IV. DER TRAUM ALS OPERNFORM Juliette – Snář (1936-37) […] que les directeurs de théâtre écrivent sur leur porte: Ici l’on vous prendra quelques heures de sommeil, mais on vous les rendra en rêves1. DIE SURREALITÄT ALS TRAUM Analog zum Dadaismus setzt auch der Surrealismus bei der Negation der rational geprägten Welt an, führt jedoch insofern weiter, als er eine neue Perspektive aufzeigt: Nicht mehr die Zerstörung aller Werte, um überhaupt erst die Voraussetzung für die Suche nach einem humanisme dynamique zu schaffen2, sondern die Surrealität ist das erklärte Ziel. Von der tiefgreifenden Verwandtschaft der beiden Bewegungen, die eine eindeutige Zuordnung der Manifestationen gerade in der Übergangszeit wiederholt unmöglich macht, zeugt nicht zuletzt die Bereitschaft fast aller Dadaisten, sich der surrealistischen Bewegung anzuschliessen3. Hinsichtlich der zwar utopischen, jedoch explizit angestrebten Surrealität musste die dadaistische Negation rückblickend als blosse Vorstufe des neu postulierten Ideals erscheinen, weshalb der historisch gewordene Dadaismus schliesslich kurz nach der formellen Gründung der surrealistischen Gruppe ‚offiziell‘ zu Grabe getragenen wurde4. Schon bald stand André Breton als Führerfigur der Surrealisten fest, der sich etwa gegen Ivan Goll und die Mitarbeiter der von diesem herausgegebenen Zeitschrift Surréalisme durchgesetzt und mit seinem Manifeste du surréalisme aus dem Jahr 1924 das theoretische Leitbild der in bemerkenswerter Weise organisierten Vereinigung formuliert hatte5. 1 Vitrac, Les Mystères du rêve (1925), zitiert nach Béhar, Vitrac, Théâtre ouvert sur le rêve (1980), S. 195. Zitat Corvin, Le théâtre Dada existe-t-il? (1971), S. 223. 3 Vgl. Gale, Dada & Surrealism (1997), S. 213-264. 4 Interventions 2 (1924), H. 2, abgedruckt in: Ribemont-Dessaignes, DADA, S. 620. Breton bezeichnete den Dadaismus explizit als vorbereitende Phase des Surrealismus: Il ne sera pas dit que le dadaïsme aura servi à autre chose qu’à nous maintenir dans cet état de disponibilité parfaite où nous sommes et dont maintenant nous allons nous éloigner avec lucidité vers ce qui nous réclame. Breton, Les Pas perdus (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 266. Siehe auch Kapitel II, S. 29 f. 5 Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 309-346. Zur Rolle Bretons zu Beginn der surrealistischen Bewegung siehe u.a. Nadeau, Histoire du surréalisme (1964), S. 50; Bonnet, André Breton (1975); Chénieux-Gendron, Le Surréalisme (1984), S. 56 f. 2 187 Nous vivons encore sous le règne de la logique – nachdem die dadaistische Negation es weder vermocht hatte, die bestimmende Logik zu zerstören, noch den Boden für eine neue Gesellschaftsform bereiten konnte, galt es nun, die Realität durch ein konstruktives Gegenmodell zu verändern6. Im Kreuzfeuer der surrealistischen Kritik stand nämlich nicht die Idee einer Logik an sich, sondern deren gegenwärtige Ausformung, da diese laut Breton höchstens zweitrangige Probleme zu lösen vermöge und stattdessen primär auf die Erhaltung der hierarchisch begründeten Machtverhältnisse ausgerichtet sei. Sowohl die Kausalität – als Hierarchien bildendes Element per se – als auch die allgegenwärtigen alten Antinomien müssten aufgegeben werden, seien diese doch nur dazu ausersehen worden, den universalen Zwang aufrecht zu erhalten, indem sie jegliche unerwartete Regung des Menschen unmöglich machten7. Weil die Manie vorherrsche, sämtliche Erscheinungen auf bereits bekannte Kategorien zurückzuführen und alles damit nicht Vereinbare aus der Argumentation auszuscheiden, ziele die Philosophie am eigentlichen Sinn des Denkens vorbei, infolgedessen die philosophischen Erkenntnisse nichts anderes seien als ein Ausdruck von marivaudage8. La Révolution surréaliste wandte sich gegen den als positivistisch verachteten Realismus, dessen Rationalismus überwunden werden musste, um die wirkliche, also die surrealistische Logik überhaupt erkennen zu können. Dabei war nur von sekundärem Interesse, in welcher Weise man zu einer neuen Wahrnehmung der Aussenwelt gelangte, erschien doch jede Manifestation gerechtfertigt, die sich den gesellschaftlichen Zwängen widersetzte – tous les moyens doivent être bons à employer pour ruiner les idées de famille, de patrie, de religion9. Obwohl der revolutionäre Charakter des Surrealismus von Anfang an entscheidend gewesen war, was sich etwa in der Titelgebung des Organs niederschlug (La Révolution surréaliste), zeigte sich in den darauffolgenden Jahren eine zunehmende Gewaltbereitschaft, die Breton im zweitem Manifest zur Schlussfolgerung führte, dass der blinde Revolverschuss in eine Menschenmenge hinein als l’acte surréaliste le plus simple zu verstehen sei10. Sollte hinsichtlich von La Révolution surréaliste das Hauptaugenmerk der Surrealisten bereits nach wenigen Jahren auf La Révolution liegen, kreisten die Erwägungen der ersten Stunde dagegen vielmehr um die mögliche Ausprägung des Adjektivs surréaliste; eine Verschiebung des Surrealismus, die 6 Zitat Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 316. Vgl. Breton, Second manifeste du surréalisme (1930), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 781. 8 Zitat Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 315. 9 Zitat Breton, Second manifeste du surréalisme (1930), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 785. 10 Zitat ebd., S. 782. 7 188 vollständig mit Bretons modifizierter Ausrichtung übereinstimmte, da er als exkommunizierender Papst ohnehin allein über die Zusammensetzung der Gruppe bestimmen konnte11. In der ersten Phase der Bewegung, als die Surrealisten noch nicht darauf zielten, die Revolution mit Gewalt gegen Aussen zu tragen, beabsichtigten sie stattdessen, das surrealistische Potenzial des eigenen Geistes auszuschöpfen. Entsprechend der Auffassung, dass die angestrebte Logik nicht etwa erfunden, sondern bloss zurückgewonnen werden müsse, da der Schlüssel zum gesamten psychischen Vermögen im Innern des Menschen verborgen sei, galt es, die materialistisch-realistische Anschauung durch eine Sicht auf die geistige Welt, [le] monde intellectuel, zu ergänzen12. Schliesslich sollte das materialistisch Erfahrbare nicht ignoriert, sondern zusammen mit dem noch unbekannten geistigen Erkenntnisreichtum gleichsam zu einer Synthese der realistischen und geistigen Logik geführt werden, dem eigentlichen Ziel der surrealistischen Utopie. Je crois à la résolution future de ces deux états, en apparence si contradictoires, que sont le rêve et la réalité, en une sorte de réalité absolue, de surréalité, si l’on peut ainsi dire. C’est à sa conquête que je vais, certain de n’y pas parvenir mais trop insoucieux de ma mort pour ne pas supputer un peu les joies d’une telle possession 13. Dass der Traum in Bretons Argumentation zum Paradigma des monde intellectuel und damit zur Gegenwelt der Realität stilisiert werden konnte, führt deutlich das Interesse vor Augen, das die Surrealisten gerade während der époque des sommeils, also in der Frühphase der Bewegung, den aufsehenerregenden Traumforschungen der Wissenschaft entgegenbrachten14. Dennoch waren die konkreten Auswirkungen der psychologischen Erkenntnisse auf die frühe surrealistische Traumtheorie marginal, was sich etwa darin zeigt, dass Breton zwar im ersten Manifest ausdrücklich auf die Leistungen Sigmund Freuds sowie auf deren Bedeutung für den Surrealismus hinwies15, jedoch darüber hinaus keinerlei Spuren der Traumdeutung in der 11 Zitat Grimm, Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895-1930 (1982), S. 182. Zitat Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 316. 13 Ebd., S. 319. 14 Zitat Nadeau, Histoire du surréalisme (1964), S. 42. 15 Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 316: C’est par le plus grand hasard, en apparence, qu’a été récemment rendue à la lumière une partie du monde intellectuel, et à mon sens de beaucoup la plus importante, dont on affectait de ne plus se soucier. Il faut en rendre grâce aux découvertes de Freud. 12 189 Programmschrift zu finden sind; erst Bretons Texte der 1930er Jahre – ab Les Vases communicants (1932) – zeugen von einer tatsächlichen Kenntnis der Freudschen Theorie16. Indem Breton dazu aufrief, den Traum als psychische Tätigkeit ernst zu nehmen, beabsichtigte er eine Annäherung an das eigene Innere, wobei es keinesfalls darum gehen sollte, den Traum im Sinne Freuds als Wunscherfüllung zu deuten, sondern ihn zu einer Gegenwelt aufzuwerten. Die grosse Bedeutung, die dem Traum in der frühen surrealistischen Argumentation zukam, verlangte jedoch weniger nach dessen Gleichstellung mit der Realität, als vielmehr danach, ihn als psychische Tätigkeit der Wahrnehmung im Wachzustand überzuordnen. Je prends, encore une fois, l’état de veille. Je suis obligé de le tenir pour un phénomène d’interférence17: Die vermeintliche Realität des Tages wurde zum blossen Interferenzzustand degradiert, der den Geist verwirre, indem er die ungleich komplexere Struktur des Traumes verdecke. Il faut tenir compte de l’épaisseur du rêve. Je ne retiens, en général, que ce qui me vient de ses couches les plus superficielles. Ce qu’en lui j’aime le mieux envisager, c’est tout ce qui sombre à l’éveil, tout ce qui ne me reste pas de l’emploi de cette précédente journée, feuillages sombres, branches idiotes18. Die Störung durch den Wachzustand wirkt sich laut Breton deshalb gravierend aus, weil das in der Wirklichkeit verhaftete menschliche Hirn keineswegs im Stande sei, die Ordnung sowie die Kontinuität des Traums zu erfassen, so dass genau in dem Augenblick, in welchem 16 Bretons erste Kenntnisse von Freuds Traumtheorien basierten auf Sekundärliteratur, was womöglich darauf zurückzuführen ist, dass die erste französische Übersetzung der Traumdeutung erst im Jahr 1926 erscheinen sollte. Im Gegensatz zu Breton, der sich hauptsächlich in den 1930er Jahren intensiv mit Freuds Forschung auseinandersetzte, interessierte sich der Psychologie nur sehr am Rande für die surrealistische Bewegung. Sein freimütiges Geständnis dieses Desinteresses wurde vermutlich durch mehrere Kritikpunkte Bretons an Freuds Schriften provoziert; umgekehrt muss Breton Freuds Bekenntnis als um so beleidigender empfunden haben, als der Surrealismus darin letztlich auf eine blosse Kunstrichtung reduziert wurde. Et maintenant un aveu, que vous devez accueillir avec tolérance! Bien que je reçoive tant de témoignages de l’intérêt que vous et vos amis portez à mes recherches, moi-même je ne suis pas en état de rendre clair ce qu’est et ce que veut le surréalisme. Peut-être ne suis-je en rien fait pour le comprendre, moi qui suis si éloigné de l’art. Brief von Freud an Breton, vom 26. Dezember 1932, in: Breton, Œuvres complètes, Bd. 2, S. 213. Bürger hebt ausserdem hervor, dass für Bretons Traumtheorie im ersten Manifest weniger Freud als vielmehr Gérard de Nervals Aurélia von Bedeutung gewesen sei. Siehe Bürger, Der französische Surrealismus (1996), S. 84-91; Chénieux-Gendron, Le Surréalisme (1984), S. 27 f; vgl. auch die Passage zu Nerval in Bretons erstem Manifest, Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 327 f. Daneben ist auch die Vorstellung des Traumes als einer inkohärenten Folge von Bildern, die erst durch die Traumlogik des Geistes einen konstruierten Zusammenhang erlangt, und damit der Ausgangspunkt des frühen Surrealismus in einer vergleichbaren Weise bereits bei Bergson vorgezeichnet; vgl. Bergson, Le Rêve (1901), in: Ders., Oeuvres complètes, Bd. 6, S. 92 f. 17 Zitat Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 318. 18 Ebd., S. 317 [Fussnote]. 190 man sich das Geträumte in Erinnerung zu rufen suche, dessen Struktur unweigerlich verloren ginge. Da sich die reale Logik zwingend in der Gedächtnisleistung niederschlage, sei die Traumlogik nicht mehr präsent und damit das eigentlich Erstrebte unrettbar verloren: Was bleibe, seien einzig die äusseren Schichten des Geträumten, aus denen die Interpretation des Wachzustandes nicht mehr herausgelöst werden könnten. Auf der Suche nach der ersehnten Traumlogik erstellten die Surrealisten zwar Traumprotokolle und übten sich in der écriture automatique, dies aber immer im Wissen um die Unzulänglichkeit der jeweiligen Vorgehensweisen, musste doch das eigentliche Ziel eines bewusst erlebten Traumes ein utopisches Anliegen bleiben – A quand les logiciens, les philosophes dormants!19 Indem der Schlaf zum Idealzustand sowie die Ordnung des Traumes zur erstrebenswerten Logik stilisiert wurden, lokalisierten die Surrealisten zur Zeit ihrer ‚offiziellen‘ Entstehung die eigentliche Wirklichkeit des Menschen nicht im rationalen, sondern im vorrationalen Bereich. Dies mag insofern erstaunen, als weniger eine Rückkoppelung der Traumlogik an die Wirklichkeit und damit eine Versöhnung der realistischen mit der geistigen Welt in der Wirklichkeit, denn vielmehr eine Existenz im Traum propagiert wurde, wodurch dieser gleichsam zum Ort der Surrealität avancierte: Le surréalisme est le carrefour des enchantements du sommeil20. DER TRAUM ALS SZENE Mit Blick auf den revolutionären Kern des Surrealismus mussten die institutionellen Strukturen des Theaterbetriebs eine surrealistische Überwindung der gesellschaftspolitischen Zustände gleichermassen ausschliessen, wie der eng abgesteckte Bühnenraum nicht mit einer entgrenzten Surrealität in Einklang gebracht werden konnte. Zwar hatte Breton etwa zusammen mit Philip Soupault selbst dadaistische Stücke verfasst: In S’il vous plaît sowie in Vous m’oublierez exponierte er eine literarische, nicht aber eine soziale Kritik an den damaligen Zuständen. Um so erstaunlicher ist es, dass er selbst dann nicht von diesen Werken distanzierte, als er in der Rolle des ‚gesetzgebenden‘ Surrealisten das Theater als Ausdrucksform 19 20 Zitat ebd., S. 317. La Révolution surréaliste 1 (1924), S. 1. 191 explizit verurteilte21. Seine Ablehnung gründete zu grossen Teilen auf dem unvermeidlichen Rollenspiel, bedingte dieses doch, dass ein fremder Charakter angenommen werden musste, der von aussen diktiert und daher niemals mit der Person des Schauspielers eins werden könne, weshalb die notwendige Verschmelzung von Leben und Kunst unmöglich und die Manifestation zum verpönten ‚l’art pour l’art‘ würde22. Literarisches konnte den strengen surrealistischen Anforderungen schliesslich nur dann gerecht werden, wenn das Vermittelte authentisch war, eine Vorgabe, der selbst Bretons unwahrscheinlicher ‚Roman‘ Nadja gehorchte, da dieser mit der Titelfigur gleichermassen auf eine reale Person zurückgriff, wie er das Ich Bretons unangetastet liess23. Im Gegensatz dazu und daher vergleichbar den petites villes idiotes de la littérature, haftete dem Theater in den Augen Bretons der unverzeihliche Makel an, sich in fiktiven Anekdoten zu verlieren, was aufgrund des Verzichts auf die Wirklichkeit als Ausgangspunkt eine Überführung des realen Zustandes in die Surrealität von Beginn an ausschliessen musste24. Dass die an sich bereits problematischen szenischen Werke darüber hinaus an die traditionelle Institution Theater gebunden waren, machte sie in einem Masse verdächtig, das für den zunehmend radikaler argumentierenden Breton nicht mehr tragbar schien25. So kam es im Jahr 1926 neben dem Rauswurf Roger Vitracs aus der Gruppe auch zum Ausschluss von Antonin Artaud und Philipp Soupault, deren Aktivitäten Breton als nicht vereinbar mit der revolutionären Grundhaltung der – zunehmend mit der kommunistischen Partei liebäugelnden – Surrealisten verurteilte26. Vor diesem Hintergrund führte schliesslich die französische Erstaufführung von August Strindbergs Ein Traumspiel am 7. Juni 1928 im ‚Théâtre Alfred Jarry‘ zum Eklat, was zwar in Anbetracht des latent surrealistischen Stücks erstaunen mag, aber darauf zurückzuführen ist, dass Breton den Veranstaltern Artaud und Roger Aron vorwarf, aus korrupten, sprich finanziellen Gründen zu handeln, war doch die Inszenierung erst 21 Zu S’il vous plaît sowie Vous m’oublierez von Breton und Soupault siehe u.a. Grimm, Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895-1930 (1982), S. 254-268; Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967), S. 183-201. 