Prof. Dr. Hans-Werner Hahn WS 2012/13 Vorlesung: Gesellschaftlicher Wandel und politischer Aufbruch: Europäische Geschichte 1830-1848 11. Rheinkrise und deutscher Nationalismus I. Entwicklung der deutschen Nationalbewegung Literatur zu Nationalismus und Nationalstaat: R.-U. KUNZE, Nation und Nationalismus, Darmstadt 2005. D. LANGEWIESCHE, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000. H.-U. WEHLER, Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2001. S. WEICHLEIN, Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa, Darmstadt 2006. In den vierziger Jahren traten Nation und Nationalstaat als Ziele und Handlungsebene in Deutschland stärker hervor als jemals zuvor. Die vielfältigen inneren Probleme waren aus der Sicht der oppositionellen Kräfte nicht mehr im bestehenden staatlichen Rahmen, sondern nur durch den nationalen Zusammenschluss zu lösen. Innerhalb der Forschung wird in den letzten Jahren über die Fragen Nation, Nationalismus, Nationalstaat besonders intensiv diskutiert. Der moderne "Nationalismus", einer der großen politischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, ist zunächst einmal eine Emanzipationsideologie. Das erklärt seinen engen Zusammenhang mit Liberalismus und Demokratie. Die moderne Nation beinhaltete das Bekenntnis zur egalitären Staatsbürgergesellschaft und zur Volkssouveränität und stellte eine klare Absage an die überkommene ständische Privilegienordnung dar. Diese politisch aufgeladene und antiständische Vorstellung von der Nation unterschied den modernen Nationalismus von älteren Vorläufern oder vom "Protonationalismus" der frühen Neuzeit, dem die Historiker in den letzten Jahren ebenfalls verstärkte Beachtung geschenkt haben. Die moderne Nationalstaatsidee wurde zwar um 1800 neu "konstruiert", aber in sie gingen doch mehr ältere, tiefverwurzelte Vorstellungen ein, als es Historiker noch vor einigen Jahren behauptet haben. Die seit 1813/14 stark aufkommende Nationalbewegung war die Reaktion auf den Untergang des Alten Reiches und die napoleonische Herrschaft. In ihr bündelten sich verschiedene Elemente. Verfassungs- und gesellschaftspolitisch orientierte sie sich durchaus am Vorbild Frankreichs, wo der dritte Stand in der Revolution sich zum allgemeinen Stand erhoben und sich zur souveränen Nation erklärt hatte (Staatsnation). Neben der Idee der Staatsnation spielten aber kulturnationale Begründungen in der deutschen Nationalbewegung von Anfang an eine dominierende Rolle (scheinbar objektiv vorgegebenen Faktoren wie gemeinsame Herkunft, Geschichte, Sprache usw.). Die Entdeckung der Kulturnation erfolgte im politisch zersplitterten Deutschland, bevor sich die moderne Staatsnation als Zielpunkt herausgebildet hatte. Eine wichtige Prägung erhielt der frühe deutsche Nationalismus (hier funktional verstanden als Bewegung, die auf die Errichtung des Nationalstaates zielt) ferner durch das Kriegserlebnis der Befreiungskriege von 1813-15. Die Nation wurde hier männlich-kriegerisch definiert und religiös überhöht (Nation als höchster gottgewollter Sinnbezug). Aus all diesen Gründen ist eine Sichtweise abzulehnen, die den Nationalismus in eine helle, friedvoll-demokratische, Selbstbestimmung verheißende Phase und in einer später folgende 1 dunkle, aggressive Phase zerlegt. Der Nationalismus ist am Anfang, aber eben auch noch später und nicht nur in Deutschland janusköpfig gewesen. Auch bei der Herausbildung moderner nationaler Identitäten in den westeuropäischen Staaten spielten oft weniger die verfassungspolitischen Fortschrittselemente eine Rolle, sondern vor allem die Kriegserfahrung. Nation und Krieg standen überall in Europa in einer sehr engen Beziehung. So war es vor allem der Kampf gegen Frankreich, der um 1800 aus Engländern, Schotten und Walisern "Briten" machte. In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhundert schienen in der deutschen Nationalbewegung die verfassungs- und gesellschaftspolitischen - also die emanzipatorischen - Antriebe zu überwiegen. Man betonte die friedens- und völkerversöhnende Funktion