Am Beispiel von Georg Kaisers Von morgens

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Das deutsche expressionistische Drama unter der
Perspektive der Theatersemiotik -
Am Beispiel von Georg Kaisers Von morgens bis mitternachts
Magisterarbeit
zur Erlangung des Magister Artiums an der deutschen Fakultät
der Shanghai International Studies University
Vorgelegt von Shui Ting
Betreut von Herrn Prof. Dr. Chen Zhuangzing
Shanghai, im Dezember 2013
Danksagung
Die vorliegende Arbeit wurde im November 2013 abgeschlossen und im Dezember
2013 der deutschen Fakultät der Shanghai International Studies University als
Abschlussarbeit des Magisterstudiums vorgelegt.
Ganz besonderer Dank gilt meinem Betreuer Herrn Prof. Dr. Chen Zhuangzing, der
mich immer mit seinem wertvollen akademischen Rat und aufschlussreichen
Anregungen unterstützt hat. Ohne dessen Impuls und Betreuung wäre diese Arbeit
nicht zustande gekommen.
Mein Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Wei Maoping, Herrn Prof. Dr. Xie Jianwen,
Herrn Prof. Dr. Wang Zhiqiang, Herrn Prof. Dr. Chen Xiaochun, Frau Lydia Weber
und
anderen
Professoren,
die
mir
während
des
Magisterstudiums
Forschungsmethoden für wissenschaftliche literarische Studien beigebracht haben.
An dieser Stelle möchte ich mich auch bei meiner Familie und meinen Freunden
bedanken, die beim Verfassen meiner Arbeit viel Geduld hatten, mich die ganze Zeit
motivierten, inspirierten und unterstützten.
内容摘要
戏剧符号学是一门 20 世纪 70 年代末 80 年代初兴起的戏剧研究新学科,它综合了现代
语言学、语义学、符号学、人类学、社会学、心理分析学等多门新型学科的最新知识,以其
崭新的理论与观点重新审视与解读了戏剧这门古老的艺术,堪称戏剧研究领域的一场革命。
1983 年德国戏剧学教授艾丽卡·费舍尔·里希特出版了皇皇三大卷的《戏剧符号学》,
书中对戏剧艺术的意义生产结构进行了符号学的研究,分析了作为系统、规范与言语的戏剧
符号。作为系统的戏剧符号学研究,关注的是戏剧活动作为一个符号系统的整体结构;作为
规范的戏剧符号学研究,是具体分析不同戏剧类型的符号系统;而将戏剧当作一种言语活动
研究,实际上是想确定具体戏剧创作与交流过程中的符号意义。
“表现主义”是现代派文学的一个重要流派,表现主义(Expressionismus)一词源自
拉丁文 expressus,具有“抛掷出来”、“挤压出来”的意思。这个术语最早出现在 1901 年
法国画家厄维举行的一次画展上,后来表现主义传到德国,于 1910 年展开了一次声势浩大
的运动。这场运动影响了诸多领域,尤其在戏剧方面取得了辉煌的成就。评论家们曾说:
“表
现主义在法国萌生,在德国开花结果。”德国的表现主义戏剧在西欧各国是处于领先地位的。
表现主义剧作家代表有魏德金德、施特恩海姆、凯泽、巴尔拉赫、托勒尔等。其中剧作
家格奥尔格·凯泽(1878-1945)的早期作品《从清晨到午夜》
(1916)使他一举成名。这部
作品出版后被翻译成多国语言,进而使得表现主义戏剧在全世界得到广泛流传。剧中银行出
纳员为逃脱压抑的生活环境,摆脱金钱的束缚,最终被金钱俘虏,从银行贪污一笔巨款潜逃。
然而他却在潜逃过程中逐渐悔悟。当他最终自杀时,他终于获得了“新生”。
本文主要以德国戏剧学教授艾丽卡·费舍尔·里希特的著作《戏剧符号学》为理论依据
对凯泽的《从清晨到午夜》进行了全新的分析和阐释,旨在对此理论的实际应用有更好的理
解,同时对德国表现主义戏剧有更新的认识。
关键词:戏剧符号学、表现主义戏剧、符号、《从清晨到午夜》
Abstrakt
Georg Kaiser ist einer der bedeutendsten expressionistischen Dramatiker: Als der
produktivste Bühnenautor seiner Zeit hat er insgesamt 74 Stücke geschaffen und
wurde innerhalb von 20 Jahren mit 41 Uraufführungen der erfolgreichste Dramatiker.
