Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg JÖRN LEONHARD Die Nationalisierung des Krieges und der Bellizismus der Nation Die Diskussion um „Volks“- und „Nationalkrieg“ in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten seit den 1860er Jahren Originalbeitrag erschienen in: Christian Jansen (Hrsg.): Der Bürger als Soldat : die Militarisierung europäischer Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert; ein internationaler Vergleich. Essen: Klartext Verl., 2004, S. [83]-105 Christian Jansen (Hg.) Der Bürger als Soldat Die Militarisierung europäischer Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert: ein internationaler Vergleich er Christian Jansen (Hg.) Der Bürger als Soldat Die Militarisierung europäischer Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert: ein internationaler Vergleich 1. Auflage Februar 2004 Lektorat und Satz: draft fachlektorat frieden, Wilhelm Nolte, Hamburg Umschlaggestaltung: Klartext Verlag, Essen Umschlagbild: Kai Münschke – unter Verwendung einer Vorlage aus der Privatsammlung des Herausgebers (ein Mitglied der Frankfurter „Jugendwehr" 1865) Druck: Druckerei Runge, Cloppenburg © Klartext Verlag, Essen 2004 Alle Rechte vorbehalten ISBN 3-89861-299-6 Die Nationalisierung des Krieges und der Bellizismus der Nation: die Diskussion um Volks- und Nationalkrieg in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten seit den 1860er Jahren JÖRN LEONHARD Einleitung: Nationalkrieg und Volkskrieg als Erfahrungskategorien einer bellizistischen Schwellenzeit Für den Schweizer Historiker Jacob Burckhardt stellte der Krieg eine „Völkercrisis" dar, ein „nothwendiges Moment höherer Entwicklung." Im Umgang zwischen den Völkern erweise erst er den jeder Nation eigenen Charakter. Ein Volk lerne „seine volle Nationalkraft nur im Kriege, im vergleichenden Kampf gegen andere Völker kennen, weil sie nur dann vorhanden ist; auf diesem Punct wird es dann suchen müssen, sie festzuhalten." Daher auch reinigten „die Kriege wie Gewitterstürme ... die Atmosphäre, stärken die Nerven, erschüttern die Gemüther, stellen die heroischen Tugenden her, auf welcher ursprünglich die Staaten gegründet gewesen." Burckhardt urteilte im Blick auf die Kabinettskriege des 18. Jahrhunderts und unter dem Eindruck der kurzen Nationalkriege seiner eigenen Gegenwart der 1860er und 1870er Jahre, denen er zwar zugestand, „Theile Einer großen allgemeinen Crisis" zu sein, die aber doch keine „wahre Erneuerung des Lebens" bewirken konnten, denn das „bürgerliche Leben" bleibe dabei letztlich „in seinem Geleise ".1 Vor dem Hintergrund eines sich seit den 1860er und 1870er Jahren verstärkenden bürgerlichen Bellizismus, der zumal in der kleindeutsch-preußischen 1 Jacob Burckhardt, Über das Studium der Geschichte. Der Text der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler, hg. von Peter Ganz, München 1982, S. 343 ff. 84 Jörn Leonhard Historiographie eine wichtige Rolle spielte, war es kein Zufall, dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 von Projektionen gesteigerter nationaler Gemeinschaftsbildung begleitet wurde. 2 Max Weber rückte die kollektive Disposition im Angesicht des Krieges nicht zufällig in die Nähe religiöser Gemeinschaftsbildungen, wenn er betonte, der Krieg als „die realisierte Gewaltandrohung" schaffe in modernen Gesellschaften „ein Pathos und ein Gemeinschaftsgefühl und löst dabei eine Hingabe und bedingungslose Opfergemeinschaft der Kämpfenden [...] als Massenerscheinung aus, welcher die Religionen im allgemeinen nur in Heroengemeinschaften der Brüderlichkeitsethik ähnliches zur Seite zu stellen haben".3 Beide Äußerungen markieren einen Erfahrungsumbruch seit den 1860er Jahren, der den grundlegenden Zusammenhang zwischen Kriegserfahrungen und Konzepten nationaler Vergemeinschaftung sowie die aus dieser Beziehung erwachsenden neuen politisch-gesellschaftlichen Legitimationsvorstellungen reflektierte. Im Schnittpunkt zwischen neuartigen Kriegsdeutungen und veränderten Nationskonzepten standen die zeitgenössischen Deutungsmuster Nationalkrieg und Volkskrieg. 4 Die folgenden Überlegungen fragen zunächst nach dem argumentativen Ursprung beider Konzepte seit dem 18. Jahrhundert. Vor diesem Hintergrund soll in einem zweiten Schritt nach dem Wandel von Kriegswahrnehmungen und Kriegsdeutungen in Deutschland seit den 1850er Jahren gefragt werden. Schließlich wird die Verarbeitung spezifischer Kriegserfahrungen in Deutschland mit dem Stellenwert von Kriegserfahrungen in Großbritannien und den Vereinigten Staaten kontrastiert.' Dabei stehen für Deutschland Deutungspositionen, für Großbritannien und die Vereinigten Staaten primär strukturelle Faktoren im Zentrum, die den ganz unterschiedlichen Stellenwert von National- und Volkskrieg in diesen unterschiedlichen Gesellschaften erklären sollen. 2 Vgl. Jörn Leonhard, Zeitgeschichte als Vorgeschichte des Nationalstaates — Zur retrospektiven und selektiven Teleologie der deutschen Nationalhistoriographie nach 1850, in: Christof Dipper /Brigitte Mazohl-Wallnig /Marco Meriggi (Hg.), Nationalgeschichte als Artefakt. Mystifizierung und Entmystifizierung nationaler Historiographien: Österreich, Italien und Deutschland im Vergleich (erscheint 2004). Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, 1972, S. 548. 3 4 Vgl. zuletzt Herfried Münkler, Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion, 2. Aufl. Weilerswist 2003, S. 53 ff., 75 ff.; vgl. zur deutschen Perspektive Jörg Echternkamp /Sven Oliver Müller (Hg.), Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen, München 2002; Werner Rösener (Hg.), Staat und Krieg. Vom Mittelalter bis zur Moderne, Göttingen 2000; vgl. zur Forschungslage insgesamt Edgar Wolfrum, Krieg und Frieden in der Neuzeit. Vom Westfälischen Frieden bis zum Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003, S. 49 ff., 66 ff., 95 ff. 5 Vgl. zum erfahrungsgeschichtlichen Zugriff Nikolaus Buschmann /Horst Carl, Zugänge zur Erfahrungsgeschichte des Krieges: Forschung, Theorie, Fragestellung, in: dies. (Hg.), Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn 2001, S. 11-26. Volks- und Nationalkrieg in Deutschland, Großbritannien und in den USA 85 Krieg und Nation: Die Demokratisierung des Krieges im Zeichen staatlicher Bedürfnisse und politischer Partizipationsansprüche Der moderne Nationsbegriff war auch eine Kriegsgeburt. So wie der Krieg den Prozess der frühneuzeitlichen Staatsbildung maßgeblich bestimmte, so war er auch für die modernen Nationsbildungsprozesse konstitutiv. 6 Dabei kam dem Bellizismus als Ausdruck militärischer Anstrengungen und militarisierter Deutungsmuster im Namen der Nation im Übergang vom ständischkorporativen zum bürgerlichen Staat zugleich eine emanzipatorische Funktion zu: Denn langfristig griff die Massenkriegsführung immer umfassender auf alle Teilgruppen der Gesellschaft zurück. Indem die Gesellschaft als Nation in Waffen unentbehrlich für die moderne Kriegsführung wurde, erfuhr der Krieg zugleich seine Demokratisierung.' Einerseits dynamisierte diese Entwicklung die neue nationale Legitimation staatlichen Handelns, andererseits provozierte sie neuartige Ansprüche der Staatsbürger auf gleichberechtigte Anerkennung und politisch-soziale Teilhabe an der Nation. Das komplexe Verhältnis von Krieg und Nation entfaltete sich mithin in der Tektonik staatlicher Bedürfnisse und partizipatorischer Ansprüche.8 6 Vgl. Jörn Leonhard, Vom Nationalkrieg zum Kriegsnationalismus –Projektion und Grenze nationaler Integrationsvorstellungen in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten im Ersten Weltkrieg, in: Ulrike v. Hirschhausen /Jöm Leonhard (Hg.), Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, Göttingen 2001, S. 204240, sowie ders., Zivilität und Gewalt. Zivilgesellschaft, Kriegserfahrungen und Nation, in: Dieter Gosewinkel /Sven Reichardt (Hg.), Zivilgesellschaft, Macht und Gewalt. Discussion-Paper des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Berlin (erscheint 2003). 7 Vgl. im Überblick Alan Forrest, The Nation in Arms I: The French Wars, in: Charles Townshend (Hg.), The Oxford History of Modem War, Oxford 2000, S. 55-73; David French, The Nation in Arms II: The Nineteenth Century, in: ebd., S. 74-93, sowie zuletzt Daniel Moran /Arthur Waldron (Hg.), The People in Arms. Military Myth and National Mobilization since the French Revolution, Cambridge 2003. 