Die Governanceethik als Diskursethik?

Werbung
Die Governanceethik als
Diskursethik?
Überlegungen zum Vorrang der Demokratie
vor der Philosophie
Guido Palazzo
I Das politische Fundament der Unternehmensethik
Im liberalen Gedankengut tief verwurzelt ist die Vorstellung, dass
Märkte eine der zentralen Ideen einer Demokratie verkörpern und vorantreiben. Markttransaktionen sind eine der wichtigsten Manifestationen
bürgerlicher Freiheitsausübung. Wer durch Gesetze oder moralische Ansprüche den Markt zu stark im freien Spiel seiner Kräfte behindert, der
trägt bei zur Erosion der Freiheit und destabilisiert damit die demokratische Ordnung an sich. Für MiJton Friedman war etwa die Idee einer Corparate Social Responsibility daher stets so etwas wie ein erster Schritt
hin zum Kommunismus.1 Das liberale Gesellschaftskonzept besteht aus
zwei entgegengesetzten Polen: dem freien Bürger und seinen ökonomischen Tätigkeiten einerseits, dem Staat und seinen Institutionen andererseits. Der liberale Bürger ist dabei weniger Citoyen und mehr Bourgeois,
weil er jenseits des regelmäßigen Wahlaktes alle politischen Aktivitäten
an dafür geschaffene Institutionen und Akteure abgegeben hat und sich
als nutzenmaximierender homo oeconomicus voll der Gestaltung des
eigenen Wohlbefindens widmet. Der Staat und seine Repräsentanten sind
die Institution, die sich gegenüber dem Bürger zu legitim ieren hat. Der
I
Friedman 1962.
60
Guido Palazz~ .!
1:
vernanceethik als Diskursethik?
J
Bürger selbst hat keine Legitimationsptlichten,
weil er keine öffentlich
wirksamen Entscheidungen rur das Gemeinwesen trifft. Seine Aktivitäten
sind rein privater Natur, und dasselbe lässt sich daher rur die von ihm
geschaffenen Organisationen behaupten. Unternehmen sind private Ein.
richtungen, die ihre Entscheidungen keinen öffentlichen oder politischen
Rechtfertigungsptlichten
unterwerfen müssen. 2
Im Gegenteil: Seit dem späten Mittelalter weiß man schließlich, dass
Stadtluft frei macht, weil die Stadt mit ihren Bürgerrechten das individu.
elle Eigentum vor der Willkür der politisch Mächtigen schützt. Die histo.
rische Basis modernen Freiheitsverständnisses
ist daher die Freiheit des
privaten Besitzes, und die bürgerliche Freiheit ist nach allgemeinem libe·
ralen Verständnis daher immer auch - vielleicht sogar primär - die Freiheit des Wirtschaftsbürgers.3
Ihm gegenüber muss sich die politische
Herrschaft mit ihren zugleich freiheitseinschränkenden
und freiheitsermöglichenden
Gesetzen rechtfertigen,
ihm gegenüber muss sie ihre
Macht legitimieren. Liberale Theorie geht von einer sehr deutlichen
Trennung von privat und öffentlich aus, wobei der Wirtschaftsbürger und
seine Unternehmungen der Privatsphäre zugeordnet werden. Unternehmen sind eine Form der bürgerlichen Freiheitsausübung, die es vor dem
Zugriff staatlicher Willkür zu schützen gilt. Im engeren Verständnis der
politischen Philosophie kann man Legitimationsfragen daher nur an politische, nicht an ökonomische Akteure richten.4
Unternehmerische Legitimität als politische Idee kommt im Liberalismus allenfalls in hochverdünnter Form vor: Der Markt selbst schafft so
etwas wie abgeleitete oder automatische Legitimität.5 Während jeder, der
in einem Markt tätig ist, seinen Eigennutz zu maximieren trachtet, sorgt
die Logik des Tauschhandels darur, dass dadurch zugleich auch das Gemeinwohl maximiert wird. Erwartet wird eine indirekte Wohlstandswirkung rur die Allgemeinheit (Arbeitsplätze, Steuern etc.), die sich aus der
sich frei entfaltenden unternehmerischen
Tätigkeit ergibt. Die im Markt
operierenden Akteure reproduzieren daher Legitimität vor allem qua
Effizienz. Ein zweites Element dieser dünnen liberalen Legitimationsan-
sprüche beruht auf der Annahme, dass die unternehmerische licence to
operate von der Gesellschaft verliehen wird und auch wieder entzogen
werden kann, sofern sich die Unternehmen nicht an die geltenden rechtlichen und moralischen Spielregeln halten. Diese Vorstellung teilen die
Vertreter neoliberalen Gedankenguts mit den Vertretern der CSRDebatte. Swanson fordert, dass Unternehmen ihre Aktivitäten in Einklang bringen müssen mit "broader community values,,6, fur Carroll entsteht unternehmerische Verantwortung aus den gesellschaftlichen
Erwartungen "at a given point in time"? Für Friedman ist es unternehmerische Pflicht, den "basic rules of the society" zu folgen.8 Homann und
Blome-Drees fordern, dass die Spielzüge der Unternehmen im Markt mit
den Spielregeln des Marktes konform gehen müssen9, und Epstein und
Votwas verlangen eine Handlungskonsistenz "with the moral foundations
. t ,,10
ofthat socle y .
Angesichts dieser Übereinstimmung von Beflirwortern und Gegnern
der CSR- oder Untemehmensethikdebatte
verwundert die These von
Margolis und Walsh wenig, dass sich die CSR-Debatte weitgehend im
Rahmen des ökonomischen Mainstream-Denkens bewegt. 11 CSR- Theorie
setzt implizit oder explizit auf einem liberalen Konzept gesellschaftlicher
(demokratischer) Ordnung auf und stellt die liberale Idee einer strikten
Trennung von privatem und öffentlichem Handeln nicht in Frage. Dass
dadurch unternehmerische Verantwortung jenseits des Profitstrebens und
jenseits juristisch festgelegter und einklagbarer Ansprüche stets den Charakter der Freiwilligkeit hat, scheint eine zwingende Konsequenz. Weder
Theoriekonzepte wie Carrolls CSR-Pyramide noch Praxisprojekte wie
der Global Compact stellen dies in Frage.