Von morgens bis mitternachts ist eines der repräsentativen Werke von Kaiser. Es ist
ein typisches expressionistisches Drama. Dessen Uraufführung war in den
Kammerspielen München am 28. April 1917. Sie war ein großer Erfolg und wurde im
folgenden Jahr verschiedentlich wiederaufgenommen.
Mit einer neuen und in der Gegenwart populären literarischen Wissenschaft, nämlich
der Theatersemiotik, kann das klassische Stück aus einer neuen Perspektive betrachtet
werden, die etwas Interessantes und Neues zu entdecken verspricht. Die
Theatersemiotik ist ein Zweig der Theaterwissenschaft, der vor allem in den 1970er
und 80er Jahren seine Blüte erlebte. Als anwendungsorientierte Theorie bietet sie zum
Beispiel Systematiken für die Aufführungsanalyse. Die Aufführung wird dabei als
Kommunikationsprozess verstanden, in dem über verschiedene Kanäle auf
unterschiedlichen Ebenen Informationen gegeben werden. Erika Fischer-Lichte,
Patrice Pavis und Manfred Pfister sind wichtige Vertreter dieser Strömung. Dabei fällt
die Theorie von Erika Fischer-Lichte besonders auf. Durch ihr Werk „Semiotik des
Theaters“ können systematische und umfassende Erkenntnisse der Theatersemiotik
gewonnen werden. Aus diesem Grund liegt der Schwerpunkt der theoretischen
Grundlage dieser Arbeit auf diesem drei Bände umfassenden Werk. Mit dieser Theorie
wird Kaisers Stück im Kontext der unterschiedlichen Bereiche der Gesellschaft unter
die Lupe genommen, so dass man neue und interessante Interpretationsmöglichkeiten
bekommen kann.
Stichwörter: das expressionistische Drama, Theatersemiotik, Zeichen, Von morgens
bis mitternachts
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung.........................................................................................2
1.1 Forschungsstand und Motivation.................................................................. 2
1.2 Aufbau und Zielsetzung der Arbeit............................................................... 3
2 Theoretische Grundlagen.............................................................. 4
2.1 Theatersemiotik: Erika Fischer-Lichtes Semiotik des Theaters.................. 4
2.2 Das expressionistische Drama........................................................................ 6
3 Analyse über Georg Kaisers Stück Von morgens bis
mitternachts unter Berücksichtigung der Theatersemiotik...........8
3.1 Erstinformationen über Kaiser und sein Stück............................... 8
3.1.1 Georg Kaisers Sonderstellung im deutschen Expressionismus.........8
3.1.2 Die Handlung des Stücks...................................................................... 9
3.1.3 Die Entstehung, Aufführung und Verfilmung des Stücks...............10
3.2 Der theatralische Code im Stück...................................................12
3.2.1 Die sprachlichen Zeichen....................................................................13
3.2.1.1 Die linguistischen Zeichen........................................................ 13
3.2.1.2 Die paralinguistischen Zeichen................................................ 18
3.2.2 Die kinesischen Zeichen...................................................................... 20
3.2.2.1 Die mimischen Zeichen............................................................. 20
3.2.2.2 Die gestischen Zeichen.............................................................. 21
3.2.2.3 Die proxemischen Zeichen........................................................25
3.2.3 Die Erscheinung des Schauspielers als Zeichen............................... 26
3.2.4 Die Zeichen des Raumes: Raumkonzeption und Bühnenraum...... 32
3.2.5 Nonverbale akustische Zeichen: Geräusche und Musik..................39
4 Schlusswort....................................................................................42
5 Literaturverzeichnis..................................................................... 45
1 Einleitung
1.1 Forschungsstand und Motivation
Georg Kaiser ist einer der bedeutendsten expressionistischen Dramatiker: Als der
produktivste Bühnenautor seiner Zeit hat er insgesamt 74 Stücke geschaffen und
wurde innerhalb von 20 Jahren mit 41 Uraufführungen der erfolgreichste Dramatiker.1
Von morgens bis mitternachts ist eines der repräsentativen Werke von Kaiser.
