ZIP

Werbung
Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
EBERHARD SCHOCKENHOFF
Die Ethik des Heilens und die Menschenwürde
Moralische Argumente für und wider die embryonale
Stammzellforschung
Originalbeitrag erschienen in:
Matthias Kaufmann u.a. (Hrsg.): Gattungsethik - Schutz für das Menschengeschlecht?
Frankfurt am Main; Berlin; Bern; Wien [u.a.]: Lang, 2005, S. 343 - 373
Eberhard Schockenhoff
Die Ethik des Heilens und die Menschenwürde.
Moralische Argumente für und wider die embryonale Stammzellforschung'
Eine beliebte Überredungsstrategie in bioethischen Debatten besteht darin,
dass man eine bislang anerkannte Grenze in eben dem Augenblick nochmals
emphatisch beschwört, in dem man sich anschickt, sie zum ersten Mal zu
überschreiten. Man bekennt sich überall dort zu einem ethischen
Grundkonsens, wo dieser kategorische Handlungsverbote für Forschungsoptionen fordert, die noch in weiter Ferne liegen, während man die Geltung
derselben moralischen Schranken, die dem nächsten Schritt im Wege stehen,
durch den Ruf nach weiteren Differenzierungen in Frage stellt. Im Fall der
Stammzellforschung und des so genannten therapeutischen Klonens sollen die
ethischen Bedenken, die sich gegen diese Verfahren erheben, durch eine
semantische Ausgrenzung aus den moralischen Verboten der verbrauchenden
Embryonenforschung und des menschlichen Klonens umgangen werden.
Diesem Zweck dient vor allem die Unterscheidung zwischen einem reproduktiven Klonen, das weiterhin auf strikte Ablehnung stößt und einem
therapeutischen Klonen, das von den eigentlichen Schutzintentionen der
genannten Verbote nicht mehr erfasst sein soll.
Auf der Ebene der Zielsetzungen ist eine solche Unterscheidung durchaus
einsichtig. Tatsächlich wird einer der Einwände, die gegen die Herstellung
genetisch identischer menschlicher Klone zum Zwecke der Reduplizierung
erwachsener Individuen erhoben werden, gegenüber der Nutzung von
Stammzellinien zu therapeutischen Zwecken hinfällig, weil sich diese aufgrund ihrer angenommenen Pluripotenz nicht mehr zu vollständigen Menschen, sondern allenfalls zu Ersatzgewebe für erkrankte Organe entwickeln
können. Dagegen bleibt der ethische Haupteinwand, der auf die Instrumentalisierung des Ursprungsembryos hinweist, dessen Existenz bei der Gewinnung von Stammzellinien vernichtet wird, von diesen unterschiedlichen
i
Zuerst erschienen in: Zeitschrift für medizinische Ethik, Bd. 47 (2001), 33-52.
343
Eberhard Schockenhoff
Zielsetzungen unberührt. Zumindest beim gegenwärtigen Stand der Technik
muss bei der Etablierung einer Stammzellinie der Embryo getötet werden;
daran ändert auch der Umstand nichts, dass sich die einmal gewonnenen
Stammzellen dann unbegrenzt vermehren lassen. Insofern ist es auch in einem
solchen Fall irreführend, von einer Forschung „an" menschlichen Embryonen
zu sprechen, um diese sprachlich aus dem Verbot der verbrauchenden
fremdnützigen Embryonenforschung auszusondern. Eine solche Ausdrucksweise suggeriert nämlich das unbeschädigte Fortleben derjenigen Embryonen,
„an" denen geforscht wird, während sie dabei tatsächlich zerstört und somit im
buchstäblichen Sinn zu fremden Zwecken verbraucht werden. Zumindest was
den Vorgang ihrer Gewinnung anbelangt, bleibt die embryonale Stammzellforschung ein Unterfall der verbrauchenden Forschung „mit" Embryonen.
Sie sollte deshalb im Interesse einer präzisen Umschreibung in wissenschaftlichen Zusammenhängen auch so genannt werden.
Für eine ethische Bewertung der Forschung mit importierten embryonalen
Stammzellinien, die in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund einer Regelungslücke des Embryonenschutzgesetzes legal möglich ist, bedeutet dies:
Ein solches Vorhaben verfolgt zwar berechtigte Zielsetzungen durch die
langfristig erhofften Heilungschancen bei unheilbaren Krankheiten und die
dadurch mögliche Hilfeleistung für kranke Menschen, aber es lässt sich auf
der Ebene der dazu erforderlichen Mittel nicht rechtfertigen, da diese eine klar
erkennbare Instrumentalisierung menschlichen Lebens zu fremdnützigen
Zwecken beinhalten. Hier kommt der Grundsatz der allgemeinen Ethik vom
Vorrang der Rechtspflichten vor den so genannten Tugendpflichten, also dem
Auftrag zur Verwirklichung positiver Güter und zur Hilfeleistung gegenüber
anderen, zum Zuge. Dieser besagt in seiner einfachsten Form: Man darf nicht
in die unveräußerlichen Rechte eines Menschen — und der Embryo untersteht
in unserer Rechtsordnung, was die dem Menschsein als solchem geschuldeten
Rechte anbelangt, dem gleichen Schutz wie alle Menschen — eingreifen, um
einem anderen zu helfen. Die Vernichtung des Embryos im Rahmen eines
Experiments, von dem sich die Wissenschaft Aufschluss über die Differenzierungsfähigkeit menschlicher Stammzellen erhofft, führt zwangsläufig zu
jener ausschließlichen und vollständigen Instrumentalisierung, die nach Kants
berühmter Selbstzweckformel mit der Würde des Menschen unvereinbar ist.
Zusammen mit der Frage, wer ein Embryo ist — ob er als Mensch gelten
muss oder nicht — kommt diesem Sachverhalt in dem verschlungenen
Problemknäuel um die moralischen, rechtlichen und forschungspolitischen
344
Die Ethik des Heilens und die Menschenwürde. Moralische Argumente für und wider ...
Einzelaspekte der Forschung mit embryonalen Stammzellinien in moralischer
Perspektive entscheidende Bedeutung zu. Das ethische Gewicht, das auf der
Frage der Gewinnung der jeweiligen Stammzellinie ruht, wird durch den
Umstand keineswegs gemindert, dass diese Zellen selbst, wie es die meisten
Wissenschaftler derzeit annehmen, nur noch pluripotent sind. Sollte diese
Einschätzung sich dagegen aufgrund noch laufender Forschungen als
korrekturbedürftig erweisen, stünde die Forschung mit embryonalen Stammzellen unter einer weiteren moralischen Hypothek. In diesem Fall, der nach
dem derzeitigen Wissens-Reglement der Forschergemeinschaft zwar unwahrscheinlich, doch auch nicht sicher auszuschließen ist, würden nämlich nicht
nur bei der Gewinnung einer Stammzellinie, sondern bei jedem einzelnen
späteren Forschungsvorhaben, das sich ihrer bedient, totipotente Zellen mit
vollständigem menschlichen Entwicklungspotential zerstört.
Da die systematische Ethik über keine Fachkompetenz zur Beurteilung
dieser naturwissenschaftlichen Angelegenheit verfügt, gehen die folgenden
Überlegungen von der für die ethische Beurteilung der embryonalen Stammzellforschung günstigeren Annahme aus, dass es sich dabei um Experimente
mit pluripotenten Zellen handelt. Auch bleibt die Frage ausgespart, ob sich die
angestrebten Erkenntnisziele nicht auch auf anderen Wegen, insbesondere
durch die Erforschung der frühen Differenzierungsvorgänge an Tierembryonen und die Übertragung dieser Ergebnisse auf Humanexperimente mit
adulten Stammzellen, erreichen lassen. Sollte sich diese Alternative als
aussichtsreich erweisen, wäre die zur Vernichtung des Embryos aufgebotene
Begründung, anders als auf diese Weise könnte die Wissenschaft weitere
Erkenntnisfortschritte auf dem Gebiet einer wichtigen Schlüsseltechnologie
nicht erzielen, auch empirisch widerlegt. Die Erörterungen dieses Beitrags
müssen diese innerhalb der fachwissenschaftlichen Diskussion noch strittigen
Punkten offen lassen. Sie beschränken sich auf die aus ethischer Sicht
entscheidenden Aspekte der embryonalen Stammzellforschung, die für die
weitere Entwicklung der modernen Biowissenschaften von exemplarischer
Bedeutung sind. Gegen eine ethische Argumentation, die ontologisch am
vollen Menschsein und moralisch am Subjektstatus des Embryos festhält und
infolgedessen die Abwägungsfähigkeit seines Lebensrechts zugunsten von
hochrangigen Forschungsinteressen oder der Gesundheit künftiger Generationen bestreitet, erheben sich freilich Einwände von unterschiedlichem
Gewicht. Zum Teil verdanken sie ihre scheinbare Plausibilität der bewussten
Ausblendung einer ethischen Frageperspektive oder der Verwechslung von
345
Eberhard Schockenhoff
pragmatischen mit moralischen Argumenten; zum Teil verweisen sie aber
auch auf ernst zu nehmende Probleme, über die sich die Position eines konsequenten Lebensschutzes von Anfang an Rechenschaft ablegen muss.
1. Die Konzeption eines abgestuften Lebensschutzes
Die meisten der nunmehr zu prüfenden Einwände stimmen in der
Grundthese überein, dass wir gegenüber menschlichen Embryonen noch nicht
die gleichen moralischen Pflichten wie gegenüber menschlichen Individuen in
einem späteren Entwicklungsstadium ihres Lebens hätten. Als mögliches
Unterscheidungsmerkmal, das Art und Umfang unserer Schutzpflichten verändert oder diese überhaupt erst begründet, gilt manchen der Umstand, ob sich
ein Embryo in der Petrischale oder im Mutterleib befindet, ob er also die
Nidation noch vor sich hat oder diese bereits erfolgreich abgeschlossen ist.
Andere sehen die rudimentäre Ausbildung von Gehirnanlage und Nervensystem als den individuellen Rubikon an, durch dessen Überschreitung das
neue Menschenleben volle Schutzwürdigkeit erhält; schließlich gilt vielen
noch immer die Geburt als der Beginn der selbstständigen Lebensfähigkeit
und der sozialen Existenz des Menschen. Diese Vielfalt von divergierenden
Antwortmöglichkeiten dokumentiert bereits die Unmöglichkeit, ein nichtwillkürlich gewähltes Differenzierungskriterium anzugeben, wenn man den
einzigen qualitativen Sprung am Anfang der gesamten Ontogenese, die
Konstitution des neuen Genoms als Abschluss der Befruchtungskaskade, nicht
zugleich als Beginn der vollen Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens
bewertet. Eine andere Variante der Relativierungsthese erkennt zwar an, dass
der Embryo von Beginn seiner Existenz an über ein eigenständiges, nicht erst
durch die Annahme von seiten der Mutter entstehendes Lebensrecht verfügt,
bestreitet aber, dass diesem ein unbedingter Vorrang gegenüber der
Forschungsfreiheit oder dem Recht kranker Menschen auf die Nutzung aller
denkbaren Heilungschancen zukommt.