Die Nähe zum ökonomischen Gedankengut wird vor allem dort deutlich, wo versucht wird, den Sinn einer erweiterten Unternehmensverantwortung damit zu begründen, dass es sich langfristig lohne, in CSR zu
investieren. Überspitzt formuliert rechtfertigt sich der Kampf gegen die
Swanson 1999.517.
Carroll 1979, 500.
'Friedman 1970.218.
Homann& Blome-Drees 1992.
10 Epstein & Votaw 1978, 3.
11 Margolis & Walsh 2003. Siehe auch Walsh 2005.
6
J
2
3
4
5
Siehe die kritische Analyse von Scherer & Palazzo 2007.
MacPherson 1962.
Palazzo 2002: Palazzo & Scherer 2006.
Peters 2004.
61
9
62
Kinderarbeit in der eigenen Wertschöpfungskette mit den erhofften positiven finanziellen Effekten in den Märkten oder gar im Firmenwert.12 In
der Stakeholderdebatte zeigt sich die Dominanz ökonomischen Denkens
in der Überlegung, vor allem jene Stakeholder bei den Unternehmensent.
scheidungen zu berücksichtigen, welche über die Macht verrugen, den
Profit positiv oder negativ zu beeinflussen. 13 Der Versuch, das ökonomische Denken mit den eigenen Waffen zu schlagen, kann die grundsätz.
liche Differenz zwischen Sein und Sollen ganz offensichtlich nicht auf·
lösen. Zusätzlich verliert ein solcher Ansatz dort an Glaubwürdigkeit, Wo
die Gewissheiten liberaler Demokratiekonzeption
ins Rutschen geraten.
2 Die postnationale Konstellation
Die liberale Vorstellung, die Marktkräfte im Rahmen geltender Gesetze
und moralischer Spielregeln frei walten zu lassen und die politischen
Aufgaben an darur gewählte und mit Sanktionsmacht ausgestattete Akteure zu übertragen, beruht auf einer Konzeption demokratischer Ordnung, die am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert fragwürdig wird.
Sie setzt nämlich eine nationalstaatlich organisierte Welt voraus, in der es
sowohl eine rechtliche (hard law) als auch eine moralische (soft law)
Rahmenordnung gibt, an deren Einhaltung sich unternehmerische Legi·
timität beurteilen ließe. In der sich globalisierenden Welt des 21. Jahrhunderts erodiert jedoch sowohl die regulative Kraft des Nationalstaats
als auch die Homogenität gemeinschaftlicher Wertvorstellungen.14 Damit
wird die Idee einer eingespielten Arbeitsteilung von Wirtschaft und Politik fragwürdig. 15
Während das politische System national gebunden bleibt, haben
Unternehmen begonnen, sich transnational auszudehnen. Dadurch können sie sich zahlreichen nationalen Regeln rechtlicher und moralischer
Art entziehen oder gar nationale politische Akteure gegeneinander ausspielen. Unternehmen können ihre diversen Aktivitäten auf dem globalen
Siehe kritisch Margolis & Walsh 2003; Scherer & Palazzo 2007.
Zum Beispiel Frooman 1999.
14 Habermas 2001.
12
13
15
[)t
Guido Palazzo
Scherer, Palazzo & Baumann 2006; Scherer & Palazzo 2007.
'l
.
nanceethik als Diskursethik?
63
spielfeld stets dorthin verschieben, wo der Maximierung des Profits am
besten gedient ist. Die Nationalstaaten ihrerseits werden dadurch in einen
Wettbewerb um die niedrigsten Löhne oder Sozial- und Umweltstandards
gezwungen. Ungünstigen Steuersätzen oder starker gewerkschaftlicher
Organisation kann man sich dann beispielsweise entziehen. Manchmal
reicht auch schon die Drohung der Verlagerung von Arbeit oder Steuern
aus, um den Widerstand politischer Akteure zu brechen.
Die Machtverhältnisse zwischen Smat und Wirtschaft verschieben
sich. Die Idee nationalstaatlicher demokratischer Governance wird fragwürdig, weil Staaten zwar weiterhin fur Unternehmen und Manager relevantes Recht formulieren können, aber in immer mehr Fällen dieses
Recht nicht mehr durchzusetzen in der Lage sind. Das Ungleichgewicht
zwischen Wirtschaft und Staat entsteht, weil es jenseits des Nationalstaates keine funktionsfähige politische Governancestruktur gibt, die das
Verhalten der Unternehmen rechtlich einhegen könnte. Richteten sich die
historischen Abwehrrechte der Bürger primär gegen den Staat, so scheint
heute die größere Bedrohung fur die demokratische Freiheit vom ökonomischen System auszugehen. Dies zeigt sich unter anderem auch darin,
dass mächtige NGOs wie Amnesty International ihren strategischen
Fokus von der Bearbeitung staatlicher Akteure zum Druck auf unternehmerische Akteure verschieben.