Die Uraufführung war in den Kammerspielen München am 28. April 1917 unter der
Regie von Otto Flackenberg, wobei sie erst durch die Hilfe von Gerhart Hauptmann
zustande kam. Sie war ein großer Erfolg und wurde im folgenden Jahr
verschiedentlich wiederaufgenommen. Auch als Stummfilm bewahrte das Stück seine
Ausstrahlung, das außerdem als Übersetzung, etwa in der englischen Fassung von
Ashley Dukes, dem theatralischen Expressionismus auf internationaler Ebene zum
Sieg verholfen hat.2
Kaiser war der Beweis gelungen, dass es sich beim
Expressionismus um keine rein deutsche Angelegenheit handelt, die das Theater in
anderen Teilen der Welt nicht beeinflusse. Vielmehr lässt sich die Wirkung
insbesondere dieses Stückes gar nicht hoch genug schätzen.3
Mit einer neuen und in der Gegenwart populären literarischen Wissenschaft, nämlich
der Semiotik des Theaters, kann das klassische Stück aus einer neuen Perspektive
betrachtet werden, die Interessantes und Neues zu entdecken verspricht. Vor allem tritt
jedoch die Frage nach der Bedeutung der Semiotik hervor. Als allgemeine Definition
kann die folgende aufgefasst werden: „Die Semiotik ist die Wissenschaft von den
Zeichen.“4
Nach
Sebeok5
folgt
die
Geschichte
der
Semiotik
einer
medizingeschichtlichen, philosophischen und linguistischen Tradition. In diesen drei
1
Zu den Zahlenangaben vgl. Walther Huder: Nachwort. In : Georg Kaiser, Von morgens bis mitternachts, hrsg.
von W. H., Stuttgart 1965, S. 68f.
2
Ritchie, J. M.: Ashley Dukes and the German Theatre between the Wars. In: Affinities. Hrsg. R. Last. London
1971, S. 97-109.
3
Ritchie, James M.: Georg Kaiser und das Drama des Expressionismus. In: Walter Hinck (Hrsg.): Handbuch des
deutschen Dramas. Düsseldorf 1980, S. 391.
4
Morris, Charles W.: Signification and Significance. Mass.: M. I. T. Press 1964, S. 1.
5
Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik. Stuttgart: Metzler 1985, S. 17.
2
Traditionen geht der Begriff Semiotik auf die griechischen Etyma σημείον
„Zeichen“ und σημα „Signal“ oder „Zeichen“ zurück. Allerdings eröffnet eine breitere
Auslegung des Begriffs der Semiotik die ausgeprägte Vielfalt der Bereiche, für die
die Semiotik zentral ist wie Sprache, Musik, Architektur, Malerei, Film und Theater.
Darunter ist die Theatersemiotik als eine junge Theaterwissenschaft aufzufassen,
deren Blütezeit nur 20 Jahre (in den 1970er und 80er Jahren) dauerte. Obwohl sie also
an Bedeutung abgenommen hat, ist es nicht zu leugnen, dass sie eine universale
Wissenschaft ist. Sie integriert die neuesten theoretischen Ergebnisse im Bereich der
Geisteswissenschaft und wendet eine moderne systematische Theorie und Methodik
an, die zur Wiedererkennung und Analyse des Theaters beitragen kann. Insbesondere
fällt hier die Theorie von Erika Fischer-Lichte auf, die als Repräsentantin der
Theatersemiotik gilt. Durch ihre Werke wie „Semiotik des Theaters“ können
systematische und umfassende Erkenntnisse der Theatersemiotik gewonnen werden.
Aus diesem Grund liegt der Schwerpunkt der theoretischen Grundlage dieser Arbeit
auf diesem drei Bände umfassenden Werk.
1.2 Aufbau und Zielsetzung der Arbeit
Die vorliegende Arbeit besteht aus vier Kapiteln (einschließlich Einleitung und
Schlusswort, die jeweils ein selbständiges Kapitel bilden). Bevor sich diese Arbeit
einer detaillierten Analyse von Georg Kaisers Von morgens bis mitternachts widmet,
das anhand der Theatersemiotik analysiert wird, sollen die betreffenden Theorien,
nämlich die Theatersemiotik selbst und das expressionistische Drama, untersucht
werden. Dies zu erklären, wird zum Verstehen und zur Analyse des Stückes beitragen,
weshalb dieses Kapitel unentbehrlich ist. Darauf folgt das dritte Kapitel, der
Schwerpunkt der Arbeit, in welchem die Theatersemiotik auf Kaisers Von morgens bis
mitternachts angewandt wird, d.h. bestimmte theatralische Codes des Stückes werden
untersucht.
Diese Arbeit soll dazu beitragen, die Theorie der Theatersemiotik an einem
praktischen
Beispiel
zu
erklären
und
so
gleichzeitig
mehr
3
Interpretationsmöglichkeiten für die Erkenntnisse des expressionistischen Dramas und
für Kaisers Werk anzubieten.