8 Vgl. Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk: Das Problem des „Militarismus" in Deutschland, 4 Bde., München 1952 ff., sowie Werner Gembruch, Staat und Heer, hg. von Johannes Kunisch, Berlin 1990; vgl. zum vormodernen Kontext Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg als moderner Staatsbildungskrieg, in: GWU 45 (1994)8, S. 487-499; Johannnes Kunisch, (Hg.), Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit, Berlin 1986 sowie ders., Fürst – Gesellschaft – Krieg. Studien zur bellizistischen Disposition des absoluten Fürstenstaates, Köln 1992; zum Verhältnis zwischen Krieg und Nationsbildung vgl. die Beiträge von Ute Frevert / Rudolf Jaun /Hew Strachan / Stig Förster / Dietrich Beyrau im ersten Abschnitt „Militär und Nationsbildung" in Ute Frevert (Hg.), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 17-142, sowie für Deutschland die Beiträge von Georg Schmidt /Horst Carl /Nikolaus Buschmann in: Dieter Langewiesche /Georg Schmidt (Hg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, 5. 33-111. 86 Jörn Leonhard Zugleich ging in die Kriegsdeutung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts der gedankliche Horizont des Bürgerkriegs ein. Der französische Philosoph Abbe Mably sah den Grund für die Eroberungskriege des 18. Jahrhunderts im Despotismus der Regierungen. Einen revolutionären Bürgerkrieg aller Unterdrückten gegen die Unterdrücker begriff er entsprechend als regelrechte Wohltat, als „bien" und legitimierte in diesem Zusammenhang ausdrücklich die „nation militaire". 9 Mit der Französischen Revolution gelangten solche Überlegungen auf eine völlig neue Wirkungsebene, indem der neue Revolutionsbegriff zunächst das Deutungsmuster des Bürgerkrieges aufnahm. Im Fortgang der Revolution trat dann aber das Muster von Nationalismus und zwischenstaatlichem Nationalkrieg immer mehr hervor und überlagerte die Vorstellung eines revolutionären und internationalen Bürgerkrieges der Unterdrückten gegen die Unterdrücker. 1° Damit stand der Nationalkrieg argumentativ zwischen dem tradierten Staatenkrieg der vorrevolutionären Ordnung Alteuropas und dem universalen Bürgerkrieg. Eine andere Ambivalenz trat hinzu: Einerseits wurde der Nationalkrieg des 19. Jahrhunderts noch vielfach nach den Regeln des klassischen Staatenkrieges geführt, auch wenn sich in den Kriegserfahrungen der 1860er Jahre bereits eine tief gehende Transformation von der Entgrenzung des absoluten Krieges bei Clausewitz zum totalen Krieg abzuzeichnen begann. Andererseits entsprach sein Charakter, die identifikatorische Selbstbindung jedes Einzelnen mit der .1s legitim erachteten Sache, eindeutig dem Bedeutungsspektrum des Bürgerkrieges. Dieses neuartige Wechselverhältnis zwischen der Kriegsrechtfertigung im Namen der Nation und den politischen Partizipationsansprüchen ließ sich in den Revolutionskriegen konkret erfahren. Das Prinzip des gewaltsamen Konfliktaustrags nicht mehr allein im Namen einer Dynastie oder eines mit dieser verbundenen abstrakten Staatsinteresses, sondern als ein Gegenstand, der die Überzeugungen und die Identifikation jedes einzelnen unmittelbar berührte, bedingte einen neuen Leitbegriff, der diese Integration zu leisten imstande war. Der Nationalkrieg stand in seiner Bedeutung also dem Bürgerkrieg nahe, unterschied sich aber doch charakteristisch von ihm. Über die erheblichen Konsequenzen eines nicht mehr in der externen, zwischenstaatlichen Sphäre, sondern im gesellschaftlichen Innern eines Staates entstandenen Krieges machte sich Christian Garve bereits 1800 keine Illusionen mehr. Dabei antizipierte er die mögliche Enthemmung und Radikalisierung des Krieges, wie sie sich erst in den Konflikten der 1860er Jahre konkret zeigen 9 Gabriel Bonnot, Abbe de Mably, Des droits et des devoirs du citoyen, Kell 1789, S. 93 f. 10 Vgl. Johannes Kunisch/Herfried M-ünlder (Hg.), Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution. Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, Berlin 1999; siehe auch den Beitrag von Wolfgang Kruse in diesem Band. Volks- und Nationalkrieg in Deutschland, Großbritannien und in den USA 87 sollten. Garve verwies ausdrücklich auf das Paradigma des Bürgerkrieges, in dem die „Leidenschaften", also die affekthafte Identifizierung mit einem als legitim erachteten Prinzip, wurzelten. Die Rechtfertigung der Gewalt in diesem Sinne ließ eine Dynamik entstehen, die sich nicht mehr mit den staatlichen Mitteln des 18. Jahrhunderts kontrollieren ließ: „Da, nach aller Erfahrung, die bürgerlichen Kriege grausamer als die Nationalkriege geführt werden, so sind auch die Leidenschaften, die in dem Laufe der Revolutionen bloß im Gefolge des Parteienkampfes entstehen, von einer so wütenden Art, daß sie alles Gute [...] zerstören können." Sei erst „einmal Krieg im Innern des Staates entsprungen", so könne man „Ausgang und Folgen" nicht mehr berechnen.11 Für Carl von Clausewitz lief die Erfahrung der Revolution auf ein neuartiges Ineinanderwirken von Krieg und Nation hinaus, das sich als Bellizismus der Nation und Nationalisierung des Bellizismus entfaltete. Er formulierte damit, gleichsam als kondensierte Deutung des revolutionären Erfahrungsumbruchs, einen maßgeblichen Bestimmungsfaktor im Verständnis des Krieges, wenn er prinzipiell hervorhob „welch ein ungeheurer Faktor in dem Produkt der Staats-, Kriegs- und Streitkräfte das Herz und die Gesinnung der Nation sei". Nachdem die Regierungen in den zurückliegenden Kriegen erfahren hätten, welche Bedeutung diese „Hilfsmittel" haben konnten, sei „nicht zu erwarten, daß sie dieselben in zukünftigen Kriegen unbenutzt lassen werden, sei es, daß die Gefahr der eigenen Existenz ihnen drohe, oder ein heftiger Ehrgeiz sie treibe." Die überkommene Trennung von militärischer und staatlicher Sphäre sei nunmehr potentiell aufgehoben durch die „Schwere der gegenseitigen Nationalkraft", die den Charakter der Kriege tief greifend verändert habe, indem nun nicht mehr lediglich das Gewicht der stehenden Heere zueinander entscheide, sondern die Einbeziehung des gesamten Volkes. Entsprechend verändere sich die Funktion der Heere: „Daß Kriege, welche mit der ganzen Schwere der gegenseitigen Nationalkraft geführt werden, nach andern Grundsätzen eingerichtet sein müssen als solche, wo Alles nach dem Verhältnis der stehenden Heere zu einander berechnet wurde, ist leicht einzusehen. Die stehenden Heere glichen sonst den Flotten, die Landmacht der Seemacht in ihrem Verhältnis zum übrigen Staat, und daher hatte die Kriegskunst zu Lande Etwas von der Seetaktik, was sie nun ganz verloren hat."12 11 Christian Garve, Über die Grenzen des bürgerlichen Gehorsams, in Beziehung auf den Aufsatz von Kant über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1800), zitiert nach: Dieter Henrich (Hg.), Kant — Gentz — Rehberg. Über Theorie und Praxis, Frankfurt/Main 1967, S. 151. 12 Carl von Clausewitz, Vom Kriege (1832/34), in: Reinhard Stumpf (Hg.), Kriegstheorie und Kriegsgeschichte. Carl von Clausewitz und Helmuth von Moltke, Frankfurt/Main 1993, S. 5-423, hier: S. 240 f. 88 Jörn Leonhard Die Steigerung des bereits im Nationalkrieg angelegten Zusammenhangs zwischen Kriegführung und Partizipation innerhalb der Nation war das zeitgenössische Deutungsmuster des Volkskrieges. 13 Er repräsentierte einerseits die Tendenz zur militärischen Selbstmobilisierung des Volkes, stellte aber damit zugleich das in der Folge der konfessionellen Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts durchgesetzte Gewaltmonopol des Staates infrage. Auf diese Herausforderung reagierte der bürokratisch-zentralistische Staat der Französischen Revolution bereits in den 1790er Jahren mit scharfer Kontrolle und Lenkung „von oben". Das Prinzip des Volkskrieges brachte im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts drei idealtypische Formen hervor. 