Um die Steuerungsfähigkeit der Moral steht es kaum besser. Diese gerät unter den doppelten Druck von Individualisierung und Globalisierung. Während Individualisierungsprozesse
bereits im lokalen Rahmen
zur Pluralisierung von Wertvorstellungen fuhren, werden konfligierende
Moralvorstellungen unterschiedlicher KulturräulTIe durch die globale
Vernetzung der Welt enger aneinander gerückt. Die Vorstellungen über
das, was richtig und gut ist, werden immer vielfältiger und widersprüchlicher. Im globalen Raum fehlen mithin auch moralisch einheitliche und
verbindliche Spielregeln.16
Die nachlassende Bindungskraft beider Formen nationalstaatlich geprägter Governanceregeln löst in multinationalen Unternehmen widersprüchliche Reaktionen aus. Einerseits haben manche Unternehmen dieses regulative Vakuum ausgenutzt und sich bei ihren geschäftlichen Operationen in Menschenrechtsverletzungen verstrickt, verheerende Umwelt16
Iiaberlllas 1998; Huntington 1998.
schäden angerichtet oder mit repressiven Regimen kollaboriert. Anderer.
seits breitet sich immer stärker die Erkenntnis aus, dass man in einer
hochgradig instabilen und unregulierten Welt keine langfristig stabilen
Gewinne machen kann. Der Druck der NGOs, die unmoralisches Ver.
halten global transparent machen und die unternehmerische Reputation
beschädigen 17, hat des Weiteren das Bewusstsein dafür geschärft, dass
das globale Outsourcing von Wertschöpfung zu einem ungewollten In.
sourcing von moralischen Problemen führen kann. 18 Rechtliche Stabilität
und moralisches Orientierungswissen
werden zu knappen Ressourcen.
Die unternehmerische Navigation im transnationalen regulativen Va.
kuum wird dadurch hochriskant. In der stabilen Industriegesellschaft des
20. Jahrhunderts waren harte und weiche Spielregeln sozusagen freie
Güter, über deren Bestand man sich keine Gedanken zu machen
brauchte. Im Zuge der Globalisierung gerät die marktwirtschaftliche
Ideologie von den freien Märkten, die selbst für die beste aller Welten
sorgen, ebenso ins Wanken wie die Idee, dass sich der bürgerliche Frei·
heitskampf ausschließlich gegen den Staat richtet. Wenn heute die Auf·
gaben und Verantwortungen von Unternehmen in verstärktem Maße
ethisch reflektiert werden und in den Märkten Legitimationsanfragen in
wachsendem Umfang abgearbeitet werden müssen, so hat dies gemäß der
vorgängigen Analyse einen simplen Grund: Die Zeit, in die hinein wir
uns bewegen, hat mit der Zeit, aus der die liberale Idee unternehmeri·
scher Verantwortung stammt, fast nichts mehr zu tun.
3 Die Politisierung der Unternehmung
Die Diskussion um CSR lässt sich grob in zwei Gruppen einteilen:19 Zum
einen die positivistische Forschung, die explizit im ökonomischen
Sprachspiel verbleibt und empirisch die wirtschaftlich-strategische
Be·
deutung von Unternehmensverantwortung
ausleuchtet, und zweitens die
normative Forschung, die den Brückenschlag zu diversen ethischen
Theorien sucht. Als beispielhaft mag hier Donaldsons und Dunfees ver-
17
Klein, Smith & lohn
18
Dryzek 1999; Fung 2003.
19
'e
Guido Palazzt'
64
vernanceethik als Diskursethik?
tragstheoretisches Modell oder Solomons aristotelischer Ansatz dienen.2o
sowohl die positivistische als auch die normative Forschung beschäftigen sich allerdings kaum mit dem politischen Kontext; dieser wird
schlicht als (liberal) gegeben vorausgesetzt. Die liberale Arbeitsteilung
von Wirtschaft und Politik wird dabei nicht in Frage gestellt. Wo der
rechtliche und moralische Governancekontext erodiert und die Effizienz
und die Legitimität bestehender demokratischer Institutionen fragwürdig
werden, stellt sich allerdings die Frage nach dem Sinne einer derartigen
apolitischen Analyse unternehmerischer
Verantwortung. Es steht zu
vermuten, dass die Frage nach der unternehmerischen Verantwortung im
globalen Raum nur dort zufriedenstellend beantwortet werden kann, wo
die bisher regelmäßig ausgeklammerte politisch-theoretische Dimension
Berücksichtigung findet. Meines Erachtens lassen sich Fragen der CSR
und solche der politischen Governance nicht mehr getrennt voneinander
bearbeiten. Der Brückenschlag der unternehmensethischen
Diskussion
zur politischen Theorie und Praxis scheint daher erforderlich.
Schon die Medici wussten als kluge Kaufleute, dass sie keine guten
Geschäfte in einer Gesellschaft machen können, die von kriegerischen
Unsicherheiten, Kriminalität und allgemeinem Sittenverfall geprägt ist.
Vor allem unter Lorenzo il Magnifico waren die Medici in der Politik
engagiert, um Kriege zu beenden oder zu verhindern. Sie traten als große
Mäzene von Künstlern wie Michelangelo, Botticelli oder Raffael auf. Die
Florentiner Kaufrnannsfamilie förderte systematisch kluge und herausragende Männer aus den einfacheren Bevölkerungsschichten. Kurz: Sie
engagierten sich in hohem Maße in der Schaffung stabiler gesellschaftlicher Rahmenbedingungen
für den eigenen Geschäftserfolg.21
Es
verwundert daher nicht, dass in dieser Hinsicht die unternehmerische
Praxis der theoretischen Debatte längst enteilt zu sein scheint und Unternehmen mit ähnlichem Gespür wie die Medici danach trachten, der
Erosion der Stabilität ihres gesellschaftlichen Kontextes Einhalt zu gebieten. Unternehmen haben begonnen sich dort zu engagieren, wo man
früher nach einer Regierung als genuin pol itischem Akteur gerufen hätte.
Sie engagieren sich im Kampf gegen AIDS in Afrika weit über die
eigene Belegschaft hinaus, sie unterzeichnen das Kyotoprotokoll und set-
2004.
Scherer & Palazzo 2007.
65
20
21
Donaldson& Dunfee 1999; Solomon 1993.
Cleugh 2002.