der europäischen Nationalstaaten (MAZZINI). Diese Motive blieben auch in den vierziger Jahren wichtig. Aber jetzt traten auch die macht- und sicherheitspolitischen sowie die wirtschaftspolitischen Motive der Nationalbewegung deutlich stärker hervor. Am Anfang des großen Aufschwungs, den die deutsche Nationalbewegung in den vierziger Jahren erfuhr, stand bezeichnenderweise eine außenpolitische Krise im europäischen Staatensystem. II. Europäisches Staatensystem am Ende der 1830er Jahre W. BAUMGART, Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830-1878, Paderborn 1999. A. DÖRING-MANTEUFFEL, Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 18151871. München 1993. R. POIDEVIN/J. BARIÉTY, Frankreich und Deutschland. Die Geschichte ihrer Beziehungen 1815-1975. München 1982. M. SCHULZ, Normen und Praxis. Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat 1815-1860, München 2009. Das 1815 geschaffene, auf dem Gleichgewichtsprinzip aufgebaute europäische Staatensystem hatte die Erschütterungen von 1830 abfangen können. Trotzdem blieben sie nicht folgenlos. Es kam zunächst zu einer ideologischen Blockbildung, bei dem sich ein konservativ-restaurativer Block der Ostmächte (Rußland, Österreich und Preußen, Konvention von Münchengrätz 1833) sowie der liberale Block der Westmächte (Großbritannien u. Frankreich; Quadrupelallianz mit Spanien und Portugal 1834 zur Sicherung liberaler Verfassungen) gegenüberstanden. Habsburger Monarchie: Ziel der österreichischen Politik war sowohl die Erhaltung der äußeren Rahmenbedingungen als auch die Bewahrung des Status quo im Inneren der Staaten. Das entsprach den besonderen Interessen des Vielvölkerstaates, der sich von Revolutionen und Nationalbewegungen bedroht sah. Nach dem Tod von Kaiser Franz I. im Jahre 1835 hat sich der Immobilismus der österreichischen Politik weiter verstärkt. Rußland entwickelte sich unter Zar Nikolaus I. (1825-1855) zum Hort der europäischen Reaktion. Der Modernitätsrückstand zum Westen wuchs. Trotz der ideologischen Gemeinsamkeiten mit Österreich zeichneten sich aber schon vor 1850 machtpolitische Gegensätze in der Balkanpolitik ab. Preußens Politik bewegte sich unter König Friedrich Wilhelm III. im Fahrwasser der beiden anderen Ostmächte. Durch die Gründung des Zollvereins hielt sich Berlin aber innerhalb des Deutschen Bundes auch andere Wege offen. Als Friedrich Wilhelm IV. im Jahre 1840 den Thron bestieg, kam vorübergehend wieder Bewegung in die preußische Politik, die aber am Ende dann doch wieder fest im Lager der Ostmächte verharrte. Die Politik Großbritanniens zielte darauf ab, das Gleichgewicht der Mächte zu bewahren und Revolutionen in Europa zu verhindern. Die beste Strategie gegen Revolutionen waren 2 aber aus der Sicht Londons zeitgemäße Reformen. Großbritannien war daher unter Außenminister PALMERSTON aufgeschlossen gegenüber freiheitlichen und nationalen Bewegungen, sofern sie mit dem Kernziel Gleichgewicht vereinbar blieben. Während Großbritannien ein stabiler Faktor der europäischen Politik war, entwickelte sich sein Partner - das Frankreich der Julimonarchie - zu einem Unruhefaktor. Frankreich betrieb zwar nach 1830 zunächst eine gemäßigte Außenpolitik und fügte sich auch unter Louis Philippe in das europäische System ein. Zugleich aber wuchs die innere Kritik an dieser Außenpolitik. Unzufriedenheit und innenpolitische Instabilität führten 1839/40 zu ersten Ausbruchsversuchen. III. Orientkrise und Rheinkrise: In der orientalischen Krise von 1839/40 unterstützte Frankreich den Kampf des ägyptischen Vizekönigs Mehemed Ali gegen den türkischen Sultan, um so seine Mittelmeerposition auszubauen. Eine französische Einflussnahme in Ägypten und Syrien widersprach vor allem den britischen Interessen. Deshalb schloss Großbritannien am 15. Juli 1840 in London mit den drei konservativen Ostmächten einen Vertrag, durch den Mehemed Ali wieder unter die Oberhoheit des Sultans gezwungen werden sollte. Frankreichs Ansprüche im Mittelmeerraum wurden von den anderen vier europäischen Großmächten