Die Frage, wann individuelles menschliches Leben beginnt, gehört nicht zu
den offenen Weltanschauungsproblemen, über die man unter toleranten
Demokraten mit gleichem Recht dieser oder jener Meinung sein könnte. Sie ist
auch keine religiöse Glaubensfrage, wie all diejenigen unterstellen, die in der
Forderung nach einem konsequenten Lebensschutz von Anfang an eine
„katholische" Position sehen wollen. Ebenso gut könnte man dieses Postulat
346
Die Ethik des Heilens und die Menschenwürde. Moralische Argumente für und wider
als Anliegen einer „liberalen" Rechtspolitik bezeichnen, denn sie verdankt
sich der Abkehr von den aristotelisch-scholastischen Beseelungstheorien der
mittelalterlichen Theologie und dem menschenrechtlichen Denken der Aufklärung. Es war kein anderer als Immanuel Kant, der in seiner 1797 erschienenen Metaphysik der Sitten der drei Jahre zuvor erlassenen Bestimmung
des Allgemeinen Preußischen Landrechts (APL), wonach die „Rechte der
Menschheit" auch den „noch ungeborenen Kindern schon von der Zeit ihrer
Empfängnis an" (§ 10 I, I) gebühren, die philosophische Begründung verlieh.
Diese besteht im Wesentlichen in dem Nachweis, dass zwischen der
Vorstellung der Menschenwürde und dem Gedanken eines unveräußerlichen
Lebensrechtes ein unauflöslicher Zusammenhang besteht, der sowohl in der
moralischen als auch in der rechtlichen Ordnung entsprechende Schutzpflichten für den Embryo begründet. Die Würde des Menschen kann nämlich
nur dann als ein realer, das Zusammenleben der Bürger in einem demokratischen Staatswesen bestimmender Begriff gedacht werden, wenn sie jedem
menschlichen Individuum allein aufgrund seiner Gattungszugehörigkeit vom
Ursprung seiner Existenz an eigen ist. Da diese Erkenntnis Kants in der
gegenwärtigen Debatte um die ethische Problematik der Stammzellforschung
als unverdächtiger Leitfaden zur Einordnung der genannten Einzelprobleme
dienen kann, sei sie den folgenden Erörterungen in einem längeren Zitat
vorangestellt. Was den Kreis derjenigen Mitmenschen anbelangt, denen
gegenüber wir in der Beurteilung unserer eigenen Handlungsabsichten zur
Anwendung des kategorischen Imperativs verpflichtet sind, heißt es im
Abschnitt über die persönlichen Rechte der Kinder und die aus dem
Elternrecht folgenden Pflichten der Eltern:
„Denn da das Erzeugte eine Person ist, und es unmöglich ist, sich von
der Zeugung eines mit Freiheit begabten Wesens durch eine physische
Operation einen Begriff zu machen: so ist es eine in praktischer
Hinsicht ganz richtige und auch notwendige Idee, den Akt der Zeugung
als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre
Einwilligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herüber
gebracht haben; für welche Tat auf den Eltern nun auch eine
Verbindlichkeit haftet, sie, soviel in ihren Kräften ist, mit diesem ihren
Zustande zufrieden zu machen. — Sie können ihr Kind nicht gleichsam
als ihr Gemächsel (denn ein solches kann kein mit Freiheit begabtes
Wesen sein) und als ihr Eigentum zerstören oder es auch nur dem
Zufall überlassen, weil an ihm nicht bloß ein Weltwesen, sondern auch
347
Eberhard Schockenhoff
ein Weltbürger in einen Zustand herüber (ge)zogen, der ihnen nun auch
nach Rechtsbegriffen nicht gleichgültig sein kann."2
1.1. Die Diskussion um den Beginn des individuellen menschlichen Lebens
Noch im 19. Jahrhundert glaubte die Wissenschaft im Banne von Ernst
Haeckels sogenanntem biogenetischen Grundgesetz, der menschliche Embryo
durchlaufe in seiner Entwicklung die Stadien der allgemeinen Menschwerdung
und wiederhole so die Naturgeschichte im Kleinen. Die Embryonalentwicklung rekapituliert nach dieser Vorstellung die Evolution in einem neunmonatigen Zeitraffer, so dass sie aus anfangs infrahumanen Vorstufen voranschreitet und irgendwann die Stufe der Menschwerdung erreicht. Die Erkenntnisse der modernen Genetik, insbesondere die Entdeckung der DNS und des
Vorgangs ihrer Rekombination bei der Befruchtung, entzogen dieser
Spekulation den Boden, so dass sie beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaft als unbegründet angesehen werden muss. Da dies die Anhänger der
Vorstellung vom noch ungeformten Zellhaufen offenbar nur wenig beeindruckt, verdient eine solche Missachtung gesicherter Forschungsergebnisse zu
Beginn aller weiteren Überlegungen ausdrücklich festgehalten zu werden:
Nicht die Anerkennung der Menschenwürde schon am Ursprung des individuellen Lebens, sondern das Festhalten an der überholten Zellhaufen-Theorie
verrät einen vorwissenschaftlichen Glauben im Sinne des bloßen Meinens, das
nach Kant die unterste Stufe der menschlichen Erkenntnisgewissheit darstellt'.
1.1.1. Vorausgesetzte Erkenntnisse der modernen Entwicklungsbiologie
Nach der bei unserem derzeitigen Wissensstand als gesichert geltenden
Erkenntnis können wir dagegen den Zeitpunkt, an dem das individuelle
Menschenleben beginnt, präzise benennen. Mit der Konstitution des neuen
Genoms, die durch die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle erfolgt, ist das
vollständige Entwicklungspotential des neuen Menschen gegeben. Der Umstand, dass die Befruchtung sich als ein zeitlich gedehnter Prozess darstellt,
der mit dem Vorkernstadium beginnt und nach spätestens 24 Stunden seinen
Abschluss erreicht, darf nicht dazu verleiten, die Bedeutung dieses End2
Kant. 1.: Die Metaphpik der Sitten, § 28, AB 112f.
3
348
Vgl. Kant, 1: Kritik der reinen Vernunft, B 850f
Die Ethik des Heilens und die Menschenwürde. Moralische Argumente für und wider ...
punktes der Befruchtungskaskade zu nivellieren: Mit der Konstitution des
neuen Genoms ist der Schritt zu einem neuen Menschen vollzogen. Um
Missverständnissen vorzubeugen, sprechen wir deshalb auch besser vom Beginn des individuellen Menschenlebens als nur vom Anfang menschlichen
Lebens, worunter in einem weiteren Sinn ja auch die Ei- und Samenzellen in
ihrer getrennten Existenz oder krankhafte Zellwucherungen fallen würden.
Von diesem Zeitpunkt an trägt der Embryo alle unverwechselbaren Anlagen in
sich, die er in einem kontinuierlichen Prozess ohne relevante Zäsuren entfalten
wird, sofern er dafür die nötige Unterstützung erhält und nicht durch gewaltsame Einwirkung von außen an der Verwirklichung seines Entwicklungspotentials gehindert wird. Als Ergebnis der embryologischen Betrachtung der
menschlichen Ontogenese lässt sich mit G. Rager festhalten, dass „der Embryo
von der Befruchtung an menschliches Leben darstellt und die Möglichkeit
besitzt, dieses menschliche Leben voll zu entfalten, wenn ihm die dafür
nötigen Umgebungsbedingungen geboten werden". 4
Unter Hinweis auf jüngere Forschungsresultate versuchen Naturphilosophen
und Bioethiker wie Christian Kummer, Nikolaus Knoepfler und Werner
Wolbert in letzter Zeit, diese bislang unangefochtene embryologische Grundanschauung erneut in Frage zu stellen'. Da konkrete ethische Schlussfolgerungen auf gemischten Urteilen beruhen, die neben einem normativen
Wertungsaspekt auch eine empirische Sachverhaltsseite aufweisen, ist mit der
Notwendigkeit von Korrekturen, die nicht durch den Wandel unserer moralischen Überzeugungen, sondern durch die Weiterentwicklung unserer wissenschaftlichen Erkenntnisbasis erzwungen werden, grundsätzlich immer zu
rechnen. Es fragt sich indessen, ob die Tragweite der angeführten neueren
Erkenntnisse durch eine so folgenreiche Interpretation nicht überschätzt wird;
bei genauerem Hinsehen zeigt sich nämlich, dass auch diese gewandelten
Annahmen innerhalb des bisherigen Paradigmas eine plausible Erklärung
finden.
4
Rager, G.: Menschsein zwischen Lebensanfang und Lebensende Grundzüge einer medizinischen Anthropologie, in: ders.; Honnefelder, L. (Hg ): Ärztliches Urteilen und Handeln. Zur
Grundlegung einer medizinischen Ethik, Frankfurt a. M. 1994, 53-103, hier: 82.
5
Vgl. Kummer, Chr.: Ertrauterine Abtreibung? Sachargumente für eine Bestimmung des
embryonalen Lebensbeginns, in: Sh/Z 122 (1997) 11-16; ders.: Stammzellkulturen — ein
brisantes Entwicklungspotential, in: StdZ. 125 (2000) 547-554; Knoepfler, N. und Wolbert, W
Du sollst nicht töten Systematische Überlegungen ZUM nillingSVerhOi, Freiburg i. Ue. 2000,
150-155.
349
Eberhard Schockenhoff
Der Umstand, dass die Expression der genetischen Information im weiteren
Entwicklungsverlauf nur im Zusammenspiel mit äußeren, über die Zellmembran wirksamen Reizen erfolgt und die Ausbildung des Primitivstreifens sowie
die Ausrichtung der späteren Körperachse auf Positionssignale antworten, die
vom mütterlichen Organismus ausgehen, ist mit der Annahme durchaus
vereinbar, dass der Embryo von Anfang an über die Potenz zur vollständigen
menschlichen Entwicklung verfügt. Die genannten neueren Forschungen
belegen allerdings, dass der Embryo in stärkerem Maße auf Anreize, die aus
der symbiotischen Austauschbeziehung mit dem mütterlichen Organismus
erwachsen, angewiesen ist, um sein Entwicklungspotential entfalten zu
können; die aktive Werdepotenz des Embryos ist daher nicht nach dem Modell
eines einseitig ablaufenden Programms zu verstehen. Doch wäre es eine
Überinterpretation, aus der Notwendigkeit mütterlicher Stimuli auf die Unabgeschlossenheit der genetischen Information zum Zeitpunkt der Befruchtung
zu schließen. Die besagten neueren Forschungsergebnisse finden eine
zureichende Erklärung durch das Prinzip, wonach der Embryo seine eigenen
Möglichkeiten in einem geeigneten Medium kontinuierlich entfalten kann,
sofern ihm die dazu erforderlichen biologischen Umgebungsbedingungen
nicht entzogen werden.
Der Embryo ist also von Anfang an sowohl artspezifisch (als Mensch) wie
auch individualspezifisch (als dieser Mensch) festgelegt, ohne dass seine
weitere Entwicklung Zäsuren aufweist, die für dieses grundlegende Charakteristikum des individuellen Menschseins von Bedeutung wären. Die sprachliche Benennung unterschiedlicher Entwicklungsstadien hat lediglich den
Sinn, fließende Übergänge oder neu einsetzende Entwicklungsschübe zu kennzeichnen; auf diese Weise werden „Parameter der Reifungsvorgänge" 6
festgelegt, nicht aber ein reales Durchschreiten diskreter Entwicklungsstufen
behauptet. Die Annahme einer nicht von Anfang an gegebenen, sondern erst
graduell einsetzenden Schutzwürdigkeit des embryonalen Lebens kann sich
daher nicht auf die biologische Entwicklung selbst, sondern nur auf externe
Festlegungen berufen, die an dieser keinen Anhaltspunkt finden.