66
'C
Guido Palazzof
zen dessen Kriterien um, sie kämpfen fijr Menschenrechte, gegen Kor.
ruption, fur Frieden, gegen Terrorismus, für Bildung oder sie definieren
gemeinsam mit Nichtregierungsorganisationen
die eigenen globalen Ver.
haltensmaßstäbe. Kurzum: Sie handeln, als ob sie politische Akteure
seien. Walsh hat jüngst darauf hingewiesen, dass viele dieser Aktivitäten
in keinem der bestehenden Konzepte von CSR, seien sie normativ oder
positivistisch ausgelegt, gerechtfertigt werden können, weil sie über den
unmittelbaren Radius der eigenen Stakeholderbeziehungen
hinauswei.
senY
Unternehmen handeln politisch, während die Theorie weiterhin die
strikte Arbeitsteilung von Wirtschaft und Staat aufrecht erhält. Die unternehmerische Praxis scheint also bereits mit einem breiteren Begriff von
Verantwortung zu operieren als theoretisch strenggenommen sinnVoll
oder zulässig. CSR beinhaltet heute daher für manche multinationale
Unternehmen drei genuin politische Aspekte. Zum einen die Definition
und Implementierung von Codes of Conduct, die die fehlenden gesetz.
lichen Regeln ersetzen, zum zweiten die Beteiligung bei der Schaffung
von politischen Institutionen, die die Durchsetzung derartiger Regeln
überwachen, wie etwa der Forest Stewardship Council. Zum dritten
schließlich engagieren sich Unternehmen bei der Bewältigung zentraler
planetärer Herausforderungen wie etwa der Durchsetzung der Menschen·
rechte oder dem Abbremsen des Global Warming. Dieses Eindringen
ökonomischer Akteure in Prozesse politischer Steuerung und Problem·
lösung zeigt sehr deutlich, dass sich politische Autorität im globalen
Raum dezentralisiert und auf bisher unpolitische AkteurelNon-State
Actors ausdehnt.23
4 Politik und Diskurs
Dort, wo Rorty vom Vorrang der Demokratie vor der Philosophie
spnc. ht 24 , ge ht er von der Annahme aus, dass die Suche nach der Wahrheit philosophischer Konzepte belanglos ist, weil sie unter modernen Plu·
crnanceethik als Diskursethik?
67
" musbedingungen nicht mehr beantwortbar ist. Die Frage nach der
hilosophischen Wahrheit hat daher zurückzustehen hinter der Frage
~ach der Relevanz fur die gesellschaftliche Praxis. Angewandt auf die
vorgängige Analyse bedeutet dies, dass unternehmensethische Fragen
ihren Ausgangspunkt in einer demokratietheoretischen Analyse nehmen
sollten, welche die bereits in Anfangen bestehende unternehmerische
Praxis aufgreift und sich theoretisch an dem globalen Governancevakuum abarbeitet. Meine These ist, dass ein überzeugendes Konzept
von CSR sich an der postnationalen Konstellation des 21. Jahrhunderts
ausrichten muss und daher kaum noch auf der theoretischen Basis des
hier skizzierten (nationalstaatlich begrenzten) Liberalismus operieren
kann. Mit anderen Worten: Eine globale CSR- Theorie benötigt ein alternatives, tragfähigeres Demokratiekonzept als Fundament. Hier ist sicher
nicht der Platz, um eine solche Theorie auszuarbeiten. Vielmehr kann
eine solche Alternative im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes lediglich
angedeutet werden. Es geht mir vor allem darum, den notwendigerweise
diskursiven Charakter einer solchen Alternative zu verdeutlichen.25
Mit seiner Theorie deliberativer Demokratie hat Habermas einen
Gegenentwurf zum Liberalismus vorgelegt, in der nicht so sehr der
Schutz des Bürgers vor dem Staat als vielmehr die systematische Anbindung politischer Entscheidungsprozesse an zivilgesellschaftliche Meinungs- und Willensbildung im Fokus steht.26 Die indirekte und nationalstaatlich geprägte Ausrichtung der Unternehmen auf den Staat als Quelle
von Legitimation wird (teilweise) erse:tzt durch eine unmittelbare Anbindung der Unternehmen an die zivilgesellschaftlichen Prozesse der Mei·,
nungs- und Willensbildung. Im globa!len Raum sind diese Prozesse nicht
selten die höchste demokratische Instanz, weil die höherstufige staatliche
Transformation von Willensbildung in Recht nicht mehr funktioniert.
Wert- und normbildende Kommunikationen gehen aus von zunächst
privatem Meinungsaustausch im engeren Kreis und dringen ein "in die
Poren der organisationsform ig geordneten Lebensbereiche. ( ... ) Sie laufen unterhalb der Schwelle politischer Entscheidungsprozesse ab: sie
nehmen aber indirekt Einfluss auf das politische System, weil sie den
ra IIS
22
Walsh 2005.
25
23
Zum Beispiel Fung 2003; Young 2004; Wolf2005.
& Palazzo 2007; Scherer, Palazzo & Baumann 2006 und Palazzo & Scherer 2006,
24
Rorty 1991.
26
Für eine ausftjhrlichere Darstellung einer deliberativen CSR-Theorie vgl. Scherer
Habermas 1996a,
68
nonnativen Rahmen der politischen Entscheidung verändem".27 Die an.
schwellenden zivilgesellschaftlichen
Kommunikationsströme
bilden ein
..
..
e
polJtIsche Offentlichkeit. Diese wird zur Quelle politischer Legitimität.28
Legitimität politischer Macht entsteht dort, wo politisches Entscheiden
systematisch an politische Öffentlichkeiten rückgebunden wird und So
die Werte, Ziele und Interessen der Bürger systematisch berücksichtige
.
n
un d wIderspiegeln kann. Zivilgesellschaftliche
Akteure bündeln die indio
viduellen Werte, Ziele und Interessen und dienen dadurch als Bindeglied
zum politischen System. Legitimität wird im deliberativen Demokratie.
konzept also diskursiv reproduziert.
Analog lässt sich unternehmerische Legitimität als die systematische
Anbindung an die im zivilgesellschaftlichen
Diskurs erzeugte Öffentlich.