2 Theoretische Grundlagen
2.1 Theatersemiotik: Erika Fischer-Lichtes Semiotik des Theaters
Die Theatersemiotik ist ein Zweig der Theaterwissenschaft, der vor allem in den
1970er und 80er Jahren seine Blüte erlebte. Als anwendungsorientierte Theorie bietet
sie zum Beispiel Systematiken für die Aufführungsanalyse. Die Aufführung wird
dabei als Kommunikationsprozess verstanden, in dem über verschiedene Kanäle auf
unterschiedlichen Ebenen Informationen gegeben werden. Erika Fischer-Lichte,
Patrice Pavis und Manfred Pfister sind wichtige Vertreter dieser Strömung.
Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte wurde am 25. Juni 1943 geboren.
Sie studierte viele Fächer von 1963 bis 1970 an der Freien Universität Berlin und an
der Universität Hamburg, und zwar Theaterwissenschaft, Slawistik, Germanistik,
Philosophie, Psychologie und Pädagogik. Und im Jahr 1972 promovierte sie im Fach
Slawistik an der FU Berlin über den polnischen Dramatiker Juliusz Słowacki. Im
folgenden Jahr wurde sie schon Professorin am Institut für deutsche Sprache und
Literatur an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. 1986
übernahm sie den Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
an der Universität Bayreuth, und wurde 1991 Direktorin des Instituts für
Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Ihre drei Bücher zur Semiotik des Theaters: 1. Das System der theatralischen Zeichen;
2. Vom "künstlichen" zum "natürlichen" Zeichen: Theater des Barock und der
Aufklärung; 3. Die Aufführung als Text sind von der ersten Drucklegung an bis heute
sehr beliebt. Sie üben einen entscheidenden Einfluss auf die moderne Dramenanalyse
aus.
Der Kommentar auf der Rückseite dieser drei Bände kann uns eine sinnliche
Erkenntnis der Theatersemiotik bieten:
4
„Das Theater erscheint wie Roland Barthes festgestellt hat, als ein besonders,
privilegiertes semiologisches Objekt‘. Denn es arbeitet nicht nur wie andere
Kunstgattungen – z.B. Literatur und Malerei – mit einem einzigen Zeichensystem,
sondern vereinigt in sich eine Vielzahl heterogener Zeichensysteme (wie Sprache und
Gestik, Kostüm und Dekoration, Musik und Beleuchtung), deren jedes nach anderen
Prinzipien Bedeutung hervorbringt. Soll das Theater seinerseits als ein spezifisches
bedeutungserzeugendes System begriffen und erforscht werden, müssen daher die
einzelnen beteiligten Zeichensysteme einerseits in ihrer jeweiligen Eigenart, andrerseits
in ihren Beziehungen zueinander untersucht werden. Der von Coseriu in der Linguistik
getroffenen Unterscheidung zwischen den Ebenen des Systems, der Norm und der Rede
entsprechend wird diese Untersuchung unter systematischem, historischem und
analytischem Aspekt durchgeführt.“6
Um diese Theorie der Theatersemiotik besser zu verstehen und damit das theatralische
Stück exakter analysieren zu können, sind zuerst einige signifikante Begriffe7 zu
erklären.
Zu Beginn soll das Theater stehen. Im weiteren Sinne kann das Theater als ein
kulturelles System betrachtet werden. Wenn wir davon ausgehen, dass alle kulturellen
Systeme Bedeutung erzeugen können, dann ist festzustellen, dass auch das Theater
Bedeutung erzeugen kann. Sie teilt sich jedoch in die ästhetische und nicht-ästhetische
Bedeutung ein. Die ästhetische unterscheidet sich von der nicht-ästhetischen
Bedeutung
durch
eine
Potenzierung
der
prinzipiell
immer
gegebenen
Veränderbarkeit.8
Allerdings kann nur vermittels Zeichen Bedeutung erzeugt werden. Nach Morris9
besteht ein Zeichen aus drei nicht weiter reduzierbaren Faktoren: dem Zeichenträger,
dem Designat-Denotat und den Interpretanten. Aus diesen drei Faktoren ergeben sich
drei Dimensionen des Zeichens: die syntaktische, semantische und pragmatische
Dimension. Die Bedeutung kann nur unter dieser Dreidimensionalität angemessen
begriffen und beschrieben werden.
Des Weiteren gilt es, den Code zu definieren. Der Code ist ein Regelsystem zur
6
Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Tübingen 1988, Rückseite.
Vgl. hierzu Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Band 1. Das System der
theatralischen Zeichen. Tübingen 1988, Einleitung.
8
Ebd. Einleitung.
