und Anreicherung im Körper, seine chemische Umwandlung oder dessen Ausscheidung. Je besser man die individuelle
Reaktionsweise auf Arzneimittel bestimmen kann, umso besser kann
man sie auswählen und dosieren. Dadurch wird ein grösserer therapeutischer Nutzen erzielt. Zudem lassen sich unerwünschte oder gar
239
HANSJAKOB MÜLLER
fatale Nebenwirkungen vermeiden (Müller, 2005). Die genetische
Diagnostik gewinnt somit im medizinischen Alltag an praktischer
Bedeutung!
Wir stehen jedoch erst an der Schwelle des biomedizinischen Zeitalters mit mehr sinnvoller, d.h. indizierter genetischer Diagnostik. Von
vielen unserer gegen 25’000 vermuteten Eiweiss-kodierenden Gene
haben wir vorerst nur vage oder keine Kenntnisse; von nicht einmal
200 davon sind die Auswirkungen der einzelnen Mutationen/Varianten auf das menschliche Erscheinungsbild/die Gesundheit genauer
bekannt (www.ncbi.nlm.nih.gov/Omim/mimstats.html). Die funktionelle Bedeutung vieler DNA-Sequenzen kennen wir noch nicht (siehe
oben). Ein genetischer Test sollte daher nur bei klarer Indikation und
eindeutig umsetzbarem Nutzen des Resultates sowie einer umfassenden genetischen Beratung der zu untersuchenden Person vorgenommen werden (Müller, 2009).
Trotz der offensichtlichen Begrenztheit ihrer vorläufigen Aussagekraft hat die molekulargenetische Diagnostik den öffentlichen Markt
erreicht. Seit Ende 2007 bieten immer mehr Privatfirmen genetische
Tests zur Erstellung persönlicher, angeblich gesundheitsrelevanter
Risikoprofile über das Internet an. Obwohl die Testanbieter detaillierte Berichte über ihre Untersuchungen abliefern, bleibt meist offen,
welche Bedeutung die Ergebnisse für die Probanden effektiv haben
und welche Konsequenzen daraus abgeleitet werden sollten. Die
analysierten Personen und die sie betreuende Ärzteschaft werden mit
der Interpretation solcher Resultate überfordert. Dies führt zu unberechtigten Ängsten oder auch zu falscher Sicherheit (Müller, 2009).
Wir alle haben einige «schlechte» Gene, deren krankheitsverursachenden Auswirkungen von der normalen Kopie, die wir vom andern Elternteil geerbt haben, kompensiert werden können. Weil das
Risiko, von miteinander verwandten Eltern ein gleiches mutiertes
Gen zu erben, sehr goss ist, werden inzestuöse Verbindungen in
praktisch allen Kulturen verpönt! Zudem sind wir Träger zahlreicher
weiterer genetischer Eigenschaften, die im Hinblick auf ein Erkrankungsrisiko oder das Altwerden aufgrund von Assoziationsstudien
als ungünstig beurteilt werden. Deren systematische Erfassung könnte einmal unmittelbare Auswirkungen auf die Familienplanung haben, falls derartige Veranlagungen nicht bei Nachkommen vorkommen sollen. Die Entwicklung der genetischen Analytik und der davon
unweigerlich beeinflussten Präimplantationsdiagnostik und pränatalen Diagnostik verdient daher unsere kritische Aufmerksamkeit, weil
sie zu einer Zunahme der Elimination von unerwünschten Nach-
240
ZUR EVOLUTION DES MENSCHEN: VON DER DNA-ANALYSE ZUM DESIGN?
kommen führen könnte. Die Menschen haben die Evolution von
Nutztieren und -pflanzen gesteuert. Warum sollten sie dies nicht
auch auf diesem Wege mit der eigenen versuchen?
7. Gentherapie/Korrektur des menschlichen Erbguts
Es gibt zahlreiche, vorerst oft mehr experimentelle Ansätze, um die
Auswirkungen von monogenen Erbkrankheiten mit biomedizinischen Verfahren zu beeinflussen (siehe Abb. 1). Eingehendere Informationen über die einzelnen Verfahren sind in der einschlägigen
Fachliteratur zu finden. Die meisten Vorgehensweisen könnten
grundsätzlich auch für einen «Design» nicht-krankheitsbezogener
Eigenschaften benutzt werden. Hier wird nur auf den Genersatz,
also die somatische Gentherapie, kurz eingegangen.
Primäres Ziel der somatischen Gentherapie war es, ein fremdes, funktionstüchtiges Gen mit den Verfahren der Gentechnologie in Körperzellen eines Patienten so einzubringen, dass dort der funktionelle
Ausfall eines mutierten Gens kompensiert werden kann. Die erste
Gentherapie wurde am 14. Sept. 1990 bei der damals vierjährigen
Ashanti DaSilva vorgenommen, die an einer seltenen lebensbedrohlichen, genetisch verursachten Immunkrankheit litt. Der bei ihr vorliegende Adenosindeaminase (ADA)-Mangel führt zu einer toxischen
Anreicherung von Metaboliten des Pyrimidinstoffwechsels, was vor
allem die T-Lymphozyten (eine Art der weissen Blutzellen) beeinträchtigt. Dem Mädchen wurden eigene T-Lymphozyten entnommen
und in vitro mit einem funktionstüchtigen ADA-Gen versehen. Die so
gentechnisch ergänzten Zellen erhielt das Mädchen dann fraktionsweise zurück. Dies führte zu einer eindeutigen Verbesserung ihres
Immunsystems; das Leben in einem Sterilzelt war nicht mehr nötig
(Müller, 2001).