22 Breton, Point du jour (1924), Œuvres complètes, Bd. 2, S. 266; vgl. Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967), S. 25. 23 Breton, Nadja (1928), in: Ders. Œuvres complètes, Bd. 1, S. 643-753. Zu Bretons Begegnungen mit der tatsächlichen Nadja (Léona-Camille-Guislaine D.) siehe u.a. Mourier-Casile, Nadja d’André Breton (1994), S. 23-28, 120-124; Née, Lire Nadja (1993), S. 68-77; Navarri, André Breton: Nadja (1986); Nadeau, Histoire du surréalisme (1964), S. 116 f. 24 Zitat Breton, Second manifeste du surréalisme (1930), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 802. 25 Vgl. Brandt, BRAVO! & BUM BUM! (1995), S. 202 f. 26 Zum Ausschluss von Artaud, Soupault und Vitrac sowie der Hinwendung der Surrealisten zum Kommunismus siehe u.a. Gale, Dada & Surrealism, S. 267-302; Chénieux-Gendron, Le Surréalisme (1984), S. 59-67; Nadeau, Histoire du surréalisme (1964), S. 117-119; Bernard, Aragon, S. 17. 192 dank der Unterstützung durch die schwedische Kolonie in Paris möglich geworden27. Dass die Aufführung letztlich nur durch eine von Aron zu verantwortende Polizeipräsenz zustande kommen konnte, musste in den Augen der ‚orthodoxen‘ Surrealisten als endgültiger Beweis für den Opportunismus der bereits Ausgeschlossenen erscheinen28. Während die modifzierte Ausrichtung des Pariser Surrealismus nach der Annäherung an die kommunistische Partei sowie der Publikation von Bretons zweitem Manifest die Suche nach einem surrealistischen Theater nach 1930 geradezu obsolet macht, finden sich im Schaffen der 1920er Jahre zahlreiche Stücke, die durchaus als surrealistische zu deuten sind29. Oui, le théâtre surréaliste existe, il suffit de le regarder – eine Aussage, die dahingehend zu relativieren ist, als sich die Geschichte des surrealistischen Theaters keineswegs als ‚offizielle‘ erweist, sondern sich aus individuellen Einzelleistungen zusammensetzt30. In diesem Nebeneinander verschiedener surrealistisch intendierter Theaterstücke, das sich grundsätzlich von der ansonsten strengen Organisation der als Kollektiv auftretenden surrealistischen Gruppe unterscheidet, spiegelt sich nicht zuletzt die untergeordnete Rolle der Szene für die revolutionäre Bewegung. Umgekehrt schlug sich die Position als Nebenschauplatz der Revolution sowohl in einem bisweilen freieren Umgang der Theaterschaffenden mit den surrealistischen Postulaten als auch in der nahezu ausschliesslichen Orientierung am frühen Surrealismus der époque des sommeils nieder. Im Grunde konzentrierte sich das surrealistisch motivierte Theaterschaffen der 1920er Jahre auf den Kreis um die Autoren Soupault, Artaud und Vitrac sowie das von den beiden letzteren zusammen mit Aron gegründete ‚Théâtre Alfred Jarry‘ – ein Theater, das in den knapp drei Jahren seines Bestehens zwar nur vier 27 Artaud rechtfertigte die Aufführung von Strinbergs Ein Traumspiel explizit mit dem surrealistischen Potenzial des Autors: Strindberg est un révolté, tout comme Jarry, comme Lautréamont, comme Breton, comme moi. Nous représentons cette pièce en tant que vomissement contre sa patrie, contre toutes les patries, contre la société. Artaud, [Erklärung während der Aufführung von Strinbergs Ein Traumspiel, 2. und 9. Juni 1928], zitiert nach Béhar, Roger Vitrac, Un Reprouvé du surréalisme, S. 142; vgl. auch Artaud, Le Songe de Strindberg (1928), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 40-42. 28 Zur französischen Erstaufführung von Strindbergs Ein Traumspiel siehe u.a. Brandt, BRAVO! & BUM BUM! (1995), S. 214; Nadeau, Histoire du surréalisme (1964), S. 118; Grimm, Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895-1930 (1982), S. 285. 29 Bezeichnenderweise beschliessen sowohl Béhar als auch Grimm ihre Studien zum dadaistischen und surrealistischen Theater um 1930, also zum Zeitpunkt von Bretons zweitem Manifest und der damit verbundenen Radikalisierung der surrealistischen Gruppe. Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967); Grimm, Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895-1930 (1982). 30 Zitat Béhar, Le Théâtre surréaliste existe-t-il?, in: L’Avant-Scène Opéra 210 (2002), S. 121. Vgl. Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967), S. 30 sowie Brandt, BRAVO! & BUM BUM! (1995), S. 205. 193 Inszenierungen mit insgesamt acht Aufführungen erlebte, jedoch hauptsächlich durch Artaud eine gewichtige theoretische Grundlage erhielt31. Ein Jahr vor dem Ausschluss der genannten Theaterautoren aus der surrealistischen Bewegung, zog der 1900 in der ukrainischen Stadt Poltava geborene Franzose Georges Neveux von Nizza nach Paris und übernahm nicht nur die Wohnung von Joan Miró, die neben derjenigen von Robert Desnos gelegen war, sondern wurde von seinem neuen Nachbarn auch sogleich in die surrealistische Gruppe eingeführt32. Obwohl ein überzeugtes Mitglied, nahm er dennoch nur selten an den von Breton geradezu zur Pflicht erklärten, täglichen Versammlungen teil, da er einerseits seine eigene Unabhängigkeit zu bewahren trachtete und sich andererseits hauptsächlich mit theaterspezifischen Fragen zu befassen schien33. Der Jurist Neveux, zwischen 1927 und 1930 als Sekretär von Louis Jouvet sowie als Journalist tätig, verfolgte zeitweise sogar das Projekt, zusammen mit Aron, Salacrou und Ribement-Dessaignes das ‚Théâtre de la Tour Eiffel‘ zu gründen, was schliesslich an der Unmöglichkeit scheiterte, zu diesem Zweck den ganzen Eiffelturm zu mieten34. Stattdessen verfasste Neveux mit Juliette ou La Clé des songes nicht nur das erste, sondern auch das einzige Theaterstück seiner surrealistisch geprägten Phase; seine nachfolgenden dramatischen Werke, etwa das im Jahr 1958 von Martinů unter dem Titel Ariane vertonte Theaterstück Le Voyage de Thésée (1943), sollten erst nach einer längeren Pause und unter gänzlich anderen Vorzeichen ab den 1940er Jahren entstehen35. Möglicherweise durch die Vermittlung Jouvets, der schliesslich wie Baty 31 Béhar, Le Théâtre surréaliste existe-t-il?, in: L’Avant-Scène Opéra 210 (2002), S. 119; Brandt, BRAVO! & BUM BUM! (1995), S. 214 sowie Grimm, Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895-1930 (1982), S. 284 f. 32 Obwohl Šafránek, Karbusický und Halbreich für den Zeitpunkt von Neveux’ Umzug nach Paris das Jahr 1927 angeben, wirkt die Datierung auf das Jahr 1925 in Anlehnung an die Theaterhistoriker Béhar und Brèque plausibler. Vgl. Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967), S. 281; Jean-Michel Brèque, Juliette, ou le rêve à tout prix, in: L’Avant-Scène Opéra 210 (2002), S. 112; Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 73; Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 271; Halbreich, Juliette ou La Clé des songes, in: L’Avant-Scène Opéra 210 (2002), S. 8; vgl. auch Pronko, Georges Neveux (1963), S. 246. 33 Vgl. Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967), S. 281. 34 Vgl. G. Lieber, Artikel Neveux, in: Corvin, Dictionnaire encyclopédique du théâtre, S. 1177; Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967), S. 281 f.; Porcile, Maurice Jaubert, S. 45. 35 Béhar, Le Théâtre surréaliste existe-t-il?, in: L’Avant-Scène Opéra 210 (2002), S. 120; Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967), S. 281-286. Offenbar hatte Neveux bereits vor seinem Umzug nach Paris, nämlich während seiner Zeit bei der französischen Armee für deren ‚Compagnie théâtrale‘ Theaterstücke und Komödien bearbeitet. Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 73. G. Lieber (in: Corvin, Dictionnaire encyclopédique du théâtre, S. 1177) vermutet, dass der offenkundige Misserfolg von Juliette in Paris Neveux dazu bewogen hatte, vorerst auf weitere Theaterstücke zu verzichten (siehe auch Smith, Georges Neveux and the oral element in modern poetry, S. 86). Neben den genannten Werken verfasste Neveux in späteren Jahren ausserdem das von Martinů unvollständig vertonte Stück Plainte contre inconnu (1946) sowie Zamore (1953) und La Voleuse de Londres (1960). Daneben profilierte er sich hauptsächlich mit seinen Übersetzungen und Adaptionen, etwa von Shakespeares Othello im Jahr 1950 (siehe Smith, Georges Neveux and the oral element in modern poetry, S. 87), produzierte aber auch Fernsehfilme und schuf für das Fernsehen die legendäre Serie Vidocq (siehe hierzu Bordaz, Georges Neveux et Vidocq, S. 615-620). 194 Mitbegründer des ‚Cartel‘ war, erregte Neveux’ Juliette zwar noch im selben Jahr das Interesse des Intendanten des ‚Théâtre de l’Avenue‘, jedoch sollte das Stück unter Batys Direktion nicht inszeniert werden36. Erst dessen Nachfolgerin Maria Falconetti zog das Werk aus der Schublade hervor und brachte es am 7. März 1930 im ‚Théâtre de l’Avenue‘ zur skandalträchtigen Uraufführung, auf die weitere dreissig tumultöse Aufführungen folgten; Falconetti spielte selbst die Titelrolle, die Inszenierung übernahm der Filmregisseur Alberto Cavalcanti und die Bühnenmusik stammte von Neveux’ Jugendfreund Maurice Jaubert37. Im Jahr der Uraufführung lernte Martinů nicht nur Juliette kennen, die er als Beilage der Zeitschrift Bravo bei einem Bouquinisten erstanden hatte, sondern machte durch die Vermittlung von Miloš Šafránek auch die Bekanntschaft mit Neveux, wohnte dieser doch in demselben Haus an der Rue de Laos wie der Martinů-Biograph38. Es war in Paris vor mehr als dreissig Jahren, bei unserem gemeinsamen Freund Miloš Šafránek, als ich mich zum ersten Mal mit Bohuslav Martinůs traf. Ich werde diese erste Zusammenkunft niemals vergessen. Martinů war bereits berühmt. Darius Milhaud hatte mir wenige Tage zuvor von ihm als einem der grössten zeitgenössischen Musiker erzählt39. Zu diesem Zeitpunkt war Martinů vermutlich noch mit Le Jour de la bonté auf ein Libretto von Ribemont-Dessaignes beschäftigt, seiner Fragment gebliebenen letzten Zeitoper, was bedeutet, dass seine Hinwendung zum Concerto grosso sowie die Auseinandersetzung mit der tschechischen Bühnentrilogie Špalíček, Hry o Marii und Divadlo za bránou noch in der Zukunft lagen. Auch scheint Martinů bei der ersten Lektüre von Neveux’ Juliette keinerlei Absichten bezüglich einer wie auch immer gearteten Vertonung gezeigt zu haben, stammen doch die ersten bekannten Erwähnungen einer geplanten Adaption vom April 1935, wobei er zunächst an eine Umsetzung als Ballett dachte – vorübergehend lenkte er jedoch seine Aufmerksamkeit auf eine mögliche Vertonung eines anderen Traums, nämlich Shakespeares A 36 Zu Gaston Baty und dem ‚Cartel‘ siehe Kapitel III, S. 114 [Fussnote 30]. Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 271; Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 73; Pronko, Georges Neveux (1963), S. 246. Die Wahl Cavalcantis als Regisseur erfolgte auf Wunsch Neveux’ und erregte grossen Unmut: Comme metteur en scène j’ai pris un metteur en scène de cinéma: Cavalcanti. C’est la première fois qu’on fait ça et les gens du monde théâtral sont fous de rage. Brief von Neveux an Maurice Jaubert, [1930], zitiert nach Porcile, Maurice Jaubert, S. 46. 38 Neveux, Juliette, in: Bravo 2 (1930), H. 5 [Beilage]; Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 73. Obwohl Martinů zur Zeit der Uraufführung seiner Oper Juliette das Jahr seiner Bekanntschaft mit Neveux mit 1926 angegeben hatte, weshalb sämtliche diesbezüglichen Erwähnungen in tschechoslowakischen Zeitungen von eben diesem Jahr ausgingen, ist diese (Šafránek widersprechende) Datierung wenig wahrscheinlich. Siehe u.a. Prager Abend-Zeitung vom 11. 2. 1938, Národní noviny vom 5. 3. 1938 sowie Lidový deník vom 16. 3. 1938. 39 Neveux, [Handschriftliche Erinnerungen] (1963), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 251. 37 195 Midsommer Night’s Dream40. Erst zu Beginn des darauffolgenden Jahres begann sich Martinů intensiv mit Juliette als Opernvorlage auseinander zu setzen, indem er zunächst ein tschechisches Libretto verfasste und sogleich mit der Vertonung des ersten Aktes begann, den er bereits im Juni 1936 abschliessen sollte: [...] ich bereite eine neue Oper vor und habe deren ersten Akt schon beendet. Sie heisst „Juliette“ und ist im Grunde ein bizarrer Traum41. Allerdings hatte es Martinů versäumt, Neveux rechtzeitig um die Einwilligung für die Bearbeitung zu bitten, und meldete sich stattdessen erst nach der Fertigstellung des ersten Aktes beim Schriftsteller, der sogleich der Einladung Folge leistete, sich die bereits vertonten Teile anzuhören. Nahezu dreissig Jahre später sollte sich der Schriftsteller an seine Begeisterung über das Gehörte erinnern, wenngleich er den Ablauf der tatsächlichen Umstände leicht variierte. So berichtet er in einer oft zitierten Passage davon, er habe nur wenige Tage vor dem beglückenden Besuch dem Agenten Kurt Weills sein Einverständnis zur Vertonung von Juliette gegeben, infolge seiner Euphorie für Martinůs Arbeit jedoch die Weill erteilte Bewilligung sogleich widerrufen: Am nächsten Tag schrieb ich an den amerikanischen Agenten, dass es sich um ein Missverständnis gehandelt habe und das Stück nicht mehr frei sei42. Wenngleich die Akteure die selben sind, so entspricht wohl eher die von Martinů in einem Brief an Václav Talich, dem Dirigenten der Uraufführung, formulierte Sicht der Ereignisse dem tatsächlich Geschehenen: Etwa eine Woche nach der Unterredung mit dem Librettisten [Neveux] bat Kurt Weill um dasselbe Libretto, und wie Sie wissen, hat er einen scharfen Blick fürs Theater, jedoch kam er dieses Mal zu spät43. Juliette ou La Clé des songes, das Theaterstück, auf das Weill wegen Martinů verzichten musste, beginnt mit der Ankunft des Pariser Buchhändlers Michel Lepic in einer namenlosen Kleinstadt: Einst hat Michel in dieser Stadt den Gesang einer Frau gehört und sich augenblicklich in die Unbekannte verliebt, die er nun um jedem Preis wiederfinden will. Auf der lange Zeit vergeblichen Suche nach der aus irrationalen Gründen ‚Juliette‘ Benann- 40 Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 71 f. Brief von Martinů an Václav Talich, vom 12. Juni 1936 aus Paris, in: Kuna, Korespondence Bohuslava Martinů Václavu Talichovi 1924-1939, S. 232. Zur Datierung siehe Martinů, Juliette (Snář), Václav Talich gewidmete autographe Partitur [liegt heute im Archiv des Nationaltheaters in Prag], I. Akt, S. 203: Das Ende des ersten Aktes ist datiert mit Konec I. jednání. Paris. 17. června 1936 (Ende I. Akt. Paris. 17. Juni 1936). 