9
Zum Zeichenbegriff bei Morris s. Ch. W. Morris, Foundations of a Theory of Signs, in: International
Encyclopedia of United Science, Vol. 1, No. 2, Chicago 1938, deutsch: Grundlagen der Zeichentheorie, München
1972.
7
5
Hervorbringung und Interpretation von Zeichen bzw. Zeichenzusammenhängen. Es
gibt zwei Arten von Codes: 1. Die internen Codes liegen jeweils einem kulturellen
System, im Extremfall sogar – wie z.B. beim autonomen Kunstwerk – einer
Hervorbringung dieses Systems zugrunde; 2. Die externen Codes bestimmen mehrere
– im Extremfall sogar alle – kulturellen Systeme einer Kultur.
Daraus leitet sicher der theatralische Code ab. In ihm sind alle Elemente enthalten,
aus denen sich die unterschiedlichsten Theaterformen bilden. Daher soll der
theatralische Code eines Stückes nach Erika Fischer-Lichte auf drei Ebenen
untersucht werden: System, Norm und Rede.
Nicht zuletzt soll eine wichtige Formel für die Analyse des Theaters erwähnt werden.
Sie lautet: Das Theater lässt sich auf seine minimalen Voraussetzungen reduzieren,
denn es bedarf einer Person A, welche X verkörpert, während S zuschaut.10
2.2 Das expressionistische Drama
Das expressionistische Drama ist hinsichtlich seines Erscheinens und seiner Wirkung
schwerer zu datieren als andere Gattungen, weil die ersten Drucke meist beträchtlich
früher liegen als die Uraufführungen und weil das expressionistische Drama in den
nachexpressionistischen Jahrzehnten das Theater beeinflusst hat.11 Doch kann
zumindest dieses literarische Phänomen gut beobachtet und untersucht werden, um es
so möglichst genau zu erklären.
In Malerei und Dichtung war der Expressionismus12 schon vor dem Ersten Weltkrieg
entstanden (um 1910). Mit ihm revoltierten bürgerliche Jugendliche gegen die marode
bürgerliche Gesellschaft. Diese versuchte die Kulturkrise, die im wilhelminischen
Deutschland vor allem durch eine rapide Industrialisierung und Urbanisierung stark
zugenommen hatte, durch einen bürgerlichen Kulturradikalismus zu überwinden. Im
Rückgriff auf das Bild von Menschlichkeit und Brüderlichkeit proklamierten sie den
10
Vgl. hierzu Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Band 1. Das System der
theatralischen Zeichen. Tübingen 1988, Einleitung.
11
Grabert, Willy: Geschichte der deutschen Literatur. München 1990, S. 266.
12
Zum Begriff des Expressionismus und seiner Poetik vgl. U.a. die Einleitung in Otto F. Best 1982; Jan Knopf:
„Expressionismus“ - kritische Marginalien zur neueren Forschung. In: Bernd Hüppauf (Hrsg.) 1983, S. 15-54;
Silvio Vietta / Hans-Georg Kemper 1975.
6
neuen Menschen, eine totale Erneuerung der bürgerlichen Kultur.
Walter Hasenclever, einer der bedeutendsten expressionistischen Dramatiker, erhob
den „Ruf nach dem Theater als moralischer Anstalt“13. Entsprechend fiel dem
expressionistischen Drama die Aufgabe zu, die Bühne zur Brücke zwischen
Philosophie und Leben zu machen und damit zur Vermittlerin der ersten und
heiligsten Extasen. Dabei werden auch die inneren Emotionen und Gedanken von
dem Autor gut freigesetzt. Die Erneuerung der Kultur wurde also durch die Literatur
und das Drama eingeleitet und bewirkt.
Neue Kunst braucht eine neue Form. Dieser Satz ist besonders geeignet, um ihn auf
das expressionistische Drama anzuwenden, denn der expressionistische Stil wird vor
allem durch das neue Verhältnis zur Sprache bestimmt. Er entsteht durch die
Auflösung der Sprache in ihre Wortbestandteile und durch eine neue rhythmische
Verbindung der sprachlichen Elemente. Dieser Stil ist zugleich synthetisch. Der
ekstatische Ausdruck des inneren Erlebnisses verlangt nach Ausdruckskraft und nach
einer Intensität der sprachlichen Gestaltung. Er ist darüber hinaus ein intensiver Stil.
Die Intensität wird durch die Konzentration der sprachlichen Gestaltung erreicht,
indem die Sprache verdichtet und zu äußerster Knappheit zusammengedrängt wird.
