Nationalismus - Lise-Meitner

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Nationalismus, Nationsbildung und Nationalstaatsbildung als historische
Begriffe
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Wir wollen unter Nation eine Bevölkerung verstehen, die sich ihrer Zusammengehörigkeit bewusst geworden
ist und in der sich die Vorstellung besonderer gemeinsamer Interessen, auch gegenüber anderen Völkern,
durchgesetzt hat Das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl beruht in der Regel auf typischen gemeinsamen
Merkmalen: Sprache, Kultur, Geschichte, eventuell Religion. Um von einer Nation sprechen zu können muss
kein gemeinsamer Staat existieren. So war beispielsweise Polen bis zum Ersten Weltkrieg zwischen Russland,
Österreich und Preußen bzw. Deutschland aufgeteilt. Trotzdem gab es um 1900 im Bewusstsein einer großen
und wachsenden Zahl von Polen zweifellos eine polnische Nation, ohne dass ein polnischer Nationalstaat
existierte.
Vom Nationalstaat wollen wir sprechen, wenn eine sich als Nation verstehende Bevölkerung in einem Staat
die übergroße Mehrheit bildet und diesen Staat als Ausdruck ihrer Nation ansieht. Die Schweiz und auch die
Donaumonarchie Österreich-Ungarn setzten sich aus verschiedenen Sprachgruppen zusammen. In der Schweiz
gelangten die vier sprachlichen Gruppen seit dem 18. Jahrhundert zu der Auffassung einer einzigen, föderativ
gegliederten eidgenössischen Nation anzugehören. Die Donaumonarchie blieb dagegen bis zu ihrem Ende 1918
ein Nationalitätenstaat, dessen Volksgruppen ihr nationales Bewusstsein gegeneinander und gegen das
Habsburger Kaiserreich entwickelten.
Aus der Konkursmasse Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches ging 1918/19 der Staat
Jugoslawien hervor. Sein Beispiel zeigt, wie religiöse Abgrenzungen an die Stelle sprachlicher treten können.
Trotz einer nahezu identischen Schriftsprache überdauerte der staatliche Verbund von Serben und Kroaten
nicht das Ende der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa, Gegen die Gegensätze zwischen katholischen,
nach Westen orientierten und das lateinische Alphabet benutzenden Slowenen
und
Kroaten,
griechischorthodoxen, slawisch orientierten und kyrillisch schreibenden Serben und muslimischen Bosniaken
vermochte sich die jugoslawische Staatsidee letztlich nicht durchzusetzen. Diese beispielhaften
Gegenüberstellungen deuten schon darauf hin, dass gesellschaftliche und politische Vorgänge bei der
Nationsbildung und bei der Nationalstaatsbildung eine entscheidende Rolle spielen. Dass z.B. die Schweizer
sprachübergreifend eine Vorstellung gemeinsamer nationaler Eigenarten und Interessen gewinnen konnten, hat
- neben geographischen Faktoren - sehr viel mit einem Geschichtsbild zu tun, in dem die Verteidigung der
„Schweizerfreiheit" einen zentralen Stellenwert hatte. Begünstigt durch Geschichtsmythen über die seit dem
Mittelalter nach innen und außen für ihre Freiheit eintretenden Bergbewohner, bildete sich im 19. Jahrhundert
der moderne Schweizer Staat heraus. Seine Voraussetzung war eine gesellschaftliche Nationsbildung. Hierbei
traten die bislang sozial und räumlich weitgehend voneinander getrennten Teile der schweizerischen
Bevölkerung, die bis 1848 in einem Staatenbund lebten, in einen so dichten Austausch miteinander, dass sie
imstande waren sich als eine nationale Gemeinschaft zu begreifen. Nationsbildung ist nur möglich durch eine
sprunghafte Ausweitung der Kommunikation - besonders der Schriftlichkeit, des Schulwesens und des
Verkehrs -, durch den Abbau ständischer Schranken sowie die Herausbildung überregionaler
Marktbeziehungen. Nationen entstehen jedoch nicht automatisch durch Verdichtung von Kommunikation,
sondern nationale Bewegungen entscheiden mit darüber, wo und wie die Nationsbildung erfolgt.
In der Donaumonarchie und ihren Teilgebieten förderten die Nationsbildungsprozesse nicht den Gesamtstaat,
sondern bereiteten seine Auflösung vor. Am Beispiel des zu Österreich (und zum Deutschen Bund) gehörenden,
zweisprachigen Böhmen wird deutlich, wie sehr die gesellschaftliche Nationsbildung durch politische Faktoren
beeinflusst werden kann: Ohne die Meinungsverschiedenheiten zwischen Deutsch-Böhmen und Tschechen über
die staatliche Zugehörigkeit und die politische Rolle des Landes ist die während des 19. Jahrhunderts
fortschreitende Trennung der beiden Volksgruppen hier nicht zu erklären. Vom deutschen Frühnationalismus
direkt beeinflusst knüpften tschechische Intellektuelle bei ihrem Bemühen um die „nationale Wiedergeburt" an
die mittelalterliche und frühneuzeitliche Vergangenheit Böhmens (Hussitenkriege, ständisch-protestantische
Opposition gegen Habsburg) an. Diese Bestrebungen spitzten sich sozial zu, weil in Böhmen auch außerhalb
des geschlossenen deutschen Siedlungsgebiets das Bürgertum, die Beamtenschaft und der Adel größtenteils
deutschsprachig waren, während Bauern, Kleinbürger und Arbeiter in der Regel Tschechisch sprachen.
Die Komponente sozialen Protests und sozialer Hoffnungen, die sich hier zeigt und die die meisten
Nationalbewegungen kennzeichnet» ist z.B. auch für den irischen Nationalismus von entscheidender
Bedeutung. In dem von England unterdrückten katholischen Irland verbanden sich konfessionell-nationale und
soziale Gegensätze, verschärft durch die Zuwanderung protestantischer Briten nach Nordirland. Auf dem
Höhepunkt einer schweren Agrarkrise bildeten um 1880 arme Pächter die Basis der gegen die
Großgrundbesitzer gerichteten nationalrevolutionären Vereinigungen. Und die 1919 gegründete militante IrischRepublikanische Armee (IRA) rekrutierte sich weitgehend aus gewerkschaftlich organisierten Arbeitern. Daneben
existierte eine zahlenmäßig stärkere, friedlich und legal ausgerichtete Autonomie- und Unabhängigkeitsbewegung.
Nationalismus umfasst also die Nationalbewegung ebenso wie den Nationalgedanken. Die Nation bildet dabei
den zentralen Wert., der starke Gefühlskräfte für das zentrale politische Ziel zu mobilisieren vermag: den
einheitlichen Nationalstaat. Der Nationalismus will Massen mobilisieren mit den Individuen als prinzipiell
gleiche Angehörige der nationalen Gemeinschaft. Er schafft eine neue, auf die ständeübergreifende Großgruppe
„Nation" bezogene Art des politischen und kulturellen Verhaltens.
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