42 Zitat Neveux, [Handschriftliche Erinnerungen] (1963), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 252. Einen Beleg für Weills Interesse an Juliette bildet zudem ein ablehnendes Schreiben von Neveux an Weills Agenten, das sich im Kurt Weill-Archiv in New York befindet. Siehe dazu Goehr, Juliette fährt nach Mahagonny (Druck in Vorbereitung). Goehr nahm das Interesse Weills an Juliette zum Anlass, das Libretto des stattdessen von Weill vertonten Werkes Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny mit Neveux’ Juliette hinsichtlich des jeweiligen surrealistischen Potenzials zu vergleichen. Siehe ebd. 43 Brief von Martinů an Václav Talich, vom 26. Juni 1936 aus Paris, in: Kuna, Korespondence Bohuslava Martinů Václavu Talichovi, S. 233 f. 41 196 ten, wird er andauernd mit unerklärlichen Geschehnissen konfrontiert, ist er doch in eine Stadt geraten, deren Bewohner höchstens über ein Kurzzeitgedächtnis verfügen. Dies muss jegliche übergreifende logische Entwicklung der Handlung zwingend unmöglich machen. Infolgedessen wird Michel zum überforderten Spielball der ausschliesslich im Augenblick verhafteten Umwelt und erfährt nicht nur nichts über den Aufenthaltsort seiner Juliette, sondern gerät stattdessen von einer sonderbaren Situation in die nächste. Zu Beginn entführt, dann nahezu verhaftet und schliesslich zum Bürgermeister ernannt, trifft der Buchhändler erst gegen Ende des ersten Aktes endlich auf Juliette. Obwohl die Titelheldin ausgesprochen erleichtert darüber wirkt, dass Michel endlich aufgetaucht ist, entzieht sie sich ihm nach einem kurzen Dialog aus unerfindlichen Gründen sogleich wieder, um ihn zu einem späteren Zeitpunkt im Wald ein zweites Mal zu treffen. Zu Beginn des zweiten Aktes ist Michel im Wald angekommen, der ebenfalls von Stadtbewohnern bevölkert scheint, weshalb sich weiterhin eine sonderbare Szene an die nächste reiht, wobei die Absurditäten mit dem ‚Liebesduett‘ von Juliette und Michel zu einem Höhepunkt finden: Obwohl sie sich sogleich in Liebesbezeugungen verlieren, lässt ein Streit nicht lange auf sich warten, der schliesslich dazu führt, dass er einen Revolverschuss auf die Geliebte abfeuert. Michel scheint allmählich die Besinnung verloren zu haben, sucht jedoch in der Stadt nochmals nach Juliette, bis er am Aktende mit der Absicht, die Stadt zu verlassen, ein vor Anker liegendes Schiff besteigt. Dieses verwandelt sich umgehend in ein Büro, das sich als Traumbüro entpuppt und dessen Beamter den Schlafenden zu ihren gewünschten Träumen verhilft, womit der letzte Akt nachträglich die Erklärung für die sonderbaren Ereignisse liefert, denn es ist nur ein Traum44. Auf die Gefahr hin, verrückt zu werden, zögert Michel zu erwachen: Während das Theaterstück insofern offen endet, als unklar bleibt, ob Michel nun in die Wirklichkeit des Wachzustandes zurückkehren wird, verbleibt er in der Oper eindeutig im Traum, worauf diese im Unterschied zur Vorlage mit einer Reminiszenz an den Beginn des ersten Aktes endet. Juliette ou La Clé des songes besteht also ausschliesslich aus einem Traum des Pariser Buchhändlers Michel Lepic, womit sich das Stück genau auf den Themenkreis bezieht, der in der von Rausch- und Traumerlebnissen geprägten surrealistischen Frühphase vorherrschend war. Ausgehend von der für die époque des sommeils typischen Tendenz, den Traum im Gegensatz zur realen Wirklichkeit als surrealen Zustand zu erachten, liegt es nahe, Juliette als intendiertes Abbild einer solchen Surrealität zu deuten. Wenn jedoch der Traum das Ziel war, stellt 44 Martinů, Juliette ou La Clé des songes, [Vorwort zum Klavierauszug] (1947) [o. S.]. 197 sich unweigerlich die Frage, wieso nicht jeder Surrealist ebenso wie Michel im Traum verblieb und sein Leben erträumte, konnte doch streng genommen eine Aktivität, die im Wachzustand eine Traumrealität kopierte, nicht über den Status des Plagiats hinausgelangen. Pourquoi tirer un drame du REVE authentique que je viens de vous raconter? Pour montrer que la vie et le théâtre sont deux? N’allez pas au spectacle. Couchez-vous 45. Trotz dieser pointierten Aussage anlässlich seiner Rezension über Luigi Pirandellos Sei personaggi in cerca d’autore, liess es sich auch Vitrac nicht nehmen, mit Les Mystères de l’amour ein Stück zu verfassen, das einen auf die Bühne projizierten Traum darstellen sollte46. Während Vitrac zur Entstehungszeit von Les Mystères de l’amour ein anerkanntes Mitglied der surrealistischen Gruppe war und seine Aktivitäten vorerst in einen weitgehenden Einklang mit den Idealen der Bewegung gebracht werden können, ist bei Neveux eine deutlich grössere Distanz zum bereits ungleich dogmatischeren Surrealismus nicht zu übersehen. Schliesslich waren die Theaterschaffenden zu dem Zeitpunkt, als Neveux seine Juliette verfasste, bereits aus der Gruppe ausgeschlossen worden, was von einer wachsenden Unvereinbarkeit des ‚offiziellen‘ Surrealismus Bretons mit dem Theater als Medium zeugt. Anstelle des damals aktuellen Surrealismus mit primär kommunistischen Zielen zeigt sich in Juliette vielmehr eine intensive Auseinandersetzung mit den drei Jahre zuvor formulierten surrealistischen Traumtheorien, infolgedessen Neveux’ Surrealismus in augenfälliger Nähe zu demjenigen von Vitrac und Artaud zur Zeit des ‚Théâtre Alfred Jarry‘ angesiedelt ist, war dieser doch gleichermassen unvereinbar mit dem agenouillement devant le Communisme. P.-S. – Ces révolutionnaires au papier de fiente qui voudraient nous faire croire que faire actuellement un théâtre est (comme si ça en valait la peine, comme si ça pouvait tirer à conséquence, les lettres, comme si ce n’était pas ailleurs que nous avons depuis toujours fixé nos vies), ces sales bougres donc voudraient nous faire croire que faire actuellement du théâtre est une tentative contre-révolutionnaire, comme si la Révolution était une idée-tabou et à laquelle il soit depuis toujours interdit de toucher. Eh bien moi, je n’accepte pas d’idée-tabou. 45 46 Vitrac, Dormir (1923), zitiert nach Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967), S. 251. Vgl. Grimm, Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895-1930 (1982), S. 307-321 sowie Brandt, BRAVO! & BUM BUM! (1995), S. 214-219. Dass auch Martinů Pirandellos Sei personaggi in cerca d’autore kannte, steht ausser Frage, hatte er doch selbst während einer Aufführung am 29. August 1929 im Theater von Polička am Klavier die Bühnenmusik zu diesem Stück improvisiert. Siehe hierzu Halbreich, Bohuslav Martinů, S. 340. 198 […] Il y a des bombes à mettre quelque part, mais à la base de la plupart des habitudes de la pensée présente, européenne ou non. De ces habitudes, Messieurs les Surréalistes sont atteints beaucoup plus que moi, je vous assure, et leur respect de certains fétiches faits hommes et leur agenouillement devant le Communisme en est une preuve la meilleure47. Obwohl die Verbindung der Initiatoren des ‚Théâtre Alfred Jarry‘ zur surrealistischen Gruppe um Breton mit dieser Beschimpfung ein Jahr nach deren Ausschluss für alle Zeiten gekappt war und im Eklat anlässlich der Aufführung von Strindbergs Ein Traumspiel in Paris einen endgültigen Tiefpunkt erreichen sollte, entsprach die Haltung Artauds und Vitracs sowie des mit ihnen befreundeten Neveux weitgehend den zur Zeit des ersten Manifestes propagierten surrealistischen Idealen48. Ob man die in diesem Geiste entstandenen Stücke nun mit Béhar als théâtre surréaliste oder mit Brandt als bloss „surrealistisches Theater“ bezeichnen will, liegt letztlich darin begründet, inwieweit man Breton als alleinigen Massstab für den jeweils ‚richtigen‘ Surrealismus zu nehmen bereit ist49. Schliesslich blieb Artaud dem ursprünglichen Surrealismus weitgehend treu und distanzierte sich nicht zuletzt deshalb von Breton, weil dieser in seinen Augen die einst gemeinsamen Ideale der kommunistischen Revolution geopfert hatte50. Die Orientierung an den Grundsätzen des im Manifeste du surréalisme poetologisch definierten Surrealismus bringt zudem mit sich, dass das surrealistisch intendierte Theater trotz seiner individuellen Ausformungen jeweils auf die zentralen surrealistischen Anliegen reagiert, die gleichsam als Fazit der in Juliette behandelten Themen anmuten: l’amour, le merveilleux, le rêve, le désir, l’humour51. Ausgehend von der Idee, dass die Kunst Einfluss auf das Leben zu nehmen hat, kann ein surrealistisch motiviertes Theater nicht eine illusionistische Tradition weiterführen, sondern muss dem Anspruch der Authentizität entsprechend bei einer irgendwie gearteten Wirklich- 47 Artaud, Manifeste pour un théâtre avorté (P. S.; 1927), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 31-33. Vgl. Béhar, Le Théâtre surréaliste existe-t-il?, in: L’Avant-Scène Opéra 210 (2002), S. 120. 49 Zitat ebd., S. 121; Zitat Brandt, BRAVO! & BUM BUM! (1995), S. 204. Vgl. auch Fock, Antonin Artaud und der surrealistische Bluff: Fock stellt primär aufgrund von Artauds späterer Sprachkritik, die tatsächlich nicht mit der surrealistischen Verabsolutierung der Sprache in Einklang zu bringen ist, die Kategorisierung von Artauds Theater als surrealistisches grundsätzlich in Frage (u.a. Bd. 1, S. 11). Dieser Einwand ist insofern problematisch, als Artaud die zentrale Rolle des Wortes im Zug seiner Theoriebildung des ‚Théâtre total‘ sowie des ‚Théâtre de la cruauté‘ explizit in Frage stellte, also erst nach dessen surrealistischer Phase. 50 Vgl. Blüher, Antonin Artaud und das ‚Nouveau Théâtre‘ in Frankreich, S. 39. Siehe auch Breton/Aragon/ Péret/Unik/Eluard, Aux Surréalistes non communistes (1927), in: Breton, Œuvres complètes, Bd. 1, S. 933: Breton erachtete dagegen den Anschluss an den Kommunismus nicht nur als logische Folge der surrealistischen Bewegung, sondern darüber hinaus auch als einzigen Weg, die ideologische Grundlage des Surrealismus weiterhin zu gewährleisten. 51 Zitat Béhar, Le Théâtre surréaliste existe-t-il?, in: L’Avant-Scène Opéra 210 (2002), S. 121. 48 199 keit ansetzen; eine Forderung, die von Artaud und Vitrac explizit an das ‚Théâtre Alfred Jarry’ gestellt wurde. C’est cela qui est grave: la formation d’une réalité, l’irruption inédite d’un monde. Le théâtre doit nous donner ce monde éphémère, mais vrai, ce monde tangent au réel. Il sera ce monde lui-même ou alors nous nous passerons du théâtre52. Gemäss dieser Auffassung geht es keinesfalls um das blosse Abbild einer Realität auf der Bühne – würde dieses doch unweigerlich einen Naturalismus heraufbeschwören –, sondern um die allein durch das Theater gebildete ‚wahre‘ Wirklichkeit des monde intellectuel53. Indem es nun gilt, im Theater eine Welt zu erschaffen, verschiebt sich die gezeigte Ebene vom Dargestellten zum tatsächlich Seienden, eine semiotische Umdeutung, die zugleich zwei in surrealistischer Hinsicht problematische Aspekte zu vermeiden hilft: Da sich einerseits die erweiterte Wirklichkeit erst auf der Bühne materialisiert, ist das Gezeigte zwingend authentisch, und andererseits findet das Theater als Ort der erfahrbar gemachten geistigen Welt seine Legitimation. Si nous faisons un théâtre ce n’est pas pour jouer des pièces, mais pour arriver à ce que tout ce qu’il y a d’obscur dans l’esprit, d’enfoui, d’irrévélé se manifeste en une sorte de projection matérielle, réelle. Nous ne cherchons pas à donner comme cela s’est produit jusqu’ici, comme cela a toujours été le fait du théâtre, l’illusion de ce qui n’est pas, mais au contraire à faire apparaître aux regards un certain nombre de tableaux, d’images indestructibles, indéniables qui parleront à l’esprit directement54. Im Zentrum des Theaterereignisses steht also nicht eine illusionistische Handlung, sondern die transportierten ‚wahren‘ Momente, die den Geist der Zuschauer erschüttern sollen, indem sich diese mit der bislang unbekannten, irrationalen Seite ihrer Existenz konfrontiert sehen und in surrealistischer Manier dazu angetrieben werden, die rationale Logik grundsätzlich in Frage zu stellen. Diese Argumentationsweise brachte mit sich, dass für die Authentizität nicht mehr die Frage nach dem Wahrscheinlichkeitsgehalt der Fabel von primärer Bedeutung war, sondern la force communicative55. Dass dagegen Vitracs Les Mystères de l’amour von Artaud rückwirkend zu einem nacherzählten echten Traum erklärt wurden, was in Anbetracht der 52 Artaud, ‚Le Théâtre Alfred Jarry‘ (1926), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 20. Zitat Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 316. 54 Artaud, Manifeste pour un théâtre avorté (1926), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 29. 55 Zitat Artaud, ‚Le Théâtre Alfred Jarry‘ (1926), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 21. 53 200 sorgfältigen Konstruktion des Stücks wenig wahrscheinlich anmutet, ist wohl als später Legitimationsversuch mit Blick auf Bretons Authentizitätsansprüche zu verstehen, spielt ein solcher doch bei der Theorie des ‚Théâtre Alfred Jarry‘ keine entscheidende Rolle56. Analog dazu ist auch bei Neveux’ Juliette die Frage nach dem Ursprung von Michels Traum für die Bewertung der surrealistischen Intention nicht von Belang: Obwohl es sich mit Sicherheit nicht um die Transposition eines echten Traumes handelt, sondern um ein bewusst traumanalog konstruiertes Theaterstück, tut dies dem surrealistischen Potenzial keinen Abbruch. Dieses liegt schliesslich in der force communicative begründet, der sich der Zuschauer im Wissen um die Ernsthaftigkeit des Ereignisses auszusetzen hat, und die ihn durch die evozierte Idee einer Wirklichkeit jenseits der bekannten Realität unwiderruflich verändern muss. Le spectateur qui vient chez nous sait qu’il vient s’offrir à une opération véritable, où non seulement son esprit mais ses sens et sa chair sont en jeu. Il ira désormais au théâtre comme il va chez le chirurgien ou le dentiste. Dans le même état d’esprit, avec la pensée évidemment qu’il n’en mourra pas, mais que c’est grave, et qu’il ne sortira pas de là dedans intact. Si nous n’étions pas persuadés de l’atteindre le plus gravement possible, nous nous estimerions inférieurs à notre tâche la plus absolue. Il doit être bien persuadé que nous sommes capables de le faire crier 57. Der Idee, den Geist des Zuschauers zu verändern, indem man ihm eine weiterführende Perspektive eröffnet, kommt schliesslich die vorrangige Bedeutung zu, so dass es geradezu verwerflich wäre, im Theater das reale Leben abzubilden, da dieses die Operation am Publikum – une sorte d’opération magique – unmöglich machen würde58. Die Aktion auf der Bühne fungiert als Sprachrohr einer unsichtbaren Welt und ist daher nicht als ein bloss metaphorisches Zeichen zu verstehen, sondern als gestischer und verbaler Ausdruck einer ‚wahren‘ Wirklichkeit, wodurch das Theater gleichsam zum Teil der umfassenden Surrealität avanciert. Damit wird der Anspruch einer echten Handlung als Mass für Authentizität endgültig hinfällig, ist doch alles ‚wahr‘, was in irgendeiner Weise an phantastische Ideen jenseits einer erlebten Realität anzuknüpfen vermag. 56 Artaud, Le Théâtre Alfred Jarry en 1930 (1930), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 52: Pour la première fois un rêve réel fut réalisé sur le théâtre. Zu Vitracs ‚Traumspiel‘ Les Mystères de l’amour siehe u.a. Grimm, Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895-1930 (1982), S. 307-321. 57 Artaud, ‚Le Théâtre Alfred Jarry‘ (1926), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 22. 58 Zitat Artaud, ‚Le Théâtre Alfred Jarry‘, Saison 1928 (1928), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 35. 