Sie erscheint so teils als bloßer Ausruf oder Schrei.14
Im expressionistischen Drama wird normalerweise eine Vision als Verkünder
offenbart, durch die sich die Anforderung des Dichters an die Erneuerung des
Menschen ausdrücken lässt, wie etwa Georg Kaiser in seinem Aufsatz Vision und
Figur schreibt: „Vielgestaltig gestaltet der Dichter eins: die Vision, die Anfang ist. So
stößt sie mit seinem Blut…“15.
Aber diese Ausdrucksform stößt selbst auf ein fatales Problem – die Intuition, der
Rausch oder die Ekstase werden Selbstzweck, wodurch sich die reale Substanz
verliert. Der Schrei, „die exaltierte Verdichtung der Sprache zu Stichwort, Wortsignal
und Sentenz, die hektisch forcierte Stilisierung der Gebärden und der groteske
13
Hasenclever, Walter: Das Theater von Morgen (1926) In: Christopher Balme (Hrsg.) 1988, S. 262-271, S. 264.
Eun Kyoung Kim: Idee und Sprache in Georg Kaisers Hauptdramen des expressionistischen Zeitraums. Gießen,
Univ., Diss., 1998, S. 25.
15
Kaiser, Georg: Vision und Figur. In : Best, Otto F. (Hrsg.): Theorie des Expressionismus. Stuttgart 1976, S. 218.
14
7
Sprechgestus“16
haben die Schwachstellen des expressionistischen Programms
aufgedeckt, weil sie dem Leser oder Zuschauer beim Verstehen des Stücks manchmal
große Schwierigkeiten bereiten könnten. Nur bestimmte Dramatiker, wie Georg
Kaiser, konnten diese Grenze überschreiten, indem sie eine extrem expressive
Sprache zu einer künstlichen Sprache gestalteten und entwickelten.
3 Analyse über Georg Kaisers Stück Von morgens bis
mitternachts unter Berücksichtigung der Theatersemiotik
3.1 Erstinformationen über Kaiser und sein Stück
3.1.1 Georg Kaisers Sonderstellung im deutschen Expressionismus
Viele Fachleute versuchen, Georg Kaiser (1878-1945) in die Kette deutscher
expressionistischer Dichter einzureihen, indem sie ihn nach seiner literarischen
Epoche und seiner zugehörigen Kunstform beurteilen.
Dazu geben Fivian und Eric Albert ein gutes Beispiel. Ihrer Meinung nach weisen die
expressionistischen Dramatiker hinsichtlich der literarischen Epoche die folgenden
vier Besonderheiten auf: Anti-Philistertum, neues Menschentum, Flucht in die Illusion
und Formprobleme.17 Außerdem sind sie der Ansicht, dass die „auffallende
Ähnlichkeit der Wesenszüge expressionistischer Dramatiker mit denjenigen der
Werke Georg Kaisers ihn trotz der Symmetrie im Aufbau seiner Dramen und trotz
dem
Fehlen
des
unbeherrschten
Schreies,
in
die
vorderste
Reihe
der
expressionistischen Dramatiker stellt“18. Hier wird allerdings Kaisers eigenartige
Kunstform vernachlässigt.
In der Tat verdankt Kaiser seine Sonderstellung im deutschen Expressionismus gerade
seinen langjährigen und schließlich erfolgreichen Bemühungen um eine neue
16
Vgl. Horst Denkler: Das Drama des Expressionismus. In: Wolfgang Rothe (Hrsg.): Expressionismus als
Literatur, Bern/München 1969, S. 151.
17
Fivian, Eric Albert: Georg Kaiser und seine Stellung im Expressionismus. München 1946. S. 280-282.
18
Ebd. S. 282.
8
dramatische Form und zwar insbesondere hinsichtlich Sprache und Stil. Er versucht,
eine „Synthese von Idee und Stil“19 zu entwickeln. Während die zeitgenössischen
Expressionisten die Formen sowohl der Gesellschaft als auch der Dichtung zerstörten
und keine neuen Formen schufen (sie schrien sie nur heraus), wollte Kaiser dagegen
den einzelnen Menschen verändern und „verkündete seine Idee, seine Vision nicht
eher, bis er eine Dramenform gefunden hatte, die sie tragen konnte.“20
Die enge Beziehung Kaisers zum Expressionismus wird in seinem Essay „Ein neuer
Naturalismus?“ deutlich gezeigt: „Expressionismus ist Kunst. Die Definition für
Kunst: Ausdruck der Idee, die unzeitlich – allgegenwärtig ist. Nur mit den geringsten
Mitteln, die die Störung der Erscheinungen auf ein Minimum reduzieren, bleibt sie
darstellbar. Die Ordnung des Wirrwarrs von Figur und Natur in die immanente Idee
macht Kunst. Der Mensch (Künstler) weiß die Idee – er ringt um ihren Ausdruck.