6
Rager, 86.
350
Die Ethik des Heilens und die Menschenwürde. Moralische Argumente für und wider ...
1.1.2. Der Vorwurf eines neuen Biologismus
Wer in der einheitlichen und vollständigen genetischen Information, über
die der neue Mensch bereits in den Frühstadien seiner Existenz verfügt, die
ausreichende Basis für den sofortigen Eintritt seiner Schutzwürdigkeit anerkennt, sieht sich unter umgekehrten Vorzeichen dem überraschenden Vorwurf
eines angeblichen Biologismus ausgesetzt. Was ist damit gemeint? Zu Recht
betonen Genetiker und Embryologen in letzter Zeit mit zunehmender
Deutlichkeit, dass die Vorstellung von einer lückenlosen Determination des
Menschen durch seine Gene falsch ist. Mit dieser Warnung vor einem
eindimensionalen Menschenbild rennen sie im Haus der Wissenschaften bei
Philosophen und Theologen, denen diesbezüglich noch anders lautende
Einschätzungen aus der euphorischen Anfangsphase der Genforschung im Ohr
klingen, freilich offene Türen ein. Dennoch darf aus der Sicht einer ganzheitlichen Anthropologie, die aufgrund der leib-seelischen Einheit des Menschen
sowohl der Transzendenz seines Geistes wie auch der Leibgebundenheit aller
seiner Existenzvollzüge gerecht zu werden versucht, die Rolle des genetischen
Erbes für die menschliche Lebensführung nicht unterschätzt werden. Was die
Tragweite der biologischen Natur des Menschen anbelangt, so befinden sich
die historischen und systematischen Wissenschaften vom Menschen
gegenüber dem aufgezeigten Biologismus-Vorwurf plötzlich in der unverhofften Position, dass sie Entwicklungsbiologen und Genetiker vor einer allzu weit
reichenden Relativierung ihrer eigenen Forschungsergebnisse warnen müssen.
Die personale Identität des Menschen lässt sich zwar nicht auf seine genetische Individualität reduzieren, doch bestimmt diese den biologischen
Spielraum, den er in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt und durch
seine eigenverantwortliche Lebensführung ausfüllen kann. Die anthropologischen Vermögen der Freiheit, Selbstbestimmung und moralischen Verantwortungsfähigkeit können freilich nicht nach dem Vorstellungsschema
linearer Kausalität auf empirische Determinanten zurückgeführt werden, wie
es einem reduktionistischen Erklärungsansatz entspricht. Zu Recht sagen wir
daher, dass der Mensch mehr als die Summe seiner Gene sei; diese
anthropologische Grundaussage, in der sich Theologie und Philosophie von
naturwissenschaftlicher Seite gerne beipflichten lassen, umschreibt die Transzendenz der Person von unten, indem sie den Überschuss ihrer Handlungsmöglichkeiten über alle empirischen Bedingtheiten hervorhebt.
351
Eberhard Schockenhoff
Die im Zusammenhang mit der embryonalen Stammzellforschung strittige
Frage ist indessen nicht, ob das genetische Erbe den Menschen erschöpfend
definiert, sondern welche Bedeutung ihm für die künftige Existenz des
Menschen zukommt. An diesem Punkt erweist sich die Antwort Kants nach
wie vor als gültig: Gerade weil wir uns von dem Geschehen, wie aus den
biologischen Vorgängen von Zeugung und Befruchtung ein mit Freiheit
begabtes neues Wesen hervorgeht, keine Vorstellung machen können, müssen
wir das biologische Substrat dieser Entwicklung durch die Gewährung aller
notwendigen Förderung und Hilfe schützen. Der Vorwurf des Biologismus
geht an dieser Überlegung vorbei, denn er verkennt ihre anthropologische
Pointe. Diese zielt auf die unhintergehbare Leibgebundenheit menschlicher
Freiheit und die naturalen Voraussetzungen, unter denen die eigenständige
Wirklichkeit des Geistes hervortreten kann. Keineswegs darf eine solche
transzendentale Reflexion über die Bedeutung der Leiblichkeit für das
praktische Sein des Menschen mit dem in der Tat irreführenden Versuch
verwechselt werden, die individuelle Verwirklichung von Freiheit und
moralischer Selbstbestimmung aus ihren angeblichen biologischen Determinanten zu erklären oder sie vollständig aus dem genetischen Erbe abzuleiten.
1.1.3. Anthropologische Deutung und normative Konsequenz
Interpretiert man die gegenwärtige wissenschaftliche Erkenntnislage im
Licht der Einsicht in die anthropologische Verfassung des Menschen, so ergibt
sich aus der normativen Prämisse von der jedem Menschen eigenen Würde
mit zwingender Konsequenz: Menschliches Leben steht von Anfang an, d. h.
ab dem Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, unter dem
Schutzbereich der Menschenwürde. Diese gebietet die Achtung des Daseins
eines jeden Menschen um seiner selbst willen. Insofern das Leben die
unhintergehbare Voraussetzung moralischer Selbstbestimmung ist und als die
existenzielle Grundlage für das Werden und die Entfaltung der Person
angesehen werden muss, fordert die Würdegarantie demokratischer Rechtsordnungen die Gewährleistung eines wirksamen Lebensschutzes. Für das
Leben menschlicher Embryonen bedeutet dies, dass sie auch in der Frühphase
ihrer Existenz einer Güterabwägung entzogen bleiben müssen. Da es auf
Seiten des Embryos nicht um ein Mehr oder Weniger an zumutbaren
Beschränkungen, sondern um das Ganze der Existenz geht, bietet die
Konzeption eines graduellen Lebensschutzes ihnen im Zweifelsfall keinen
352
Die Ethik des Heilens und die Menschenwürde. Moralische Argumente für und wider .,.
Schutz. Ein abgestuftes Lebensrecht, das dort, wo es um Alles oder Nichts
geht, seinen Anspruch auf Anerkennung nicht wirksam entfalten kann,
verdient diesen Namen nicht. Eine Güterabwägung auch nur in Ausnahmefällen zuzulassen, liefe daher auf eine willkürliche Ungleichbehandlung hinaus, wie sie in unserer demokratischen Rechtsordnung durch das oberste Achtungsgebot der Menschenwürde, durch den Gleichheitsgrundsatz und durch
das Tötungsverbot ausgeschlossen bleibt.
Die demokratische Rechtsgemeinschaft lebt aus dem Bewusstsein, dass die
dem Menschen von Natur aus geschuldeten Rechte jedem menschlichen
Individuum zustehen und nicht an zusätzliche Leistungsanforderungen
gebunden werden dürfen. Es entspricht aufgeklärtem politischem Gedankengut, dass eine Ungleichbehandlung der Menschen nach akzidentiellen Kriterien wie Hautfarbe, Rasse, sozialer Schichtung oder Geschlechtszugehörigkeit mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Soll diese Errungenschaft, die
das gemeinsame moralische Erbe des Christentums und der Aufklärung ausmacht, nicht wieder aufs Spiel gesetzt werden, führt kein Weg an der Einsicht
vorbei: Weder das Alter (ob zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt der
Ontogenese) noch der Aufenthaltsort eines Embryos (ob in vitro oder in vivo)
liefern ein stichhaltiges Differenzierungskriterium, das seinen fremdnützigen
Gebrauch zu Forschungszwecken legitimieren könnte. Für die Anerkennung
seines Lebensrechts ist es nämlich unerheblich, ob ein neuer Mensch als
Zygote, als Embryo, als neugeborener Mensch, als junger Erwachsener oder
als alternder Mensch existiert. Manche bürgerlichen Freiheitsrechte (z. B. das
Wahlrecht) stehen ihm erst ab einer bestimmten Altersstufe zu, andere können
ihm aufgrund von Krankheit und Unfall (bspw. das Recht zur persönlichen
Geschäftsführung) unter rechtlich geregelten Umständen wieder aberkannt
werden. Doch betrifft die Abstufung des bürgerlichen Rechtsstatus gerade
nicht das Menschsein als solches, das die Basis für die Anerkennung
menschenrechtlicher Grundforderungen für jedes menschliche Individuum
ungeachtet aller weiteren Differenzierungen bildet.
1.2. Die Annahme von seiten der Mutter
Dagegen ließe sich einwenden, bei der Implantation in die Gebärmutter
vollziehe sich mehr als nur eine Ortsveränderung, die dem Embryo die
notwendigen Voraussetzungen seiner weiteren Entwicklung bietet. Erst durch
die Annahme von seiten der Mutter, die sich bereit erklärt, den Embryo wäh353
Eberhard Schockenhoff
rend der Schwangerschaft auszutragen, werde die Schwelle zur Menschwerdung endgültig überschritten, so dass erst von diesem Zeitpunkt an von einem
Menschen im Vollsinn die Rede sein könne. Dieser Einwand wird in der
gegenwärtigen Debatte um die Stammzellforschung auch mit der Behauptung
verbunden, nur diejenigen artifiziell erzeugten Embryonen, die in den
mütterlichen Uterus transferiert werden, seien von Anfang an zum Leben
bestimmt, während die zurückbleibenden in einer Art Vorstufe zu ihrer vollständigen Menschwerdung verharrten, aus der sie durch die Nutzung zu Forschungszwecken befreit würden. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich,
dass der Einwand, erst der Akt der Annahme von seiten der Mutter qualifiziere
das biologische Leben des Embryos auch zum menschlichen Leben im anthropologischen Vollsinn des Wortes, aus einer zutreffenden Prämisse die
falschen Konsequenzen zieht und die Logik eines zulässigen moralischen
Argumentierens auf den Kopf stellt. Gewiss ist es richtig, dass menschliches
Leben sich nur dort gedeihlich entfalten kann, wo es auf Annahme, Fürsorge
und Liebe stößt; für den Menschen als biologische Frühgeburt gilt dies in noch
stärkerem Maß als für alle anderen Säugetiere, bei denen sich bekanntlich
eindrucksvolle Beispiele für die aufopferungsvolle Brutpflege der Weibchen
finden lassen. Insofern gehört die Beziehung zur Mutter, zum Vater und zu
den anderen primären Bezugspersonen tatsächlich mit zur vollständigen anthropologischen Definition des Menschen.