201 La mise en scène, proprement dite, les évolutions des acteurs ne devront être considérées que comme les signes visibles d’un langage invisible ou secret. Pas un geste de théâtre qui ne portera derrière lui toute la fatalité de la vie et les mystérieuses rencontres des rêves. Tout ce qui dans la vie a un sens augural, divinatoire, correspond à un pressentiment, provient d’une erreur féconde de l’esprit, on le trouvera à un moment donné sur notre scène59. Die surrealistische Wahrheit hinter den Theatergesten – la fatalité de la vie et les mystérieuses rencontres des rêves – schlägt sich in Neveux’ Juliette insofern nieder, als sich einerseits das ganze Geschehen im Traum eines einzelnen abspielt sowie andererseits eine Traumlogik zum Tragen kommt, die gleichsam als Instrument für die ‚Operation‘ am Publikum dienen soll. Wie die Uraufführung sowie die nachfolgenden Aufführungen am ‚Théâtre de l’Avenue‘ zeigten, erwies sich das ‚Operationsinstrument‘ als ein äusserst wirkungsvolles, denn während es sich beim Skandal anlässlich der Inszenierung von Strindbergs Ein Traumspiel im ‚Théâtre Alfred Jarry‘ letztlich um Grabenkämpfe von Surrealisten gehandelt hatte, deren Auffassungen vom Surrealismus unvereinbar geworden waren, erwuchs der Tumult bei Juliette tatsächlich der Irritation eines überforderten Publikums60. Im surrealistischen Theater Vitracs, Artauds aber auch Neveux’ galt es, das Bewusstsein des Publikums zielgerichtet zu beeinflussen, indem die Grundfesten der Wahrnehmung durch eine unergründliche Logik erschüttert werden sollten, eine Manipulation, die hauptsächlich auf der Sprach- und Handlungsebene vonstatten ging. Gerade weil in der Regel eine Irritation auf der inhaltlichen Seite angestrebt wurde, war ein Erfolg der ‚Operation‘ nicht von einer Destruktion des tradierten Gerüsts abhängig, weshalb einer konventionellen Akteinteilung nichts im Wege stand – dies um so mehr, als die traditionelle Theaterform zugleich als Kontrastfolie zur veränderten Handlungsstruktur dienen und damit zusätzliche Verunsicherung hervorrufen konnte61. Dem entspricht in Juliette eine Anlage als Dreiakter, der keine übergreifende logische Entwicklung des Geschehens transportiert, was im Grunde darauf zurückzuführen ist, dass abgesehen vom Protagonisten Michel niemand unter den agierenden Personen über ein Gedächtnis verfügt. Schliesslich bedingt die fehlende Erinnerungsfähigkeit der Stadtbewohner, dass die Zeit sowohl ihrer Vergangenheit als auch der Zukunft beschnitten wird, infolge- 59 Artaud, Manifeste pour un théâtre avorté (1926), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 30. Vgl. Pronko, Georges Neveux (1963), S. 246 f.; Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967), S. 283; Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 271 sowie Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů (1979), S. 73. 61 Vgl. Brandt, BRAVO! & BUM BUM! (1995), S. 213. 60 202 dessen allein der jeweils gegenwärtige Augenblick für die Ausformung des unmittelbar nachfolgenden Momentes ausschlaggebend ist. Insbesondere in den ersten zwei Akten gliedert sich Juliette in unterschiedliche Situationen, die grundlos entstehen und folgenlos bleiben, woraus sich vielmehr eine Aneinanderreihung von Traumsequenzen denn eine kontinuierlich ausgeführte Fabel ergibt. Die gemäss surrealistischer Auffassung fatale Kausalität verliert durch die Anlage des Stückes als Traum genau deshalb ihre Bedeutung, weil die Figuren allesamt Emanationen von Michels Gehirn sind und folglich nur in dem Augenblick, in welchem sie vom Protagonisten gedacht werden, überhaupt existieren. In diesem Sinn lässt sich mit Martinů sagen: Juliette hat eigentlich keine „Handlung“ 62. Während die Stadtbewohner aufgrund ihrer Inexistenz einer rationalen Entwicklung entgegenwirken, bildet die Suche Michels nach Juliette den eigentlichen Rahmen des Stücks, womit der Handlung durch den einzigen konsistenten Charakter ein Movens verliehen wird, das darüber hinaus eine kausale Begründung aufweist, nämlich die Sehnsucht des Protagonisten nach der Titelheldin. Dem surrealistischen Geist entsprechend, wird jedoch auch dieser logische Grund in mehrerlei Hinsicht konterkariert, was zunächst dadurch geschieht, dass das Publikum bis zur achten Szene des ersten Aktes ausharren muss, um überhaupt den Grund für Michels Anwesenheit in der Kleinstadt und damit eine Rechtfertigung für das Gezeigte zu erfahren. Als sich der Protagonist endlich gegenüber dem Mann mit dem Helm erklärt, bekommt die Begründung sogleich Risse, stellt sich doch heraus, dass Michel die Geliebte überhaupt nicht kennt, sondern bloss drei Jahre zuvor an ihrem Haus vorbei gegangen war, während sie ein Lied sang, worauf der vom Gesang Bezauberte ans Fenster trat und la plus ravissante créature de la terre erblickte, um sogleich wieder abzureisen63. Drei Jahre mussten verstreichen, bis sich der rasend Verliebte auf die Suche nach Juliette machte, die er nach einem längeren Herumirren in der Stadt gegen Ende des ersten Aktes auffindet, wobei sie sich erstaunlicherweise überhaupt nicht verändert hat: Ihre Kleidung und Frisur sind ebenso dieselben geblieben – vous n’avez rien changé – wie ihre Position, sitzt sie doch noch immer am Klavier und singt dasselbe Lied. 62 Martinů, Juliette ou La Clé des songes, [Vorwort zum Klavierauszug] (1947), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 252. 63 Neveux, Juliette ou La Clé des songes (1927), I. Akt, 8. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 136. 203 64 Neveux : Martinů: Mes amours, elles sont parties Moje láska v dálce se stratila, [Meine Liebe verschwand in der Ferne Cette nuit sous la grande voile, za širé moře této noci. hinter dem breiten Meer dieser Nacht. Reviendront-elles des colonies S návratem hvězdy na nebi, Mit der Rückkehr des Sterns am Himmel, Comme revient la belle étoile? zda vrátí se, vrátí i moje láska! scheint es, als kehre auch meine Liebe zurück!] Ein einziges Mal hatte Michel einen Blick auf eine ihm fremde Frau erhaschen können, ein Erlebnis, das im Lauf der Zeit zunehmend Macht über seine Gefühlswelt gewann und ihn zur Überzeugung brachte, die wahre Liebe gesehen zu haben – A cette minute commença tout l’amour de ma vie65. Im Traum vermeint er nun, die Geliebte endlich gefunden zu haben, jedoch scheitert das Wiedersehen daran, dass es im Grunde keines ist, da es ausschliesslich in seiner Imagination stattfindet, weshalb er unmöglich auf eine wirkliche Person, sondern nur auf das unveränderliche Bild der Unbekannten treffen kann. Erschwerend kommt hinzu, dass Michel seine Juliette überhaupt nicht kennt und die Traumgestalt folglich mit keinen realistischen Eigenschaften zu beleben vermag, infolgedessen sie ihm als Phantom unweigerlich entgleiten muss. Jeder Dialog der beiden ist zum Scheitern verurteilt, da sie aufgrund von Juliettes Unbeständigkeit keine gemeinsame Basis finden können: Als blosse Schablone einer Person ist für sie eine Geschichte so wahr wie die andere, kann sie doch als Traumfrau im wahrsten Sinne des Wortes jede nur erdenkliche Identität annehmen, so dass die Wirklichkeit als bestimmende Instanz keinerlei Relevanz besitzt. Während sich Juliette beim Rendezvous im zweiten Akt eine farbenprächtige gemeinsame Vergangenheit ausmalt, versucht Michel zunächst verzweifelt, ihr die reale Geschichte als einzig richtige zu erzählen, muss jedoch rasch einsehen, dass ein lange zurückliegender Blick durch ein offenes Fenster gegen eine gemeinsame romantische Reise nach Sevilla unmöglich bestehen kann. Obwohl er schon bald einlenkt und vor ihrer Phantasie kapituliert, ist eine Verständigung nicht möglich, denn was mit Michels Nachgiebigkeit beginnt, führt über den Spott Juliettes rasch in die pure Gewalt, wenn Michel in seiner Überforderung nur noch mit einem Schuss die Repliken der Geliebten zu erwidern weiss. Die einzigen Momente dagegen, in denen eine gegenseitige Kommunikation halbwegs zu funktionieren scheint, beschränken sich auf die mehrfach vorgebrachten Liebesbekundungen der beiden Unbekannten, die gerade bei ihrem allerersten Zusammentref- 64 Neveux, Juliette ou La Clé des songes (1927), I. Akt, 9. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 141; Martinů, Juliette (1937), I. Akt, 8. Szene, T 7 nach Z 73. 65 Neveux, Juliette ou La Clé des songes (1927), II. Akt, 5. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 167; siehe auch analoge Stelle bei Martinů, Juliette (1937), II. Akt, 6. Szene, T 1 nach Z 47. 204 fen um so erstaunlicher anmuten müssen, als sie bis zu diesem Auftritt Juliettes noch kein Wort miteinander gewechselt haben. Juliette: […] Je ne sais même pas comment vous dites: bonjour. Michel: Bonjour. Juliette: Vous dites bonjour, comme d’autres diraient: je vous aime, je vous attend. Michel: Je vous aime. Et vous? Juliette: Moi? Bonjour66. Obwohl Juliette als einzige Bewohnerin der Stadt einen Eigennamen besitzt und damit etwa im Gegensatz zum Kleinen oder Alten Araber eine Identität suggeriert, besteht ihre einzige Eigenschaft darin, keine zu haben. Während Juliette in den ersten beiden Akten als Traum gewordene Sehnsucht von Michel mehrfach auftaucht, um sogleich wieder spurlos zu verschwinden, wird sie im dritten Akt zur blossen Chiffre kollektiver Männerphantasien, verlangt es doch alle Besucher des Traumbüros nach Juliette, die je nach Neigung der Schlafenden in einer anderen Rolle aufzutreten hat. Die Eigenschaftslosigkeit der Titelheldin entpuppt sich damit als Voraussetzung für ihre Eignung zur Traumfrau, eine Rolle, die zudem durch ihre Benennung an die berüchtigte Namensvetterin bei De Sade gemahnt: Mit Juliette wird das Laster und nicht die Tugend Justines herbeigesehnt. Da sich Juliette zunehmend als Wunschtraum aller Männer erweist – was in Martinůs Libretto um so deutlicher hervortritt, als darin im Unterschied zur Vorlage bereits im zweiten Akt drei graue Herren nach der Titelheldin suchen67 – und aufgrund der eindeutigen Verweisfunktion ihres Namens auf De Sades zügellose Heldin, gelangt Goehr zum folgenreichen Schluss, dass Juliette letztlich eine vergleichbare Rolle wie die Prostituierte Jenny Smith in Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny innehabe68. Die daraus abgeleitete Vermutung kommt unweigerlich einer gesellschaftskritischen Deutung der Handlung als Abbild einer gegenseitigen Entfremdung gleich. Could it be in fact, that beneath the dream like appearance of true love, Juliette is about fetishism, collective fantasy, and modernist alienation, such that a comparison with the antibourgeois and anti-capitalistic Mahagonny now proves entirely legitimate? 69 66 Neveux, Juliette ou La Clé des songes (1927), I. Akt, 9. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 144; siehe auch analoge Stelle bei Martinů, Juliette (1937), I. Akt, 8. Szene, T 1-7 nach Z 84. 67 Martinů, Juliette (1937), II. Akt, 1. Szene. 68 Goehr, Juliette fährt nach Mahagonny (Druck in Vorbereitung). 69 Ebd. 205 Will man diese Frage mit Goehr bejahen, muss man sich Theodor W. Adornos eigenwilliger Auffassung von Surrealismus anschliessen, die sich einerseits auf Bretons Standpunkt nach dessen Annäherung an den Kommunismus stützt sowie andererseits von einem stark eingeengten Blickfeld zeugt, so dass die surrealistischen Aspekte kaum mehr mit denjenigen der 1920er Jahre in Einklang gebracht werden können70. Wenn nämlich Adorno Weills Mahagonny als die erste surrealistische Oper bewertete – und später bemerken sollte: Hat irgendein musikalisches Kunstwerk Anteil am Surrealismus, dann Bergs Lulu –, konnte er dies allein aufgrund des gesellschaftskritischen Potenzials eines Surrealismus tun, der die gegenwärtige Welt als vollumfänglich ‚falsche‘ abqualifizierte und in einer Revolution zu ersticken plante71. Mit dem ursprünglichen Ziel der Bewegung, also durch den Griff ins Unterbewusste eine ‚wahre‘ Logik und damit die Surrealität zu erlangen, haben dagegen weder Mahagonny noch Lulu etwas gemein, da die ‚kulinarische‘ ebensowenig wie Bergs Oper einen erkennbaren Ausgangspunkt für eine (utopische) Hoffnung offenbart, erschöpfen sich doch stattdessen beide in der unerbittlichen Entlarvung des negativen Ist-Zustandes: Die bürgerliche Welt wird als schon abgestorbene im Moment des Grauens präsentiert und demoliert im Skandal, in dem ihre Vergangenheit sich kundtut72. Erscheint eine surrealistische Bewertung von Mahagonny und Lulu nicht nur wegen des Kriteriums der absoluten Negativität problematisch, sondern auch aus dem Grund, dass diese in beiden Opern vollends auf eine Entzauberung der Liebe zielt, so mutet umgekehrt eine Interpretation der in Juliette dargebotenen Liebe als ‚unwahre‘ gerade deshalb wenig plausibel an, weil dem Stück eine surrealistische Haltung zugrunde liegt73. Schliesslich nahm die unerklärliche Faszination der Liebe in der surrealistischen Bewegung selbst dann einen der Revolution ebenbürtigen Stellenwert ein, als sich der Surrealismus Bretons nicht mehr mit den poetologischen Fragen der Frühphase, sondern vorwiegend mit kommunistischem Gedankengut auseinandersetzte. 70 Schubert vertritt die These, dass Adorno in den 1930er Jahren auf den Surrealismus-Begriff auswich, um Weill von seiner umfassenden Kritik an der Neuen Sachlichkeit und am Klassizismus ausnehmen zu können, indem er sich einer Surrealismus-Definition bediente, die auf einer absoluten Negativität fusste (Zitat Schubert, S. 34) und deren musikalische Ausformung durch die Verwandlung des alten geschrumpften Materials zu wirken suche (Zitat Adorno, Frankfurter Opern- und Konzertkritiken, Dezember 1928, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 19, S. 138). Siehe Schubert, Surrealismus bei Weill? (2000). 71 Adorno, Mahagonny (1930), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 17, S. 119 sowie Adorno, Rede über Alban Bergs Lulu (1960), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 18, S. 647. In einer ähnlichen Weise wie Adorno versucht auch Jarman, die absurden Aspekte in Bergs Lulu surrealistisch zu deuten; siehe Jarman, Berg’s surrealist opera (1970). 72 Adorno, Mahagonny (1930), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 17, S. 119. Vgl. auch Schubert, Surrealismus bei Weill?, S. 34. 73 Schubert, Surrealismus bei Weill? (2000), S. 34. 206 Le problème de la femme est, au monde, tout ce qu’il y a de merveilleux et de trouble. Et cela dans la mesure même où nous y ramène la foi qu’un homme non corrompu doit être capable de mettre, non seulement dans la Révolution, mais encore dans l’amour74. Das revolutionäre Potenzial, das der Liebe eignet, sollte folglich für eine Überwindung der Realität nutzbar gemacht werden und nicht die Liebe der surrealistischen Revolution zum Opfer fallen, galt diese doch gleichsam als letzter Lichtblick einer verlorenen Gesellschaft. Indem Breton Le problème de la femme mit dem ‚Wunderbaren‘ gleichsetzte, erfuhr die Liebe insofern eine bemerkenswerte Aufwertung, als sie zu einer Kraft stilisiert wurde, die aufgrund ihrer Intensität zwingend mit der Realität in Konflikt geraten musste, ein Zustand, der wiederum als geeignete Voraussetzung für die Surrealität erachtet wurde75. Die positive Wertigkeit der Liebe wurde gerade durch die Gleichsetzung mit einem der symbolträchtigsten Begriffe des Surrealismus – Le merveilleux – unwiderruflich besiegelt, denn: le merveilleux est toujours beau, n’importe quel merveilleux est beau, il n’y a même que le merveilleux qui soit beau76. Dass es sich bei einer Liebe, die von den Surrealisten propagiert wurde, jedoch keinesfalls um eine eheartige Verbindung zwischen Mann und Frau handeln konnte, liegt in Anbetracht des zu überwindenden bürgerlichen status quo auf der Hand, vermochte doch nur eine von unbewussten Kräften angetriebene Leidenschaft den herkömmlichen Rahmen zu sprengen. Es galt, die Liebe von den religiösen und sozialen Schranken zu befreien und die körperliche Anziehung wieder zu ihrem eigentlichen Ausgangspunkt zu machen, da erst eine vollständige sexuelle Freiheit eine surrealistisch relevante Liebe überhaupt möglich machen konnte, ein Zustand, der sich über die allgegenwärtige Trennung von der Erotik hinwegzusetzen hatte77. Analog zum Interesse der Surrealisten am Traum sollte durch eine entgrenzte Liebe jenseits von sittlichen Tabus der Reichtum der inneren Welt aufgedeckt werden, weshalb Breton neben Freud und Fourier auch den Marquis de Sade als grossen Entdecker des Unterbewussten propagierte78. Obwohl die sadistische Liebespraxis nahezu unmöglich mit der Idee eines vergeistigten amour fou in Einklang gebracht werden kann, spielten für die surrealistische Bewegungen beide Ausprägungen einer entgrenzten Liebe eine zentrale Rolle; die geradezu antagonistisch anmutende Opposition der vertretenen Ansätze sollte zwischen 1928 74 Breton, Second manifeste du surréalisme (1930), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 822 [Fussnote]. Vgl. Clébert, Dictionnaire du surréalisme (1996), S. 379. 