14 Erstens: Der Guerillakrieg stellte die reinste Form des Volkskrieges dar. In ihm organisierte und mobilisierte sich nach Zusammenbruch oder weitgehender Lähmung der staatlichen Ordnung die Bevölkerung selbst und trat dem Feind in Form eines irregulären und kleinräumigen Krieges entgegen. Der spanische Aufstand gegen die napoleonischen Truppen 1808 war das klassische Beispiel dieses Typus. Zweitens: Der Krieg mit Milizarmeen verband das Prinzip der Freiwilligkeit mit staatlicher Kontrolle und professioneller militärischer Führung, um größere Armeen in regulären Kriegen einsetzen zu können. Als Bespiele für diese Mischformen können der amerikanische Unabhängigkeitskrieg der 1770er Jahre und die ersten Jahre der französischen Revolutionskriege nach 1792 gelten. Drittens: Schließlich stellte der Krieg mit regulären Wehrpflichtigenarmeen den Versuch dar, die Mobilisierung des Volkes staatlich und militärisch zu organisieren und zu lenken, und zwar durch gezielte Zwangsmaßnahmen. Sowohl das Napoleonische Frankreich als auch Preußen in den Kriegen gegen Frankreich standen für dieses Prin. 15 zip In allen Formen, aber vor allem in der zuletzt skizzierten Form des Volkskrieges, traten Elemente zutage, die den Charakter des totalen Krieges antizipierten, wie er in seiner neuen Qualität als industrieller Massenkrieg mit beispiellosen Opferzahlen aber erst seit 1914 erfahren wurde: Zu den Elementen, die diese langfristige Entwicklung andeuteten, zählte ein neuartiges Vernichtungspotential, das aus der Kombination von militärischer Massenmobilisierung, staatlicher Lenkung sowie technologischer und strategischer Modernisierung erwuchs. Die seit den 1870er Jahren intendierte Mobilisie13 Vgl. Rainer Wohlfeil, Der Volkskrieg im Zeitalter Napoleons, in: Heinz-Otto Sieburg (Hg.), Napoleon und Europa, Köln 1971, S. 318-332. 14 Vgl. Stig Förster, Vom Volkskrieg zum totalen Krieg? Der Amerikanische Bürgerkrieg 1861-1865, der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 und die Anfänge moderner Kriegsführung, in: Walther L. Bernecker /Volker Dotterweich (Hg.), Deutschland in den internationalen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Josef Becker zum 65. Geburtstag, München 1996, S. 71-92, hier: S. 78 f. 15 Vgl. Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001. Volks- und Nationalkrieg in Deutschland, Großbritannien und in den USA 89 rung von Volksmassen machte jedoch zugleich eine neuartige ideologische Begründung des Krieges notwendig, die mit der Entgrenzung der Kriegsziele und der ideologischen Stigmatisierung des Feindes einherging. Damit aber zeichnete sich hinter dem Volkskrieg eine neue Entwicklungsstufe der Nationalisierung des Krieges und der Bellizierung der Nation ab. a) Deutschland: Vom Volkskrieg zum Existenzkampf der Nationen Bereits die Erfahrung des italienischen Nationalkrieges hatte in Deutschland zu einer schärferen Konturierung des Nationalkriegs geführt. Dabei wurde vor allem der Gegensatz zu den Kabinettskriegen des 18. Jahrhunderts betont. Gegenüber der monarchischen Grundmaxime des Ancien r e gime, die Bataillen als Kriege mit relativ kleinen militärischen Einheiten vom Bürger möglichst fernzuhalten, basierte der National- oder Nationenkrieg auf der Verabsolutierung und Universalisierung eines externen Feindbegriffes: „Der Nationenkrieg sieht in jedem Gliede des feindlichen Volkes einen Feind, der bekämpft oder wenigstens unschädlich gemacht werden muß". 16 Zumindest in der Projektion schloss dies konkurrierende innergesellschaftliche Orientierungsmuster wie Region oder Konfession aus und machte den Nationalkrieg als integratives Deutungsmuster besonders attraktiv. Dabei trat die in der Aufklärung konzipierte Vorstellung einer emanzipatorischen Funktion des Krieges als gleichsam internationalisierter Bürgerkrieg, als Befreiung unterdrückter Völker im Namen der Humanität, gegenüber machtstaatlichen Motiven zurück. • Hinter diesen aber standen, wie es in einer verbreiteten bildungsbürgerlichen Enzyklopädie der 1860er Jahre hieß, zunehmend nationale Interessen, die hier aber ausdrücklich voluntaristisch gedeutet wurden: „Soll nämlich der Krieg mit der ganzen Kraft der Nation geführt werden, so muß er auch aus dem Willen der Nation hervorgegangen sein". 17 Kriege, so schien es 1886, würden „einzig und allein für große und gerechte nationale Interessen [...] geführt". 18 Der ideologische Naturalismus dieser Interessen war für Karl Marx rein bürgerlicher Natur. Ideologiekritisch setzte er seine Hoffnungen gerade nicht auf den zwischenstaatlichen Nationenkrieg, sondem auf den revolutionären Bürgerkrieg als Folge des gesellschaftlichen Klassenkampfes. In kritischer Absetzung gegenüber dem zeitgenössischen Bellizismus als Ausdruck bürgerlicher Ideologie schien der Nationalkrieg demgegenüber lediglich die wahren sozialen Gegensätze zu verschleiern: 16 Julius Weiske (Hg.), Rechtslexikon fth. Juristen aller Teutschen Staaten enthaltend die gesamte Rechtswissenschaft, Bd. 6, Leipzig 1845, S. 221. 17 Berner, Artikel Krieg, Kriegsrecht (Politisch und völkerrechtlich), in: Johann Caspar Bluntschli /Carl Brater (Hg.), Deutsches Staatswörterbuch, Bd. 6, Stuttgart 1861, 5. 105. 18 Löbel, Artikel Krieg, in: Johann Samuel Ersch /Johann Gottfried Gruber (Hg.), Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, Leipzig 1886, S. 381. 90 Jörn Leonhard „Der höchste heroische Aufschwung, dessen die alte Gesellschaft noch fähig war, ist der Nationalkrieg, und dieser erweist sich jetzt als reiner Regierungsschwindel, der keinen andern Zweck mehr hat, als den Klassenkampf hinauszuschieben, und der beiseite fliegt, sobald der Klassenkampf im Bürgerkrieg auflodert."19 Besonders deutlich lässt sich der bellizistische Erfahrungsumbruch der 1860er und 1870er Jahre in den militärtheoretischen Reflexionen Helmuth von Moltkes nach 1870 nachvollziehen. 20 Hier wurde die Krise des traditionellen staatlichen Politikbegriffs angesichts der Realität eines möglichen Volkskrieges virulent. Ganz in der Tradition der von Clausewitz eingeführten Unterscheidung zwischen dem traditionellen Kabinettskrieg und dem absoluten Krieg mit Volksheeren und theoretisch unbegrenzter Wirkungsreichweite betonte er in seiner Schrift Über den angeblichen Kriegsrat in den Kriegen König Wilhelms 1. den Charakter des Feldzuges von 1866 als Kabinettskrieg. Dabei bemühte er sich darum, die militärisch-politische Entscheidungsfindung gegen die Implikationen des Volkskriegsparadigmas abzuschirmen. Der eindeutige Primat der von machtpolitischen Erwägungen getragenen preußischen Regierung habe sich unter spezifischen Bedingungen erhalten lassen. Der Krieg von 1866 sei nämlich „nicht aus Notwehr gegen die Bedrohung der eigenen Existenz entsprungen" und sei auch nicht „durch die öffentliche Meinung und die Stimme des Volkes" hervorgerufen worden. Vielmehr sei es ein „im Kabinett als notwendig erkannter, längst beabsichtigter und ruhig vorbereiteter Kampf' gewesen, der einem klassischen Ziel, der Steigerung politischer Macht, gedient habe, keinesfalls aber Konsequenz nationalpolitischer Forderungen gewesen sei. Der Krieg sei „nicht für Ländererwerb, Gebietserweiterungen oder materiellen Gewinn" geführt worden, „sondern für ein ideales Gut – für Machtstellung", indem dem „besiegten Österreich [...] kein Fußbreit seines Territoriums abgefordert", es aber gezwungen worden sei, „auf die Hegemonie in Deutschland zu verzichten".21 Auch den Krieg von 1871 sah Moltke in diesem Zusammenhang. 1880 betonte er rückblickend zunächst die gleichsam anthropologische Notwendigkeit des Krieges, um dann auf das Ziel kurzer Feldzüge zu sprechen zu kommen. Diese kurzen Kriege in den „Kämpfen der Neuzeit" seien nicht zuletzt ein Zeichen des Fortschritts gegenüber der „Verwilderung des dreißig- 19 Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: Ders. /Friedrich Engels, Werke, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 39 Bde., Berlin (Ost) 1956-1968, 13. Aufl. 1981, hier: Bd. 17, 1962, S. 361. 20 Vgl. auch Stig Förster, Helmuth von Moltke und das Problem des industrialisierten Volkskriegs im 19. Jahrhundert, in: Roland G. Foerster (Hg.), Generalfeldmarschall von Moltke. Bedeutung und Wirkung, München 1991, S. 103-115. 