Formen des Nationalismus Im historischen Zusammenhang kann Nationalismus unterschiedlichste Formen annehmen. Mit jeder Form werden andere Definitionen von Nation, Vorstellungen und Erwartungen verbunden. Die Einordnung soll sich an seiner Funktion orientieren. Somit wird eine objektive Bewertung ermöglicht, welche sich von moralischen Wertungen abgrenzt. Nationalismus wird in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der historischen Erfahrung des Nationalsozialismus und des Holocausts im alltäglichen Sprachgebrauch oft in negativen Zusammenhängen genannt. 1. Der Risorgimento-Nationalismus Wenn eine soziale Gruppe politisch oder sozial unterdrückt wird, kann sie sich als eine Nation erkennen und in Abgrenzung zu den Machthabenden definieren. Das so genannte Risorgimento (nach ital. Wiederauferstehung/Wiedergeburt) beschreibt die Zeit vor und insbesondere nach dem Wiener Kongress von 1815, in denen sich die Bewohner deutscher und italienischer Fürstentümer und Regionen der Idee eines Nationalstaates verpflichteten. In seiner Funktion dient der so genannte Risorgimento-Nationalismus der politischen Emanzipation größerer gesellschaftlicher Gruppen, die einen souveränen Nationalstaat zum Ziel haben. Gleichzeitig setzt sich diese Protestbewegung für bürgerliche Freiheiten ein, da die Nation sich in diesem Staat frei entfalten können soll. Diese Freiheiten sollen als Recht in einer Verfassung festgeschrieben sein, womit die Bewegung unmittelbar an die Programmatik der Französische Revolution anknüpft. Die Ideologie des Risorgimento umfasst jedoch kein egalitäres Verständnis der Nation, vielmehr seien alle Nationen in ihrer Emanzipation gegenüber ihren Herrschern vereint. Die Solidarität der Unterdrückten ist hier ein einigendes Band. Die konkrete Motivation der Emanzipation kann aus kultureller, ökonomischer oder politischer Richtung kommen, allerdings dominiert der politische Aspekt. Weiterhin kann zwischen der Art der Abgrenzung unterschieden werden zwischen einem uninfizierenden Risorgimento, der einen nationalen Staat durch Zusammenschluss getrennter Teile erreichen möchte, sowie dem sezessionistischen Risorgimento, der gewünschten Ausgliederung einer Nation aus einem größeren Staatsgebilde, also Vielvölkerstaaten. 2. Der Reform-Nationalismus Der Reform-Nationalismus zielt auf staatliche Reformen, womit er in gewisser Hinsicht wie das Risorgimento durch eine staatliche Wiedergeburt motiviert ist. Im Gegensatz dazu beschränkt er sich aber auf einen bereits bestehenden Staat, welcher in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, politischer oder militärischer Hinsicht reformbedürftig ist, weil er anderen Nationen unterlegen ist. Dazu gehören die japanischen, türkischen und chinesischen Reformbewegungen. Diese Art des Nationalismus wird oftmals von der staatstragenden Schicht vertreten, die Teilreformen durchsetzen möchten, aber feststellen, dass isolierte Reformen gesellschaftlicher Bereiche unzureichend sind und deswegen umfassendere Reform- und Modernisierungsprogramme durchsetzen möchten. Somit ist eine Vorbedingung die politische Schlüsselstellung der Reformierer, welche auf ideologischer Ebene die nationale Identität wahren möchten, aber die Notwendigkeit von Reformen im Vergleich mit anderen Nationen anerkennen. Erklärungsansätze In der wissenschaftlichen Forschung zum Nationalismus gibt es zwei Grundrichtungen, die sich auf den Zeitraum der Entstehung beziehen. 