76 Zitat Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 319. 77 Vgl. Péret, Anthologie de l’amour sublime (1956). 78 Vgl. Bezzola/Pfister/Zweifel, Sade surreal (2001); Clébert, Dictionnaire du surréalisme (1996), S. 533-535. 75 207 und 1932 sogar zu insgesamt zwölf Sitzungen über eine Definition der surrealistische Erotik Anlass geben79. Nicht das unbestritten revolutionäre Moment von De Sades Erotik, sondern die absolute Grenzenlosigkeit bildete hierbei den Zankapfel, denn während die rein fleischliche Beziehung in Bretons Augen eine geistige Bewusstseinserweiterung durch einen amour sublime ausschliessen musste, erkannte etwa Aragon auch in der Pornographie sowie der Pädophilie ein surrealistisches Potenzial80. Obwohl Breton vergleichsweise prüde Ansichten vertrat, zollte er De Sade – pour qui la liberté des mœurs à été une question de vie ou de mort – uneingeschränkt Respekt, was sich als latenter Widerspruch darin auflösen lässt, dass der Marquis nicht mehr wie in der Rezeption durch den Dadaismus als Verkörperung eines kannibalistischen Nihilismus gesehen wurde, sondern zum Sinnbild einer aus revolutionären Gründen gelebten Erotik avancierte81. Der immanente Widerspruch in der Auffassung einer surrealistischen Liebe spiegelt sich nicht zuletzt in Juliette, ist doch die darin ersehnte Liebe genau auf der Grenze zwischen einer animalisch sadistischen und einer intellektuellen angesiedelt, ein schmaler Grat, der allein die beiden Ausformungen zu vereinen vermag. Während einerseits die symbolische Bedeutung des Namens Juliette sowie die Darstellung der Titelheldin als erotischer Männertraum eindeutig an den Mythos der sadistischen Liebe anknüpfen, so nimmt andererseits die Art der Beziehung zwischen Juliette und Michel in mehreren Punkten Bretons Überlegungen zum amour fou gleichsam vorweg82. Dies betrifft in erster Linie die Idee der ‚konvulsivischen‘ Schönheit – La beauté convulsive –, eine Schönheit, die nur im Augenblick ihrer Offenbarung existiert, weshalb sie zwar keineswegs absolut gesehen schön ist, jedoch als überwältigendes Moment des merveilleux in die surrealistische Sphäre verweist83. Während Juliette dem Anspruch der ‚konvulsivischen‘, also unvorhersehbaren und kurzfristigen Materialisierung insofern entspricht, als sie überraschend auftritt, um sich ihrem Gegenüber jeweils viel zu früh wieder zu entziehen, so bietet andererseits ihre Eigenschaftslosigkeit die ideale Projektionsfläche für einen amour fou. Schliesslich ist diese direkt mit der Fähigkeit ver- 79 Das Protokoll der ersten Sitzung wurde veröffentlicht unter dem Titel Recherches sur la sexualité, in: La Révolution surréaliste, 4 (1928), H. 11, S. 32-40. Siehe auch Vincent Gilles, Si vous aimez l’amour… , in: Riottot El-Habib/Gille, Le surréalisme et l’amour (1997), S. 15-73 sowie Clébert, Dictionnaire du surréalisme (1996), S. 252. 80 Vgl. u.a. Aragon, Le Libertinage (1924), in: Ders., Œuvres romanesques complètes S. 251-286; Recherches sur la sexualité, in: La Révolution surréaliste, 4 (1928), H. 11, S. 32-40. 81 Zitat Breton, Recherches sur la sexualité, in: La Révolution surréaliste, 4 (1928), H. 11, S. 33. Zur Rezeption De Sades durch die Surrealisten siehe u.a. Bezzola/Pfister/Zweifel, Sade surreal (2001) sowie Clébert, Dictionnaire du surréalisme (1996), S. 533-535. 82 Vgl. Breton, L’Amour fou (1937), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 673-785. 83 Ebd., S. 680-687. 208 knüpft, jede erwünschte Identität anzunehmen, weshalb Juliette im Grunde alle Frauen in sich vereint, das Weibliche an sich verkörpernd84. Juliette ist das Symbol der Sehnsucht, sämtliche Frauen im Stück heissen Juliette, und alle suchen nach diesem einen Namen. Ist es immer ein und dieselbe Juliette?85 Im Augenblick ihres Erscheinens offenbart sie sich als perfekte Geliebte, die dem image souriante du passé eines jeden Mannes entspricht, indem sie sämtliche Vorstellungen zu erfüllen vermag, deren Ursprung zwar sexueller Natur ist, die sich jedoch ausschliesslich auf der geistigen Ebene abspielen86. Der amour fou erweist sich damit als intellektuelles Erlebnis, dessen erotischer Auslöser als blosse Momentaufnahme aufblitzt und letztlich den surrealistisch relevanten Konflikt transportiert: La beauté convulsive sera érotique-voilée, explosantefixe, magique-circonstancielle ou ne sera pas87. Gerade weil die in Juliette dargestellte Liebe in unmittelbarer Nähe zum amour fou und damit im geistigen Bereich angesiedelt ist, kann sie nur schwerlich mit der käuflichen Liebe in Mahagonny gleichgesetzt werden, denn während Jenny als individuelle Person ihren Körper verkauft, ist Juliette nichts anderes als ein kollektives Symbol für die erotische Frau schlechthin. Die symbolische Funktion der Titelheldin tritt nicht zuletzt dann deutlich zutage, wenn sie sich weigert, Michel ihren Namen zu nennen, und er sie dennoch unbeirrt Juliette nennt – er orientiert sich dabei ausschliesslich an den fremden sehnsuchtsvollen Männern, erkennt er doch in deren Wunschobjekt auch seine flüchtige Geliebte88. Verortet ist diese Liebe in der Nacht des Traumes, infolgedessen sie nicht der Wirklichkeit des Tages Eingang zugeführt werden kann, sondern in der Gestalt des Symbols Juliette auf die Rückkehr der Träumenden warten muss, ganz dem Inhalt ihres Liedes entsprechend: Mes amours, elles sont parties cette nuit sous la grande voile, reviendront-elles des colonies comme revient la belle étoile? Wie wenig der amour fou mit dem realen Leben vereinbar ist, zeigt sich insofern exemplarisch in Michels krisengebeutelter nächtlicher ‚Rückkehr‘ zu seiner Traumfrau, als er mit seiner rationalistischen Logik dem eigenen Traum nicht gerecht zu werden vermag. 84 Vgl. Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967), S. 284: […] Juliette, unique dispensatrice de tous les biens, la femme. 85 Zitat Martinů, Poznámky k Juliette [Anmerkungen zu Juliette] (1938), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 276. 86 Zitat Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967), S. 284. 87 Zitat Breton, L’Amour fou (1937), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 687. Zum amour fou siehe u.a. Guy Rosolato, L’Amour fou, in: Chénieux-Gendron, Du Surréalisme et du Plaisir (1987), S. 125-136. 88 Neveux, Juliette ou La Clé des songes (1927), II. Akt, 5. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 160; siehe auch analoge Stelle bei Martinů, Juliette (1937), II. Akt, 5. Szene, T 1-5 nach Z 28. 209 Das ganze Spiel ist ein verzweifelter Kampf, sich an etwas Stabiles, Konkretes anlehnen zu können, an das Gedächtnis, das Bewusstsein, welches jeden Augenblick unterbrochen und in eine tragische Situation gewendet wird, in der Michel um die eigene Stabilität kämpft [...] 89. Obwohl dem Protagonisten wegen seines alltagsgeprüften Verstandes in den ersten beiden Akten ein beglückendes Wiedersehen mit Juliette verwehrt bleibt und er auf dem Höhepunkt der Krise sogar auf sie schiesst, um sie am Ende des zweiten Aktes bereits wieder vergessen zu haben, erscheint ihm die Liebe im entscheidenden Augenblick dennoch bedeutender als das wirkliche Leben ‚vernünftiger‘ Menschen. Mit Michels unbedingtem Verlangen nach Juliette findet im dritten Akt die eigentliche surrealistische Wendung des Stückes statt, ist er doch bereit, für die im surrealistischen Verständnis zwischen ‚Sadismus‘ und amour fou schwankende Liebe seinen Verstand preiszugeben, da er in ihr die einzig relevante Kraft erfährt, neben der alles andere verblassen muss – tout le reste n’est que feuille morte90. Dem surrealistischen Verständnis der époque des sommeils entsprechend, liegt es durchaus nahe, die Liebe im Traum und damit in der Surrealität des Unterbewusstseins anzusiedeln, eine Verknüpfung zweier surrealistisch relevanter Zustände, die sich in vergleichbarer Weise auch bei Aragon findet: Si vous avez aimé rien qu’une fois au monde ne me réveillez pas si vous avez aimé!91 In Martinůs Libretto kommt der Triumph der Traumwelt um so deutlicher zum Tragen, als er den letzten Akt nicht wie Neveux offen im Traumbüro enden lässt, sondern den Helden wieder in die Kleinstadt des Beginns zurückführt, womit die Entscheidung Michels für die Liebe im Wahnsinn gefallen ist. Ursprünglich hatte Neveux sogar geplant, Juliette nach dem zweiten Akt enden zu lassen, und verfasste den letzten Teil schliesslich nur deshalb, um das Stück aufführbar zu machen, dies jedoch in der Hoffnung, dass die beiden ersten Akte unabhängig vom dritten gespielt würden92. Auf der formalen Ebene hätte dies die surrealistisch gefärbte Inkohärenz der aneinandergereihten Situationen ohne die explizite Erkenntnis, 89 Martinů, Juliette ou La Clé des songes, [Vorwort zum Klavierauszug] (1947), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 253. 90 Zitat Aragon, Le Libertinage (Préface; 1924), in: Ders., Œuvres romanesques complètes, S. 272. 91 Aragon, La Défense de l’infini (Fragmente, 1923-1927), in: Ders., Œuvres romanesques complètes, S. 438. Vgl. auch Eluard, der das wahre Leben genau deshalb im Traum findet, weil die erstrebenswerte Liebe allein dort angesiedelt sei – Le plus grand jour de ma vie, toujours. Eluard, Dors (1931), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 360. 92 Siehe Neveux, Lettre en guise de préface (1930), in: Ders., Théâtre, S. 113: L’histoire de ‚Juliette‘ s’achève avec le départ de Michel sur le bateau. L’acte du Bureau Central des Rêves n’a été ajouté que pour rendre la pièce jouable, comme on verse un colorant sur un précipité pour le rendre visible. Mais si ‚Juliette’ devait être rejouée un jour, j’aimerais que ce fût en deux pièces distinctes, l’une en deux actes – les deux premiers – l’autre en un acte – le dernier. Siehe hierzu auch Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967), S. 282 f.; Pronko, Georges Neveux (1963), S. 247; Jean-Michel Brèque, Juliette, ou le rêve à tout prix, in: L’Avant-Scène Opéra 210 (2002), S. 113. 210 dass es sich um einen Traum handelt, bewahrt, andererseits jedoch die Handlung mit der fluchtartigen Abreise des Protagonisten aus der Traumwelt enden lassen. Es war somit der Komponist und nicht der surrealistische Schriftsteller, der mit der Entscheidung Michels für den Traum auf der Handlungsebene von Juliette die Konsequenzen des Surrealismus gezogen hatte, eine Änderung, die bei Neveux auf eine derartige Begeisterung stiess, dass dieser sogar enttäuscht war, als Martinů vorübergehend an der Richtigkeit des neuen Endes zweifelte93. Obwohl der Schluss von Martinůs Juliette auf den ersten Blick suggeriert, dass die allererste Szene als Mysterium der Wiederkehr wieder aufgegriffen werde, findet sich dennoch ein entscheidender Unterschied zwischen diesen beiden Situationen94: Nur das Bühnenbild ist dasselbe geblieben, Michel dagegen hat sich verändert, denn aufgrund seiner Entscheidung für den Wahnsinn kommt es nicht mehr zu Konflikten zwischen seiner früheren rationalistischen Denkweise und der Traumlogik der Stadtbewohner. Die Oper endet schliesslich damit, dass Michel zögernd auf Juliettes Haus zugeht und eintritt, während die Stadtbewohner vor der Tür stehen bleiben, um zu lauschen, wobei alles wortlos geschieht und allein vom ‚Traummotiv‘ im Orchester umflutet wird (Notenbeispiel 56), das bereits Michels ersten Eintritt in den Traum begleitet hatte (I, 1. Szene, T 5-7 nach Z 0; siehe Notenbeispiel 59a). Notenbeispiel 56: Juliette, III. Akt, 8. Szene, T 1-8 nach Z 6395 Auch wenn ungewiss bleibt, ob die ‚konvulsivische‘ Geliebte durch den Wahnsinn greifbar wird, so ist Michel mit seinem ungestörten Eintritt in Juliettes Haus ungleich weiter gekommen, als es ihm zuvor mit seinem logischen Verstand möglich gewesen war. Was jedoch von der rationalistischen Warte aus zwingend als Verrücktheit grauer Gestalten anmuten muss, die vermeintlich ziellos im Traumbüro umherwandeln (III. Akt, 7. Szene), kann unter surrealistischen Gesichtspunkten als konsequente Hinwendung zur Innenwelt durch eine kompromiss93 Siehe Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 23. Oktober 1937 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 259: Neveux bedauert sehr, dass wir „meinen“ Schluss auslassen wollen, aber ich bin von der Richtigkeit der Idee nicht mehr so sehr überzeugt. 94 Zitat Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 311. Vgl. auch Panagel, Lebenstrauma – Traumwelt (Druck in Vorbereitung), S. 351; Goehr, Juliette fährt nach Mahagonny (Druck in Vorbereitung); Stöck, Zu Bohuslav Martinůs Opernschaffen (1996), S. 142. 95 Deutsche Übersetzung: Szenenanweisung: Das Mansardenfenster wird erleuchtet, und hinter der Bühne erklingt das Akkordeon. Während dessen Spiel tauchen wie Puppen die beiden Marktfrauen, der Mann mit dem Helm und die übrigen Stadtbewohner auf und nähern sich neugierig. [Z 63] Michel zögert, geht langsam auf das Haus zu und tritt ein. Die Marktfrauen und der Mann mit dem Helm kommen rasch näher, sie scheinen an der Tür zu lauschen. Die beiden Araber bleiben unbeweglich stehen. Die Bühne verdunkelt sich allmählich, und der VORHANG fällt. 211 lose Imagination gedeutet werden. Schliesslich spielte der Tod auf der Suche nach der Surrealität genauso wenig eine Rolle, wie der Wahnsinn davor abzuschrecken vermochte, sich der Vorstellungskraft hinzugeben: Ce n’est pas la crainte de la folie qui nous forcera à laisser en berne le drapeau de l’imagination96. Infolgedessen lässt sich zwar das Geschehen als das ewige Mysterium von Liebe und Tod, Eros und Thanatos deuten, wobei jedoch das ganze Gewicht auf Eros zu legen und Thanatos als unbedeutende Nebenerscheinung mitzutragen ist97. Vor diesem Hintergrund fällt Michels Realitätsverlust kaum ins Gewicht, eröffnet sich ihm doch erst dadurch die Hoffnung auf einen an sich paradoxen dauerhaften amour fou, eine surrealistische Liebe, die bereits durch ihre Benennung unmissverständlich klarstellt, dass sie ausschliesslich in der Irrationalität der folie existiert98. Das verrückte Moment des amour fou spielte nicht zuletzt eine zentrale Rolle in Bretons Plänen zur Schaffung moderner Mythen, die in der Art eines kollektiven Wahnsinns das Urmenschliche zum Ausdruck bringen sollten und in dieser Form auch von Neveux angestrebt wurden, nämlich im Bewusstsein, dass des mythes et des légendes [...] dorment depuis des millénaires au fond de nous et ne demandent qu’à se réveiller, à éclater en images99. Analog dazu liegt es nahe, Juliette mit dem von Breton als amour fou deklarierten, sexuell motivierten Mythos zu identifizieren, erweist sie sich doch spätestens durch ihre Allgegenwart in den Männerphantasien des dritten Aktes als das Urweibliche100. Gleichermassen aufgrund der mythologischen Dimension der Titelheldin als auch wegen der positiven Auffassung der folie als mögliche Existenzform des Surrealismus ist eine 96 Vgl. Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 319. Eluard pries den Tod gar als erstrebenswerten Zustand: Ceux qui meurent sont légers, ils s’étendent et ne peuvent plus tomber. Pour dire qu’ils sont comme le vent du nuage… […] dans une absence de sang, quel bonheur! Eluard, Les Nésessités de la vie (1921), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 82. Zitat Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 313. 97 Zitat Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 297. 98 Analog dazu erkannte auch Eluard die Liebe im Traum als eine zeitlich unbegrenzte: [...] un amour qui n’est pas nouveau, mais éternel. Eluard, Dors (1931), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 359. 