Die Frage ist allerdings, welche Konsequenz sich aus diesem notwendigen
Entfaltungszusammenhang ergibt: Darf die Zustimmung der Mutter zur
Implantation des in vitro erzeugten Embryo als ein von der Bereitschaft zur
Eispende und der Einwilligung in die Befruchtung unabhängiger Akt der
Annahme verstanden werden, der dem zuvor eingeleiteten biologischen
Geschehen nachträglich eine höhere anthropologische Dignität verleiht? Oder
stehen bereits die Eispende und der Akt der assistierten Befruchtung in einer
inneren Hinordnung auf den Versuch der Herbeiführung einer Schwangerschaft, und dies dergestalt, dass die moralische Befugnis zu den vorangehenden Akten von der Beachtung der notwendigen anthropologischen
Einheit des Gesamtvorganges abhängt? Will man nicht in eine verquerte
Mystik der Mutterschaft verfallen, die an den biologischen Erkenntnissen über
den Beginn des individuellen Menschenlebens vorbeigeht, kann die Antwort
nur lauten: Der Akt der In-vitro-Fertilisation, durch den ein neuer Mensch ins
Dasein gerufen wird, kann überhaupt nur unter der Bedingung moralisch
gerechtfertigt sein, dass zugleich für die unerlässlichen Voraussetzungen
354
Die Ethik des Heilens und die Menschenwürde. Moralische Argumente für und wider ...
seiner möglichen Weiterexistenz Sorge getragen wird. Wie jeder humane Zeugungsakt von der Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme für das dabei ins
Leben gerufene Kind getragen sein muss, so können auch die Einzelakte der
Eispende und der assistierten Befruchtung nur dann moralisch gerechtfertigt
sein, wenn sie von der Bereitschaft zur Annahme des extrakorporal gezeugten
Kindes getragen sind.
Das Argument, erst der von seiner Mutter angenommene Embryo sei ein
tatsächlicher Mensch, erkauft seine Plausibilität durch die Aufspaltung der
einzelnen biologischen Vorgänge, die doch gleichermaßen zur Mutterschaft
gehören: Während die Einwilligung in die Eispende als rein biologischer
Vorgang ohne tiefere humane Bedeutung dargestellt wird, erscheint die Bereitschaft zur Annahme des Embryos umgekehrt als ein quasi-kreatorischer Akt,
der dem erzeugten biologischen Substrat erst den vollgültigen Status des
Menschseins verleiht. Diese Trennung der Einzelvorgänge läuft nicht nur den
Intentionen der assistierten Fortpflanzung zuwider (sofern man das Anfallen
überzähliger Embryonen nicht insgeheim doch bejaht); sie führt im
Umkehrschluss auch zu den abstrusen Folgerungen, aufgrund derer wir uns
berechtigt fühlen, den nicht angenommenen Embryonen im Nachhinein die
Qualität des Menschseins abzusprechen und ihr Dasein zu einer sinnentleerten
biologischen Faktizität herabzustufen. Tatsächlich wird dabei jedoch das
Begründungsverhältnis, das zwischen dem obersten Achtungsgebot der
Menschenwürde und den daraus folgenden moralischen Pflichten waltet,
ausgehebelt und ins Gegenteil verkehrt.
Während wir in allen anderen zwischenmenschlichen Verhältnissen der
einzig zulässigen Argumentationslogik folgen, nach der die Menschenwürde
die Anerkennung des anderen und seine Annahme als Mitmensch gebietet,
woraus sich dann in abgestuften Verantwortungskreisen entsprechende
Pflichten ergeben, soll im Verhältnis zu menschlichen Embryonen umgekehrt
gelten, dass der Akt der mitmenschlichen Annahme die Subjektstellung des
Gegenübers überhaupt erst begründet. Eben dadurch werden die moralischen
Anerkennungsverhältnisse, die der Idee eines demokratischen Zusammenlebens freier Bürger zugrunde liegen, auf den Kopf gestellt. Menschenwürde
erscheint nun nicht mehr als gebieterischer Grund, der zur Anerkennung
zwingt, sondern als eine zum Menschsein hinzukommende Eigenschaft, die
dem Embryo durch die Annahme von seiten seiner Erzeuger verliehen wird.
Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen, erscheint freilich eine
Klarstellung vonnöten: Tatsächlich befinden sich die „unbehausten" oder
355
Eberhard Schockenhoff
verwaisten Embryonen in einer überaus prekären Situation, da sie an der
weiteren Entfaltung ihres natürlichen Entwicklungspotentials gehindert
bleiben. Für die moralische Bewertung ihrer Lage und die sich für die
beteiligten Akteure daraus ergebenden Handlungspflichten kann jedoch der
Umstand, dass sie durch gezieltes menschliches Handeln in diese Situation der
äußersten Verletzlichkeit und Hilfsbedürftigkeit gebracht wurden, nicht
gleichgültig sein. Weil sie durch rechtfertigungsbedürftiges menschliches Tun
(und nicht durch ein bloßes Naturgeschehen) in die extrem ungesicherte
Position ihrer extrakorporalen Existenz gelangten, folgt aus dem moralischen
Postulat der Annahme keineswegs die Befugnis, die Wertqualität menschlichen Lebens danach zu entscheiden, ob diese Annahme tatsächlich erfolgt
oder nicht. Vielmehr begründet der von Kant für den natürlichen
Fortpflanzungsvorgang aufgezeigte Zusammenhang zwischen dem Akt der
Zeugung und der dadurch entstehenden ethischen Verbindlichkeit der Fürsorge auch im Fall der assistierten Fortpflanzung die kategorische Pflicht,
diejenigen Embryonen anzunehmen, die wir „ohne ihre Einwilligung auf die
Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herüber gebracht haben".
Wenn sich ein „Implantationsgebot" rechtlich nicht durchsetzen lässt, weil
der Staat keine Handhabe hat, die Frau zur Annahme des Embryos zu
zwingen, ändert die mangelnde Erzwingbarkeit mit den Mitteln des Rechts
doch nichts am Bestehen des entsprechenden anthropologischen Zusammenhangs. In Anerkennung der daraus erwachsenden moralischen Verpflichtungen
spricht das Embryonenschutzgesetz eine Strafandrohung für den Fall aus, dass
eine Eizelle zu einem anderen Zweck als dem befruchtet wird, eine
Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt. Wenn
die Einleitung einer Schwangerschaft aus nicht durch menschliches Handeln
zu verantwortenden Ursachen wie Krankheit und Unfall oder beim vorzeitigen
Tod der Eispenderin nicht mehr möglich ist, muss die Rechtsgenieinschaft
nach anderen Formen des Umgangs mit den dadurch verwaisten Embryonen
suchen, die ihr Menschsein als Dasein um ihrer selbst willen achten.
Keineswegs aber darf dieser moralische Konflikt, der sich als übergesetzlicher
Notstand beschreiben lässt, dadurch gelöst werden, dass wir den verwaisten
Embryonen kurzerhand das vollgültige Menschsein absprechen, um sie, von
moralischen Skrupeln ungeplagt, dem Zugriff der Forschung anheim fallen zu
lassen.
Angesichts der kaum verhüllten Chuzpe dieser Rechtfertigungsstrategie ist
man versucht zu fragen: Warum sollte eine derartige Überlegung nicht auch
356
Die Ethik des Heilens und die Menschenwürde. Moralische Argumente für und wider ...
bei dem Neugeborenen statthaft sein, das durch einen tragischen Unfall beide
Eltern verliert und nun von niemandem mehr angenommen ist?
1.3. Die Bedeutung der klassischen Ausnahmen vom Tötungsverbot
Der Versuch, das Lebensrecht des Embryos zu relativieren, um es auf dem
Weg einer Güterabwägung den Interessen der Forschung unterordnen zu
können, begegnet schließlich in einer dritten Variante. Sie stimmt mit dem
Konzept eines nur graduellen, in den Anfangsstadien unwirksamen Lebensschutzes im Ergebnis überein, beruht aber auf anderen moralischen und
rechtlichen Überlegungen. Ausgangspunkt dieser Argumentation sind die
klassischen Ausnahmen vom Tötungsgebot (Notwehr, Todesstrafe, Töten im
gerechten Krieg), die sich in unserer Rechtsordnung insofern niederschlagen,
als diese das nach Artikel 2 Abs. 2 GG vorbehaltlos gewährte Lebensrecht
(anders als die absolute Menschenwürde-Garantie nach Artikel 1 GG)
verfassungsrechtlichen Schranken unterwirft. Auch bei diesem Legitimationstypus werden jedoch aus richtigen Voraussetzungen falsche Schlussfolgerungen abgeleitet. In der Tat spricht die Ethik unter bestimmten Voraussetzungen von sittlich gerechtfertigten Tötungshandlungen; auch trifft es zu,
dass unsere Rechtsordnung kein absolutes Lebensrecht kennt. Doch beruht
schon die daraus abgeleitete Folgerung, das Lebensrecht des Embryos sei
ebenso wenig absolut geschützt wie die Forschungsfreiheit des Wissenschaftlers oder die Berufsfreiheit des Arztes, auf einem Fehlschluss. Ebenso
wenig darf die Freiheitsvermutung, die nicht das Handeln der Bürger, sondern
staatliche Verbote einem Rechtfertigungszwang unterwirft, gegen den Lebensschutz ausgespielt werden.
Zwar sind sowohl die Forschungsfreiheit als auch der Lebensschutz von der
Menschenwürde-Garantie umfasst, da beide als ihre Entfaltungen angesehen
werden müssen. Doch ist dies nicht in gleicher Weise der Fall, denn das Leben
ist die existenzielle Grundlage für die Inanspruchnahme aller anderen Freiheitsrechte; aufgrund dieses unumkehrbaren Begründungsverhältnisses ist das
Leben zwar nicht das höchste, aber doch das fundamentalste Gut unserer
Rechtsordnung. Dass Artikel 2 Abs. 2 GG den Lebensschutz auch gesondert
gewährleistet, heißt daher nicht, dass der von der Würdegarantie miterfasste
Schutz der existenziellen Lebensgrundlagen der Person dadurch in irgendeiner
Weise abgeschwächt würde. Eine Abwägung des Lebens als des fundamentalsten Gutes kann nicht mit beliebigen anderen Verfassungsgütern, sondern nur
357
Eberhard Schockenhoff
dort erfolgen, wo Leben gegen Leben steht. Dass unsere Rechtsordnung keinen absoluten individuellen Lebensschutz kennt, bedeutet somit nicht, dass
das Leben gegen angeblich höhere Rechtsgüter abgewogen werden dürfte;
vielmehr findet das Lebensrecht des Einen seine Grenze am gleichrangigen
Lebensrecht des Anderen. Dies ist die einzige von unserer Rechtsordnung vorgesehene Güterkollision, die legitimerweise zu einer Einschränkung des Lebensrechtes führen kann, was durch die dahinter stehende Überlegung auch
ohne weiteres einsichtig ist. Das Lebensrecht des Einen ist nämlich nicht in
der Weise absolut, dass es auch den Anspruch enthält, das eigene Leben um
jeden Preis, d. h. im Konfliktfall auch durch die Vernichtung des Lebens
anderer zu erhalten. Nimmt man von diesem Grundsatz aus eine Güterabwägung zwischen dem Lebensrecht menschlicher Embryonen und dem
Rechtsanspruch kranker Menschen auf die Nutzung aller denkbaren Heilungschancen vor, so fällt diese keinesfalls zu Lasten des Embryos aus. Vielmehr
findet das Recht auf Heilung, das auch die Erforschung und experimentelle
Nutzung neuer Therapieverfahren impliziert, dort eine Grenze, wo seine
Durchsetzung die Vernichtung fremden Lebens erfordern würde.