Erfolgreich nur im Expressionismus.“21
In Kaisers Werken sind die zwei folgenden expressionistischen Merkmale zwar nicht
auffallend: der Schrei und die Auflösung der dramatischen Form. Dennoch gilt Kaiser
als einer der größten Dramatiker des Expressionismus, weil sein dramatischer Stil im
Bereich des expressionistischen Dramas am erfolgreichsten war. Gegen die meisten
expressionistischen Dramen ist Kaisers Drama auffällig einheitlich und klar. Die
genaue Sprache, die mathematische Konstruktion der Handlung, die Symmetrie, der
Parallelismus und die Dreimaligkeit haben zum Bühnenerfolg seiner Dramen
entscheidend beigetragen.22
3.1.2 Die Handlung des Stücks
Georg Kaisers Drama Von morgens bis mitternachts ist ein durch zwei Teile
untergliedertes Stationendrama. Der Protagonist hat keinen Namen, sondern wird
identifiziert durch seinen Beruf Kassierer. Am Anfang des Stücks tritt er als
19
Schürer, Ernst: Metapher, Allegorie und Symbol in den Dramen Georg Kaisers, Diss.. Yale Univ. 1966, S. 50.
Ebd. S. 52.
21
Kaiser, Georg: „Ein neuer Naturalismus??“ In: Walther Huder (Hrsg.): Werke IV, Frankfurt a. M./Berlin/Wien
1971, S. 571.
22
Vgl. Eun Kyoung Kim: Idee und Sprache in Georg Kaisers Hauptdramen des expressionistischen Zeitraums.
Gießen, Univ., Diss., 1998, S. 38-40.
20
9
Angestellter einer kleinen Bank in einer Kleinstadt auf. Er zählt stumm das Geld.
Unterdessen kommt eine verführerisch schöne Frau aus Italien, um eine große Summe
von Geld abzuheben. Aber der Bankdirektor verweigert, ihr das Geld auszuzahlen.
Durch eine flüchtige Berührung von der Dame beschließt der Kassierer, eine soeben
eingegangene Zahlung von 60.000 Mark zu unterschlagen. Er sucht die Dame im
Hotel auf, um mit ihr ins Ausland zu fliehen. Aber zu seiner Verblüffung lehnt die
Dame ihn ab. Nun weiß der Kassierer nicht mehr, was er mit dem Geld tun soll. Auf
einem Friedhof führt er ein kurzes Zwiegespräch mit einem Skelett. Dann geht er
nach Hause, doch die Tristheit des Alltags bedrückt ihn so sehr, dass er in die
Großstadt B flüchtet. Er besucht das Sechstagerennen im Sportpalast und bietet immer
höhere
Siegprämie an, so dass die Zuschauer endlich zu einem tobenden Mob
werden. Erst der Auftritt des Kronprinzen bringt die Leute zur Ruhe. Unterdessen
kommt ein junges Mädchen vor. Sie fragt den Kassierer, ob er nicht den Kriegsruf
kaufen möchte. Aber er beschimpft sie. Von dem Publikum gelangweilt, verlässt er
den Sportpalast und verbringt den Abend in einem Ballhaus. Nachdem er mit einigen
maskierten Frauen Umgang gehabt hat, verlässt er das Ballhaus und geht weiter zu
dem Lokal der Heilsarmee. Dort gesteht er die Unterschlagung des Geldes. Er wird
von dem Mädchen, das er beschimpft hatte, preisgegeben und an die Polizei verraten.
Als die Polizei ihn verhaften will, erschießt er sich.
3.1.3 Die Entstehung, Aufführung und Verfilmung des Stücks
Als 1926 eine schwedische Tageszeitung, das „Svenska Dagbladet“ die bekanntesten
europäischen Dramatiker über ihre Arbeiten und den Grund für ihre schriftstellerische
Tätigkeiten befragte, erklärte Georg Kaiser das Motiv von seinem Werk so:
„Ich bin ganz einfach gezwungen worden, von jenen Menschen zu schreiben, die vom
Schicksal ungerecht behandelt werden. Woher ich meine Ideen habe? Aus dem Leben;
täglich begegne ich ihnen. Ich wollte z.B. nach Italien, ging in eine Bank, um mir
einen Kreditbrief ausstellen zu lassen. Ein alter, anscheinend unbegüterter Beamter
ordnete die Sache, während ich dachte: warum verduftet der Kerl nicht mit meinem
10
Gelde? Woher nehme ich mir größere Rechte als er? Kaum in Rom, schrieb ich Von
morgens bis mitternachts – angeregt von dem Bankbesuch.“23
Kaiser entwirft das Drama Von morgens bis mitternachts 1912 auf einer Italienreise
und stellt es vermutlich noch im selben Jahr in kurzer Zeit fertig. Dem Datum nach ist
es neben Sorges Der Bettler und Hasenclevers Der Sohn eines der ersten Stücke
expressionistischer Dramatik überhaupt.