29
keit fonnulieren.
Die Politisierung der Unternehmung bedeutet damit
vor allem die Anwendung eines sehr viel stärkeren Legitimationsbegrif.
fes bei der Beurteilung unternehmerischer Handlungen. An die Stelle der
nationalstaatlich üblichen geräuschlosen und passiven Konfonnität mit
den geltenden Spielregeln tritt die explizite Beteiligung an öffentlichen
Diskursen, in denen das eigene Verhalten mit guten Gründen gerechtfertigt werden muss, und in denen Unternehmen mit einem breiteren Verständnis von Verantwortung operieren als noch im Shareholder- ValueModell angelegt. Dabei wird die schwindende rechtliche Sanktionskraft
des Staates teilweise ersetzt durch die moralisch motivierte und marktgesteuerte Sanktionskraft der Zivilgesellschaft. Eine solche diskursive und
zivilgesellschaftlich
ausgerichtete Interpretation unternehmerischer Verantwortung im Kontext planetärer Herausforderungen zeigt sich in zahlreichen Beispielen gelebter CSR:
Chiquitas konsequent im Diskurs mit der Rainforest Alliance vorangetriebener umwelt- und sozialverträglicher Anbau von Bananen,
Die Gründung des Forest Stewardship
Unternehmen in der holzverarbeitenden
BPs Engagement rnr das Kyotoprotokoll,
27
28
29
Habermas 1976, 116.
Palazzo 2005.
Scherer & Palazzo 2007.
,~
Guido PalazZi
Council durch eine Reihe von
Industrie ,
vernanceethik als Diskursethik?
69
Coca Colas Einsatz im Kampf gegen AIDS in Afrika,
HPs Vorreiterrolle bei der Schließung von Produktkreisläufen
Forcierung entsprechender Regeln.
und der
Während die Stakeholdertheorie davon ausgeht, dass Unternehmen die
verschiedenen Anspruchsgruppen in ihre internen Entscheidungsprozesse
hineinholen, geht eine pol itisch verstandene CSR davon aus, dass sich
Unternehmen an der Bewältigung gesellschaftlicher Probleme und der
Gestaltung globaler Governanceinstitutionen
und -prozesse beteiligen.
Sie begeben sich daher hinaus in die Kooperationsnetzwerke von NGOs
und anderen gesellschaftlichen Akteuren und werden damit Teil politischer Willensbildung und politischer Problemläsung.
Der in der deliberativen Demokratietheorie entwickelte Fokus auf die
Prozeduren der Meinungs- und Willensbildung erweist sich gerade unter
den Bedingungen der Globalisierung als konzeptioneller Vorteil gegenüber liberaler Theoriebildung. Wo dem Liberalismus auf nationaler
Ebene Recht und Moral als Orientierungspfeiler einstürzen, verweist die
Deliberative Theorie auf die Möglichkeiten, beides in einer sich transnational vernetzenden Zivilgesellschaft zu reproduzieren. Gerade dort,
wo nationale Governance versagt, globale politische Systeme aber nicht
existieren, wächst die Bedeutung zivilgesellschaftlicher
Interaktion.30
Allerdings gilt es, einen Legitimationsbegriff zu entwickeln, der einerseits breiter, andererseits schwächer ist als der nationalstaatlieh geprägte.
"Er wird einerseits breiter sein, weil die Politisierung der Unternehmung
zukünftig auch den ökonomischen Akteur unmittelbar mit Legitimationsansprüchen konfrontieli. Andererseits muss ein global gestreckter Legitimationsbegriff schwächer sein, weil er eben nicht, wie Wolf schreibt,
im "Schatten der Hierarchie,,31, sondern immer häufiger jenseits staatlicher Hierarchie und Sanktionsmacht operiert. "Es ist der sich global
zwischen Unternehmen, politischen Institutionen wie der UN und
zivilgesellschaftlichen
Akteuren entfaltende Prozess der diskursiven
Selbstregulierung, den es normativ einzuholen gilt.,,32
JO
JI
32
Palazzo 2002.
Wolf2005, 14.
Palazzo 2005.
70
-{
Guido Palazzo ,
5 Die Governanceethik
als politische Ethik?
Wieland bestätigt in seinem Entwurf einer Govemanceethik die Wichtig_
keit demokratietheoretischer
Überlegungen für unternehmensethische
Konzeption und verweist auf die unscharf gewordene Aufgabenteilung
von Wirtschaft und Politik. Dabei, so Wieland, ersetzt das ökonomische
System nicht das politische. Stattdessen konstituiert sich ein "politisch_
ökonomisches Netzwerk. Dem Staat tritt die Unternehmung an die Seite;
die Entscheidungslogik des politischen Systems wird gekoppelt mit dem
der Wirtschaft." Den Unternehmen fällt "in Zeiten der Globalisierung
also auf unabsehbare Zeit eine wesentliche gesellschaftliche Steuerungsaufgabe" ZU.33 Die Idee der Governanceethik wird somit deutlich ausgedehnt. Beschrieb die Govemanceethik als Unternehmensethik
bei Wieland ursprünglich die Gesamtheit aller für Ethik im Unternehmen relevanten Steuerungsmechanismen34,
so scheint Wieland durch die theoretische Verarbeitung der Globalisierung nunmehr eine politisch erweiterte
Idee von Governanceethik zu vertreten. Damit kann er sich auch der
immer wieder neu diskutierten Frage nach dem Vorrang der Ethik vor der
Ökonomie überzeugend entziehen. Die Normativität, so Wieland, steckt
im Begriff der Governance selbst.35 Steuerungsfahigkeit
und Kooperationsakte in Gesellschaften unter der Mitwirkung von Unternehmen sind
der Gradmesser der Legitimität von Governancemechanismen
und -prozessen. Den ordnungspolitischen
Referenzpunkt bildet "nicht mehr der
.
0
..