1. Nationalismus als Phänomen der Moderne Nach herrschender Meinung ist Nationalismus ein Phänomen der Moderne. Ein früher, moderner Nationenbegriff bildete sich in der Französischen Revolution. Im 19. Jahrhundert wurde jedoch nationalistische Mythenbildung betrieben, um die neu geschaffenen Nationen als Traditionsgemeinschaften zu verankern (Vorreiter dieser Mythenbildungen waren in Deutschland vor allem Herder und Fichte, in Italien Mazzini). Vor dem 18. Jahrhundert wich der Begriff der Nation so stark von modernen Vorstellungen ab, dass "vormoderner" Nationalismus vermutlich lediglich eine Projektion aus heute allgegenwärtiger nationalistischer Perspektive ist. Vor der Herausbildung moderner Nationen standen nach Auffassung modernistischer Theoretiker andere, meist persönliche Bindungen (beispielsweise an den Lehnsherren) im Zentrum der meisten Gruppenzugehörigkeiten. Tatsächlich sind quasi-nationalstaatliche Institutionen eine Grundvoraussetzung zur Entstehung einer über den Personenverband hinausgehenden nationalen Identität. Im Nationalismus wird die vormals personengebundene Loyalität (Königtum etc.) in eine abstrakte überpersonale Ebene verallgemeinert. Ein persönlicher Umgang miteinander, wie er in einer Dorfgemeinschaft oder am Fürstenhof alltäglich war, wurde nun auch auf Personen projiziert, die nicht in direktem Kontakt miteinander stehen konnten. Unter Bezugnahme auf vermeintliche oder tatsächlicher Gemeinsamkeiten in Geschichte, Sprache und Kultur, die in vielen Fällen - wie zum Beispiel durch die Normierung der deutschen Sprache in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - erst während der Nationsbildung entstanden sind, wurde eine nationale Gemeinschaft konstituiert. Diese Gemeinschaft reproduziert sich zum Beispiel durch nationalstaatliche Institutionen (Behörden, Schulen etc.) selbst. In Europa bekam der Nationalismus einen erheblichen Schub durch die Ideen der Französischen Revolution. In ihrer Folge wurde die Idee der Volkssouveränität populär, die sowohl einen demokratischen als auch einen nationalen Ansatz hat. Die in ihrer Folge entstehende Theoriebildung mit zahlreicher Literatur darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Nationalismus auch ohne theoretische Begriffsbildung bereits bestand. Als im Volke populär und den konservativen Kräften der Restauration entgegenstehend zeigten sich die national und demokratisch gesonnenen Bewegungen der Revolutionen von 1848/1849. Beginnend mit der französischen Februarrevolution sprang der Funke in ganz Europa über, auch in Deutschland (Märzrevolution). In den geschichtlichen Vordergrund getreten sind letztlich aber die nationalen Antagonismen, die nach dem rasanten technischen Fortschritt des 19. und 20. Jh. zu den verheerenden Ergebnissen moderner Kriegsführung mit Millionen von Toten führten. Aber auch der Zerfall von Machtstrukturen führt zum Ausbrechen nationalistischer Bestrebungen, etwa beim Zusammenbruch der Kolonialreiche in der Folge des Zweiten Weltkrieges. Die nach Unabhängigkeit strebenden ehemaligen Kolonialvölker erreichten zum Teil in blutigen Befreiungskriegen ihre Selbständigkeit. Dabei griffen sie auf die bereits bekannten Prinzipien des Nationalismus zurück und setzten dessen emanzipatorisches Element, verbunden mit einem politischen Gleichheitsversprechen gegenüber allen zur Nation zählenden Menschen ein, um den Kolonialismus zu delegitimieren. Hier zeigt sich wieder sein Doppelcharakter: Inklusion und Exklusion sind elementare Bestandteile des Nationalismus. Während einerseits die politische Gleichheit der in einer Nation vereinten Gruppe betont wird, erfolgt gleichzeitig der Ausschluss der nicht zur Nation gehörigen Gruppen. Dies kann von einer kommunikativen Betonung der Andersartigkeit dieser Ausgeschlossenen bis zu ihrem physischen Ausschluss (ethnische Säuberung) oder ihrer Vernichtung führen (Holocaust). 2. Nationalismus als primordiales Phänomen Im Gegensatz zu modernistischen Theoretikern gestehen eine Reihe anderer Nationalismusforscher, ethnischen Nationen, die sich über Sprache, Religion Verwandschaftsnetzwerke, kulturelle Eigenarten oder quasi-rassische Gemeinsamkeiten definieren, ein Eigenleben ohne Nationalismus zu. Für diese Theoretiker ist Nationalismus zumindest teilweise eine Manifestation eines uranfänglichen Zusammengehörigkeitsgefühls. Nationalisten vertreten im Allgemeinen Vulgärversionen solcher Theorien.