21 Über den angeblichen Kriegsrat in den Kriegen König Wilhelms I. (1881), in: Stumpf, (Anm. 12), S. 591-601, hier: S. 600. Volks- und Nationalkrieg in Deutschland, Großbritannien und in den USA 91 jährigen Krieges", indem sie letztlich der „Humanität der Kriegführung" dienten. Dies führte Moltke vor allem auf die Einbeziehung neuer bürgerlicher Gesellschaftsgruppen in das Militär zurück: „Ein wichtiger Schritt zur Erreichung des erwünschten Zieles ist in unseren Tagen die Einführung delallgemeinen Militärpflicht gewesen, welche die gebildeten Stände in die Armeen einreiht".22 Kurze Kriege konnten aber nicht mehr lediglich auf die gegnerische Streitmacht allein gerichtet sein, wie es nach Clausewitz und Moltke dem Kriegsdenken des 18. Jahrhunderts entsprochen hatte, sondern sie machten ausdrücklich auch die Institutionen und sonstigen Machtmittel des Staates zu Kriegsobjekten, entsprachen mithin den von Clausewitz aufgestellten Kriterien des absoluten Krieges, ohne jedoch bereits den letzten Schritt zur grenzenlosen Totalisierung des Feindbildes zu gehen: „Die größte Wohlthat im Kriege ist die schnelle Beendigung des Krieges und dazu müssen alle, nicht geradezu verwerfliche, Mittel frei stehen." Entsprechend müssten „alle Hülfsquellen der feindlichen Regierung [...] in Anspruch genommen werden, ihre Finanzen, Eisenbahnen, Lebensmittel, selbst ihr Prestige." Als Beispiel für einen kurzen Krieg in diesem Sinne zitierte Moltke ausdrücklich den Krieg gegen Frankreich, der seinen Charakter erst seit dem Übergang in einen revolutionären Volkskrieg gegen die deutschen Truppen verändert habe: „Mit dieser Energie, und doch mit mehr Mäßigung wie je zuvor, ist der letzte Krieg gegen Frankreich geführt worden. Nach zwei Monaten war der Feldzug entschieden, und erst als eine revolutionäre Regierung ihn zum Verderben des eigenen Landes noch vier Monate länger fortsetzte, nahmen die Kämpfe einen erbitterten Charakter an".23 1890 schließlich reflektierte Moltke klarsichtig die Revolutionierung des Krieges und antizipierte zugleich die möglichen, weit reichenden Konsequenzen. Im Rückblick auf die Wandlungen des Kriegscharakters seit den französischen Revolutionskriegen, die bereits Clausewitz zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen gemacht hatte, betonte Moltke einerseits wie Clausewitz die Unterscheidung von Kabinettskrieg und Volkskrieg, sah nun aber noch stärker als Clausewitz die Entwicklung von der Durchsetzung des Volkskrieges bestimmt, in dem die Nationalisierung des Krieges gleichsam ihre neue Form gefunden zu haben schien. Dies näherte sich in der Kategorisierung Clausewitz' dem absoluten Krieg an. Einerseits zeigte sich Moltke überzeugt, dass diese potentielle Unbegrenztheit der Kriege das mit ihnen verbundene Risiko so sehr erhöhte, dass davon eine abschreckende Wirkung ausgehen würde, sich somit also die Chance auf einen dauerhaften Frieden ergebe. In seiner Rede im Reichstag vom 14. Mai 1890 zeigte sich Moltke dann aber unverhohlen skeptisch. Er unterstrich zunächst die Gründe für die 22 Brief Moltkes an Johann Kaspar Bluntschli vom 11. Dezember 1880, in: Stumpf, (Anm. 12), S. 487-489, hier: S. 488. 23 Ebd. 92 Jörn Leonhard seiner Ansicht nach unerlässliche Ausweitung staatlicher Anstrengungen für das Militär. Indem das Ende der Kabinettskriege in der Tradition des 18. Jahrhunderts durch moderne Volkskriege, wie er sie 1848/49 und zumal seit den späten 1850er Jahren erfahren hatte, absehbar war, stellte sich die Frage des Primats des Politischen ganz neu. Die wesentliche Folge dieser Entwicklung lag für Moltke darin, dass der Einfluss der Regierungen auf die Entscheidungen über Krieg und Frieden unter den Bedingungen des Volkskrieges zunehmend beschränkt schien. In dem Ausmaß, in dem damit der traditionelle Primat des Politischen von gesellschaftlichen Interessen mindestens herausgefordert, wenn nicht bereits unterminiert wurde, ließ diese Perspektive genuin innenpolitische Konflikte, zumal solche sozioökonomischen Ursprungs, hervortreten. Hier wurde das revolutionäre Erbe des unkontrollierbaren Volkskrieges deutlich, den Moltke in seinen Ansätzen erlebt hatte: „Aber [...] die Fürsten und überhaupt die Regierungen sind es wirklich nicht, welche in unseren Tagen die Kriege herbeiführen. Die Zeit der Kabinettskriege liegt hinter uns, – wir haben jetzt nur noch den Volkskrieg, und einen solchen mit allen seinen unabsehbaren Folgen heraufzubeschwören, dazu wird eine irgend besonnene Regierung sich sehr schwer entschließen. Nein, [...] die Elemente, welche den Frieden bedrohen, liegen bei den Völkern. Das sind im Innern die Begehrlichkeit der vom Schicksal minder begünstigten Klassen und ihre zeitweisen Versuche, durch gewaltsame Maßregeln schnell eine Besserung ihrer Lage zu erreichen [...] Von außerhalb sind es gewisse Nationalitäts- und Rassenbestrebungen, überall die Unzufriedenheit mit dem Bestehenden. Das kann jederzeit den Ausbruch eines Krieges herbeiführen, ohne den Willen der Regierungen und auch gegen ihren Willen." Besondere Aufmerksamkeit schenkte Moltke nun auch dem Problem eines unabsehbar langen Krieges unter den Bedingungen gesteigerter Rüstungsanstrengungen aller europäischen Mächte. Dies aber schloss einen Verständigungsfrieden auf der Basis von Verhandlungen aus: „Wenn der Krieg, der jetzt schon mehr als zehn Jahre lang wie ein Damoklesschwert über unseren Häuptern schwebt, – wenn dieser Krieg zum Ausbruch kommt, so ist seine Dauer und sein Ende nicht abzusehen. Es sind die größten Mächte Europas, welche, gerüstet wie nie zuvor, gegeneinander in den Kampf treten; keine derselben kann in einem oder in zwei Feldzügen so vollständig niedergeworfen werden, daß sie sich für überwunden erklärte, daß sie auf harte Bedingungen hin Frieden schließen müßte, daß sie sich nicht wieder aufrichten sollte, wenn auch erst nach Jahresfrist, um den Kampf zu erneuern". 24 24 Helmut von Moltke, Rede im Reichstag vom 14. Mai 1890, in: Stumpf, (Anm. 12), S. 504 f. Volks- und Nationalkrieg in Deutschland, Großbritannien und in den USA 93 Damit antizipierte Moltke, dass die allgemeine europäische Hochrüstung in Verbindung mit den Millionenheeren, die Alfred von Schlieffen in seiner Schrift Über die Millionenheere beschrieb,25 zu einer gegenüber den Einigungskriegen von 1864 bis 1871 fundamental veränderten Situation führen würde. Denn während in jenen Kriegen noch allein das aktive Heer dominiert hatte, boten die riesigen, an der Bevölkerungszahl orientierten Reserveheere der übrigen europäischen Großmächte völlig neue Möglichkeiten, die einen langen Krieg wahrscheinlich machten – „es kann ein siebenjähriger, es kann ein dreißigjähriger Krieg werden" – und damit die Grundlagen des erst durch Krieg entstandenen Nationalstaates existenziell infrage stellten. Mit dem Übergang vom Kabinetts- zum Volkskrieg ging es mithin nicht mehr nur um einen begrenzten territorialen Verlust. Der zu erwartende lange Krieg werde „um den Bestand des Reiches, vielleicht um die Fortdauer der gesellschaftlichen Ordnung und der Zivilisation, jedenfalls um Hunderttausende von Menschenleben" geführt, womit der Krieg der Zukunft zu einem Existenzkampf der Nationen wurde.26 b) Großbritannien: Die Rückwirkung von Kriegserfahrungen der Peripherie — Armee und Krieg als Erfahrungselemente der Empire-Nation Im Vergleich fällt für Großbritannien zunächst das Fehlen einer den deutschen Debatten ähnlichen Auseinandersetzung mit dem Paradigma von Nations- und Volkskrieg nach 1850 auf. Wo diese Begriffe überhaupt verwendet wurden, bezogen sie sich auf auswärtige Staaten und Völker. Für den britischen Fall muss man daher die Untersuchungsperspektive ändern und danach fragen, welche strukturellen Faktoren hier das Verhältnis zwischen Krieg und innerer Nationsbildung bestimmten.27 In Großbritannien fehlten zunächst die fundamentalen Aspekte des kontinentaleuropäischen Zusammenhangs zwischen Militär und Nationsbildung. Das galt sowohl für die soziale Zusammensetzung der Armee als auch für ihre politische Rolle bei der Bildung neuer Nationalstaaten oder bei der Generierung nationaler Selbstbilder und innergesellschaftlicher Identifikationsmuster. Im Gegensatz zu den kontinentaleuropäischen Staaten mit ihren Grenzräumen erlaubte Großbritanniens geographische Lage als Insel eine denkbar kleine Berufsarmee. Noch vor dem Ersten Weltkrieg erreichten die 25 Graf Alfred von Schlieffen, Über die Millionenheere (1911), in: ders., Cannae. Mit einer Auswahl von Aufsätzen und Reden des Feldmarschalls, hg. von Hugo Freiherr von Freytag-Loringhoven, Berlin 1925, S. 286 f. 26 Moltke, (Anm. 24), S. 505 f. 27 Vgl. Hew Strachan, Militär, Empire und Civil Society: Großbritannien im 19. Jahrhundert, in: Frevert, (Anm. 8), S. 78-93, sowie Michael Paris, Warrior Nation. Images of War in British Popular Culture, 1850-2000, London 2000. 94 Jörn Leonhard angestrebten Rekrutierungszahlen kaum ein Viertel der anderen kontinentaleuropäischen Mächte. 