,,36
Staat sondern die Gesellschaft freier Bürger und Ihrer
rganlsatlOnen.
Dies' scheint mir identisch mit der deliberativen Forderung zu sein,
Legitimation als Prozess der systematischen Anbindung von Entscheidungen an zivilgesellschaftliche
Meinungs- und Willensbildung zu
modellieren.
Der ursprünglich, wie mir scheint, rein auf die Steuerung von Unternehmen bezogene Governancebegriff Wielands konnte diese weiter gefasste Legitimationsarbeit
nicht leisten, weil er für die Beantwortung
politisch-normativer
Legitimationsfragen zu eng gezirkelt war. Die Sub-
34
35
36
Beide Zitate Wieland 2005,15. Vgl. auch Wieland 1999.
Wieland 1994.
Wieland 2005, 24.
Wieland 1999,42.
71
politisierung37 von Wirtschaft und Zivilgesellschaft erlaubt Wi~land eine
hr viel überzeugendere Verteidigung der These, dass es kemen auto:atischen Vorrang der Ethik vor der Ökonomik gibt, weil dezentrierte
Gesellschaften nicht einem Teilsystem allum fassende Problem lösungskompetenz zuschreiben können.38 Den Fluchtpunkt der Zusammenhörigkeit bilden nunmehr die im globalen Raum quer zu den Systemen
gl·eenden Govemanceinstitutionen.
Mit Rorty könnte man formulieren,
leg
"
.
dass das Prinzip vom Vorrang der Demo~ratle vor der Ph"osoph~e ~en
ungelösten Konflikt zwischen Ethik und Okonomie entschärft, we~1 sIch
die Frage nach der Priorisierung dieser beiden nicht mehr stellt. WIeland
bemerkt hierzu: "Die moralische Performance einer Handlung oder
Transaktion hängt dann nicht mehr in erster Linie von einem philosophischen Begründungsakt ab, sondl~m von der Angemessenheit und
Robustheit, kurz: der Leistungsfähigkeit ihrer Governance.,,39 Bei Rorty
heißt es entsprechend: "Auch wenn vom Zeitalter der demokratischen
Revolutionen nichts weiter übrig bleiben sollte, werden sich unsere
Nachkommen vielleicht daran erinnern, dass es möglich ist, gesellschaftliche Institutionen nicht als Versuche der Verwirklichung einer
allgemeinen, ahistorischen Ordnung zu sehen, sondern als Experimente
der Zusammenar b el't .,,40
Insofern scheint meine oben entwickelte Idee einer Politisierung der
Unternehmung mit jüngeren Entwicklungen der Governanceethik kompatibel zu sein, und ,,[d]ie wissenschaftliche Perspektive verschiebt sich
vorn hierarchisch begründeten Primat der Ethik über die Wirtschaft auf
deren Funktion in polykontextualen Kooperationsbeziehungen" .41
Wieland steht meines Erachtens in der Tradition des Pragmatismus.
Wenn man genauer hinschaut, bemerkt man aber, dass meine Interpretation der politisch gedehnten Governanceethik noch nicht im Sinne Rortys
zu Ende gedacht wurde. Anders gesagt: Die Vernetzung von politischer
Theorie und Unternehmensethik wird zwar angedeutet, aber Wieland
fonnuliert selbst noch keinen demokratietheoretischen
Kontext fur sein
.J7
33
~rnanceethik als Diskursethik?
38
19
Beck 1992,223.
Wieland 2005,16.
Wieland 2005, 39.
~ü
Rorly 1988, 111.
~l
Wieland 2005, 50
72
Guido Palazzo
Die Governanceethik als Diskursethik?
Modell. Hier scheint darüber hinaus weiterhin das (unnötige) Bemühen
wirksam zu sein, um jeden Preis ein alteuropäisches Werturteil zu Ver_
meiden. Dabei steckt im Modell der Govemanceethik
dort bereits Normativität drin, wo implizit oder explizit vom Vorrang der Governance
ausgegangen wird. Dass diese Govemance in ein demokratisches Konzept von gesellschaftlicher Organisation eingebettet sein sollte, wird Von
Wieland zwar selten explizit gemacht, scheint mir aber ohne Alternative.
Die Errungenschaften
der Demokratie und die Ablehnung anderer, totalitärer Formen von Govemance laufen implizit und gelegentlich auch explizit immer mit. Demokratische Netzwerke, nicht zentral ideologisch gesteuerte Staaten bilden fur Wieland den Bezugspunkt42, und (freiheitliche) Kooperation autonomer Akteure ist die präferierte Form der Inter43
aktion.
Dies scheint mir ganz im Sinne des Pragmatisten Putnam, der
betont, dass es keine endgültigen Antworten gibt auf die Frage nach dem
guten und richtigen Leben. Genau deshalb muss es möglich sein, diese
Frage immer wieder zu thematisieren und mit verschiedenen Antwortmöglichkeiten
zu experimentieren.
Die Demokratie ermöglicht genau
44
dies.
Bei der Leistungsfahigkeit
der Govemanceethik
kann es meines
Erachtens daher immer nur um die Leistungsfahigkeit
demokratisch eingebetteter Governance gehen. Damit ist selbstverständlich
nicht gemeint,
dass Govemance stets Diskurs und deliberative Willensbildung bedeutet
oder in der Tradition des radikalen Republikanismus
zu sehen sei. Moderne Demokratie ist bekanntlich mehr als Deliberation und Partizipa45
tion. Sie beinhaltet unter anderem die sanktionsbewehrte
Weisung von
Regierungen ebenso wie den einklagbaren Schutz individueller Rechte.
In diesem Sinne steht meines Erachtens die Govemanceethik
als politische Ethik - unausgesprochen - für eine Reihe von Prinzipien ein, die
einen normativen Fluchtpunkt bilden: Menschenrechte,
Freiheit, diskursive Rechtfertigungsprozesse,
Transparenz, Accountability etc. beschreiben den präferierten Zustand der Gesellschaft. Sie sind die Indikatoren
für einen optimalen Kontext der gesellschaftlichen
Integration, verstan-
kontinuierlicher Lern- und Entwicklungsprozess".46 Die Ennögden a Is "
.
t: k
·
f eiheitlicher Selbstorganisation und Kooperation quer zur tun hchung r
..