Wegen des einfachen Konzeptes, ein fremdes normales Gen in Zellen
eines Patienten als Ersatz für das mutierte oder verloren gegangene
einfach einzusetzen, löste die Gentherapie von Anfang an in Wissenschafts- und Finanzkreisen eine grosse Euphorie aus (RehmannSutter und Müller, 2003). Diese legte sich jedoch bald wieder, als
offensichtlich wurde, dass vorerst beachtliche Forschungsarbeit geleistet werden muss, bevor ein Genersatz oder gar eine Genkorrektur
Anwendung in der medizinischen Praxis finden kann. Das fremde
Gen muss im Wirtsgenom richtig gesteuert werden. Es darf auch
nicht die Funktion anderer Gene beeinträchtigen. Das Potential der
Gentherapie bleibt trotzdem weiterhin gross. Weltweit wurden bis-
241
HANSJAKOB MÜLLER
lang im Rahmen von Forschungsstudien mehr als 6’000 Menschen
mit verschiedenen Gentherapien behandelt.
8. Eugenik/Perfektionierung des Menschen/Design
Die Erscheinung eines Menschen lässt sich durch 3 verschiedene
Massnahmen beeinflussen/verbessern: 1. durch Veränderung der Umgebung (Euthänik), 2. durch Eingriffe in das unmittelbare Erscheinungsbild (Euphänik) sowie 3. durch Veränderungen des Erbgutes
der Keimbahn (Eugenik) (Müller, 2001). Während der Begriff «Eugenik» recht geläufig ist, trifft dies für die beiden anderen weniger zu.
Wie bei allen solchen Rastern gibt es beachtliche Überschneidungen.
Nicht nur Eugenik, auch Euthänik und Euphänik können sich auch
auf die Evolution des Menschen auswirken (Müller, 1993).
Euthänik bezieht sich auf eine Veränderung von ungünstigen Einflüssen der Umgebung, die das Erscheinungsbild einer Person oder
der Gesellschaft beeinflussen, wie z.B. die Reduktion der UV-Strahlung (Hautkrebs) oder des Rauchens (Lungenkrebs und andere Tumorkrankheiten). Verschiedenste euthänische Massnahmen werden
durch die Präventivmedizin, die Pädagogik oder die Psychologie
entwickelt und propagiert!
Unter euphänischen Massnahmen wird die «Verbesserung» der Erscheinung eines Individuums mittels biologischen und medizinischen
Massnahmen verstanden, die unmittelbar an ihm vorgenommen
werden, die jedoch die Zellen der Keimbahn nicht miteinschliessen.
Dazu gehören die somatische Gentherapie, das Neugeborenenscreening für genetisch bedingte Stoffwechselkrankheiten, deren
Manifestation mittels Diät verhindert werden kann, oder die präsymptomatische Diagnostik von Erbkrankheiten und die Anwendung
medizinischer Präventionsverfahren. So lassen sich bei Personen mit
einer nachgewiesenen durchschlagskräftigen Veranlagung für Dickdarm- und Mastdarmkrebs dank regelmässiger Spiegelung dieser
Organe (Kolonoskopie) allfällig auftretende Frühformen des Krebses
(Polypen) frühzeitig erkennen und entfernen, bevor sie in schwer
behandelbare Stadien übergegangen sind. Zur Euphänik gehört
auch die Stammzelltherapie, dank der normale fremde Zellen bei
einer Person den Ausfall oder einen Defekt der eigenen kompensieren sollen.
Sir Francis Galton, der Vetter von Charles Darwin, schuf 1883 den
Begriff «Eugenik», um damit die Hoffnung auszudrücken, unsere
genetische Ausstattung zu verbessern. Er und weitere Ärzte befürch-
242
ZUR EVOLUTION DES MENSCHEN: VON DER DNA-ANALYSE ZUM DESIGN?
teten damals, dass die künftige Existenz des Menschen durch das
Nachlassen der natürlichen Selektion bedroht sei (Sozialdarwinismus). Schädliche Erbanlagen würden daher zunehmen. Daraus leiteten sie nicht nur das Recht, sondern geradezu eine Pflicht zu «eugenischen» Massnahmen ab, die letztlich zur Zwangssterilisierung und
Tötung bestimmter Menschengruppen führte. Der deutsche Arzt
Alfred Ploetz prägte dafür den Begriff «Rassenhygiene» (Müller,
2001). Er verstand darunter dasjenige Teilgebiet der Medizin, das
sich um die «Hygiene» der menschlichen Rasse bemüht, dies im Unterschied zu der damals immer populärer werdenden allgemeinen
Hygiene, die sich um die Gesunderhaltung des einzelnen Individuums kümmert. Politische Eingriffe wurden gefordert, um die eugenischen Konzepte durchzusetzen. Gerade die Geschehnisse in Nazideutschland illustrieren, in welch skandalöse Verirrungen sich
Ärzte und Wissenschafter begeben können, wenn sie sich den jeweiligen Konjunkturen der Politik anpassen.