28 Hinzukam die traditionelle Abneigung gegenüber stehenden Armeen, die vor allem von den parlamentarischen Whigs traditionell mit den absolutistischen Neigungen der Stuarts im 17. Jahrhundert und damit „unenglischen" Tendenzen identifiziert wurden. Selbst als im Zuge intensiver Diskussionen und im Kontext eines europäischen Rüstungswettlaufs nach 1870 die Frage der allgemeinen Wehrpflicht diskutiert wurde, forderte der Präsident der National Service League, Lord Roberts, keinesfalls die Aufstellung einer regulären Wehrpflichtarmee, sondern lediglich die Möglichkeit, eine Streitkraft für die Verteidigung der Heimat zu schaffen. 29 Im Gegensatz zu kontinentaleuropäischen Gesellschaften fehlte die konkrete Erfahrung des National- und Volkskrieges, der dieser Diskussion eine andere Richtung hätte geben können. Stattdessen hatte Großbritannien eigene bellizistische Grunderfahrungen im 17. und 18.• Jahrhundert im Rahmen der Kriege gegen Spanien und Frankreich gemacht, und zwar in charakteristischer Überlappung von konfessionellen und politischen Feindbildem.3° So sehr in den kontinentaleuropäischen Nationalstaaten in der Rhetorik des Nationalkrieges das Ideal der Nation in Waffen durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht propagiert wurde, so wenig verschrieb sich Großbritannien diesem Ideal. Die Idee, die gesamte Gesellschaft solle sich in der Armee repräsentiert finden, fand hier keine Parallele. Entsprechend überwog in der Forschung lange Zeit die Auffassung, die Armee stelle einen „Mikrokosmos der ländlichen Gesellschaft" dar, in dem Aristokratie und Gentry das Offizierskorps bildeten, das Soldaten vorstand, die aus dem ländlich-agrarischen Milieu stammten. Das habe zugleich die Professionalisierung der Armee verhindert und einem militärischen Amateurideal Vorschub geleistet.31 Doch diese Auffassung bedarf in mehreren Punkten der Revision. Dominierten in der Kriegsdeutung in Deutschland, Frankreich und Italien die Rekurse auf die erfahrenen National- und Volkskriege zwischen 1792 und 1815 sowie zwischen 1859 und 1871, so wurden in Großbritannien die Small Wars im Rahmen der Expansion des Empire zu einem maßgeblichen Bezugspunkt.32 Die Tatsache, dass Großbritannien fast in jedem Jahr des langen. 19. Jahrhunderts im Rahmen seines Empire in militärische Aktionen verwickelt war, trug dabei erheblich zur Professionalisierung der Armee bei. 28 Vgl. Edward M. Spiers, The Army and Society, London 1980. 29 Vgl. R. J. Q. Adams /Philip P. Poirer, The Conscription Controversy in Great Britain 1900-1918, Basingstoke 1987, S. 16 ff. 30 Vgl. Linda Colley, Britons. Forging the Nation 1707-1837, London 1992. 31 Strachan, (Anm. 27), S. 79; vgl. auch Ian F. W. Beckett, The Amateur Military Tradition 1558-1945, Manchester 1991. 32 Vgl. die begriffsprägende zeitgenössische Studie C. E. Canwell, Small Wars. A Tactical Textbook for Imperial Soldiers, London 1896, ND. Novato/Ca. 1990. Volks- und Nationalkrieg in Deutschland, Großbritannien und in den USA 95 Wichtiger noch war die im Rahmen des Kolonialdienstes auftretende Konfrontation mit politischen Themen, die das Selbstverständnis von Britishness ganz unmittelbar berührten. Das Idealbild der Armee als Ausdruck der ländlichen, durch Industrialisierung nicht berührten Gesellschaft, geriet spätestens mit dem Burenkrieg in eine Krise, als sich die Unterlegenheit der Armee zeigte. Die Niederlage erschien vielen Zeitgenossen auch als Folge gesellschaftlicher Degeneration infolge der dynamischen Industrialisierung und Urbanisierung Großbritanniens. 33 Unter dem Eindruck des Kolonialdienstes veränderte sich aber nicht allein die politische Rolle des Militärs und sein Selbstverständnis als Integrationsklammer von Union und Empire, sondern auch sein Sozialprofil. Der Anteil des Landadels bei den Offizieren sank, die Armee wurde insgesamt städtischer und gegenüber dem Anteil der übrigen Inselnationalitäten „englischer". 34 Mehr noch veränderte sich die Rolle der Armee im Hinblick auf den Erhalt der Union des Inselreichs als Kern des Empire, dem sie sich immer mehr verpflichtet fühlte. Besonders deutlich wurde dies in der sogenannten Curragh-Meuterei. Im März 1914 erklärten Offiziere der 6. Kavallerie-Brigade in Irland, dass sie nicht bereit seien, nach Norden zu marschieren, um in der englandtreuen Provinz Ulster die Autonomie durchzusetzen. Lord Roberts, der Präsident der National Service League und populäre Kriegsheld, unterstützte die meuternden Offiziere und forderte den Rücktritt des Chefs des Generalstabes, Sir John French.35 So sehr in der Literatur noch immer häufig der Antagonismus zwischen dem Milieu der Armee und dem Gladstonian Liberalism betont wird, der sich im Gegensatz zum ausgesprochenen Unionism der Armee nicht nur vornehmlich aus den keltischen Randgebieten von Schottland und Wales rekrutierte, sondern auch die Home Rule für Irland forderte, so sehr erhellt ein näherer Blick, dass es im späten 19. Jahrhundert gerade die Liberalen waren, die die Armee in ihrer unifizierenden Rolle für das Empire propagierten. Die auch in der Öffentlichkeit zunehmende Begeisterung für die Armee in ihrer nationalen Rolle hatte dabei verschiedene Ursachen. Die Entbindung von ihrer innenpolitischen Funktion erlaubte der Armee nicht allein die Konzentration auf Kolonialaufgaben, sondern veränderte vor allem die gesellschaftliche Perzeption von Armee und Militär. Der seit dem Scheitern des absolutistischen Angriffs der Stuarts auf die überkommene Verfassungsbalance im 17. Jahrhundert ausgeprägte Topos von der Bedrohung der liberties of all 33 Vgl. W. E. Caimes, The Absent-Minded War, London 1900; L. S. Amery, The Times History of the War in South Africa 1899-1902,7 Bde., London 1900-1909 sowie H. 0. Arnold Forster, The Army in 1906: A Policy and a Vindication, London 1906. 34 Vgl. Strachan, (Anm. 27), S. 86 sowie Gwyn Harries-Jenkins, The Army in Victorian Society, London 1977; Alan Ramsay Skelley, The Victorian Army at Home, London 1977 sowie H. J. Hanham, Religion and Nationality in the Mid-Victorian Army, in: M. R. D. Foot (Hg.), War and Society, London 1973, S. 159-181. 35 Vgl. Ian F. W. Beckett (Hg.), The Army and the Curragh Incident 1914, London 1986. 96 Jörn Leonhard Englishmen durch stehende Heere wich einer ausgesprochenen Popularität der Armee im späteren 19. Jahrhundert. Die zumal im innereuropäischen Vergleich auffallende, weitgehend räumliche Abwesenheit des Militärs in Großbritannien ließ das Ideal des Kolonialsoldaten, des true Tommy im Dienst von Befriedung und christlich konnotierter Zivilisierung umso mehr hervortreten. Dies vollzog sich aber im Rahmen von Small Wars, und nicht in National- oder Volkskriegen. Es handelte sich also um eine imaginierte Verbindung zwischen der Empire-Nation und der Rolle der Armee in den aus der Peripherie auf das Mutterland zurückwirkenden Kriegserfahrungen.36 Die tendenzielle Nationalisierung des Krieges ergab sich in Großbritannien also nicht aus unmittelbaren Kriegserfahrungen, sondern aus der Wahrnehmung räumlich entfernter Kriege. Das zeigte sich vor allem während des Krimkrieges und der Indian Mutiny von 1857. Lord Panmure betonte 1855 das durch die Kriegserfahrung veränderte Bild der Armee als nationaler Institution: „I trust our present experience will prove to our countrymen that our army must be something more than a mere colonial guard or home police; that it must be the means of maintaining our narre abroad and causing it to be respected in peace as well as admired and dreaded in war." 37 Die Times sekundierte 1856, dass „any hostility which may have existed in bygone days towards the army has Jong since passed away. The red coat of the soldier is honoured throughout the country". 38 Die erfolgreiche Niederschlagung der indischen Aufstände war für das evangelikale Baptist Magazine 1858 Anlass, die spezifisch christliche Mission der britischen Nation hervorzuheben: „The tide of rebellion [has been] tumed back by the wisdom and prowess of Christian men, by our Lawrences, Edwardes, Montgomerys, Freres, and Havelocks [...] God, as it were, especially selecting them for this purpose. "39 Nach 1890 intensivierten sich bellizistische Nationsvorstellungen im Kontext der vermeintlichen Gefahr einer deutschen Invasion. 