zurückgewiesen. Russische, österreichische und britische Kräfte beendeten die Krise im Orient gemäß ihrer Vorstellungen. Im Meerengenvertrag vom 13. Juli 1841, in dem die Meerengen in Friedenszeiten für Kriegsschiffe geschlossen wurden, wurde die Orientkrise vorläufig beigelegt. Die Orientfrage blieb aber weiterhin ein Konfliktfeld der europäischen Politik. In Frankreich führte die außenpolitische Schlappe zum Ausbruch nationaler Leidenschaften. Man warf der Regierung THIERS vor, Frankreichs Macht und Ehre zu verspielt zu haben. Vor allem auf der Linken wurde die Forderung nach einer Außenpolitik laut, bei der man notfalls mit Waffengewalt Europa zur Anerkennung der französischen Wünsche zwingen sollte. In diesem Zusammenhang wurde auch die Forderung nach Rückgliederung des linken Rheinlandes immer lauter, auf das Frankreich aufgrund der "natürlichen Grenzen" wie aufgrund der zeitweiligen Zugehörigkeit des Rheinlandes zu Frankreich Anspruch zu haben glaubte. Nachdem auch Ministerpräsident THIERS Militäroperationen angeordnet hatte und mit dem „Säbel rasselte“, musste Frankreich am Ende auch in dieser Frage nachgeben. Louis Philippe zwang THIERS Ende Oktober 1840 zum Rücktritt und ernannte Guillaume GUIZOT zum neuen Ministerpräsidenten, der auf einen Verständigungskurs einschwenkte und vor allem um ein gutes Verhältnis zu Metternich bemüht war. IV. Deutsche Reaktionen auf die Rheinkrise: Die französischen Forderungen nach der Rheingrenze beunruhigten die deutschen Regierungen. Die süddeutschen Staaten, aber auch Preußen drängten auf eine Reform der Bundeskriegsverfassung, um die Abwehrkraft des Deutschen Bundes zu stärken. Zwar kam es nach 1840 zu neuen Verteidigungsanstrengungen des Deutschen Bundes, aber der österreichische Staatskanzler Metternich blockierte eine zu deutliche Stärkung des Bundes. Er hatte 1840 darauf gesetzt, die Krise auf der Ebene der Großmächte mit diplomatischen Mitteln zu entschärfen. Metternich fürchtete nämlich, dass eine Verschärfung der Krise und die dann schwer zu stoppenden Pläne einer umfassenden Bundesreform letztlich die nationalen Kräfte stärken mussten, die sich durch die Rheinkrise ohnehin in ihrem Streben nach einem deutschen Einheitsstaat bestätigt fühlten. In der deutschen Öffentlichkeit rief die Rheinkrise eine breite Welle des Nationalismus hervor und veränderte nachhaltig das politische Bewusstsein der Deutschen. Es entstand eine breite politisch und emotional aufgeladene Rheinliedbewegung, die im liberalen und demokratischen Lager zu heftigen 3 Attacken gegen Frankreich führte (Ausnahmen RUGE und HEINE). Innerhalb der deutschen Nationalbewegung traten die machtpolitischen Faktoren nun deutlicher hervor als im Jahrzehnt zuvor. Dies zeigten Forderungen nach Rückeroberung von Elsaß-Lothringen, vor allem aber auch der in den vierziger Jahren entstehende Konflikt um die Zukunft SchleswigHolsteins. Die außenpolitischen Konflikte der vierziger Jahre verstärkten die Meinung, dass Deutschland gerade auch aus macht- und sicherheitspolitischen Gründen die Einheit und eine feste, international handlungsfähige Führung benötige. Die gleiche Wirkung hatte im Übrigen die wirtschaftliche Krise, die sich ebenfalls nicht nur in Forderungen nach Schutzzöllen niederschlug, sondern auch in einer teilweise massiven antienglischen Stimmung. Es zeichneten sich in Teilen der liberalen und nationalen Bewegung auch Überlegungen ab, ob man sich nicht stärker auf schon existierende deutsche Staaten stützen sollte, ob man nicht vor allem mit dem preußischen Staat mehr zusammenarbeiten sollte. Hintergrund solcher Überlegungen waren Versuche des neuen, seit 1840 regierenden Königs Friedrich Wilhelm IV., Preußens Stellung in Deutschland durch Förderung der sicherheitspolitischen, handelspolitischen und kulturellen Belange auszubauen. Dem König ging es dabei darum, einige Anliegen der Nationalbewegung zu erfüllen und dieser damit in der öffentlichen Meinung das Wasser abzugraben. Es wurde deutlich, dass auch die konservativen Kräfte in den vierziger Jahren damit begannen, nationale Wünsche und Parolen zur Stärkung der eigenen Position zu nutzen. V. Kulturnationale Bestrebungen der vierziger Jahre: W. HARDTWIG, Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500.