Nationalismus, Nationsbildung und Nationalstaatsbildung als historische Begriffe 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 Wir wollen unter Nation eine Bevölkerung verstehen, die sich ihrer Zusammengehörigkeit bewusst geworden ist und in der sich die Vorstellung besonderer gemeinsamer Interessen, auch gegenüber anderen Völkern, durchgesetzt hat Das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl beruht in der Regel auf typischen gemeinsamen Merkmalen: Sprache, Kultur, Geschichte, eventuell Religion. Um von einer Nation sprechen zu können muss kein gemeinsamer Staat existieren. So war beispielsweise Polen bis zum Ersten Weltkrieg zwischen Russland, Österreich und Preußen bzw. Deutschland aufgeteilt. Trotzdem gab es um 1900 im Bewusstsein einer großen und wachsenden Zahl von Polen zweifellos eine polnische Nation, ohne dass ein polnischer Nationalstaat existierte. Vom Nationalstaat wollen wir sprechen, wenn eine sich als Nation verstehende Bevölkerung in einem Staat die übergroße Mehrheit bildet und diesen Staat als Ausdruck ihrer Nation ansieht. Die Schweiz und auch die Donaumonarchie Österreich-Ungarn setzten sich aus verschiedenen Sprachgruppen zusammen. In der Schweiz gelangten die vier sprachlichen Gruppen seit dem 18. Jahrhundert zu der Auffassung einer einzigen, föderativ gegliederten eidgenössischen Nation anzugehören. Die Donaumonarchie blieb dagegen bis zu ihrem Ende 1918 ein Nationalitätenstaat, dessen Volksgruppen ihr nationales Bewusstsein gegeneinander und gegen das Habsburger Kaiserreich entwickelten. Aus der Konkursmasse Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches ging 1918/19 der Staat Jugoslawien hervor. Sein Beispiel zeigt, wie religiöse Abgrenzungen an die Stelle sprachlicher treten können. Trotz einer nahezu identischen Schriftsprache überdauerte der staatliche Verbund von Serben und Kroaten nicht das Ende der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa, Gegen die Gegensätze zwischen katholischen, nach Westen orientierten und das lateinische Alphabet benutzenden Slowenen und Kroaten, griechischorthodoxen, slawisch orientierten und kyrillisch schreibenden Serben und muslimischen Bosniaken vermochte sich die jugoslawische Staatsidee letztlich nicht durchzusetzen. Diese beispielhaften Gegenüberstellungen deuten schon darauf hin, dass gesellschaftliche und politische Vorgänge bei der Nationsbildung und bei der Nationalstaatsbildung eine entscheidende Rolle spielen. Dass z.B. die Schweizer sprachübergreifend eine Vorstellung gemeinsamer nationaler Eigenarten und Interessen gewinnen konnten, hat - neben geographischen Faktoren - sehr viel mit einem Geschichtsbild zu tun, in dem die Verteidigung der „Schweizerfreiheit" einen zentralen Stellenwert hatte. Begünstigt durch Geschichtsmythen über die seit dem Mittelalter nach innen und außen für ihre Freiheit eintretenden Bergbewohner, bildete sich im 19. Jahrhundert der moderne Schweizer Staat heraus. Seine Voraussetzung war eine gesellschaftliche Nationsbildung. Hierbei traten die bislang sozial und räumlich weitgehend voneinander getrennten Teile der schweizerischen Bevölkerung, die bis 1848 in einem Staatenbund lebten, in einen so dichten Austausch miteinander, dass sie imstande waren sich als eine nationale Gemeinschaft zu begreifen. Nationsbildung ist nur möglich durch eine sprunghafte Ausweitung der Kommunikation - besonders der Schriftlichkeit, des Schulwesens und des Verkehrs -, durch den Abbau ständischer Schranken sowie die Herausbildung überregionaler Marktbeziehungen. Nationen entstehen jedoch nicht automatisch durch Verdichtung von Kommunikation, sondern nationale Bewegungen entscheiden mit darüber, wo und wie die Nationsbildung erfolgt. In der Donaumonarchie und ihren Teilgebieten förderten die Nationsbildungsprozesse nicht den Gesamtstaat, sondern bereiteten seine Auflösung vor. Am Beispiel des zu Österreich (und zum Deutschen Bund) gehörenden, zweisprachigen Böhmen wird deutlich, wie sehr die gesellschaftliche Nationsbildung durch politische Faktoren beeinflusst werden kann: Ohne die Meinungsverschiedenheiten zwischen Deutsch-Böhmen und Tschechen über die staatliche Zugehörigkeit und die politische Rolle des Landes ist die während des 19. Jahrhunderts fortschreitende Trennung der beiden Volksgruppen hier nicht zu erklären. Vom deutschen Frühnationalismus direkt beeinflusst knüpften tschechische Intellektuelle bei ihrem Bemühen um die „nationale Wiedergeburt" an die mittelalterliche und frühneuzeitliche Vergangenheit Böhmens (Hussitenkriege, ständisch-protestantische Opposition gegen Habsburg) an. Diese Bestrebungen spitzten sich sozial zu, weil in Böhmen auch außerhalb des geschlossenen deutschen Siedlungsgebiets das Bürgertum, die Beamtenschaft und der Adel größtenteils deutschsprachig waren, während Bauern, Kleinbürger und Arbeiter in der Regel Tschechisch sprachen. Die Komponente sozialen Protests und sozialer Hoffnungen, die sich hier zeigt und die die meisten Nationalbewegungen kennzeichnet» ist z.B. auch für den irischen Nationalismus von entscheidender Bedeutung. In dem von England unterdrückten katholischen Irland verbanden sich konfessionell-nationale und soziale Gegensätze, verschärft durch die Zuwanderung protestantischer Briten nach Nordirland. Auf dem Höhepunkt einer schweren Agrarkrise bildeten um 1880 arme Pächter die Basis der gegen die Großgrundbesitzer gerichteten nationalrevolutionären Vereinigungen. Und die 1919 gegründete militante IrischRepublikanische Armee (IRA) rekrutierte sich weitgehend aus gewerkschaftlich organisierten Arbeitern. Daneben existierte eine zahlenmäßig stärkere, friedlich und legal ausgerichtete Autonomie- und Unabhängigkeitsbewegung. Nationalismus umfasst also die Nationalbewegung ebenso wie den Nationalgedanken. Die Nation bildet dabei den zentralen Wert., der starke Gefühlskräfte für das zentrale politische Ziel zu mobilisieren vermag: den einheitlichen Nationalstaat. Der Nationalismus will Massen mobilisieren mit den Individuen als prinzipiell gleiche Angehörige der nationalen Gemeinschaft. Er schafft eine neue, auf die ständeübergreifende Großgruppe „Nation" bezogene Art des politischen und kulturellen Verhaltens.