40 Die vor 1914 um sich greifende panikartige Invasionshysterie, popularisiert durch unzählige zeitgenössische Kriegsfiktionen, hatte ihre Vorläufer in den antifranzösischen three panics von 1848, 1852 und 1859 und in den vormodemen katholischen Feindbildern, die sich auf Spanien im 16. Jahrhundert und Frank36 Vgl. Olive Anderson, The Growth of Christian Militarism in Mid-Victorian Britain, in: English Historical Review 84 (1971), S. 46-72. 37 Zitiert nach C. J. Bartlett, Defence and Diplomacy. Britain and the Great Powers, 1815— 1914, Manchester 1993, S. 126. 38 The Times, 22. Oktober 1856, S. 6. 39 Baptist Magazine 50 (1858), S. 323. 40 Vgl. Jörn Leonhard, Construction and Perception of National Images: Germany and Britain 1870-1914, in: The Linacre Journal. A Review of Research in the Humanities 4 (2000) December: The Fatal Circle: Nationalism and Ethnic Identity into the 21st Century, S. 45-68, hier: S. 49 ff. Volks- und Nationalkrieg in Deutschland, Großbritannien und in den USA 97 reich im 18. Jahrhundert bezogen hatten. Seit den 1890er Jahren ließ diese kollektivpsychologische Situation die Armee nun verstärkt neben der Marine als Garant der nationalen Sicherheit des britischen Inselreichs als Kern des Empire erscheinen. Die Popularität der Armee fand ihren Niederschlag aber nicht in einem Kult der Nation in Waffen, die das Paradigma des Volkskrieges nach 1870 in Frankreich und Deutschland generierte, sondern eher in den paramilitärischen Aktivitäten zahlreicher lokaler Freiwilligenverbände, in denen bürgerliche Schichten auch nach der Jahrhundertwende noch eindeutig dominierten. Auch Jugendorganisationen wie die Boys Brigade und Boys Scouts wirkten im Sinne einer gesellschaftlichen Militarisierung bei gleichzeitig relativer Abwesenheit des Militärs in der gesellschaftlichen Frax1s.41 c) Die Vereinigten Staaten: Die Antizipation des total war — der Bürgerkrieg als people' s war Anders als in Kontinentaleuropa, wo sich aus der Erfahrung der konfessionellen Bürgerkriege der Staat seit der Phase des Absolutismus nicht zuletzt auf stehende Heere gestützt hatte und von hier aus die äußere und innere Stabilisierung und Zentralisierung der Staatsgewalt betrieben hatte, fehlte dieser Erfahrungshintergrund in den Vereinigten Staaten. Hier sucht man das den kontinentaleuropäischen Gesellschaften so eigentümliche Nebeneinander von Berufs- und Wehrpflichtarmee und ihren Mischformen vergebens. Der im Unabhängigkeitskampf gegen das britische Mutterland frühzeitig demokratisierten Gesellschaft entsprach daher die Tatsache, dass sich in den. USA nicht das Prinzip des stehenden Heeres, sondern die gleichsam basisdemokratische Tradition der Volksmiliz mit Offizierswahl durchsetzen konnte. 42 Im Gegensatz zu den kontinentaleuropäischen Revolutionskriegen, die bereits den Bedeutungskern späterer Nationalkriege enthielten, gab es für die Vereinigten Staaten bis zu Beginn der 1860er Jahre keine Erfahrung einer existenziellen Bedrohungssituation, die eine Reform des Milizheeres hätte notwendig erscheinen lassen. Nach dem britisch-amerikanischen Krieg von 1812/15 war die Wahrscheinlichkeit fremder Invasionen so gering, dass zu 41 Vgl. Strachan, (Anm. 27), S. 90; Hugh Cunningham, The Voluntary Force: a Social and Political History 1859-1908, London 1975; Ian F. W. Beckett, Riflemen Form: a Study of the Rille Volunteer Movement 1859-1908, Aldershot 1982 sowie Hew Strachan, History of the Cambridge University Officers Training Corps, Tunbridge Wells 1976. 42 Vgl. Stig Förster, Ein alternatives Modell? Landstreitkräfte und Gesellschaft in den USA 1775-1865, in: Frevert (Hg.), (Anm. 8), S. 94-118 sowie Jürgen Heideking, „People's War or Standing Army?" Die Debatte über Militärwesen und Krieg in den Vereinigten Staaten von Amerika im Zeitalter der Französischen Revolution, in: Kunisch /Münkler, (Anm. 10), 5.131-152. 98 Jörn Leonhard einer Diskussion über den Charakter des Militärs, über Berufsheer oder Wehrpflicht, kein exogener Anlass bestand. Dies war auch Teil der außenpolitischen Orientierung, die in der Monroe-Doktrin ihren konzisen Ausdruck fand. Abraham Lincoln formulierte 1838 diesen gegenüber Europa ganz anderen Erfahrungshintergrund, als er auf die Gefahr von innen hinwies: „At what point shall we expect the approach of danger? [...] Shall we expect some transatlantic military giant, to step the Ocean, and crush us at a blow? Never! All the armfies of Europe, Asia and Africa combined [...] Gould not by force, take a drink from the Ohio, or make a track on the Blue Ridge, in a trail of thousand years. At what point then is the approach of danger to be expected? I answer, if euer it reaches us, it must spring up amongst us. It cannot come from abroad. If destruction be our lot, we must ourselves be the authors and finishers. As a nation of freemen, we must live through all time, or die by suicide [..1". 43 Die europäischen Erfahrungen der annähernd ununterbrochenen Revolutionskriege von 1792 bis 1815 und der britische Hintergrund der Small Wars im Rahmen des Empire, die angesichts der Steigerung militärischer Schlagkraft den zentralistischen Militärstaat oder eine nationalpolitische Rolle der Armee zuließen, fehlten in den Vereinigten Staaten. Allerdings katalysierten hier sowohl die Erinnerungen an den Unabhängigkeitskrieg und an den Konflikt mit Großbritannien zwischen 1812 und 1815 als auch die Indian Wars und die Expedition gegen Mexiko 1846/48 als Teil des Frontier-Mythos durchaus bellizistische Nationsvorstellungen.44 Die politische Revolution gegen das britische Mutterland bedeutete zugleich eine militärische Umwälzung, die bereits den Zeitgenossen bewusst war. Nicht allein, dass es den Milizen der amerikanischen Kolonisten gelang, die multinational zusammengekauften Söldnerarmeen Großbritanniens zurückzudrängen und schließlich zur Kapitulation zu zwingen. Der von dem zeitgenössischen amerikanischen Publizisten David Ramsay so genannte „people's war" war ein neuartiger Krieg, indem er auf der prinzipiell demokratischen Selbstorganisation militärischer Kräfte beruhte und zugleich die überkommene Trennung von Militär und Gesellschaft zumindest potentiell infrage stellte. 45 Aber anders als in Frankreich, wo der Mobilisierung im September 1792 nach dem Erlahmen der öffentlichen Begeisterung für den Krieg die staatlich gelenkte und ideologisch durch Hinweis auf die revolu43 Abraham Lincoln, Address Before the Young Men's Lyceum of Springfield, Illinois, 27. Januar 1838, zitiert nach: Lincoln on Democracy. His Own Words. With Essays by America's Foremost Historians, hg. von Mario M. Cuomo /Harold Holzer, New York 1990, S. 15-23. 44 Vgl. Frederick Jackson Turner, The Frontier in American , History (1920), New York 1996, S. 9, 69, 167. 45 Vgl. Förster, (Anm. 42), S. 97, sowie Angus Calder, Revolutionary Empire. The Rise of the English-Speaking Empires from the Fifteenth Century to the 1780s, New York 1981, S. 804. Volks- und Nationalkrieg in Deutschland, Großbritannien und in den USA 99 tionäre Staatsbürgergesellschaft gerechtfertigte Zwangsaushebung der levg'e en masse gefolgt war, schirmte das Ausbleiben eines ähnlichen Kriegszustandes die amerikanische Gesellschaft vor der kontinentaleuropäischen Erfahrung des Bellizismus zunächst weitgehend ab. Die tief greifende Ideologisierung des Krieges – wie in Frankreich nach 1792 oder in Deutschland um 1813 – blieb aus. Der Unabhängigkeitskrieg war lediglich ein Teil des konsensualen Gründungsmythos der Vereinigten Staaten, aber im Vergleich zum Stellenwert etwa zur Verfassung und ihrer Väter nicht sein bestimmender. Während also Frankreich und andere kontinentaleuropäische Staaten, bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Erfahrung machten, dass der neuartige Charakter des Krieges neuartige Formen zwischen Berufs- und Wehrpflichtigenarmeen notwendig machte, erfuhr die amerikanische Gesellschaft einen grundlegenden kriegerischen Erfahrungsumbruch erst zwischen 1861 und 1865, dann aber nicht als zwischenstaatlichen Nationalkrieg, sondern als inner-amerikanischen Bürgerkrieg. Innerhalb von vier Jahren kamen in diesem Krieg nicht weniger als 620.000 Soldaten der Nord- und Südstaaten ums Leben, mehr Opfer, als die Vereinigten Staaten in beiden Weltkriegen und in Vietnam zusammen verloren. Der Charakter des Krieges erforderte sehr bald umfassende institutionelle Veränderungen und machte zugleich eine neuartige Legitimation staatlichen Handelns im Namen der Nation notwendig. Der Süden ersetzte das ohnehin kaum noch existente