. .
.
· Ien Differenzierung schemt. mir daher das Kntenum der LeistungstlÜna
fl'h'gkeit von Governance zu sem.
a I dieser Stelle braucht der Ansatz von Wieland allerdings mehr
Ahn' vielleicht auch mehr Mut zum Werturteil. Die Wielandsche
Klar elt ,
..
.
.
Governa nceethik ist meines Erachtens notwendigerweise
. . . auch eme poh· h e Theorie , und sie scheint in ihren Ansätzen m die Richtung des UStlSC
'kanischen Pragmatismus eines Rorty, Putnam oder Dewey zu veramen
..
.
.
.
.
Hmtergrundfowelsen. E'lne Ausarbeitung der politisch-philosophischen
.
lie in diese Richtung scheint mir eine wesentliche Aufgabe der Welterfuhrung eier Governanceethik zu sein.
42
43
44
45
Wieland 2005,
Wieland 2005,
Putnam 1997.
Walzer 1999.
17.
50.
73
6 Die Governanceethik als Diskursethik?
Nachdem gezeigt wurde, dass die Wielandsche Governanceethik als
politisch gedehnte Theorie verstanden werden kann, stellt sich .im Anschluss die Frage nach der Rolle diskursiver Auseinandersetzung Im oben
beschriebenen deliberativen Sinne.
Zunächst einmal nimmt Wieland selbst eine dezidiert kritische Position gegenüber diskursethischen Konzeptionen ein. Er beschreibt sie als
antiinstrumentell und beklagt ihre institutionellen und organisatorischen
Defizite.47 Er widerspricht dem in der Diskursethik angelegten systematischen Vorrang der Ethik vor der Ökonomik48 und ihrer künstlichen Tren.
49
nung von Begründungs- und Anwendungsdiskursen.
Den Bezug der
Wielandschen Kritik bildet dabei aber offensichtlich die ethische, nicht
die politische Theorie von Habennas.
Die oben skizzierte Theorie deliberativer Demokratie, mit der sich
Habermas dem Vorrang der Demokratie vor der Philosophie grundsätzlich anschließt, versucht die Spannung von "Faktizität und Geltung" zu
verarbeiten und spannt damit den Bogen zwischen dem nonnativen AnWieland 2005,19.
Wieland 2005, 49.
48 Wieland 2005, 22.
49 Wieland 2005, 52.
46
47
74
spruch der Diskursethik und den gegebenen und einigermaßen bewährten
Abläufen und Institutionen demokratischer Regime. Habermas hat dabei
beispielsweise die unmittelbare diskursive Auseinandersetzung von Individuen auf der Ebene des ethischen Diskurses ersetzt durch die über
zivilgesellschaftliche
Prozesse ablaufenden politischen Diskurse. Das
Prinzip der Volkssouveränität, so Habermas, ,,( ... ) verlangt eine diskur_
sive Strukturierung öffentlicher Arenen, in denen sich anonym verzahnte
Kommunikationskreisläufe
von der konkreten Ebene einfacher Inter.
aktionen ablösen.,,5o lntersubjektivität wird damit "höherstufig" veror.
tet. 51In der Konsequenz spielen auch die bei den kritischen Elemente der
Habermasschen Ethik, Konsens einerseits, Trennung von Anwendung
und Begründung andererseits, eine weniger tragende Rolle: "Dialogische
und instrumentelle Politik können sich, wenn die entsprechenden Kom.
munikationsformen hinreichend institutionalisiert sind, im Medium von
Deliberationen verschränken. Es kommt also alles auf die Kommunikationsbedingungen und Verfahren an, die der institutionalisierten
Meinungs- und Willensbildung ihre legitimierende Kraft verleihen.,,52 Mit
anderen Worten: Es geht um die normative Beurteilung des Designs der
Governancestrukturen
und weniger um die Analyse der konkreten Dia.
loge innerhalb dieser Strukturen. Die (mit Einschränkung) berechtigte
Kritik von Wieland an der ungebremsten Übertragung von Diskursethik
auf betriebswirtschaftliehe
Fragestellungen verliert mithin ihre Schärfe,
wenn man den pragmatischen Schwenk berücksichtigt, den Habermas
von seinen ethischen zu seinen politischen Schriften vornimmt.
Tatsächlich findet man in Wielands Theorie einer Governanceethik
zahlreiche diskursive Elemente. So betont er, dass die Relevanz von Moral immer wieder neu erarbeitet werden muss, und dass dies ein kooperativer Lernprozess ist. 53 Des Weiteren beschreibt er die moralische
Dimension von Ökonomie als "das Ergebnis ethischer Diskurse in der
Gesellschaft".54 Dies liegt daran, dass wirtschaftliche Güter dort zu
moralischen Gütern werden, wo sie zum "Gegenstand moralischer DisHabermas I996a, 3621'.
51 Habermas I996a, 362.
52Habermas 1996b, 285.
53Wieland 2005, 23.
54Wieland 2005, 21.
50
Die GC1.
Guido Palazzo
~ethik als Diskursethik?
7~
kurse in der Gesellschaft werden.,,55 Vor dem Hintergrund der von Wieland selbst formulierten und oben angeftihrten Forderung, Zivilgesellschaft als ordnungspolitischen Referenzpunkt zu verstehen, scheint mir
Deliberation notwendigerweise
zu einem wichtigen Element seiner
Governancekonzeption zu werden. Gerade im globalen Raum gilt, dass
gemeinsame Wertvorstellungen durch die "gemeinsame Abarbeitung von
Wertkonflikten"56 generiert werden können.