Auch die Heranziehung einer anderen Legitimationsfigur, die eine mögliche
Einschränkung des Lebensrechtes begründen könnte, führt in diesem Fall zu
keinem anderen Ergebnis. Die Annahme, dass der eine zur ursächlichen, nur
als durch seine Tötung auszuschaltenden Lebensbedrohung für den anderen
wird, die den finalen Polizeischuss gegenüber Terroristen oder psychisch
kranken Amokläufern rechtfertigt, trifft im Fall menschlicher Embryonen
gerade nicht zu. Ihre Eignung zu Forschungszwecken oder der potentielle
therapeutische Nutzen, der sich aus ihrer experimentellen Vernichtung
ergeben könnte, steht mit der Lebensgefährdung kranker Menschen durch ihre
Krankheit in keinem ursächlichen Zusammenhang. Die Nicht-Nutzung eines
Forschungspotentials, von dem sich die Wissenschaft mögliche Heilungschancen verspricht, mag für die betroffenen Patienten schwer verständlich
sein, doch werden dadurch keine moralischen oder rechtlichen Ansprüche
verletzt, die auf Seiten des Embryos eine Außerkraftsetzung seines Lebensrechtes legitimieren könnten. Die tödliche Bedrohung des Erkrankten durch
seine Krankheit räumt diesem keinen Verfügungsanspruch über fremdes
menschliches Leben ein, wie es die problematische Analogie zur Notwehrsituation suggeriert, in der die Vernichtung des Gewalttäters moralisch
gerechtfertigt sein kann. Ebenso verleitet die militärische Metapher vom
„Kampf" der Wissenschaft gegen bislang unbesiegte Krankheiten Forscher
358
Die Ethik des Heilens und die Menschenwürde. Moralische Argumente rtir und wider ...
und Ärzte dazu, den Zugriff auf das ansonsten angeblich nutzlose Leben
überzähliger Embryonen durch die Berufung auf einen kriegsähnlichen
moralischen Ausnahmezustand zu rechtfertigen. Doch hält die pathetische
Proklamation eines ärztlichen oder wissenschaftlichen Sonderethos im Dienste
höchster Menschheitsziele einer rationalen Überprüfung nicht stand. Verweist
man auf die Möglichkeit des gerechtfertigten Tötens im Krieg, so ist dem
entgegenzuhalten, dass es selbst im Krieg moralisch unerlaubt bleibt, die
unschuldige Zivilbevölkerung oder andere Nicht-Kombattanten zu töten, um
hochrangige militärische Ziele zu erreichen.
Stellt der Vergleich dagegen auf den Wert des altruistischen Lebensopfers
ab, das Soldaten ihrem Vaterland und menschliche Embryonen im Dienst an
der Menschheit bringen, so ist zu entgegnen: Einen moralischen Wert erhält
dieses Opfer durch seine Freiwilligkeit, die im Fall der verbrauchenden
Embryonenforschung überhaupt nicht oder nur in unzureichender Ersatzform
(durch die stellvertretende Zustimmung der Eltern) gegeben ist. Im Krieg
können Soldaten zwar gegen ihren Willen getötet werden; insofern kann hier
allenfalls von einer eingeschränkten Freiwilligkeit die Rede sein, sofern im
Verteidigungsfall oder bei einer allgemeinen Mobilmachung nicht ohnehin
von einer zwangsweisen Rekrutierung auszugehen ist. Moderne Demokratien
setzen ihre Soldaten lebensgefährlichen Bedrohungen allerdings nicht mehr
ohne deren Zustimmung aus; militärischen Menschenrechtsinterventionen
werden auch von solchen Staaten, die noch eine allgemeine Wehrpflicht
kennen, nur durch Freiwillige durchgeführt. Angesichts der Weiterentwicklung unseres moralischen Bewusstseins, dem das Töten zu militärischen
Zwecken und erst recht die Todesstrafe zunehmend obsolet werden, nimmt
sich die Berufung auf die klassischen Ausnahmen vom Tötungsverbot
anachronistisch aus. Sie ist im Rahmen einer konsistenten moralischen
Argumentation jedenfalls nicht dazu geeignet, neue Ausnahmen vom
Tötungsverbot auf dem Gebiet der Forschungsethik zu begründen.
1.4. Gibt es einen Wertungswiderspruch innerhalb der Rechtsordnung?
Schließlich wird die Forderung nach einer weitgehenden Einschränkung des
embryonalen Lebensrechtes für die pränidative Phase durch die Behauptung
eines angeblichen Wertungswiderspruchs innerhalb der Rechtsordnung
begründet. Die Verfechter einer Aufweichung der rechtlichen Schutzbestimmung zugunsten des Embryos argumentieren nicht nur mit dem im
359
Eberhard Schockenhoff
internationalen Rechtsvergleich einmaligen Schutzniveau, das die deutsche
Gesetzeslage vorsieht, sondern auch mit angeblich widersprüchlichen Schutzbestimmungen innerhalb des nationalen Rechts. Tatsächlich ist der Embryo in
vitro besser als in vivo geschützt, was all denen als Paradoxie erscheinen muss,
die ihm außerhalb des Mutterleibes einen geringeren moralischen Status als im
Mutterleib zuschreiben wollen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass
der relevante Unterschied zwischen der Situation des Schwangerschaftsabbruchs und der Geburtenverhütung durch den Gebrauch frühabortiver Mittel
auf der einen und der verbrauchenden Embryonenforschung auf der anderen
Seite nicht auf der normativen Ebene, sondern dort liegt, wo es um die
wirksame Durchsetzung von Schutzansprüchen geht. In den beiden erstgenannten Fällen handelt es sich um Grenzen der Grundrechtsdurchsetzung,
nicht jedoch um eine abweichende Einschätzung der prinzipiellen Schutzwürdigkeit des Embryos. Vielmehr geht unsere Rechtsordnung davon aus,
dass dem Embryo von Anfang an volle Schutzwürdigkeit zusteht und dass sein
unverkürztes Lebensrecht eine eigenständige staatliche Schutzpflicht sogar
gegenüber der Mutter begründet. Die Rücknahme der an sich gebotenen
Strafandrohung und ihr Ersatz durch eine zwar ergebnisoffene, doch am
Lebensschutz des Embryos orientierte Pflichtberatung folgen einer rechtspolitischen Logik, die der Singularität des Schwangerschaftskonflikts gerecht
werden möchte. Dabei ist eine Überlegung leitend, die in der Lebenswirklichkeit einigen Rückhalt findet, obwohl man mit guten Gründen darüber
streiten kann, ob der Verzicht auf die symbolische Signalwirkung strafrechtlicher Verbote im Fall der verletzlichen Zweieinheit von Mutter und Kind
tatsächlich den der Rechtsordnung aufgetragenen bestmöglichen Schutz des
Schwächsten bietet. Das Lebensrecht und die Schutzwürdigkeit des Embryos
werden zwar nicht erst durch die Annahme von seiten der Mutter begründet,
doch lässt sich dieser Schutzanspruch nicht ohne ihre Mitwirkung oder gar
gegen ihren Willen durchsetzen.
Die Qualifikation des von der Rechtsordnung nur tolerierten Schwangerschaftsabbruchs als ,,rechtswidrig, aber straflos" folgt somit der Einsicht in die
effektiven Grenzen einer möglichen Strafverfolgung. Dies gilt erst recht für
die Anwendung nidationsverhindernder Verhütungsmittel, bei denen die
Schwierigkeiten der Beweiserhebung wegen der mangelnden Unterscheidbarkeit natürlicher und künstlich herbeigeführter Abgänge vor der Nidation
noch erheblich größer sind. Weder die einzigartige Sonderbeziehung zwischen
Mutter und Kind noch die einer möglichen Strafverfolgung weithin entzogene
360
Die Ethik des Heilens und die Menschenwürde. Moralische Argumente für und wider ...
Praxis der Familienplanung eignen sich jedoch für einen Analogieschluss, der
die Rücknahme des strafrechtlichen Lebensschutzes im Fall der verbrauchenden Embryonenforschung rechtfertigen könnte. Zwischen dem Arzt und
den Embryonen in vitro waltet ein Verhältnis objektivierender Sachlichkeit,
das von der in vivo gegebenen Zweieinheit von Mutter und Kind grundsätzlich
verschieden ist. Es wäre daher willkürlich, menschlichen Embryonen einen
wirksamen Grundrechtsschutz außerhalb des Mutterleibs nur deshalb
vorzuenthalten, weil er sich im Mutterleib nicht durchsetzen lässt. Das Argument vorn angeblichen Wertungswiderspruch innerhalb unserer Rechtsordnung fällt am Ende in sich zusammen, denn es postuliert eine Art
pragmatischer Gleichbehandlung im Unrecht, die es, wie die Studierenden der
Rechtswissenschaft schon in den Anfangssemestern lernen, aus prinzipiellen
Gründen der Rechtsgeltung nicht geben kann. Aus dem bedauerlichen
Umstand, dass eine freiheitliche Rechtsordnung menschliches Leben nicht
überall schützen kann, folgt nun einmal nicht, dass sie es dort, wo ihr effektive
Sanktionsmittel zur Verfügung stehen, nicht schützen darf oder nicht schützen
soll. Zudem wäre es innerhalb einer moralischen Argumentation keinesfalls
ausgemacht, dass ein normativer Wertungswiderspruch innerhalb der Rechtsordnung, wenn er denn tatsächlich bestünde, durch eine Angleichung des
höheren an das niedere Schutzniveau aufgelöst werden müsste. Mit gleichem
oder besserem Recht ließe sich eine Überprüfung der unzureichenden
Bestimmungen der gegenwärtigen Abtreibungsgesetzgebung postulieren, die
der Politik durch die Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht von seiten des
Bundesverfassungsgerichts ohnehin aufgetragen ist.
2. Die Gebote einer Ethik des Heilens
Ein anderes Legitimationsverfahren liegt dort vor, wo menschlichen
Embryonen auch in vivo ein grundsätzliches Lebensrecht zugestanden wird,
dessen Beachtung jedoch zumindest im Falle der so genannten überzähligen
Embryonen den angeblich höherstufigen Pflichten weichen muss, die sich aus
dem ärztlichen Behandlungsauftrag und den Forschungszielen der Wissenschaft ergeben. Die vorrangigen Imperative einer Ethik des Heilens sollen eine
weitere Begründung durch den Hinweis erhalten, dass wir nicht nur für unser
Handeln, sondern auch für unser Unterlassen verantwortlich sind. Wiederum
ist damit etwas Richtiges gesehen, aus dem jedoch eine falsche Schluss361
Eberhard Schockenhoff
folgerung gezogen wird. Aus dem unbestrittenen Grundsatz, dass auch unsere
Unterlassungen der moralischen Rechtfertigung bedürfen, ergibt sich nämlich
nicht zwangsläufig, dass wir für unser Handeln durch Tun in gleicher Weise
wie für unser Handeln durch Unterlassen (sofern dieses in einem weiteren
Sinne als rechtfertigungsbedürftiges Handeln qualifiziert werden kann) verantwortlich sind. Wie ist das im Blick auf die Vernichtung menschlicher Embryonen im Rahmen von Forschungsexperimenten mit potentiellem therapeutischen Nutzen zu verstehen?