Milizsystem durch eine reguläre Armee von 100.000 Mann, die zunächst aus Freiwilligen rekrutiert wurden. Der Norden reagierte mit einer umfassenden Reorganisation, der Einführung von Offiziersprüfungen sowie der Einberufung von Freiwilligen erst nach einer Serie militärischer Niederlagen. Unter dem Eindruck der verheerenden Verluste ging die Zahl der Freiwilligen aber sowohl im Norden als auch im Süden bald erheblich zurück und machte zunächst im Süden die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht unumgänglich, die der Confederate Congress im April 1862 beschloss. Allerdings wurde das Egalitätsprinzip der Wehrpflicht durch zahllose Ausnahmeregelungen unterlaufen, so vor allem für reiche Pflanzer. Die verbreitete Klage über „ a rich man 's war and a poor man's fight" dokumentierte eine deutliche Grenze egalitäter Nationsbildung durch Armee und Wehrpflicht. Auch im Norden zwangen die abnehmenden Zahlen von Freiwilligen zur faktischen Einführung der Wehrpflicht.46 Für die ideologische Begründung des Krieges wurde im Norden auf das defensive Deutungsmuster des Erhalts der Union verwiesen, der Krieg er- 46 3. G. Randall /David Herbert Donald, The Civil War and Reconstruction, 2. Aufl. Lexington 1969, S. 251 f.; James M. McPherson, Battle Cry of Freedom. The Civil War Era, New York 1988, S. 429 ff. sowie Förster, (Anm. 42), S. 115. 100 Jörn Leonhard schien mithin als notwendige Niederschlagung einer rebellion. Dazu trat schon bald das religiös konnotierte Motiv der „Reinigung" – cleansing oder restoration – der ganzen amerikanischen Nation von der Sünde des Sklavenhandels der Südstaaten. Aber über die Interpretation der bestehenden Verfassung und des Erhalts der Union als nationale Begründung des Krieges hinaus, beschwor Abraham Lincoln in seiner Inaugurationsrede vom März 1861 auch eine innere Einheit der Nation. Diese, so Lincoln, war nicht bloß ein rational-voluntaristischer Zweckverband, sondern eine aus gemeinsamer Erfahrung und Geschichte hervorgegangene Gemeinschaft, wobei er direkt auf die Bedeutung von Kriegserfahrungen hinwies. Zugleich nahm er das Motiv der Reconstruction, der Wiedereingliederung des Südens und die nationale Aussöhnung vorweg: „We are not enemies, but friends. We must not be enemies. Though passion may have strained, it must not Break our Bonds of affection. The mystic chords of memory, stretching from every battlefield and patriotic grave to every living heart and hearth-stone all over this broad land, will yet swell the Chorus of the Union when again touched, as surely they will be, by the better angels of our nature."47 Im Süden existierte ein eigenständiger Nationsentwurf zu Beginn des Krieges noch nicht, entwickelte sich vielmehr erst im Laufe des Krieges und dann vor allem in der Erfahrung der Niederlage. Wenn man von einem regelrechten Kriegsnationalismus sprechen wollte, also einer ideologischen Konstellation, die es in dieser Substanz vor dem Krieg so noch nicht gegeben hatte, dann traf dies in erster Linie auf den Süden zu. Die Deutung der Niederlage führte hier zu einem religiös konnotierten Nationsbegriff, in dem die Opferrolle des Südens dominierte.48 Der amerikanische Bürgerkrieg offenbarte nicht allein ein bislang unbekanntes Ausmaß an Massenmobilisierung, die den Staat dazu zwang, weiter gehend als bislang auf eine ideologisierte Nationsidee zur Rechtfertigung der Kriegsanstrengungen zurückzugreifen. Er antizipierte als umfassender und erster ansatzweise industrieller Volkskrieg zugleich Kennzeichen eines totalen Krieges, vor allem im Hinblick auf die Behandlung der Zivilbevölkerung.49 Auf den fundamentalen Zusammenhang zwischen dem Charakter des 47 Abraham Lincoln, Rede vom 4. März 1861, in: The Collected Works of Abraham Lincoln,hg. von Roy P. Basler, 9Bck.,New Brunswick/NJ 1953-1955, hier: Bd. 4, S.262-71. 48 Vgl. Drew Gilpin Faust, The Creation of Confederate Nationalism. Ideology and Identity in the Civil War South, Baton Rouge 1988 sowie Wolfgang Schivelbusch, Die Kultur der Niederlage. Der Amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918, Berlin 2001. 49 Vgl. Mark E. Neely, Was the Civil War a Total War?, in: Civil War History 37 (1991), S. 5-28; Stig Förster /Jörg Nagler (Hg.), On the Road to Total War: The American Civil War and the German Wars of Unification, 1861-1871, Cambridge 1997; Manfred F. Boemeke /Roger Chickering / Stig Förster (Hg.), Anticipating Total War. The German and American Experiences, 1871-1914, Cambridge 1999. Volks- und Nationalkrieg in Deutschland, Großbritannien und in den USA 101 Bürgerkrieges und der in ihm angelegten Enthemmung des Krieges hatte Christian Garve bereits 1800 mit Blick auf Frankreich hingewiesen. Im Amerikanischen Bürgerkrieg trat diese Enthemmung und Radikalisierung nun offen zutage. Auf die Guerilla-Taktik in bestimmten Gebieten der Südstaaten reagierten die Nordstaatengeneräle Sherman and Sheridan mit einem äußerst brutalen Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung, um die Verteidigungsbereitschaft des Gegners gleichsam im Mark zu treffen. Die Begründung dieser Maßnahmen verwies direkt auf die bereits zu Beginn des Jahrhunderts in Europa antizipierte Aufhebung der Grenze zwischen militärischer Kriegführung und Gesellschaft, auf das Paradigma des Bürgerkrieges und damit auf die Zuspitzung und Verabsolutierung von Feindbildern: „We are not only fighting hostile armies, but a hostile people, and must make old and young, rich and poor, feel the hard hand of war, as well as their organized armies."" Die Rückkehr der USA zu einem stehenden Heer von 25.000 Soldaten nach dem Ende des Bürgerkrieges konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich das traditionelle Milizsystem als demokratische Verteidigungspraxis unter den Bedingungen des industrialisierten Volkskrieges überlebt hatte. In kurzer Zeit waren im Norden wie im Süden daraus die Konsequenzen gezogen worden. In beiden Fällen war allerdings auch der autoritäre Militärstaat mit der Suspendierung der Habeas-Corpus Rechte die Folge gewesen» Andererseits darf die unmittelbare Wirkung der vorübergehend eingeführten Wehrpflicht auf die innere Nationsbildung der Vereinigten Staaten nicht überschätzt werden. Für eine umfassendere Prägung über Generationen hinweg war diese Erfahrung zu kurz und zudem 'denkbar ungleich verteilt. Dafür spielten die Verarbeitung der Niederlage und die Stilisierung nationaler Märtyrer wie Lincoln und Lee eine enorme Rolle für die Ausprägung langfristiger nationaler Selbstbilder. Erst vor diesem Hintergrund erhellt, warum der Spanisch-Amerikanische Krieg von 1898 eine so enorme Bedeutung für die Projektion der nun in einem auswärtigen Krieg demonstrierten und wieder gewonnenen Einheit der Nation annehmen konnte. Zeitgenossen betonten nicht zufällig, wie wichtig es sei, dass erst in diesem Krieg die Wunden des Bürgerkrieges durch die gemeinsame Teilnahme von Soldaten aus dem Norden und dem Süden geheilt worden seien.52 50 William T. Sherman, Memoirs, Bd. 2, New York 1875, S. 227. 51 Vgl. Richard Franklin Bensel, Yankee Leviathan. The Origins of Central State Authority in America, 1859-1877, Cambridge 1990 sowie Mark E. Neely Jr., The Fate of Liberty. Abraham Lincoln and Civil Liberties, New York 1991. 52 Vgl. etwa Kristin L. Hoganson, Fighting for American Manhood. How Gender Politics Provoked the Spanish-American and Philippine-American Wars, New Haven 1998, 5.107 ff. 102 Jörn Leonhard Zusammenfassung und Ausblick: Vom Bellizismus der Nationen zum industriellen Massenkrieg 1) Die zeitgenössischen Diskurse um Nationalkrieg und Volkskrieg wiesen seit dem Erfahrungsumbruch der Französischen Revolution und der aus ihr erwachsenden Revolutionskriege zunächst auf einen bereits im frühen 19. Jahrhundert sehr aufmerksam registrierten Wandel des Kriegscharakters hin. Mit der aus dem Bedeutungsspektrum des Bürgerkrieges herrührenden Identifizierung des einzelnen mit der Sache der Nation wurde zugleich ein neuartiger Zusammenhang zwischen Kriegführung und politisch-sozialer Partizipation hergestellt. In den Revolutionskriegen trat dieser Zusammenhang zum ersten Mal auf. In idealtypischer Konkretion erschienen Wahlrecht und Wehrpflicht des Staatsbürgers als zwei Seiten desselben nationalen Deutungsmusters. Anders als der um Eingrenzung der Battaillen bemühte Kabinettskrieg des Ancien regime, hob der Nationalkrieg die Separierung zwischen Militär und Gesellschaft potentiell auf. Das führte dem Staat zwar ein neues Machtinstrument zu, hatte aber langfristig auch enorme Konsequenzen für den Wandel von Legitimationsmustern staatlicher Gewalt im Namen der Nation. 