99 Zitat Neveux, zitiert nach Bordaz, Georges Neveux et Vidocq (1971), S. 616. Zur Rolle des Mythos in Bretons Konzeption des amour fou siehe u.a. Guy Rosolato, L’Amour fou, in: Chénieux-Gendron, Du Surréalisme et du Plaisir (1987), S. 132, 136. 100 Vor dem Hintergrund der mit surrealistischem Gedankengut durchdrungenen Handlung von Juliette erscheint Brées Beschreibung von Neveux’ Theater, worunter sie sämtliche Stücke subsumiert, wenig überzeugend, stützt sie sich doch ausschliesslich auf die äussere Erscheinungsform, nicht aber auf die mithilfe traditioneller Mittel transportierte surrealistische Aussage. Neuveux’ Theater sei […] a theatre which makes no claims: no claim to „engagement“ of any kind, metaphysical, philosophical or political; no claim to being anything but theatre, a game played according to its own rules and patterns, on a stage, before a public. Brée, Georges Neveux (1954), S. 65. Dass Neveux selbst bei seinen späteren Theaterstücken bestrebt war, gesellschaftlich relevante Themen aufzugreifen, liegt in Anbetracht seiner eigenen Aussage auf der Hand: C’est que mon ambition est toujours de parler sans gravité des choses graves et que je suis persuadé, comme un grand moraliste de notre temps, qu’il faut prendre la vie au tragique, mais jamais au sérieux. Neveux, in: L’AvantScène 239 (15. März 1961), S. 7. 212 Deutung von Juliette als destruktives Symbol – a modernist figure of death and anonymity – unmöglich mit der surrealistischen Grundhaltung vereinbar, sondern zeugt vielmehr von einer wirklichkeitsverhafteten ‚realistischen‘ Wertung101. Genau diesen Realismus des Wachzustandes, der auch das Denken des Publikums bestimmte, galt es nun aber im Geiste Artauds mit Hilfe einer opération magique zu erschüttern, was sich in Juliette darin niederschlug, dass auf der Bühne eine Traumrealität verwirklicht wurde, die während zweier Akte in ständigem Widerspruch zur rationalen Logik – mit Michel als deren Stellvertreter – steht102. Indem sich Michel im dritten Akt jedoch für den Wahnsinn entscheidet, offenbart sich das irrationale Dasein endgültig als erstrebenswerte Gegenwelt, die allein den amour fou in Form eines endlosen intellektuellen Traumes von einer sadistischen Liebe ermöglicht, weshalb das Ende keiner Katastrophe gleichkommt, sondern vielmehr einem surrealistischen Glücksfall103. Die Provokation von Juliette liegt folglich nicht in der Darstellung dessen, dass die Entfremdung in der kapitalistischen Gesellschaft die Liebe zu einer egoistisch sadistischen hat verkommen lassen, sondern im Gegenteil darin, dass die grenzenlose Liebespraxis eines surrealistisch verklärten De Sade zum Ideal erhoben wird. In diesem Sinne muss auch Goehrs Deutung der syntaktischen Analogie zwischen Juliette ou La Clé du songe und De Sades Juliette ou La Prosperité du vice als Hinweis auf eine identische Verkommenheit der dargestellten Liebe dahingehend positiv gewendet werden, als das ‚nutzbringende Laster‘ des Marquis mit Neveux’ ‚Traumschlüssel‘ gleichzusetzen ist und damit als Instrument par excellence erscheint, das allein das Tor zur Surrealität aufzuschliessen vermag104. 101 Vgl. Goehr, Juliette fährt nach Mahagonny (Druck in Vorbereitung): However, it is a destructive and elusive agency [of Juliette], because the way it lures Michel deeper and deeper into his dream, and finally to his madness or death, depends on its being made devoid of personality and identity. This is the key to my reading of ‚Juliette‘, how Juliette is made the figure of a courtesan, and how, in this figuration, she comes to symbolize a modernist figure of death and anonymity, and a figure, paradoxically, lacking the character Jenny still has. 102 Zitat Artaud, ‚Le Théâtre Alfred Jarry‘ (1928), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 35. 103 Zitat Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 312. 104 Vgl. Goehr, Juliette fährt nach Mahagonny (Druck in Vorbereitung). 213 MUSIKALISCHER SURREALISMUS? Obwohl das Problem eines Surrealismus auf der Bühne zu unüberbrückbaren Spannungen zwischen den Theaterschaffenden und Breton geführt hatte, so konnte das Haupt der Gruppe zumindest selbst auf eine Theatervergangenheit zurückblicken, was ein gewisses Mass an Akzeptanz erahnen lässt, das bei der Frage nach einer surrealistischen Musik dagegen keineswegs gegeben war. Breton hatte nicht nur kein Interesse an Musik, es fehlte ihm sogar die Fähigkeit, selbst die einfachsten musikalischen Zusammenhänge hörend zu erfassen105. Il [Breton] m’a déclaré: „Je ne sais pas reconnaître la différence entre deux sons. Pour moi, les rapports entre les sons, qui constituent la musique m’échappent totalement.“ C’est un cas bien connu […] qui s’appelle l’amusique comme on dit l’aphasie. Breton est atteint d’amusique106. Inwiefern Bretons Desinteresse für Musik pathologischer Natur war, ist hierbei weniger von Interesse, als vielmehr die Auswirkungen, die dieses Unverständnis für jegliche Ausformung eines musikalischen Surrealismus mit sich bringen musste. Kein Wunder, dass sich die französischen Surrealisten in Anlehnung an ihre Leitfigur allesamt gegen Musik wandten107. Ohne genauer auf die Frage nach dem Wesen der Musik an sich einzugehen, zeichnen sich die diesbezüglichen Äusserungen der Surrealisten um Breton sowohl durch eine überraschende Vehemenz als auch durch ein hohes Mass an Emotionalität aus, die etwa in Aragons Aussage l’amour m’intéresse plus que la musique deutlich zutage tritt108. Musik wird jedoch nicht nur aus purem Desinteresse abgelehnt, sondern sogar als destruktiv für die surrealistische Gedankenwelt erachtet, indem sie die Liebe und damit das zentrale Moment des merveilleux zerstöre, eine Denkfigur, die sich in dieser radikalen Ausprägung in Eluards vielzitierter Formulierung wiederfindet: Je n’aime pas la musique, tout ce piano me prend tout ce que j’aime109. Dennoch liegt es nahe, in der allgemeinen Ablehnung von Musik eine geradezu bedingungslose Loyalität der Pariser Mitglieder zu sehen, die sich zwar grundsätzlich Bretons Verdikt fügten, jedoch verschiedentlich in mehr oder weniger direkter Weise an musikali- 105 Siehe auch Breton, La Clé des champs (1953), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 3, S. 731: […] mon ignorance absolue des lois de la composition musicale […]. 106 Souris, Paul Nougé et ses complices, in: Alquié, Entretiens sur le surréalisme (1968), S. 526. 107 Vgl. Bonnefoy, Le Surréalisme et la musique, in: Ders., Entretiens sur la poésie (1972-1990) (1990), S. 162. 108 Aragon, Le Libertinage (Préface; 1924), in: Ders., Œuvres romanesques complètes, S. 272. 109 Eluard, Les Nécessités de la vie et les conséquences des rêves (1921), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 77. 214 schen Projekten beteiligt waren, wie ausgerechnet Eluard, der einerseits die musikalische Ausdrucksform verdammte und andererseits mehrere seiner Texte Francis Poulenc zur Vertonung überliess110. Neben Bretons musikalischer Taubheit scheint dem Interesse der Pariser Gruppe an einem musikalischen Surrealismus auch die Orientierung zahlreicher zeitgenössischer französischer Komponisten an Jean Cocteau im Wege gestanden zu haben, galt dieser doch als einer der verachtungswürdigsten Dichter111. Der verpönte Schriftsteller hatte insofern der surrealistischen Bewegung sogar zu deren Namen verholfen, als Apollinaire in seiner legendären Vorankündigung der Uraufführung von Parade das von Cocteau initiierte ballet réaliste zum Ausdruck eines überhöhten Realismus – une sorte de sur-réalisme – ernannt und dabei bezeichnenderweise die Leistungen aller Beteiligten bis auf den totgeschwiegenen Dichter hervorgehoben hatte112. Hatte er in seinem Kommentar zu Parade den diagnostizierten Surrealismus durch das vorbereitende une sorte sowie den Bindestrich bei sur-réalisme gleich doppelt relativiert, so verfasste Apollinaire kurz darauf mit Les Mamelles de Tirésias das erste als solches bezeichnete drame surréaliste – vermutlich primär als Überhöhung eines blossen ballet réaliste und damit als Spitze gegen Cocteau gedacht113. Da aber bereits zur Zeit von Apollinaire und folglich vor der ‚offiziellen‘ Entstehung von Bretons Surrealismus das Stadium Cocteaus als überwunden gegolten hatte, konnte es unmöglich im Sinn der Gruppe sein, mit den Komponisten aus dem Umkreis des ‚Groupe des Six‘ den Antipoden gleichsam durch die Hintertür hereinzubitten. Indem sich die betreffenden Komponisten dem Ruf des faux poète notoire nach einer musique française de France anschlossen, gerieten sie zusammen mit Cocteau unter einen Kunst-Verdacht, der das durch Bretons ‚Taubheit‘ vorgegebene Desinteresse an Musik unweigerlich ins Negative wenden musste114. 110 Neben einzelnen Liedern verfasste Francis Poulenc vier Liederzyklen auf Texte von Paul Eluard: Tel jour, telle nuit (1937), Miroirs brûlants (1939), La fraîcheur et le feu (1950) und Le travail du peintre (1956). Vgl. Arfouilloux, La Partition surréaliste (1999), S. 56. 111 Vgl. Wangermée, Surréalisme et musique à Paris et à Bruxelles (1997), S. 308 f. sowie Arfouilloux, La Partition surréaliste (1999), S. 54. 112 Apollinaire, [Parade] (1917), in: Ders., Œuvres en prose complètes, S. 865: De cette alliance nouvelle, car jusqu’ici les décors et les costumes, d’une part, la chorégraphie, d’autre part, n’avaient entre eux qu’un lien factice, il est résulté, dans „Parade“, une sorte de sur-réalisme où je vois le point de départ d’une série de manifestations de cet esprit nouveau, qui, trouvant aujourd’hui l’occasion de se montrer, ne manquera pas de séduire l’élite et se promet de modifier de fond en comble les arts et les mœurs dans l’allégresse universelle […]. 113 Zur Bezeichnung von Les Mamelles de Tirésias als drame surréaliste, siehe u.a. Pierre Albert-Birot, Les Mamelles de Tirésias, in: Adéma, Guillaume Apollinaire (1946), S. 47. Vgl. Grimm, Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895-1930 (1982), S. 110 f. 114 Zitat Cocteau, Le Coq et l’arlequin (1918), S. 58. Zur Gleichsetzung des faux poète mit Cocteau siehe Arfouilloux, La Partition surréaliste (1999), S. 54. Zur Kritik an Cocteau siehe auch Breton, Les Pas perdus (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 265. 215 Si certains seulement se montrent violemment hostiles à la musique, donnent à son propos des signes d’agressivité, bien d’autres n’éprouvent pour elle que de l’indifférence ou ne lui marquent qu’une sorte de complaisance polie, que je n’ai guère vu aller jusqu’à s’instruire de ses problèmes actuels et se passionner pour eux, à l’inverse de ce qui s’est produit pour la peinture. Cette défaveur, dans les vingt dernières années, s’accentuait peut-être encore du fait qu’à Paris la cause de la musique moderne avait quelque temps admis pour champion un faux poète notoire, autrement dit un de ces versificateurs à qui il échoit inexorablement d’abaisser au lieu d’élever tout ce qu’il touche et qui, par définition, ne peut être que rebelle à tout arrangement harmonieux des mots115. Die nach aussen getragene Verachtung der Musik durch die französischen Surrealisten führte schliesslich dazu, dass in Paris keine Musiker im engeren Kreis der surrealistischen Gruppe vertreten waren, oder mit den Worten Man Rays: The Surrealists disapproved of music – there were no musicians in the group – since they were considered of an inferior mentality116. Damit unterschied sich die Pariser Gruppe grundsätzlich von derjenigen in Prag, die zumindest eine kleine musikalische Minderheit – in der Person des Komponisten Jaroslav Ježek – aufzuweisen hatte, und hauptsächlich von der surrealistischen Vereinigung in Brüssel, wo neben Paul Hooreman und E. L. T. Mesens auch André Souris über Jahre hinweg der Bewegung angehörte117. Anders als in Paris kam der Musik in der ebenfalls im November 1924 gegründeten Brüsseler Gruppe – namens Correspondance – eine gewichtige Rolle zu, was einerseits durch das Interesse der Leitfigur Paul Nougé an einer musikalischen Ausformung des Surrealismus bedingt war, als auch auf die aktive Mitgliedschaft der genannten Komponisten zurückzuführen ist, wobei die folgenreichsten Beiträge zweifellos von Souris stammten118. Dabei lag dem Komponisten keinesfalls daran, eine neue Kunstrichtung zu definieren – L’avènement d’un art nouveau ne nous préoccupe guère –, vielmehr beabsichtigte er dem Geist der Bewegung entsprechend tatsächlich, der Surrealität als utopisches Ziel mithilfe musikalischer Mittel 115 Breton, La Clé des champs (1953), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 3, S. 729. Zitat Man Ray, Self portrait (1963), S. 175. Georges Auric wurde zwar als einziger Musiker in Bretons erstem surrealistischen Manifest von 1924 genannt, verlor jedoch sehr bald dadurch die Hochachtung der Gruppe, dass er sich verstärkt Cocteau zuwandte; indem er schliesslich zum Mitglied der ‚Legion d’honneur‘ ernannt wurde, erwies er sich endgültig als ausgesprochen ‚unsurrealistisch‘. Vgl. Christopher Schiff, Banging on the windowpane. Sound in early surrealism, in: Kahn, Wireless imagination (1992), S. 161. 117 Zu Jaroslav Ježek siehe u.a. Holzknecht, Jaroslav Ježek & Osvobozené divadlo (1957). Zu den Musikern in der Brüsseler Gruppe siehe u.a. Wangermée, André Souris et le complexe d’Orphée (1995); Wangermée, La Lyre à double tranchant (2000); Wangermée, Les Musiciens du surréalisme bruxellois et l’esprit dada (1992); Huys, In memoriam Paul Hooreman (1978-79); Geurts-Krauss, E .L .T. Mesens (1998), S. 37-48. 118 Vgl. Wangermée, Surréalisme et musique à Paris et à Bruxelles (1997), S. 315. 116 216 einen Schritt näher zu kommen119. Der Musik wurde gleichermassen wie der Malerei und der Poesie eine gesellschaftspolitische Wirksamkeit zugetraut, die allein eine surrealistische Kunst zu rechtfertigen vermochte, eine Voraussetzung für jegliches surrealistische Tun, die von den Brüsseler Surrealisten in weitaus radikalerer Weise als von der Pariser Gruppe vertreten wurde. So unterzeichnete auch Souris die von Nougé verfasste Stellungnahme La poésie transfiguré, worin die Pariser Surrealisten aufgrund ihres Vorgehens in der Affaire Aragon aufs Schärfste kritisiert wurden, hatten sich diese doch auf eine ästhetische Absolutheit der Poesie berufen, die jegliche politische Deutung von vornherein ausschliessen musste; dies zum Zweck, Aragon – gegen dessen Willen – vor einer Verurteilung wegen eines Aufrufs zum Mord zu bewahren, den er in seinem Gedicht Front rouge mit den Worten Descendez les flics formuliert hatte120. Während einerseits die Funktion einer surrealistischen Musik mit Blick auf die revolutionäre Intention der Bewegung von Beginn an feststand, indem es in Anlehnung an jegliche surrealistischen Aktionen galt, die Gesellschaft zu verändern, so erwies es sich andererseits als ungleich schwieriger, die Frage nach den Eigenschaften einer solchen Musik schlüssig zu beantworten. Es stellte ein Charakteristikum der Brüsseler Surrealisten überhaupt dar, dass diese von der Idee einer écriture automatique Abstand nahmen, und stattdessen für eine bewusste Vorgehensweise plädierten, ohne den Zufall als konstitutives Element in die Überlegungen einzubeziehen121. Da den eruptiven Äusserungen des Unterbewusstseins in der Gruppe um Nougé keine grössere Bedeutung zukam, wurde folglich mit der Improvisation auch das annähernde musikalische Äquivalent zur écriture automatique für die Theoriebildung hinfällig, weshalb Souris weder Jazz noch Aleatorik jemals ernsthaft als Weg zu einer angestrebten surrealistischen Musik in Erwägung zog122. Auch musste in Souris’ Augen gegen eine auf dem Zufallsprinzip basierende Musik – wie sie bereits früh von Georges 119 Zitat Souris, Festival de Venise (1925), in: Wangermée, La Lyre à double tranchant, S. 131. Nougé, La poésie transfiguré (1932), in: Ders., Histoire de ne pas rire, S. 92-95. Vgl. Souris, Paul Nougé et ses complices, in: Alquié, Entretiens sur le surréalisme (1968), S. 438 f., 444-447; Wangermée, Surréalisme et musique à Paris et à Bruxelles (1997), S. 321; Bernard, Aragon, S. 17. 