Zunächst muss man in der Tat davon ausgehen, dass mit dem Fortschritt des
wissenschaftlich Machbaren der Rechtfertigungszwang für die Nicht-Nutzung
dieser Möglichkeiten ansteigt, weil sie bei Gesunden und Kranken Hoffnungen mobilisieren. Dieses unbestreitbare psychologische Faktum hat
erhebliche Rückwirkungen auf die emotionale Seite der Arzt-Patienten-Beziehung oder auf die intuitive Akzeptanz, mit der medizinische Forschung in
der Öffentlichkeit rechnen kann. Dies bedeutet indessen nicht, dass der Arzt
und Forscher für die Folgen der ihm moralisch gebotenen Unterlassungen in
gleicher Weise verantwortlich wäre wie für die Folgen seiner Handlungen.
Eine solche Konsequenz würde sich nur dann ergeben, wenn man den Vorrang
der Rechtspflichten vor den Tugendpflichten leugnen und die Ethik des
Heilens als Alternative zu einer Ethik der Rechte und ihrem Minimalgebot der
Anerkennung menschenrechtlicher Grundforderungen verstehen dürfte. Dies
wäre jedoch allenfalls in einer utilitaristischen Ethikkonzeption widerspruchsfrei denkbar, die das oberste Gebot der Nutzenmaximierung auch über Individuengrenzen und die durch sie gezogenen Rechtsschranken hinweg zu
verfolgen lehrt.
2.1. Der Vorrang der negativen Unterlassungspflichten vor den positiven
Handlungspflichten
Eine solche schrankenlose Meliorisierungspflicht, auf die sich eine medizinische Ethik des Heilens berufen könnte, scheitert jedoch an dem Umstand,
dass sie kein Gerechtigkeitskriterium anerkennt, nach dem Vorteile und Lasten
im Konfliktfall auf die betroffenen Individuen zu verteilen sind. Die moralisch
dringliche Frage, ob wir heute menschliches Leben um potentieller künftiger
Heilungschancen willen verbrauchen dürfen, findet innerhalb einer solchen
Ethik des Heilens gerade keine rational begründete Antwort. Die angenommene Erlaubnis hierzu lebt vielmehr von der scheinbaren Evidenz eines über362
Die Ethik des Heilens und die Menschenwürde. Moralische Argumente für und wider.
...
geordneten Heilungsauftrages, die sich bei näherer Betrachtung als willkürliche Ungleichbehandlung von ungeborenen und geborenen Menschen
herausstellt. Fremdnützige Experimente an erwachsenen Menschen gelten
auch ohne Todesfolge als mit der Würde ihres selbstzwecklichen Daseins
unvereinbar. Nach der Unparteilichkeitsregel und dem Universalisierungsgebot, von deren Beachtung auch eine Ethik des Heilens sich nicht freistellen
darf, können fremdnützige Experimente mit vorhersehbarer Todesfolge daher
auch an menschlichen Embryonen nicht erlaubt sein. Was im einen Fall
kategorisch abgelehnt wird, kann ohne Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes
auch im anderen Fall nicht gut geheißen werden. Dieser gebietet zwar nicht
die unterschiedslose Gleichbehandlung von geborenen und ungeborenen
Menschen, aber er bindet das Recht zu einer eventuellen Ungleichbehandlung
an den Nachweis, dass diese nicht das gemeinsame Menschsein betrifft. Genau
dies wäre jedoch der Fall, wenn die vorhersehbare Vernichtung des Embryos
im Rahmen eines Forschungsexperiments nicht unter das Tötungsverbot fallen
sollte, das die gleiche Handlungsweise gegenüber dem erwachsenen
Menschen kategorisch verbietet.
Solche rationalen Überlegungen sind von jedermann nachvollziehbar, denn
sie übertragen nur die in der allgemeinen Ethik anerkannten Grundsätze des
Zusammenlebens auf das Verhältnis zwischen erwachsenen Menschen und
solchen, die noch als Embryonen leben. Zugleich sind diese Überlegungen
jedoch geeignet, den Missbrauch und die Verwirrung aufzudecken, die eine
Sonderethik des Heilens unter den Begriffen unserer Moralsprache anrichtet.
Diese lebt von der zweifellos richtigen Intuition, dass den positiven Akten des
Heilens und Helfens die höhere moralische Dignität gegenüber der bloßen
Beachtung von Rechten zukommt; einem anderen durch eigenes Handeln zu
helfen ist moralisch wertvoller als ihm durch eigenes Unterlassen keinen
Schaden zuzufügen. Dennoch stellt die Anerkennung fremder Rechte, zumal
wenn es sich um besonders schutzbedürftige Individuen handelt, die diese
nicht aus eigener Stärke erzwingen können, eine dringlichere Pflicht dar, die
einer Verwirklichung der positiven Gebote des Helfens und Heilens im
Konfliktfall Schranken auferlegt. Wenn wir dem einen nur helfen können,
indem wir dem anderen (unverhältnismäßigen) Schaden zufügen, dann ist das
Unterlassen solcher Hilfe moralisch geboten, zumal wenn es sich bei dem
anderen, dessen Rechte verletzt werden müssten, um einen unbeteiligten
Dritten handelt. Es ist erschreckend, zu welch verwirrenden Schlussfolgerungen eine utilitaristische Denkweise unter dem Deckmantel des Heilens
363
Eberhard Schockenhoff
gelangt, wenn der Vorrang der negativen Unterlassungspflichten gegenüber
den positiven Handlungspflichten, an dem die klassische Naturrechtsethik der
aristotelisch-thomanischen Tradition und die Vernunftmoral der philosophischen Aufklärung immer festhielten, erst einmal eingeebnet ist. Betrachtet
man die schwerwiegenden Auswirkungen, die sich aus dieser scheinbar
geringfügigen Abweichung von der anerkannten Logik des moralischen Argumentierens ergeben, so ist man versucht, an das scholastische Adagium parvus
error in initio, magnus in fine zu denken. Es lautet frei übersetzt: Ein kleiner
Denkfehler am Anfang führt am Ende zu weit reichenden Fehlschlüssen!
2.2. Die Bedeutung der biblischen Krankenheilungen für das Verständnis des
medizinischen Heilungsauftrags
Die aufgezeigten Unklarheiten im Gebrauch wichtiger Begriffe unserer
Moralsprache werden durch den selektiven Rückgriff auf spezifisch neutestamentliche oder allgemein biblische Aussagen noch zusätzlich verstärkt.
Häufig werden dabei die der biblischen Sprache entlehnten Begriffe wie
„Heilung", „Gesetzesübertretung" oder „Barmherzigkeit" in einem von ihrem
ursprünglichen Herkunftskontext verschiedenen Sinn gebraucht, ohne dass
diese Bedeutungsabweichung sofort auffallen würde. Wenn die in den
Evangelien überlieferten Krankenheilungen Jesu am Sabbat mit der Bemerkung kommentiert werden, Jesus habe die Priorität des Heilens vor dem
Gesetz durch dessen bewusste Übertretung bezeugen wollen, so spielt eine
solche Behauptung mit der Vieldeutigkeit des biblischen Gesetzesbegriffs.
Dieser umfasst bekanntlich sowohl den tötenden Buchstaben einer rigoristischen Gesetzesauslegung wie auch die Schutzgebote zugunsten der Armen
und Schwachen, die von der prophetischen Sozialkritik in Erinnerung gerufen
werden. Kaum geringer ist die Bedeutungsbreite, die innerhalb der neutestarnentlichen Schriften zwischen der matthäischen Hochschätzung des
Gesetzes und der theologischen Gesetzeskritik bei Paulus waltet.
Wer die in bewusster Übertretung der jüdischen Sabbatvorschriften erfolgten Krankenheilungen Jesu als Erlaubnis zur Verletzung moralischer
Rechte im Namen einer höherrangigen Ethik des Heilens versteht, erliegt
daher einer schlichten Verwechslung. Er übersieht nämlich den Unterschied
zwischen den Zeremonialgeboten des jüdischen Gesetzes und den moralischen
Geboten des Dekalogs, die Jesus sowohl in seiner Verkündigung wie auch in
seinem eigenen Verhalten immer beachtet hat. Während er als frommer Jude
364
Die Ethik des Heilens und die Menschenwürde. Moralische Argumente für und wider ...
die rituellen Gebote seiner Religion im Allgemeinen beachtete, sie jedoch in
souveräner Freiheit bisweilen durchbrach, um seine Botschaft, dass der Sabbat
um des Menschen willen da ist, durch Zeichenhandlungen zu untermauern
(vgl. Mk 3, 1-6 par), hat er weder das Tötungsverbot noch ein anderes
moralisches Gebot der jüdischen Überlieferung in irgendeiner Weise relativiert. Im Gegenteil: Die Antithesen der Bergpredigt überbieten diese Forderungen des Gesetzes, indem sie ihre Erfüllung in einer nichtgesetzlichen Form
lehren, die das kasuistische Rechnen mit der Macht des Bösen überwindet und
das unverkürzte Recht unseres Nächsten anerkennt. Die biblischen Gebote der
Feindesliebe (Mt 5, 43-48), des einseitigen Gewalt- und Racheverzichtes (Mt
5, 38-42) oder der unbegrenzten Vergebungsbereitschaft (Mt 18, 21-22) lehren
die Jünger Jesu, im Konfliktfall auf eigene Rechte und die Durchsetzung
eigener Ansprüche zu verzichten; mit der Verletzung fremder Rechte haben
diese hochethischen Weisungen indes nicht das Geringste zu tun.
2.3. Das Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit
Ebenso irreführend ist es, dafür den biblischen Begriff der Barmherzigkeit
in Anspruch zu nehmen. Von seiner alttestamentlichen Bedeutung her ist das
Wort Barmherzigkeit im semantischen Feld von Sich-Erbarmen, Gnädig-Sein
und Mitleid-Haben angesiedelt; in diesem Sinne ist vor allem von der
Barmherzigkeit Gottes die Rede, um seine Beziehung zum Menschen,
insbesondere zum Volk Israel zu bezeichnen. Auf das Erbarmen Gottes ist
unbedingt Verlass (vgl. Jes 55, 7; Hos 14,4); in seiner Barmherzigkeit gewährt
Gott den Menschen, was sie zum Leben brauchen; nach der Katastrophe des
Exils erweist er sein Erbarmen durch die Wiederherstellung des gestörten
Gottesverhältnisses und die Rückführung seines Volkes nach Israel (vgl. Jer
12,15; Zach 10,6). An keiner Stelle wird jedoch die Barmherzigkeit Gottes als
Gegensatz zu seinen Geboten empfunden; vielmehr gelten die gesamte Tora
und auch der Dekalog als Ausdruck göttlicher Huld und Gnade, die dem
Menschen einen Weg zum Leben erschließt und das Volk Israel zu einem
bundesgemäßen Verhalten anhält. Die Antwort, die der Mensch auf Gottes
zuvorkommende Barmherzigkeit gibt, liegt eben darin, dass er die von Gott
unter seinem Volk aufgerichtete Ordnung der Gerechtigkeit (mispat) treu
bewahrt und sich das Fortbestehen der lebenssichernden Verhältnisse erwirkt,
indem er Gottes Gebote zum Schutz des Nächsten befolgt. Gottes Barmherzigkeit tritt nach biblischem Denken niemals in Widerspruch zur
365
Eberhard Schockenhoff
Gerechtigkeit unter den Menschen; sie fordert vielmehr deren Durchsetzung
auch dort, wo der Mensch sich an seinesgleichen vergeht oder unbarmherzig
gegenüber einem Schwächeren handelt. Die Begriffe Barmherzigkeit und
Gerechtigkeit liegen ihrer Bedeutung nach also nahe beieinander; wenn die
hebräische Bibel überhaupt einen Gegensatz zwischen ihnen kennt, so ist er in
erster Linie von innergöttlicher Art. Statt die angedrohte Vergeltung zu vollziehen, erweist Gott sein Erbarmen, indem er die Sünden vergibt und erneut
Leben schenkt. Im gleichen Sinn fordert Gott auch vom Menschen Barmherzigkeit; er soll dem Nächsten vergeben, seinen Racheimpuls zügeln und
gegenüber jedermann Milde walten lassen, was nach dem Tun-ErgehenZusammenhang langfristig zur Sicherung seines eigenen Wohlergehens
beiträgt.
