Rezensionen Waltter, Amin K., Islam und Homosexualität im Qurʾān und der Hadīṯ-Literatur, Tredition, Hamburg 2014, Bd. 1: Der Qurʾān, 240 S., br., 15,99 €; Bd. 2: Hadīṯ-Literatur. Die Überlieferungen, 344 S., br., 17,80 €; Bd. 3: Hadīṯ-Wissenschaft, Überlieferer und Sammlungen, 284 S., br., 15,49 € Im Zentrum dieser 3-bändigen, knapp 900-seitigen Materialsammlung zum Thema Islam und Homosexualität stehen alte islamische Quellen, genauer: Koranische Offenbarungen (1. Band) und Hadithe – Überlieferungen der Aussprüche und Handlungen des Propheten (2. Band) sowie Einschätzungen zur Glaubwürdigkeit der Überlieferer (3. Band). Dem zum Islam konvertierten Waltter (geb. 1942) geht es darum, die überlieferten Positionierungen des Islam zur Homosexualität darzustellen und vergleichend zu analysieren. Wie wurden die Aussagen gedeutet, überliefert, was lässt sich daran hinterfragen? Die Absicht des Autors ist dabei, die innerislamische Debatte um das Thema Homosexualität zu verwissenschaftlichen. Die Diskussion leidet ja bisweilen an Unklarheiten, wer was wo gesagt hat und wo man die Belegstelle dazu findet. Waltter beginnt die Materialsammlung logischerweise mit dem Koran, der vorrangigen islamischen Offenbarung. Hier ist insbesondere die Geschichte des Propheten Lot zu nennen, dessen Interpretationsgeschichte von zum Islam konvertierten Christen und Juden nach dem alttestamentlichen Vorbild der Sodom- und Gomorradeutung entscheidend geprägt wurde. Waltter berücksichtigt geradezu vorbildlich auch die Kommentarliteratur, z.B. den Hinweis des indischen Gelehrten Shah Wali Allah (1703–1762), dass sich kein islamisches Gebot auf die Erzählungen von Juden und Christen in der Sekundärliteratur stützen sollte (I, 17). Diverse Argumentationslinien zeigen, dass in Sodom ein anderes Vergehen als Homosexualität bestraft 103 wurde. Waltter erkennt in der Geschichte ein soziales Vergehen Lots gegen das Gastrecht, da er als Fremder dort nicht befugt gewesen sei, selbst Gästerechte zu gewähren (I, 61 und 161–163). Die Tatsache, dass Lot dem aufgebrachten Mob seine Töchter anbot, spricht nach Waltter gegen eine sexuelle Deutung und dafür, dass er durch die Verheiratung seiner Töchter Bürgerrechte bekäme. Welcher Vater würde einer wütenden Gruppe von Vergewaltigern seine Töchter anbieten? Und wer ersänne einen solchen Schlichtungsvorschlag, wenn diese Vergewaltiger homosexuell sein sollten? Auch der Koranvers über abstoßendes Fehlverhalten (4:16) könne nicht klar auf Homosexualität bezogen werden, da völlig unklar ist welch abstoßendes Verhalten mit fahisha gemeint sein soll (I, 135–144). Insgesamt kommt Waltter zu der durchaus mutigen Deutung, dass für Homosexuelle im Islam ebenfalls ein Ehevertrag zulässig sein müsse: Da sich expressis verbis im Koran kein Verbot für Homosexualität finden lasse, müssten – so Waltter – im Umkehrschluss Homosexuelle gleichsam wie Heterosexuelle vertragliche Übereinkünfte schließen können, sofern sich das sündvolle fahisha aus Koran 4:16 (das Abstoßende – ein Vergehen, das etwas geringer ist als Unzucht, d.i. außerehelicher Vaginalverkehr) nicht nur auf Heterosexuelle beziehen sollte (I, 184 und 203–205). Nach den koranischen Offenbarungen sind die Hadithe – dem Propheten Muhammad zugesprochene Aussagen und Taten – Muslimen eine weitere Quelle für Rechtleitung. Waltter betrachtet etwa 640 Überlieferungen anhand der Kriterien der islamischen Hadithkritik. Überlieferungen entfalten eine größere Beweiskraft, wenn sie sahih (gesund) sind, d.h. eine lückenlose Überliefererkette unbescholtener und umsichtiger Überlieferer bis zum Propheten Muhammad zurückführen und ihr Inhalt nicht 104 Aktuelles in Widerspruch zu anderen Offenbarungen steht. Zu den „gesündesten“ Überlieferungen gehören die Sammlungen Sahih Al-Bukhari und Sahih Muslim. Besonders spannend ist, dass Waltter auch Hadithe behandelt, die das Vergehen von Lots Volk nicht sexuell deuten (und daher in den üblichen Zusammenstellungen zum Thema unerwähnt bleiben), so berichtet z.B. der islamische Gelehrte Abu Hanifa (702–777): „Gesandter Allahs, was war das Abscheuliche, das die Leute Lots in ihren Versammlungen begangen