121 Zu den Merkmalen der surrealistischen Gruppe in Brüssel siehe u.a. Souris, Paul Nougé et ses complices, in: Alquié, Entretiens sur le surréalisme (1968), S. 439; Blampain, Le Surréalisme belge; Marcel Mariën, Der Surrealismus aus Brüsseler Sicht, in: De Croës, René Magritte und der Surrealismus in Belgien, S. 15-30; Mariën, L’Activité surréaliste en Belgique; Wangermée, André Souris et le complexe d’Orphée (1995), S. 137; Wangermée, Les Musiciens du surréalisme bruxellois et l’esprit dada (1992), S. 259; Wangermée, Surréalisme et musique à Paris et à Bruxelles (1997), S. 307. 122 Il faut rejeter l’écriture automatique; en musique, toute improvisation est automatique, dans l’élaboration sinon dans les résultats. Souris, [Notiz, Ende Juli 1931], in: Wangermée, La Lyre à double tranchant, S. 142. Dementsprechend finden sich in Souris’ Schriften, die die Frage bezüglich eines musikalischen Surrealismus betreffen, keinerlei Erwägungen, Jazz oder Aleatorik einzubeziehen. Siehe Souris Aufsätze, Briefe und Notizen zu diesem Thema, in: Wangermée, La Lyre à double tranchant (2000), S. 121-172. 120 217 Ribemont-Dessaignes und Marcel Duchamps praktiziert wurde – sprechen, dass in Anbetracht der Negation sämtlicher bislang bestimmender Parameter unweigerlich die Grenze eines im Grunde konstruktiven Surrealismus hin zum destruktiven Dadaismus überschritten worden wäre123. Obwohl der Verzicht auf eindeutig festgelegte Klangfolgen in den 1920er Jahren als latent nihilistischer Akt anmuten musste, könnte der vollständige Rückzug auf die aleatorische Kompositionsweise insofern mit Bretons Surrealismusverständnis in Einklang gebracht werden, als es sich dabei gleichsam um einen Befreiungsakt der Töne handelt, die den hierarchisch geordneten Tonraum überwinden, um zu einem irrationalen Zusammenhang zu finden. Diese Kompositionsweise entspräche gewissermassen dem angestrebten dichterischen Verfahren, wonach es galt, eine wahre Sprache dadurch zu erlangen, dass der ursprüngliche Zustand der Zeichen – à la naissance du signifiant – wieder hergestellt werden sollte, also die unmittelbare Verbindung zwischen Ferdinand de Saussures signifié und signifiant ohne die im Laufe der Zeit angehäuften Konnotationen124. Um diesen idealen Urzustand der sprachlichen Ausdrucksmittel zu erreichen, musste laut Breton das Zeichen mit dem Bezeichneten konfrontiert werden, wodurch eine Spannung erzeugt wurde, die künstlich reproduziert und verstärkt, näher an die Surrealität heranführen sollte. Aufgrund dieser durch und durch sprachtheoretisch ausgerichteten Argumentation kann es kaum erstaunen, dass die in Bretons Schriften formulierten poetologischen Überlegungen hauptsächlich auf die literarische Ebene zielten125. Auf die Malerei übertragen, bedeutete diese Anleitung zu einem surrealistischen Kunstgebrauch, dass der Maler die innere Vorstellung des Bildes mit konkreten Objekten der realen Welt zu verknüpfen hatte, eine Anforderung, die Breton in geglückter Weise etwa bei Pablo Picasso, Giorgio de Chirico oder André Masson verwirklicht sah126. Dementsprechend müssten in der Musik zwingend die Ausdrucksmittel mit der eigentlichen musikalischen Existenz konfrontiert werden, was nicht nur zu aleatorischen Experimenten führte, sondern 123 Zu Souris’ Ablehnung des Dadaismus siehe Wangermée, Les Musiciens du surréalisme bruxellois et l’esprit dada (1992), S. 267. Vgl. Mache, Surréalisme et musique, remarques et glosses, S. 47: Ce qui interdit cependant de voir en Cage le musicien surréaliste par excellence, c’est moins ce retard historique, sans gravité au fond, que le nihilisme propre à l’auteur de „Silence“, et sa personnalité plus inspirée par la sagesse du que par un fol espoir révolutionnaire. Siehe auch Wangermée, Surréalisme et musique à Paris et à Bruxelles (1997), S. 313; Vgl. De la Motte, Warum es keinen musikalischen Surrealismus geben konnte, S. 459. Zu Ribemont-Dessaignes Musikauffassung siehe auch Kapitel II, S. 82-87; 124 Zitat Breton, Du Surréalisme en ses œuvres vives (1953), in: Ders., Manifestes du surréalisme, S. 313. 125 Vgl. Bürger, Der französische Surrealismus (1996), S. 74-83. 126 Siehe Breton, Le Surréalisme et la peinture (1928/1965); Vgl. Gale, Dada & Surrealism, S. 250 f. 218 beispielsweise Mesens dazu veranlasste, Musik vom Klang zu trennen, um diese schliesslich als eigentliche Collage in die reine Bildwelt überzuführen127. Selbst wenn man im Gegensatz zu Souris die Aleatorik oder Mesens’ stumme Komposition als Ausdrucksform eines musikalischen Surrealismus gelten lassen möchte, kann man sich keineswegs der grundsätzlichen zeichentheoretischen Unterschiede zwischen Musik und Surrealismus entziehen. Da diese auf einer ungleich ausgeprägten Determination fussen, lassen sie einen musikalischen Surrealismus im Geiste Bretons a priori zum Problem werden. Die eingeschränkte Tauglichkeit für surrealistische Zwecke resultiert daraus, dass der Musik eine Gegenstandslosigkeit eignet – la musique, c’est l’indéterminé –, die dem objektbezogenen Ausgangspunkt der surrealistischen Poetologie zuwiderläuft128. Schliesslich galt es gemäss der surrealistischen Zielsetzung, jegliche rationale Logik zugunsten einer irrationalen aufzugeben, weshalb der eigentliche Ausgangspunkt für die Surrealität allein in den Gegenständen sowie den ‚ursprünglichen‘ Zeichen, die diese bezeichneten, nicht aber in irgendwelchen Zusammenhängen zwischen den Objekten zu finden war. Um jedoch überhaupt neue Relationen zwischen den einzelnen Zeichen provozieren zu können, war es unabdingbar, deren Wiedererkennung auch ohne ein sinnstiftendes Umfeld jederzeit zu gewährleisten. Ein derart definierter Surrealismus musste folglich zwingend auf eine Objektwelt zurückgreifen, eine Bedingung, die einerseits die Schriftsteller mit sprachlich evozierten Bildern zu erfüllen suchten und der andererseits die Bildenden Künstler mit den ihnen angestammten Techniken in geradezu idealer Weise entsprachen. Gerade wegen ihrer Fähigkeit, in eindeutiger Weise ikonische Zeichen zu erzeugen, war insbesondere die Malerei für ein surrealistisches Vorgehen prädestiniert, konnten darin doch Gegenstände zerlegt und neu zusammengesetzt abgebildet werden, wobei die einzelnen Teile klar erkennbar blieben, ohne dass das ursprüngliche Objekt als solches noch vorhanden gewesen wäre. A ces divers degrés de sensations correspondent des réalisations spirituelles assez précises et assez distinctes pour qu’il me soit permis d’accorder à l’expression plastique une valeur que par contre je ne cesserai de refuser à l’expression musicale, celle-ci de toutes la plus profondément confusionnelle. En effet, les images auditives le cèdent aux images visuelles non 127 Zu E. T. L. (Edouard Léon Théodor) Mesens siehe u.a. Wangermée, Moi, je suis musicien; Wangermée, André Souris et le complexe d’Orphée (1995), S. 53 f.; Kelly, E. L. T. Mesens renouncement of music; De la Motte, Handbuch der Musikpsychologie (1996), S. 130 f. sowie Geurts-Krauss, E .L. T. Mesens, S. 37-48. 128 Breton, [Interview durch Alfred H. Barr] (um 1940), zitiert nach Clébert, Dictionnaire du Surréalisme (1996), S. 393. 219 seulement en netteté, mais encore en rigueur et, n’en déplaise à quelques mélomanes, elles ne sont pas faites pour fortifier l’idée de la grandeur humaine. Que la nuit continue donc à tomber sur l’orchestre et qu’on me laisse, moi qui cherche encore quelque chose au monde, qu’on me laisse les yeux ouverts, les yeux fermés – il fait grand jour – à ma contemplation silencieuse129. In Anbetracht ihrer für Bretons Surrealismus ungenügenden Eignung, eindeutige Bilder zu erzeugen, die eine Verankerung in der gegenständlichen Welt gewährleisten würden, konnte die musikalische Ausdrucksform im Pariser Surrealismus niemals denselben Stellenwert einnehmen wie die sprachliche oder visuelle, erschien die Musik – zumal für den ‚tauben‘ Breton – doch als la plus profondément confusionnelle aller Künste. Sogar Souris, der selbst nach seinem Rauswurf aus der belgischen Gruppe den musikalischen Surrealismus vehement vertrat, hat viele Jahre später Bretons Verdikt hinsichtlich der Unmöglichkeit eines musikalischen Surrealismus bestätigt130. Ob man Souris’ pointierte Absage an einen musikalischen Surrealismus als Verbitterung darüber deuten will, dass er wegen seiner Entscheidung für eine künstlerische Karriere als Kapellmeister aus der Bewegung ausgeschlossen worden war, oder aber mit Wangermée als einen der vielen Anlässe, bei denen der Komponist seinen Gesprächspartner verblüffen wollte, so schwingt in jedem Fall eine Resignation mit, die letztlich den Versuch, mithilfe von Musik surrealistische Ziele zu erreichen, für gescheitert erklärte131. En effet, puisqu’il n’y a pas de musique surréaliste, c’est qu’il ne devait pas y en avoir! Le fait de s’interroger là-dessus aujourd’hui relève, à mes yeux, d’une curiosité naïve, pour ne pas dire primaire. On pourrait tout aussi bien décréter qu’il y a une cuisine surréaliste, ou des guides de chemin de fer surréaliste… Pourquoi diable vouloir à toute force qu’il y ait une musique surréaliste? 132 Diesem apodiktischen Urteil zum Trotz hatte Souris während Jahren versucht, eine revolutionär wirksame, surrealistische Musik zu definieren, wobei er gerade deshalb auf die Verfahren der Literatur und der Bildenden Künste zurückgreifen musste, weil er die écriture automatique verwarf. Analog zur Vorgehensweise dieser Künste galt es, die unabdingbaren determinierten Zeichen in der Musik aufzuspüren, was letztlich auf Symbole – sei es ein 129 Breton, Le Surréalisme et la peinture (1928/1965), S. 1 f. Vgl. u.a. Clébert, Dictionnaire du Surréalisme (1996), S. 393. 131 Wangermée, La Lyre à double tranchant (2000), S. 171 [Fussnote]. Zu Souris Karriere als Kapellmeister des I.N.R. (Institut national de radiodiffusion) ab 1937 siehe Wangermée, André Souris et le complexe d’Orphée (1995), S. 197-201. 132 Zitat Souris (1976), in: Wangermée, La Lyre à double tranchant, S. 171. 130 220 Trauermarsch oder ein Walzer – oder auf die wenigen musikalischen Ikone – in Form von Lautmalereien – hinauslaufen musste. Um selbst nach der surrealistischen Manipulation der Zeichen den Erkennungseffekt der Versatzstücke zu gewährleisten, müssen die musikalischen Symbole als solche erkennbar bleiben, ist es doch unmöglich, die Bedeutung eines unbekannten Symbols zu erraten, da dieses im Unterschied zum Ikon in keinem erkennbaren Zusammenhang zum Bezeichneten steht. Es liegt auf der Hand, dass für einen musikalischen Surrealismus die beschränkte Zahl der determinierten musikalischen Zeichen ein grundsätzliches Problem darstellt, das sich jedoch dahingehend abschwächen lässt, als sich über die Symbole hinaus ebenso die Volksmusik wie Stile vergangener Zeiten als Stellvertreter einer bekannten Wirklichkeit für ein verfremdendes Verfahren anbieten. In Anlehnung an die von Nougé propagierte Gleichwertigkeit der verschiedenen Künste – bis hin zu deren Austauschbarkeit –, erkannte Souris in einer Fuge von Bach ebenso eine stellvertretende Realität, wie Magritte das Abbild eines Menschen als manipulierbare Wirklichkeit heranzog133. A vrai dire, je ne pense pas qu’il y ait de différence spécifique, du point de vue surréaliste, entre les problèmes qui se posent à la poésie, à la peinture et à la musique. Il faut considérer tous les arts comme des possibilités de manœuvre vis-à-vis des objets134. In Anlehnung an Magritte und an Nougé suchte Souris in der Musik nach allgemeinverständlichen lieux communs, denen durchaus eine realistische Banalität anhaften sollte, die es durch eine unerwartete Manipulation des Bekannten zu überwinden galt, hin zu einer surrealistischen Magie135. Indem Souris alle bekannten Ausdrucksformen der Musikgeschichte zu potenziellen lieux communs ernannte, erreichte er eine ungleich vielseitigere Ausgangslage, als sie mit einer ausschliesslich an der sprachlichen Zeichentheorie orientierten musikalischen Realität denkbar gewesen wäre, was allein dadurch möglich wurde, dass er die historischen Konventionen der Musik letztlich zu Objekten erklärte, die es gemäss der Auffassung von 133 Nougé, André Souris (1928), in: Ders., Histoire de ne pas rire, S. 56: Mais il reste cependant qu’à l’heure présente, les mots, les couleurs, les sons et les formes, quelque humiliation qu’ils aient à subir, nous ne pouvons encore leur refuser la chance d’une mystérieuse et solenelle affectation. Ainsi se justifierait la musique d’André Souris, la peinture de René Magritte ou la poésie de Camille Goemans, aujourd’hui musicien, peintre ou poète, mais demain peut-être…. Vgl. Souris, Discussion générale, in: Alquié, Entretiens sur le surréalisme (1968), S. 527. 134 Zitat Souris, Paul Nougé et ses complices, in: Alquié, Entretiens sur le surréalisme (1968), S. 454. 135 Vgl. Souris, Discussion générale, in: Alquié, Entretiens sur le surréalisme (1968), S. 526 f. sowie Wangermée, André Souris et le complexe d’Orphée (1995), S. 139 f. Zur Bedeutung des Banalen im Schaffen René Magrittes siehe u.a. Schiebler, Die Kunsttheorie René Magrittes (1981), S. 75-84. Zur Rolle Magrittes im Brüsseler Surrealismus vgl. Nougé, Histoire de ne pas rire (1980), S. 213-296. 221 Kunst als einem manœuvre vis-à-vis des objets zu verändern galt136. Einerseits legitimierte Souris seine um tradierte musikalische Idiome erweiterte Ausgangslage dadurch, dass er diese zu ‚Gegenständen‘ ernannte, die er mithilfe einer zu Magrittes Malerei nahezu analogen Praxis zu verfremden suchte, andererseits barg jedoch diese Umdeutung musikalischer Stile und Gattungen zu einem musikalischen Objekt die Gefahr, einer erkennbaren surrealistischen Intention verlustig zu gehen. Schliesslich rückten Souris’ Werke damit in unverkennbare Nähe zu denjenigen verschiedener zeitgenössischer Komponisten, die gleichermassen mit Verfremdungen arbeiteten und sich nur deshalb grundsätzlich von seiner Vorgehensweise unterschieden, weil sie sich nicht wie der Surrealist auf eine realistische Objekthaftigkeit des Ausgangsmaterials beriefen137. Il existe un musicien contemporain, qui ne s’est jamais intéressé au surréalisme, qui en est au contraire très éloigné puisque c’est un ennemi de toute révolte, un traditionaliste et un catholique orthodoxe: je veux parler d’Igor Strawinsky. Durant toute sa carrière, Strawinsky s’est servi d’objets musicaux qui étaient déjà en quelque sorte éprouvés par l’usage […]. Mais c’est toute l’œuvre de Strawinsky, depuis cinquante ans, qui témoigne de cette utilisation systématique du lieu commun 138. Wie problematisch die Bewertung einer Komposition als surrealistische letztlich ist, zeigt sich etwa darin, dass Souris ausgerechnet Strawinsky mehrfach als Ideal eines jeden surrealistischen Tonschöpfers bezeichnete, was im Grunde nur deshalb möglich war, weil das entscheidende Kriterium für einen eigentlichen musikalischen Surrealismus – vergleichbar einem musikalischen Dadaismus oder Poetismus – einerseits in der revolutionären Intention des Komponisten sowie andererseits in der Rezeptionshaltung des Hörers zu finden ist139. Vor diesem Hintergrund muss gerade bei rein instrumentalen Werken einer surrealistischen Deutung von ‚lieux communs‘ aufgrund des blossen Notentextes – seien es Strawinskys Kompositionen, seien es Gustav Mahlers frühe Symphonien – zwingend ein Moment von Beliebigkeit anhaften140. Im Gegensatz dazu erweist sich der Fall bei vokalen Kompositionen deshalb als ein gänzlich anderer, weil die vertonte Dichtung eine explizite Deutungsebene transportiert, ein Phänomen, das nicht zuletzt in Martinůs Oper zum Tragen kommt: Da der Surrea- 136 Zitat Souris, Paul Nougé et ses complices, in: Alquié, Entretiens sur le surréalisme (1968), S. 454. Vgl. De la Motte, Handbuch der Musikpsychologie (1996), S. 127 sowie Wangermée, André Souris et le complexe d’Orphée (1995), S. 139 f. 138 Zitat Souris, [Interview durch Marcel Croës, April 1967], in: Wangermée, La Lyre à double tranchant, S. 172 139 Vgl. Kapitel II, S. 104-107 sowie III, S. 182 f. 140 Vgl. Danuser, Gustav Mahler und seine Zeit (1991), S. 168. 