Auch im Neuen Testament ist zuerst von der Barmherzigkeit die Rede, die
Gott dem Menschen erweist. In seinen Briefen stellt Paulus vor allem Gottes
souveräne Freiheit in der barmherzigen Zuwendung zum Sünder heraus (vgl.
Röm 9,15-18); ebenso führt er die Rettung von Heiden und Juden auf Gottes
Barmherzigkeit zurück (vgl. Röm 11, 30ff.; 15,9). Wie Paulus seine eigene
Berufung zum Apostel der Gnade Gottes verdankt (Gal 1,15), so schreibt er
die Rettung aller Getauften durch das Bad der Wiedergeburt dem Erbarmen
Gottes zu (vgl. Tit 3,5). Das Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit wird dabei
dem vergeblichen Versuch der Selbstrechtfertigung des Menschen aufgrund
seiner Werke gegenübergestellt. Auf die gleiche Weise beschreibt Eph 2,4-5
den Übergang vom Tod zum Leben als Antwort des göttlichen Erbarmens auf
den Ungehorsam der Menschen:
„Gott aber, der voll Erbarmen ist, hat uns, die wir in Folge unserer
Sünden tot waren, in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat,
zusammen mit Christus wieder lebendig gemacht."
Auch hier liegen die Bedeutungsgehalte von Barmherzigkeit und Gnade
nahe beieinander. Beide werden auf das eschatologische Handeln Gottes in
Menschwerdung, Tod und Auferstehung Jesu Christi bezogen und können
sowohl das gegenwärtige Heil in der Vergebung der Sünden als auch die
künftige Errettung aus dem Gericht bezeichnen. So bittet Paulus für seinen
Reisegefährten Onesiphorus, dass „er beim Herrn Erbarmen findet an jenem
Tag" (2 Tim 1,18); im gleichen Sinn verweist der Jakobusbrief, Trost und
Ermahnung verbindend, auf die Barmherzigkeit Gottes, die über das Gericht
triumphiert, doch denjenigen dem Gericht überlässt, der selbst kein Erbarmen
366
Die Ethik des Heilens und die Menschenwürde. Moralische Argumente für und wider ...
gezeigt hat (vgl. Jak 2,13). Nach den synoptischen Evangelien ist es das Ziel
der Barmherzigkeit, die Gott dem Menschen erweist, diesen zu einem
entsprechenden Handeln am Nächsten zu befähigen. Das Gleichnis vom
barmherzigen Vater (Lk 15,11-32) illustriert die Freude, die bei Gott über die
Umkehr des Menschen herrscht. Das bekannteste Gleichnis Jesu, die
Erzählung vom barmherzigen Samariter, beantwortet die Frage nach dem
Nächsten mit der Aufforderung zum Tun der Barmherzigkeit (Lk 10,37). Bei
Matthäus steht die praktizierte Barmherzigkeit einer veräußerlichten Kultpraxis gegenüber (Mt 9,13; vgl. Hos 6,6: „Barmherzigkeit will ich, nicht
Opfer"). In der Tradition der prophetischen Kultkritik fordern die Weherufe
über die Pharisäer zur Erfüllung des unverkürzten Gotteswillens durch
„Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue" (Mt 23,23) auf. Die Zusammenstellung dieses Ternars zeigt, dass der in rhetorischer Übertreibung herausgestellte Gegensatz nicht zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, sondern
zwischen dem Zurschaustellen äußerer Opfergaben auf der einen und der
tatsächlichen Erfüllung des Gotteswillens durch Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue auf der anderen Seite verläuft.
Barmherzigkeit zu üben kann so zum Inbegriff aller sittlichen Forderungen
werden, wobei wiederum die responsoriale Grundstruktur des biblischen Ethos
hervortritt. Die Barmherzigkeit des Menschen wird durch das vorangehende
barmherzige Handeln Gottes motiviert, so wie umgekehrt dem barmherzigen
Menschen Gottes Barmherzigkeit als Lohn verheißen wird (vgl. Mt 5,7: „Selig
die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden"). Auch in der
Bergpredigt zielt die Barmherzigkeit nicht auf eine einseitige Durchbrechung
der Gerechtigkeit zu Lasten Dritter, sondern auf das Zurückstellen eigener
Ansprüche; in ihr erfüllt sich die „größere Gerechtigkeit" (Mt 5,20), die das
Gesetz nicht aufhebt, sondern überbietet.
In einem Rechtskonflikt der einen Seite auf Kosten der anderen zum
Durchbruch zu verhelfen, hat dagegen nichts mit einem barmherzigen
Verhalten zu tun; solches Beugen des Rechts ist, vor allem wenn es die
gesetzlichen Schutzbestimmungen für eine schwächere Seite übergeht, mit der
Liebe unvereinbar. Das biblische Ethos weiß um die Grenzen der
Gerechtigkeit und die Gefahren eines moralischen Rigorismus. Der Weg der
Barmherzigkeit, den Jesus lehrt, führt jedoch weder zur einseitigen
Außerkraftsetzung moralischer Gebote noch zu fallweiser Willkür, sondern
zur überbietenden Erfüllung des Gesetzes aus dem Geist der Nächstenliebe.
Das Fazit aus diesen moralphilosophischen und bibeltheologischen Über367
Eberhard Schockenhoff
legungen lautet: Weder die langfristigen Intentionen einer Ethik des Heilens
noch das Gebot der Barmherzigkeit können die Vernichtung menschlichen
Lebens rechtfertigen, die bei den gegenwärtig praktizierten Verfahren zur
Erstgewinnung embryonaler Stammzellinien unvermeidlich ist. Die Anerkennung der moralischen Grenzen, die der Forschung durch die Wertgrundlagen unserer Rechtsordnung gezogen sind, darf nicht als Ausdruck einer
skeptischen Grundeinstellung gegenüber der Forschung oder gar als prinzipielle Wissenschaftsfeindlichkeit diffamiert werden. Ebensowenig ist es ein
Zeichen mangelnden Differenzierungsvermögens, daran zu erinnern, dass die
Geltung ethischer Prinzipien wie der Menschenwürde und des aus ihr folgenden Instrumentalisierungsverbots weder durch hochrangige Forschungsziele
noch durch die mit ihnen verbundenen ökonomischen Nutzungsinteressen
außer Kraft gesetzt werden. Vielmehr bekundet sich die geforderte Unterscheidungsgabe in der doppelten Bereitschaft, moralische Schranken zu akzeptieren und alle Forschungsoptionen diesseits der Grenzen entschlossen zu
nutzen. Wer im Sinne solcher Differenzierungsbereitschaft auf ethisch
unbedenkliche Forschungsalternativen setzt, verliert die Fernziele einer Ethik
des Heilens nicht aus dem Auge. Deren Imperative dürfen in einer Konkurrenzsituation unterschiedlicher Forschungsansätze, wie sie gegenwärtig in
der Erprobung embryonaler und adulter Stammzellen gegeben ist, nicht
einseitig für die Variante in Anspruch genommen werden, die es versteht, sich
im Wettkampf um Forschungsgelder und öffentliche Unterstützung als die
kurzfristig aussichtsreichere zu präsentieren.
3. Argumente pragmatischer Art
Damit stehen wir bereits vor einer letzten Gruppe von Argumenten, die
zumindest eine zeitlich begrenzte Option für die vorübergehende Mitnutzung
embryonaler Stammzellinien aus eher pragmatischen Gründen für unvermeidlich hält. Zu ihnen gehört der Hinweis auf die Überzähligkeit der
verbrauchten Embryonen, die ihre Verwertung zu Forschungszwecken unter
allen gegebenen Alternativen als die am ehesten vertretbare erscheinen lasse,
der Seitenblick auf die Gesetzeslage im Ausland, wo diese Verfahren auf
geringere rechtliche Hindernisse stoßen und die resignative Feststellung, die
Entwicklung der Wissenschaft lasse sich durch moralische Grenzziehungen
ohnehin nicht aufhalten. Der letztgenannte Hinweis kommt freilich einer Auf368
Die Ethik des 1-leilens und die Menschenwürde. Moralische
Argumente Mr und wider ...
forderung zur moralischen Kapitulation gleich und
kann daher innerhalb
ethischer Überlegungen nicht beurteilt werden. Wer von
deren Wirkungslosigkeit überzeugt ist, braucht sich auf den Versuch einer moralischen Argumentation gar nicht erst einzulassen; diese könnte sich für ihn nur darin
erschöpfen, dem ohnehin unvermeidlichen Gang der Dinge eine nachträgliche
Scheinlegitimation zu verleihen. Aus der Binnenperspektive der Moral verhält
es sich genau umgekehrt: Niemals kann eine Handlung schon deshalb als sittlich gerechtfertigt gelten, weil sie sich am Ende allgemein durchgesetzt haben
wird und dadurch ein unter anderen Gesichtspunkten wünschenswerter Zustand befördert wurde. Ob dies tatsächlich der Fall sein wird oder ob man den
nächsten Schritt im Nachhinein als Dammbruch zu beklagen haben wird, weiß
man immer erst hinterher; ob die entsprechende Handlungsweise dagegen gut
oder böse ist, muss man vorher wissen, um den jetzt anstehenden Schritt
verantworten zu können'. Somit bleiben unter den pragmatischen Argumenten, die aus moralischer Sicht bedenkenswert erscheinen, nur die beiden erstgenannten, auf die abschließend in einigen kurzen Bemerkungen einzugehen
ist.
3.1. Das Schicksal der verwaisten Embryonen
Die Ethik darf sich nicht darauf beschränken, Forderungen an das menschliche Handeln zu begründen und einen idealen Weltzustand zu beschreiben,
den ihre allgemeine Akzeptanz herbeiführen könnte. Sie muss auch nach
ethisch vertretbaren Auswegen aus Zwangslagen suchen, in die man aufgrund
zurückliegender moralischer Grenzüberschreitungen geraten ist. Betrachtet
man die Entwicklung der modernen Reproduktionsmedizin in einem größeren
Zusammenhang, so beginnt die moralische Schietlage bereits damit, dass man
zur Erfüllung des Kinderwunsches der Frau menschliche Embryonen herstellt,
deren Weiterexistenz desto ungesicherter ist, je schneller das Verfahren zum
Ziel führt. Das deutsche Embryonenschutzgesetz sieht durch die Begrenzung
der jeweils zu implantierenden Embryonen zwar Vorkehrungen vor, die das
Übrigbleiben verwaister Embryonen verhindern sollen; doch werden diese
entweder (wenn sich die höheren Schätzungen, die für die Bundesrepublik
Deutschland von mehreren tausend Embryonen ausgehen, als realistisch
erweisen) nicht allgemein befolgt oder sie erweisen sich (wenn es tatsächlich
7
Vgl. dazu Spaernann, R.. Grenzen Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001,
297.