Menschliche Populationen, in denen sich Mann und Frau zufallsgemäss fortpflanzen, gibt es kaum, denn überall werden Partner mit
bestimmten geistigen und körperlichen Eigenschaften bevorzugt.
Die DNA-Analytik ihrerseits hat heute noch kaum Einfluss auf die
Partnerwahl. Alle Eltern wünschen sich jedoch gesunde, intelligente
Kinder. So könnte es beim raschen Fortschritt der DNA-Analytik zu
einer Ausweitung der vorgeburtlichen Diagnostik auf nicht zu
schwerer Krankheit/Behinderung führende Veranlagungen kommen. Dies würde eine Ausweitung der nicht-natürlichen Selektion
nach sich ziehen (siehe oben). Gentechnische Eingriffe in Zellen der
menschlichen Keimbahn, die das Erbgut von einer Generation auf
die nächste weitertragen, sind vorerst noch nicht zu befürchten.
Medizinische, biologische und besonders ethische Aspekte sprechen
gegen die Anwendung der Keimbahn-Gentherapie beim Menschen
(Müller, 2001). Praktisch alle Gremien, die sich mit dieser Thematik
befassten, kamen daher zum Schluss, dass genetische Eingriffe in
die menschliche Keimbahn gesetzlich verboten werden müssen.
9. Quo vadis Homo futuris?
Die Geschichte ist voll von Phantasmen, wie eine Perfektionierung
des Menschen zu schaffen wäre und welche Ziele sie verfolgen könnte. Denken wir nur an die Superman-, Batman- und FrankensteinMythen. Die Erfahrungen im Umgang mit der Rassenhygiene (siehe
oben) und mit der Veröffentlichung des Buches «Man and his future»
243
HANSJAKOB MÜLLER
durch die CIBA Foundation im Jahre 1963 zeigen, wie gefährlich eine
Vermischung von Wissenschaft und «Prophetentum» sein kann. Beide Versuche einer wissenschaftlich fundierten Prophetie schadeten
zudem dem Image der Genetik enorm. Vorsicht ist daher einem Humangenetiker geboten, wenn er versuchen soll, vorherzusagen, in
welche Richtung die Evolution des Menschen gehen wird und wo
diese allfällig zu steuern wäre.
Nicht wenige Zukunftsforscher nehmen an, dass die Menschheit sich
vor einem radikalen Umbruch befindet. Der Mensch verändert sich
zweifelsohne mit seinen Technologien. Wir werden immer abhängiger von den von uns erfundenen/entwickelten Werkzeugen. Ein
Leben ohne Brillen ist kaum mehr denkbar. Prothesen werden im
ganzen Körper verwendet. Somit ist der Gedanke keineswegs abwegig, dass wir einmal unseren Körper mit Robotern und unser Hirn mit
Computer vernetzen werden. Mit implantierten oder auch extern
angebrachten Hirn-Computer Schnittstellen («Brain-Computer-Interfaces») können Menschen bereits Computerprogramme und -spiele,
Roboter oder Prothesen steuern. Eine Ablösung des heutigen Menschen durch Cyborgs («cybernetic organisms» = Mischwesen aus lebendigem Organismus und Maschine), künstliche Intelligenzen etc.
wäre eine Folge dieser Entwicklung. Die Evolution des Menschen hat
mindestens einen offensichtlichen Vektor: sie wird an Komplexität
zunehmen! So fragen wir uns: Kann unser Hirn mit dem raschen
Zunehmen unseres Wissens und dem Forschritt unserer Technologien
überhaupt noch Schritt halten?
Niemals hat eine einzelne Art einen solchen Einfluss auf das Geschehen auf dieser Erde genommen wie der Mensch: Durch unseren Einfluss ist die Biodiversität gefährdet. Arten sterben heute mit einer
Geschwindigkeit aus, die viel grösser ist als früher, als es noch keinen
menschlichen Einfluss gab (Wilson 2002). Wir provozieren eine Klimakatastrophe und zerstören damit auch unsere Umwelt. Die Weltbevölkerung wächst und wächst bedrohlich. Die Apokalypse droht.
Wie soll es weitergehen? Wird eine neue Art aus uns hervorgehen,
die besser an die Klimaveränderungen oder gar an ein Leben auf
anderen Planeten angepasst sein wird?
Wir sind stolz auf unsere Intelligenz sowie die dank ihr von uns geschaffenen ethischen Werte. Es stellt sich die Frage, wie es um letztere
bei den möglichen künftigen evolutionären Entwicklungen bestellt
sein wird. Wie wird sich eine Gesellschaft mit Cyborgs verhalten? Gibt
es einen Kerngehalt des heutigen Menschen, der einer Veränderung
durch den Menschen entzogen werden müsste?
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