Die Governanceethik von Wieland bedarf der Einbettung in eine politische Theorie. Dieser Beitrag sollte zeigen, dass die Dynam ik hin auf
eine solche Theorie in den jüngeren Beiträgen Wielands zu seiner Governanceethik bereits deutlich sichtbar ist. Dass eine solche erweiterte
Governanceethik pragmatisch angelegt sein wird, scheint mir zwingend.
Dass sie darüber hinaus auch diskursethische Elemente enthält und an die
Theorie deliberativer Demokratie anschlussfahig ist, scheint mir zumindest möglich.
Literatur
Beck, U. (1992): The Risk Society: Towards a new modernity. London: Sage.
Carroll, A. B. (1979): A Three-Dimensional Conceptual Model 01' Corporate
Social Performance. In: Academy 01' Management Review, No. 4, 497505.
Cleugh, J. (2002): Die Medici. Macht und Glanz einer europäischen Familie.
München: Piper.
Donaidson, T. & Dunfee, T. W. (1999): Ties That Bind: A social contracts
appmach to business ethics. Boston: Harvard Business School Press.
Dryzek, J. S. (1999): Transnational Democracy. In: Journal 01'Political Philosophy, No. 7 (I), 3D-51.
Epstein, E. M. & Votaw, D. (Hg.) (1978): Rationality, Legitimacy, and Responsibility. Santa Monica: Goodyear Publishing.
Friedman, M. (1962): Capitalism and Freedom. Chicago: University 01'Chicago
Press.
Friedman, M. (1970): The Social Responsibility 01' Business Is to lncrease Its
Profit. In: The New York Times Magazine, 13 September. Reprint in
55Wkland 2005,135.
56Wieland 1999,115.
76
Guido Palazzo
~
DonaIdson, T. & Werhane, P.H. (eds.): Ethical Issues in Business: A
philosophical approach. Englewood Cliffs: Prentice Hall, 217-223.
Frooman, 1. (1999): Stakeholder
Influence
Management Review, No. 24, 191-205.
Fung, A. (2003): Deliberative Democracy
In: Governance, No. 16,51-71.
and International
Habelmas, 1. (1976): Zur Rekonstruktion
Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Habermas,
Strategies.
In: Academy
01'
Habermas, 1. (1998): Die postnationale
kamp.
des Anderen. Frankfurt a. M.: SuhrKonstellation.
Homann, K. & Blome-Drees, F. (1992): WirtschaftsGöttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.
Huntington, S. P. (1998): Clash of Civilizations
Order. New York: Simon & Schuster.
Frankfurt a. M.: Suhr-
Klein, 1. G., Smith, N.C. & John, A. (2004): Why We Boycott: Consumer motivations tor boycott participation. In: Journal of Marketing, No. 68, 92109.
[ndividualism
'
Margolis, 1. D. & Walsh, 1. P. (2003): Misery Loves Companies: Rethinking
social initiatives by business. In: Administrative Science Quarterly, No.
48,268-305.
Palazzo, G. (2002): Die Mitte der Demokratie. Über die Theorie deliberativer
Demokratie von Jürgen Habermas. Baden-Baden: Nomos.
VerNr. 6
Palazzo, G. & Scherer, A. (2006): Corporate Legitimacy as Deliberation. A
communicative framework. In: Journal of Business Ethics, Vol. 66: 7188.
Peters, F. (2004): Choice, Consent, and the Legitimacy
In: Economics and Philosophy, No. 20,1-18.
and integrity in
Walsh,1. P. (2005): Book Review Essay: Taking stock of stakeholder management. In: Academy of Management Review, 426-452.
Walzer, M. (1999): Vernunft, Politik und Leidenschaft.
Theorie. Frankfurt a. M.: Fischer.
Wieland, 1. (1999): Die Ethik der Governance.
zur Governanceethik, Bd. I).
and the Remaking of Wor/d
Palazzo, G. (2005): Skizze einer deliberativen Theorie untemehmerischer
antwortung. In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik,
(1),69-73.
scherer, A., Palazzo, G. & Baumann, D. (2006): Global Rules and Private
Actors - Towards a new role of the TNC in the global govemance. In:
Business Ethics Quarterly, No. 16 (4): 505-532.
Detizite
liberaler
Wieland, J. (1994): Warum Unternehmensethik? In: Forum für Philosophie Bad
Homburg (Hg.): Markt und Moral. Die Diskussion um die Unternehmensethik. Bem et al.: Haupt, 215-239.
und Unternehmensethik.
MacPherson, C. B. (1962): The Political Theory of Possessive
Hobbes to Locke. Oxford: Oxford University Press.
77
Swanson, D. L. (1999): Toward an Integrative Theory of Business and Society:
A research strategy for corporate social performance. In: Academy 01'
Management Review, No. 24, 506-521.
Materialismus.
1. (1996a): Faktizität und Geltung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Habermas, J. (I 996b): Die Einbeziehung
kamp.
rnanceethik als Diskursethik?
SoloInon, R. C. (1993): Ethics and Excellence: Cooperation
business. Oxford: Oxford University Press.
Labor Standards.
des historischen
t
of Market Transactions.
Putnam, H. (1997): Für eine Erneuerung der Philosophie. Stuttgart: Reclam.
Rorty, R. (1988): Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie. In: Ders.
Solidarität oder Objektivität? Stuttgart: Reclam, 82-125.
Wieland, .J. (2005): Nonnativität
(Studien zurGovernanceethik,
Marburg: Metropolis (Studien
und Governance.
Bd. 3).
Marburg:
Metropolis
Wolf, K. D. (2005): Möglichkeiten und Grenzen der Selbststeuerung als gemeinwohlvelträglicher
politischer Steuertarm. In: Zeitschrill tUr Wirtschafts- und Unternehmensethik, Nr ..6 (I), 51-68.
Young, I. M. (2004): Responsibility and Global Labor Justice. In: Journal of
Political Philosophy, No. 12,365-388.
Herunterladen