2) Der Nationalkrieg, vor allem aber der Volkskrieg mit seiner potentiellen Entfesselung der Volksmassen im Zeichen neuer politisch-sozialer Partizipationsansprüche der Staatsbürger, konnte die überkommene Position des Staates als zentrales Lenkungsorgan infrage stellen. National- und Volkskrieg waren eben auch Revolutionsgeburten. Der Staat bemühte sich daher, National- und Volkskrieg durch Lenkung und Organisation, vor allem im Prinzip der Wehrpflicht, zu kanalisieren. Die kontinentaleuropäischen, zumeist konservativen Regierungen setzten daher bis 1870 und zumal nach den Erfahrungen einer in Ansätzen sichtbaren französischen leviv en masse 1870/71 alles daran, die Eskalation des National- und Volkskrieges zu verhindern, wie vor allem Moltkes Reflexionen zum Wandel des Kriegscharakters und dessen Konsequenzen zeigten. 3) Preußen zog die Konsequenz aus der Erfahrung der Revolution zu Beginn des 19. Jahrhunderts am weitesten gehend mit der Einführung der Wehrpflicht ohne Stellvertretung. Weil aber hier die Berufung auf die Staatsbürgernation fehlte, die es in Frankreich zumindest in der Fiktion gab, konnte der Staat, später der preußische Machtstaat, für den bürgerlichen Bellizismus die beherrschende Orientierungslinie werden. So sehr Militär und Kriegsdeutung nach 1871 in den Dienst der inneren Nationsbildung gestellt wurden, so fragil blieb diese Konstellation, wie die durch den totalen Krieg ausgelöste politisch-gesell- Volks- und Nationalkrieg in Deutschland, Großbritannien und in den USA 103 schaftliche Legitimationskrise nach 1914 beweisen sollte. Das zeigte sich bereits in den Kriegsdeutungen nach 1871: Der erst durch Krieg entstandene Nationalstaat schien durch einen zukünftigen Volkskrieg schon wieder infrage gestellt, indem dieser die Fundamente von Staat und Gesellschaft von innen bedrohte. Der entfesselte Volkskrieg als Erbe des Revolutionszeitalters würde sich, so die Erwartung, nicht mehr staatlich lenken und kanalisieren lassen. Die militärstrategische Entscheidung für den „kurzen" Krieg der Zukunft ließ sich somit auch als Versuch deuten, weiter gehende politisch-soziale Partizipationsforderungen zu verhindern und damit die Tektonik des Nationalstaates zu bewahren. Das erhellt, warum der Erste Weltkrieg, der nach dem Scheitern des Schlieffen-Plans nur noch als industrieller Massenkrieg zu führen war, eine ungeahnte Legitimations- und Loyalitätskrise für den deutschen Nationalstaat bedeutete. 4) In Großbritannien fehlte die konkrete Erfahrung des National- und Volkskrieges, die eher als kontinentaleuropäische Phänomene rezipiert wurden. Dagegen wurde hier die Erfahrung der kolonialen Small Wars für das 19. Jahrhundert bestimmend. Großbritannien erfuhr eine nationale Ideologisierung von Militär und Krieg in einer paradoxen Weise zugleich früher und später als die kontinentaleuropäischen Gesellschaften: früher durch die im Rahmen der Kriege gegen Spanien und Frankreich seit dem 16. Jahrhundert ausgebildeten antikatholischen Feindbilder, später durch die neue Rolle der Armee als Klammer von Union und Empire seit den 1850er Jahren. Einerseits prädestinierten die relative räumliche Abwesenheit des Militärs in Großbritannien und das Kolonialreich selbst die Projektion einer anglisierten Zivilisationsmission der Armee. Andererseits immunisierte dies die Armee aber nicht vor der Folgen der Industrialisierung. Der relativ späten bellizistischen Aufladung britischer Nationsvorstellungen lag hier aber nicht der Nationalkrieg oder die Antizipation des Volkskrieges zugrunde — die Wehrpflicht wurde eben erst unter dem Zwang des Weltkrieges 1916 eingeführt —, sondern rekurrierte auf die öffentliche Wahrnehmung des Krimkrieges und der Indian Mutiny in den 1850er Jahren sowie auf den Rüstungswettlauf nach 1890 und die weit verbreitete Panik vor einer Invasion vor 1914. 5) In den Vereinigten Staaten fehlten sowohl die Erfahrung eines lang andauernden Revolutionskrieges als auch die der persistenten Small Wars im Rahmen eines globalen Kolonialreiches. Hier fand die Ideologisierung des Krieges zunächst ex negativo, nämlich in der Mythisierung des Unabhängigkeitskampfes als people's war auf der Basis improvisierter Milizen gegen die britischen Söldnertruppen statt. Weil es spätestens nach 1815 aber keine externe Bedrohungssituation mehr 104 Jörn Leonhard gab, entfalteten sich institutionelle Modernisierung und nationale Ideologisierung von Krieg und Militär erst unter den besonderen Bedingungen des Bürgerkrieges, der dann aber als neuartiger Volkskrieg zumindest einige der Elemente späterer totaler Kriege antizipierte. Der Bürgerkrieg brachte nicht allein die Überwindung des Milizsystems und einen erheblichen Professionalisierungsschub, sondern führte zu bellizistischen Nationsvorstellungen, sei es im Sinne einer durch den Krieg moralisch gereinigten Nation, im Sinne einer Reconstruction oder im Rahmen eines erst aus der Niederlage konkretisierten Nationalismus des Südens. Ein persistenter bellizistischer Nationalismus blieb nach 1865 zunächst noch aus. Erst vor dem Hintergrund des Spanisch-Amerikanischen Krieges von 1898 wurde ein nunmehr externer Krieg als homogenisierendes und integrierendes Moment erfahren. 6) In seinem Charakter als industrieller Massenkrieg transzendierte der Erste Weltkrieg sowohl den National- als auch den Volkskrieg und markierte damit einen fundamentalen Erfahrungsumbruch. Indem er die gesamte Gesellschaft militärisch und zivil unmittelbar berührte und gleichzeitig ungeahnte Anstrengungen bei bisher unbekannten Opfern einforderte, bedeutete der totale Krieg auch die Totalisierung von Legitimation und Loyalität im Namen der Nation. In allen betroffenen Gesellschaften bedeutete er das tägliche Plebiszit im Schützengraben wie in der Munitionsfabrik. Das ging über die gesteigerte Nationalisierung des Bellizismus in der Folge der Französischen Revolution und über die in den National- und Volkskriegen des 19. Jahrhunderts angelegte Demokratisierung des Krieges weit hinaus. Der 1914-1918 zutage tretende neuartige Kriegsnationalismus war deshalb offen für eine neue Konnotationen, die das Motiv des nationalen Interesses hinter sich ließen. Erich Ludendorff argumentierte in den 1930er Jahren entsprechend, im modernen Krieg gehe es um die Existenz der Nation überhaupt, um „Lebenserhaltung". 53 Das war etwas grundlegend anderes als der absolute Krieg Clausewitz'scher Definition, dem sich noch die „ Wahrung der Nationalinteressen" hatten zuordnen lassen. 54 Hinter der Transformation des National- und Volkskrieges in den Kriegsnationalismus des Ersten Weltkrieges stand mithin eine Ideologisierung des Krieges, die die moralische und physische Vernichtung des Feindes beinhaltete. Wo dies in den Kriegen des 19. Jahrhunderts zumindest in Ansätzen erkennbar geworden war, wurde es jetzt in neuer Dimension massenhaft zur Erfahrungsgrund53 Erich Ludendorff, Der totale Krieg, München 1935, S. 5 f. 54 Artikel Krieg, in: F. A. Brockhaus, Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon, Bd. 9, 11. Aufl., Leipzig 1866, S. 79. Volks- und Nationalkrieg in Deutschland, Großbritannien und in den USA 105 lage einer ganzen Generation. Zur traumatischen Prägung der Kriegsgeneration gehörte nicht allein die Totalisierung der Vernichtungsmittel, sondern auch die Totalisierung der ideologischen Diskriminierung im Namen der Nation. Dies rekurrierte zwar noch auf den Bellizismus, wie er sich in der Deutung und Aneignung der krisenhaften Erfahrungsumbrüche seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts entwickelt hatte, wies aber doch weit über ihn hinaus. Ahnungsvoll notierte Maurice Georges, französischer Botschafter in Moskau, im August 1914: „Der jetzige Krieg gehört nicht zu denjenigen, die durch einen politischen Vertrag beendet werden wie nach einer Schlacht bei Solferino oder Sadowa; es ist ein Krieg auf Leben und Tod, in welchem jeder Kämpfende seine nationale Existenz aufs Spiel setzt."55 55 Maurice Georges, zitiert nach: Theodor Schieder, Staatensystem als Vormacht der Welt, 1848-1918. Propyläen Geschichte Europas, Frankfurt/Main 1982, S. 331.