-1914, Göttingen 1994. M. HETTLING/P. NOLTE (Hrsg.), Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert. Göttingen 1993. Th. NIPPERDEY, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte. Göttingen 1976, S. 133-173. Ch. TACKE, Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert. Göttingen 1995. Die kulturnationalen Bestrebungen spielten neben den sicherheits- und machtpolitischen, den wirtschaftlichen und verfassungspolitischen Motiven in der liberalen und nationalen Bewegung der vierziger Jahre eine wichtige Rolle. Die Berufung auf die nationale Kultur war wichtig für die Identitätsbildung der Deutschen. Zugleich bot die Pflege dieses kulturellen Erbes - auf den Germanistentagen, den Sängerfesten, in der Denkmalbewegung und in der Literatur - eine geeignete Möglichkeit, die neuen Ziele auch auf scheinbar unpolitischem Felde zu propagieren. Die Idee der Kulturnation wurde in den vierziger Jahren damit politisch noch stärker aufgeladen und drang nun über die Ebene des Bildungsbürgertums weit in andere Schichten der Gesellschaft ein. Eine wichtige Rolle spielten hierbei die Feste der Sänger und Turner. 1845 fand ein großes Sängerfest in Würzburg statt, das als das erste deutsche Sängerfest bezeichnet worden ist. Auch in Thüringen gab es große Sängerfeste, etwa im August 1847 in Eisenach. Diese vom Bürgertum organisierten vormärzlichen Feste zeigten zum einen, wie sich der Charakter von Festen gegenüber der Frühen Neuzeit verändert hatte. Das barocke Fest am fürstlichen Hof, an dem auch die Untertanen teilweise einbezogen wurden (Festzug), war Ausdruck der bestehenden Ordnung. Es sollte die Stellung des Herrschers ebenso unterstreichen wie die Unterordnung der Untertanen. Das bürgerliche Fest des 19. Jahrhunderts war Ausdruck der Zukunftshoffnungen. Es nahm im Festgeschehen eine gesellschaftliche und politische Ordnung vorweg, die es erst zu schaffen galt. 4 Neben den Festen kam den Bemühungen um Nationaldenkmäler als Stätten einer liberaldemokratischen bestimmten Erinnerungskultur in den vierziger Jahren eine große Bedeutung zu. Auf dem Fest des Thüringer Sängerbundes, das im August 1847 in Eisenach gefeiert wurde, wurde die Wartburg bewusst als Nationaldenkmal in das Festgeschehen einbezogen. Auch bei den Bemühungen um ein Völkerschlachtdenkmal und beim Beginn der Bauarbeiten für ein Hermannsdenkmal bei Detmold lässt sich feststellen, dass die sich konstituierende Nation schon im Vormärz ihre eigenen Denkmäler schaffen wollte. Die Denkmalspolitik des Vormärz zeigt im Übrigen aber bereits, dass Monarchen wie Friedrich Wilhelm IV. oder König Ludwig I. von Bayern versuchten, die Dinge im konservativen Sinne umzuformen und die Idee eines Nationaldenkmals zur Herrschaftsstabilisierung zu nutzen. So stellte sich der preußische König Anfang der vierziger Jahre an die Spitze der Kölner Dombaubewegung. Unter konservativen Vorzeichen im nationalen Sinne zu wirken, war auch das Anliegen des bayerischen Königs Ludwigs I. (Bau der Walhalla, 1842 Einweihung). Die Walhalla sollte ein Denkmal deutscher Eintracht und Einheit werden, einer Einheit allerdings, die politisch staatenbündisch blieb und Bayerns Stellung als souveräner Staat nicht antastete. Die kulturnationalen Tendenzen im Lager der Monarchen zeigten, welche Wirkungskraft die Nationalidee um 1840 bereits besaß und dass sich die Parole der Nation langfristig auch für die alten Gewalten als Sammlungsparole anbot. In den vierziger Jahren war das Bekenntnis zur Nation freilich in erster Linie noch Sache der oppositionellen Kräfte. Darüber hinaus zeigten die kulturnationalen Tendenzen, dass die deutsche Nation nicht nur von den politischen und wirtschaftlichen Interessen her, sondern eben auch kulturell enger zusammenrückte. Gefördert wurde dies nicht zuletzt durch die neuen Kommunikationsprozesse (Eisenbahnen, Presse, überregionale Vereine, Feste). 5