Im Druck erscheint es erstmals 1916 bei Kiepenheuer in Potsdam. Zahlreiche weitere
Auflagen sowie Nachdrucke in Anthologien folgen bereits zu Lebzeiten. Dazu
gesellen sich bald auch Übersetzungen, unter anderem ins Englische, Französische,
Niederländische, Polnische, Spanische und Tschechische.
Die Uraufführung in Berlin wird durch die Wilhelminische Zensur verhindert, so dass
das Drama erstmals am 28. April 1917 in den Münchener Kammerspielen auf die
Bühne gebracht wird. Das Stück findet in der Folge sehr großes Interesse beim
Theaterpublikum der ausgehenden 1910er und 1920er Jahre. Es avanciert zu einem
der meistgespielten expressionistischen Dramen überhaupt - auch international.
In der Presse wird es ebenfalls stürmisch gefeiert. Herbert Ihering, einer der
maßgeblichen Theaterkritiker jener Jahre, bezeichnet den Text als das beste Drama
Kaisers.
1920 wird das Schauspiel von Karlheinz Martin, einem der führenden Regisseure des
Expressionismus, und mit Ernst Deutsch in der Hauptrolle des Kassierers verfilmt.
Die Radikalität seiner Inszenierung verschreckte seinerzeit die Kinobranche, so dass
der Film keinen Verleiher fand und nie in die deutschen Kinos gelangte. Lediglich in
Japan lassen sich Aufführungen nachweisen. Daher hat sich in Japan auch die einzige
Kopie des Films erhalten, die vom National Film Center umkopiert wurde.
Außer dem Text des Theaterstücks und den betreffenden schriftlichen Materialien
konnte ich noch die Filmkopie von Karlheinz Martin beschaffen, aus der in dieser
Arbeit viele Bilder und Beispiele entnommen sind. Ich stelle den Film vor der
ausführlichen Analyse und Interpretation des Dramas kurz vor:
23
Walther Huder (hrsg.): Werke IV. In: Georg Kaiser. Bd. I-IV. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1970-1972, S. 595.
11
Von morgens bis mitternachts
Drama in fünf Akten von Georg Kaiser
Produktion: Ilag-Film Berlin, 1920
Buch: Karlheinz Martin, Herbert Juttke
Künstlerische Leitung: Karlheinz Martin
Bildentwurf und Figuren: Robert Neppach
Bildaufnahmen: Carl Hoffmann
Personen:
Der Kassierer
Ernst Deutsch
Die Dame
Erna Morena
Der junge Herr
Hans Heinrich von Twardowski
Der Bankdirektor Eberhard Wrede
Der fette Herr
Edgar Licho
Der Trödler
Hugo Döblin
Die Großmutter
Frieda Richard
Die Frau
Lotte Stein
Die Tochter
Das Bettelmädchen
Die Kokotte
Roma Bahn
Die Maske
Das Heilsarmeemädchen
Die Balldame
Lo Heyn
Zensur: 15.8.1921. Filmbandlänge: 1480 m
Länge der rekonstruierten Kopie: 1325 m
3.2 Der theatralische Code im Stück
Was ein Code und speziell ein theatralischer Code ist, wurde im zweiten Kapitel
erörtert. Die Untersuchung des Theaters fragt danach, ob es als ein spezifisches
bedeutungserzeugendes System fungiert. Im Folgenden wird betrachtet, wie sich der
theatralische Code auf ein Theaterstück anwenden lässt.
Daher werden bestimmte theatralische Codes von Kaisers Von morgens bis
mitternachts untersucht und ihre mögliche Beziehungen aufgezeigt. Wie Erika
Fischer-Lichte in ihren drei Bänden den theatralischen Code auf den drei Ebenen des
Systems, der Norm und der Rede untersucht, werde ich diese Kategorien ebenfalls
nutzen, allerdings mit einer unterschiedlichen Gewichtung. Der systematische Aspekt
wurde zusammenfassend im zweiten Kapitel, der die theoretische Grundlage darlegt,
12
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