haben? Er antwortete: Sie pflegten Dattelkerne [auf Durchreisende] zu schleudern und [sie] zu verhöhnen“ (II, 33). Dennoch hat sich der Begriff der Loterei für Sodomie bzw. Analverkehr durchgesetzt sowie die „kleine Loterei“ für heterosexuellen Analverkehr – der bei Jungfrauen (damit sie Jungfrauen bleiben) nach manchen Überlieferungen vermutlich ähnlich bestraft werden soll wie Unzucht (d.i. außerehelicher vaginaler Geschlechtsverkehr. Letzteres wird allerdings kontrovers diskutiert: beim Verbot außerehelichen Vaginalverkehrs geht es v.a. um die Sicherung von Vaterschaften. Andere Überlieferungen klingen im modernen Verständnis positiv, wie bei Zayd ibn Ali (695–740): „Wenn zwei Beschneidungen einander begegnen und die Eichel den Blicken entschwindet, so ist ein Bad notwendig, ob einer nun ejakuliert hat oder nicht“ (II, 81). Waltters Fazit entspricht dem gegenwärtigen Forschungsstand:1 Bei konsequenter Anwendung der klassischen Kriterien der Hadithkritik bleibt keine einzige den Analverkehr verurteilende Überlieferung beweiskräftig (II, 337). Im dritten Band, ein Kommentarband zum zweiten Band, führt Waltter in die Hadithwissenschaften ein (III, 6–63) und stellt im Hauptteil (III, 63–219) aus der Primär- und Sekundärliteratur biografische Informationen und traditionelle Kommentare zur Glaubwürdigkeit der wichtigen Überlieferer aus den ersten beiden Jahrhunderten islamischer Zeitrechnung, AH (ab 622 n. Chr.), zusammen. Darauf folgt ein Apparat zu den Hadithsammlungen (III, 220–277). Dogmatische Streitigkeiten in den ersten islamischen Jahrhunderten führten dazu, dass Prophetenaussprüche erlogen wurden (frommer Betrug); auch wurden dem Propheten Weisheitssprüche aus anderen (griechischen, jüdischen, persischen, christlichen, indischen) Quellen in den Mund gelegt, die in muslimischen Kreisen Beifall gefunden hatten. Alte Überlieferungen stützten sich bisweilen auf nicht befriedigende Überliefererketten, während spätere Traditionen authentischere Überliefererketten über­nahmen. 1 Siehe auch: Tolino, S., 2014. Homosexual Acts in Islamic Law: sihaq and liwat in the Legal Debate. Gair-Mitteilungen 6 (Gesellschaft für Arabisches und Islamisches Recht), 187–205; Kugle, S., 2010. Homosexuality in Islam. Oneworld, London; Schmitt, A., 2001. Liwat im fiqh: Männliche Homosexualität? Journal of Arabic and Islamic Studies 4, 49–110. Ikrima (gest. 727), einer der zehn Hauptschüler und freigelassener Sklave von ibn Abbas, ist der Überlieferer einer Vielzahl der mutmaßlichen Prophetenworte zu Homosexualität und gilt wegen seiner extremen Ansichten als problematisch. Auch hat er biblische Sprüche als Überlieferungen bezeugt, so dass seine negativen Wertungen des Analverkehrs möglicherweise durch christliche Deutungen bedingt sind. Schon einige Zeitgenossen betrachteten Ikrima als Lügner und seine Überlieferungen als abzulehnen (III, 68–72; 240–242). In jedem Fall kann man festhalten: Es ist vom Gesandten Allahs nicht erwiesen, dass er bei Analverkehr ein Urteil sprach oder die Betroffenen steinigte. Frühe Überlieferungen, die mannmännliche anale Penetration verurteilen, gehen auf den Prophetengefährten ibn Abbas zurück. Nachdem ähnliche Gelehrtenmeinungen in Rechtsschulen verbreitet wurden, fanden sie auch ihren Niederschlag als Hadith. Erst Mitte des zweiten islamischen Jahrhunderts finden sich verurteilende Positionen zum Analverkehr mit Überlieferungsketten, die bis auf den Propheten zurückgeführt werden – allerdings über verdächtige Überlieferer. Waltter legt ein bedeutsames Nachschlagewerk vor, das eine würdige Frucht jahrelanger und sorgsamer Sammelarbeit darstellt. Die zum Großteil zwischen 1980 und 1985 entstandene Sammlung verweist zwar gelegentlich auf veraltete sexualwissenschaftliche Betrachtungen, und das im 3. Band gebündelte Literaturverzeichnis schränkt den Gebrauch der ersten zwei Bände ein. Es sind aber verkraftbare Mängel. Muslime wie Islamwissenschaftler – aber auch Homosexuelle und sexualwissenschaftlich Interessierte – werden in dieser Materialsammlung zahlreiche Geistesschätze und Anregungen für eine vertiefte Beschäftigung mit Primärquellen finden. Thomas K. Gugler (Münster)