369
Eberhard Schockenhoff
„nur" unter 100 Embryonen sein sollten) auch bei korrekter Beachtung als
verbesserungsbedürftig. In beiden Fällen scheint aus moralischer Sicht die
Suche nach alternativen Lösungen bei der Herstellung der für die in vitroFertilisation benötigten Embryonen als vorrangig, damit die späteren Folgeprobleme erst gar nicht mehr auftreten.
Eine Vernichtung der bereits lebenden Embryonen im Rahmen hochrangiger
Forschungsziele könnte aus moralischer Sicht allenfalls dann in Betracht
kommen, wenn zugleich wirksame Gegenmaßnahmen gegen das weitere
Anfallen überzähliger Embryonen (bereits diese verdinglichende Sprache ist
verräterisch) ergriffen werden. Schon vor Jahren gelang es englischen
Forschern, unbefruchtete Eizellen durch Kryokonservierung aufzubewahren,
so dass jeweils nur der Embryo erzeugt werden kann, der der Frau unmittelbar
implantiert wird. Die Fortpflanzungsmedizin verfügt somit bereits heute über
ein Verfahren, das sie ihre Ziele auch ohne die Inkaufnahme später verwaister
Embryonen erreichen lässt. Es bleibt befremdlich und durch die geringere
Erfolgsquote allein nicht erklärbar, warum diese Ansätze nicht nachdrücklicher verfolgt werden. Immerhin leben bereits heute Kinder unter uns,
denen Ärzte auf diese Weise den Schritt ins Leben ermöglichen konnten, ohne
dass die Berichte darüber ein vergleichbares Medienecho wie bei den ersten
Erfolgen der assistierten Befruchtung nach herkömmlicher Technik ausgelöst
hätten.
Auch wenn sich durch die aufgezeigten, bislang zu wenig beachteten
Alternativen zur Aufbewahrung mehrerer Embryonen ein Ausweg aus dem
gegenwärtigen Dilemma abzeichnet, ist damit die Frage, was mit den auch in
unserem Land vorhandenen verwaisten Embryonen jetzt geschehen soll, noch
nicht beantwortet. Sprechen nicht doch gute Gründe dafür, die Nutzung
überzähliger Embryonen zu Forschungszwecken zumindest vorübergehend zu
tolerieren, zumal ihre individuelle Weiterexistenz ohnehin ungesichert ist?
Hinter dieser nur auf den ersten Blick plausiblen Überlegung steht das
bekannte utilitaristische common sense Argument, nach dem die angebliche
Unvermeidbarkeit des Todes die Frage nach der Art und Weise seiner
Herbeiführung gegenstandslos macht: Wenn der Tod ohnehin gewiss ist, wird
es moralisch irrelevant, wie er eintritt. Dieses von der gegenwärtigen
Euthanasiedebatte her vertraute Grundmuster konsequentialistischer Beweisführung verstellt jedoch nicht nur den Blick auf mögliche Alternativen zur
Vernichtung des Embryos; es übersieht auch, dass die Unabwendbarkeit des
Todes (wenn sie denn tatsächlich bestehen sollte) den Embryo keineswegs
-
-
370
-
Die Ethik des Heilens und die Menschenwürde. Moralische Argumente für und wider ...
zum rechtlosen Objekt für die Nutzungsinteressen der Forschung degradiert.
Ein solcher Fehlschluss wird nicht nur durch den Seitenblick auf die Rechte
sterbender Patienten im Terminalstadium, sondern auch durch einen Vergleich
mit den auf anderen Gebieten inzwischen erreichten Schutzstandards
widerlegt. Selbst die Forschung mit körpereigenen Materialien wie Blut,
Knorpelmasse und Tumorgewebe oder die Benutzung von Gewebeproben
verstorbener Organspender gilt inzwischen als ethisch fragwürdig, sofern
keine ausdrückliche Ermächtigung dazu vorliegt. Wo diese wie bei Behinderten, Kindern oder Demenzpatienten nicht eingeholt werden kann, hält das
europäische Menschenrechtsabkommen der Biomedizin therapeutische Forschung allenfalls im Rahmen der Gruppennützigkeit, d. h. zum besseren Verständnis einer Krankheit, an der der Proband oder Prüfungsteilnehmer selbst
leidet, für vertretbar. Keine dieser ersatzweisen Legitimationsformen ist auf
den Embryo einfachhin übertragbar. Vielmehr muss auch der todgeweihte
Embryo als selbstzweckliches Mitglied der moralischen Gemeinschaft geachtet werden; er bleibt bis zum vorhersehbaren Ende seines Lebens Träger
moralischer Rechte, wobei dem Recht auf ungestörtes Sterben besondere Bedeutung zukommt.
Darüber hinaus bleibt zu bedenken, dass der Anschein der Alternativlosigkeit, der zugunsten einer zeitlich begrenzten Erlaubnis der verbrauchenden Forschung ins Feld geführt wird, trügerisch ist. Wenn die vorsichtige
Schätzung zutrifft, die von unter einhundert verwaisten Embryonen ausgeht,
die in deutschen Labors gelagert sind, bietet sich auch eine auf diese Fälle
beschränkte Zulassung der Embryonenadoption als vertretbarer Ausweg an.
Unter engsten rechtlichen Kautelen, die sicherstellen, dass eine solche übergesetzliche Notlösung nicht als Türöffner zu einer weitergehenden Akzeptanz
der Leih- und Tragmutterschaft wirkt, sollte dieser Weg, der einer begrenzter
Zahl überzähliger Embryonen eine Zukunftsperspektive eröffnen kann, als
ernsthafte Alternative zu ihrem Sterbenlassen in Betracht gezogen werden.
3.2. Die Gesetzgebung im Ausland
Die Warnung vor einem nationalen Sonderweg verbindet ein scheinbares
moralisches Argument mit dem pragmatischen Hinweis auf die Zukunftschancen des Forschungsstandorts Deutschland. Was in anderen demokratischen Staaten als rechtmäßig gilt, darf demnach in einem anderen Land nicht
als unmoralisch gebrandmarkt werden; zudem gefährden höhere Schutz371
Eberhard Schockenhoff
vorschriften die Wettbewerbsfähigkeit der Wissenschaft, da sich die Angehörigen der scientific community ihnen jederzeit durch Abwanderung ins
Ausland entziehen können. In beiden Varianten geht der Hinweis auf die
andernorts geltende Gesetzeslage im entscheidenden Punkt an der Sache
vorbei: Wäre der erste Einwand, der die moralischen Kritik an der verbrauchenden Embryonenforschung als Ausdruck nationaler Überheblichkeit
diffamieren möchte, tatsächlich stichhaltig, so dürften wir auch die von
unseren ethischen Überzeugungen abweichende Praxis der Todesstrafe in den
meisten Bundesstaaten der USA oder die Einführung einer rigiden Altersgrenze für aufwendige medizinische Leistungen in Großbritannien nicht mehr
aus ethischen Gründen kritisieren. Konsequent zu Ende gedacht führt dieser
Einwand zu einem Diskussionsverbot, das die Eigenständigkeit ethischer
Argumente durch den Hinweis auf ihre Nichtbeachtung im Ausland unterläuft.
Es mag ein sinnvoller Ausdruck der Wertschätzung demokratischer Staaten
untereinander sein, dass sie ihre jeweiligen Rechtstraditionen nicht in Frage
stellen. Die moralische Gemeinschaft jedoch anerkennt keine nationalen
Schranken; in ihr gilt einem Diktum Pascals zufolge vielmehr der Grundsatz,
dass diesseits der Pyrenäen nicht Gut und Recht sein kann, was jenseits als
Unrecht und Böse gilt'. Weil sich die Reichweite ethischer Argumente nicht
durch nationale Grenzziehungen beschränken lässt, muss über sie in einem
offenen Diskurs gestritten werden, wobei grundsätzlich mit der Möglichkeit zu
rechnen ist, dass dieser in einzelnen demokratischen Rechtsgemeinschaften zu
unterschiedlichen Ergebnissen führt.
Zu den absurden Konsequenzen einer einseitigen Orientierung an der
Auslandslegalität gehört schließlich, dass unter solchen Bedingungen eine
künftige internationale Rechtsfortbildung nur noch als Abwärtsspirale zulässig
wäre, da dann das Land mit der geringsten Regelungsdichte und dem
niedrigsten Schutzniveau eine unwiderstehliche Sogwirkung auf alle anderen
ausüben müsste. Kein Land dürfte dann mehr eine selbstbewusste Vorreiterrolle in der internationalen Rechtspolitik spielen, wie sie einzelne Länder beim
Ausbau des Umweltstrafrechtes oder der Verfolgung von Verbrechen gegen
die Menschlichkeit erfolgreich vorexerzieren. Zudem wird der Hinweis auf die
Auslandslegalität im Zusammenhang der embryonalen Stammzellforschung
zumeist selektiv eingesetzt, wodurch von vornherein nur die von den unseren
abweichenden gesetzlichen Regelungen anderer Länder Beachtung finden.
8
Vgl. Pascal, B.: Über die Religion und einige andere Gegenstände (Pensees — Fragment.
294). übersetzt von E. Wasmuth, Heidelberg 1972, 148.
372
Die Ethik des Heilens und die Menschenwürde. Moralische Argumente ftir und wider ...
Auf diese Weise wird jedoch übersehen, dass die verbrauchende Embryonenforschung außerhalb Deutschlands keineswegs überall gesetzlich erlaubt ist; in
einigen Ländern wie Portugal, Irland, Norwegen, Österreich und der Schweiz
bleibt sie ebenso wie bei uns gesetzlich verboten. In anderen fehlen bislang
eigene Regelungen und wieder andere — allen voran die USA — sehen zwar
keine rechtlichen Verbote für die embryonale Stammzellforschung vor, unterstützen diese jedoch nicht mit öffentlichen Förderungsmitteln.
Im europäischen Menschenrechtsabkommen zur Biomedizin verpflichten
sich zudem alle Unterzeichnerstaaten, einen „angemessenen Schutz" des
Embryos zu gewährleisten, wobei freilich nicht definiert wird, was darunter zu
verstehen ist. Die Bundesrepublik Deutschland ist diesem Abkommen bislang
unter anderem deshalb nicht beigetreten, weil noch nicht hinreichend geklärt
ist, dass ein angemessener Schutz den Embryo vor willkürlicher Schädigung
und Vernichtung bewahren muss. Wenn ein Land die eigene Rechtsauffassung
in den Prozess der europäischen Rechtsangleichung einbringen möchte, darf es
jedoch nicht schon vorher nach dem Ausland schielen; vielmehr muss es
gerade dort, wo es um menschenrechtliche Grundforderungen geht, unbeirrbar
an den eigenen Schutznormen festhalten, damit diese auf das Rechtsbewusstsein anderer Länder ausstrahlen und die internationale Rechtsfortbildung
in der Richtung auf bessere Schutzvorkehrungen hin beeinflussen können.
373
Herunterladen