137 222 lismus durch das Libretto von Juliette eindeutig als Stossrichtung vorgegeben ist, wird jeder ‚lieu commun‘ unweigerlich zu einem Moment surrealistischer Musik. SURREALISTISCHE REALITÄTSBEZÜGE IN MARTINŮS JULIETTE Martinů kannte zum Zeitpunkt der Entstehung von Juliette mit ziemlicher Sicherheit nicht die theoretischen Texte Souris’, was jedoch insofern kaum ins Gewicht fällt, als um so mehr davon ausgegangen werden kann, dass er unabhängig vom belgischen Komponisten auf ein vergleichbares Resultat hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen eines musikalischen Surrealismus gekommen ist. Schliesslich verfolgte Martinů nicht nur zeitlebens die jeweils aktuelle naturwissenschaftliche Forschungsliteratur, sondern setzte sich auch intensiv mit der Geisteswissenschaft im allgemeinen und der Semiotik im besonderen auseinander, so dass er ausser mit den bereits gängigen Theorien Ferdinand de Saussures sogar mit den von Charles S. Peirce neu definierten, zeichentheoretischen Kategorien vertraut war141. Aufgrund der Reflexion über semiotische Fragen einerseits sowie andererseits der offensichtlichen Vertrautheit mit dem Surrealismus in Paris – der zentralen Bewegung im französischen Kulturleben der Zwischenkriegszeit – drängt es sich geradezu auf, die zahlreichen semantisch besetzten, musikalischen Passagen in Juliette als surrealistisch intendierte zu deuten142. Eine an den Surrealismus gemahnende Vorgehensweise tritt etwa in der Spielzeugentenpassage in der siebten Szene des ersten Aktes besonders deutlich zutage. Notenbeispiel 57a: Juliette, I. Akt, 7. Szene, T 1-5 nach Z 46143 Das onomatopoetische Kva kva der kleinen Spielzeugente bildet nicht allein deshalb den eigentlichen Kern von Michels kurzer Erzählung aus der Kindheit, weil es auf dem Höhepunkt seiner kurzen Phrase exponiert wird (I, 7. Szene, T 4 nach Z 46), sondern auch 141 Vgl. Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 283. Vgl. Bürger, Der französische Surrealismus (1996), S. 22; Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 301 f. 143 Deutsche Übersetzung: Michel: Ich glaube, es war ein Spielzeug, eine kleine Ente, ein Spielzeug, das rannte rund herum, sie machte: Kva kva! Mann mit Helm/Mann im Fenster/Alter Araber/Chor: Oh! Kommissar: Wie! Wie! Eine kleine [Ente!]. 142 223 insofern, als die Holzbläser das charakteristische Quaken über weite Strecken übernehmen; dies in klanglicher Hinsicht mithilfe von dominierenden Sekundreibungen sowie durch eine Rhythmisierung, die den von Michel gesungenen zwei Achteln auf Kva kva entspricht (Notenbeispiel 57a). Überhaupt gemahnt die kurzatmige, andauernd von Achtelpausen unterbrochene Melodielinie Michels gleichermassen an die abgehackten Rufe des Spielzeugs, wie sich im Orchester das durch unzählige Alterationen und Querstände verzerrte G-Dur der unreinen Intonation des Entenlautes annähert. Daneben findet sich ein weiteres tonmalerisches Moment im kurzen Motiv auf která běhala (die rannte), das durch die Wiederholung um so deutlicher das Drehen im Kreis (kolem dokola [rund herum]) der Ente musikalisch nachzeichnet, als durch die Nebennote ais’ der zirkulierende Melodiefluss nach der Achtelpause verdeutlicht wird (T 2-3 nach Z 46). In diesen ersten fünf Takten wird mit musikalischen Mitteln eine quakende, im Kreis laufende Ente ‚gezeichnet‘ und damit der beschriebene Gegenstand gleichsam zum Klingen gebracht, wodurch ein – für den Surrealismus – notwendiger Bezug zur Realität hergestellt wird. Während das bildhaft geprägte Ententhema aufgrund seiner geradezu wirklichkeitsgetreuen Anlage zunächst nur deshalb nicht vollständig mit einer realistisch motivierten Tonmalerei vereinbar ist, weil der Gegenstand ebenso nichtig wie lächerlich anmutet, kommt es im weiteren Verlauf zu einer eigentlich surrealistischen Vorgehensweise. Denn entgegen der Situation, dass Michel aus seiner Kindheit berichten soll, was traditionellerweise auf einen Monolog des Protagonisten hinauslaufen müsste, setzen die Stadtbewohner sogleich mit einem Ensemble ein, das den erwarteten epischen Charakter der Passage zunichte macht und stattdessen in ein kurzatmiges Fugato führt, das in der Art konventioneller Opernensembles die Qualitäten der Spielzeugente kommentiert. Notenbeispiel 57b: Juliette, I. Akt, 7. Szene, T 4-7 nach Z 48144 Bevor das Erstaunen über die getäuschte Erwartungshaltung jedoch dadurch verfliegen könnte, dass sich das Publikum zwar nicht in einem Monolog, aber dafür in einem eigentlichen ‚kontemplativen Ensemble‘ wiederfinden würde, bricht das einmütige Fugato nach wenigen Takten abrupt ab: Michel verstummt, nachdem er selbst während vier Takten am 144 Deutsche Übersetzung: Michel: Eine kleine Ente, ganz weiss, mit einem roten Schnabel! Sie machte kva kva, kva kva! 224 Ensemble teilhatte, erstaunt über die Begeisterung der unaufmerksamen Zuhörer (I, 7. Szene, T 1 nach Z 49). Indem sich einerseits die tonmalerisch erklingende Spielzeugente verselbständigt und zur zentralen musikalischen Substanz der Passage wird sowie andererseits die Vertonung in eine Form gefasst ist, die der zugrundeliegenden Erzählhaltung widerspricht, lässt sich in zweifacher Hinsicht von einem surrealistischen, da gegen die vertraute Logik gerichteten Vorgehen sprechen. Eingebettet ist Michels fragmentarischer Monolog sowie das störende Fugato der Stadtbewohner in die lange siebte Szene, die auf einer Aneinanderreihung von Teilen basiert, deren Bau weitgehend demselben Schema gehorcht: Die Abschnitte setzten mit einer rationalen Aussage Michels ein, auf die eine unlogisch anmutende Replik des Kommissars folgt, worauf sich die übrigen Anwesenden früher oder später förmlich auf einen Satzfetzen stürzen, um mit einem Ensemble den Erzählfluss vorübergehend aufzuheben. Dies geschieht zum ersten Mal, nachdem Michel dem Kommissar von seiner Entführung berichtet hat und letzterer sogleich wieder vergisst, was er gehört hat: O co tu jde? (Worum geht es hier?), eine Frage die von den übrigen fugiert aufgegriffen wird (I, 7. Szene, T 8 nach Z 39 bis T 2 nach Z 40); nach einem weiteren Versuch Michels, seine Erlebnisse zu schildern, markiert das Fugato der Stadtbewohner den unvermittelten Stimmungsumschwung des Kommissars, der nun plötzlich das Entführungsopfer verhaften will (T 8-11 nach Z 40). Nach einem absurden Verhör Michels in Form eines fugierten Ensembles aller Anwesenden folgt die unerwartete Frage des Kommissars nach der ältesten Kindheitserinnerung, worauf die obengenannte Spielzeugentenpassage einsetzt, um schliesslich in die Ernennung Michels zum Bürgermeister überzugehen, die gleichermassen in ein Ensemble gefasst ist, wie die Verleihung der Insignien – Hut, Pistole und Papagei – an den frischgebackenen Amtsinhaber. Mit den jeweils den Erzählfluss störenden, jedoch zugleich gliedernden Einsätzen der Stadtbewohner werden Wendepunkte in einer sich überstürzenden Handlung markiert, was den Ereignissen einen unverkennbaren grossformalen Rhythmus verleiht, der darüber hinaus als klingendes Pendant einer irrational begründeten Logik erscheint. Denn obwohl das fehlende Gedächtnis der Bevölkerung eine der Situation adäquate musikalische Entwicklung der Szene unmöglich macht, entsteht aus den Trümmern des Dialogs zwischen Michel und dem Kommissar eine musikalisch strukturierte Szene mit deutlich hervortretenden Gesetzmässigkeiten. Während diese ebenso hektische wie unstete Kommunikation letztlich auf die Konfrontation von Michels logischem Denken mit der charakteristischen Vergesslichkeit der Figuren zurückzuführen ist, so prägen die auf kurzatmigen Phrasen beruhenden Ensembles – sei es als Fugato, 225 sei es in homophonem Satz – sämtliche Auftritte der Stadtbewohner, was als musikalische Konsequenz ihrer ausschliesslich gegenwartsbezogenen Denkweise zu verstehen ist, die keinerlei grössere Entwicklungen ermöglicht. Dies gilt gleichermassen für die Szene mit den keifenden Verkäuferinnen auf dem Marktplatz (I, 3. Szene145) wie für die unvermittelte Verurteilung Michels zum Tode durch die zufällig Anwesenden, nachdem er auf die fliehende Juliette geschossen hat (II, 7. Szene, T 1 nach Z 59 bis T 5 nach Z 61). Während sich einerseits die irrationale Denkweise der Stadtbewohner direkt in der musikalischen Faktur niederschlägt, die dadurch eine eigene Logik gewinnt, so spielen andererseits – analog zum Spielzeugententhema – die wiederholt evozierten Bilder eine ähnlich wichtige Rolle für das surrealistische Potenzial der Vertonung. Dabei fällt auf, dass die semantisch wirksamen Motive im Grunde voneinander getrennt auftreten und nicht gleichzeitig erklingen, wie dies etwa analog zu surrealistischen Gemälden erwartet werden könnte, die in der Collage scheinbar unvereinbare Objekte konfrontieren, um den Betrachter zur Überwindung des rationalen Denkens zu provozieren. Die semantisch besetzten Klangfolgen in Juliette treten dagegen vereinzelt und in ungleich kleinerer Zahl als bei den betreffenden Werken der Bildenden Künste auf, weshalb die klingenden ‚Bilder‘ zwar nicht durch gegenseitige Reibungen Spannung zu erzeugen vermögen, stattdessen aber als zentrale musikalische Motive die entsprechenden Passagen dominieren. Notenbeispiel 58: Juliette, III. Akt, 6. Szene, T 1-4 nach Z 29146 Der soeben eingenickte Lokomotivführer des Orient-Express taucht aus dem Nichts des Wachzustandes im Traumbüro auf, um sich einen kurzen Traum – einen Blick in das imaginäre Fotoalbum – zu verschaffen, wobei er seinem realen Leben insofern nicht gänzlich zu entkommen vermag, als das Orchester unverkennbar an das ratternde Geräusch eines Zuges anknüpft. Wie aus einer unwirklichen Ferne beginnt die Szene mit raschen Sechzehnteln der kleinen Pauke, die direkt an die dumpfe Monotonie der Räder anzuknüpfen scheint und zugleich das eigentliche Verbindungsglied zwischen der abwesenden Realität und dem musikalischen Motiv in den Streichern darstellt, in das die leisen Paukenschläge übergehen 145 146 Siehe Kapitel IV, S. 240-243. Deutsche Übersetzung: Szenenanweisung: Ein Lokomotivführer tritt ein und setzt sich müde auf einen Stuhl. 226 (III, 6. Szene, T 3 nach Z 29). Indem im Orchester nun eine eigentliche „toccata ferroviaire“ über das semantisch konnotierte Motiv erklingt147, verselbständigt sich das musikalische Sinnbild zunehmend und führt weg vom vertrauten Geräusch der Eisenbahn, hin zu einer strukturierten Klangabfolge, die als Toccata zwar in keinerlei Zusammenhang zum OrientExpress steht, jedoch durch das verarbeitete Motiv nach wie vor auf den Ursprung im Rattern der Räder verweist. Unter surrealistischen Gesichtspunkten hat folglich die Musik, die von Versatzstücken der rationalen Wirklichkeit ausgegangen ist, zu einer neuen Logik gefunden, weshalb die Toccata nicht als blosser Ausdruck einer kunstvoll verarbeiteten, tonmalerischen Motivik gedeutet werden sollte, sondern vielmehr als musikalisches Pendant zum kurzen Traum des Lokomotivführers. Zudem erreicht der Satz nach einem steten Crescendo, das sein wortloses Blättern durch das Album begleitet, ausgerechnet dann den dynamischen Kulminationspunkt, als der Träumende das imaginäre Lieblingsfoto der verstorbenen Tochter erblickt (III, 6. Szene, T 9 nach Z 31), weshalb die rein instrumental gehaltene Vertonung unmöglich mit der Fahrt der Eisenbahn hinter der rumänischen Grenze in Verbindung gebracht werden kann, die schliesslich dermassen unspektakulär verläuft, dass der Lokomotivführer regelmässig einschläft. Obwohl das ratternde Motiv an ein reales Moment anknüpft, dient es als Ausgangspunkt, um einen irrationalen Zustand darzustellen, der genau dann zu seinem Höhepunkt findet, als sich der Wunsch des Träumenden erfüllt: Die Toccata wird damit zum musikalischen Ausdruck eines beglückenden Traumes, der unter den Vorzeichen der époque des sommeils weitgehend mit der Surrealität gleichgesetzt werden kann. Sobald der Traum vorüber ist, muss folglich auch die Toccata zusammenbrechen, da diese nur dank einer surrealistischen Logik zustande kommen kann, klingt doch ein Bahngeräusch in der rationalen Wirklichkeit nicht anders als ein Bahngeräusch; dementsprechend erwacht der Lokomotivführer über ostinaten Paukenschlägen und einem anschliessenden Tremolo der Streicher, das bereits vom Ende des surrealen Glücks kündet und sogleich dem entfernten Pfiff einer Lokomotive weichen muss (III, 6. Szene, T 10-11 nach Z 31). Neben dem Traum des Eisenbahnführer zeichnen sich auch die Auftritte der übrigen Kunden des Traumbüros durch klangliche Assoziationen mit deren jeweiligen Situation im wirklichen Leben aus, sei es die flinke Bewegung des jungen Hotelboys (III, 2. Szene), sei es die dumpfe Klangfarbe beim Auftritt des blinden Bettlers, dessen düsteres Leben sich darüber hinaus in einem unmelodischen, lediglich melodramatischen Sprechen niederschlägt (III, 3. Szene), oder das stumpfe ziellose Schlurfen des Sträflings (III, 5. Szene). Während sich der 147 Zitat Halbreich, Juliette ou la Clé des songes, in: L’Avant Scène Opéra 210 (2002), S. 86. 227 für surrealistische Zwecke unabdingbare Bezug zur Realität sowohl bei den Szenen mit den Kunden im Traumbüro als auch bei der Spielzeugentenpassage in einer lautmalerisch angelegten Motivik findet, übernehmen wiederholt stilistische Anklänge an bekannte Gattungen die Funktion, in die Surrealität überzuleiten. Vergleicht man diese Vorgehensweise mit den von Souris’ verwendeten lieux communs, so zeigt sich ein grundlegender Unterschied gerade darin, dass Martinů mit einer wiederholt tonmalerisch gezeichneten Motivik am objektbezogenen Ausgangspunkt des Surrealismus festhält, während sich der belgische Komponist auf abstrakte Gattungs- und Stilmerkmale als Ausdruck einer bekannten Realität beschränkt. Folglich erfüllen die aufgegriffenen musikalischen Konventionen bei den beiden Komponisten jeweils unterschiedliche Funktionen: Liegt das surrealistische Potenzial von Juliette in solcherart gestalteten Passagen darin, dass ein semantisch konnotiertes Motiv zu einer Fuge oder einer Toccata verarbeitet wird, so resultiert Souris’ Surrealismus beispielsweise in Musique I: Tombeau de Socrate aus der rhythmischen und harmonischen Verzerrung einer einfach gebauten Monodie148. Martinů geht insofern einen Schritt weiter, als er im Grunde zwei lieux communs miteinander konfrontiert, gelten doch neben der Tonmalerei sämtliche tradierten Gattungs- und Stilmerkmale als allgemeinverständliche Teile der Wirklichkeit, infolgedessen etwa das Quaken der Spielzeugente zusammen mit einem letztlich traditionellen Fugato zu einem surrealen Entenfugato geführt wird. Obzwar nicht auf der Ebene der semantisch determinierten Motive von einem Vorgehen gesprochen werden kann, das in Anlehnung an die Malerei scheinbar unvereinbare ‚Objekte‘ in ein Spannungsverhältnis setzt, um dadurch die surrealistische Assoziationskraft zu provozieren, findet sich dennoch unter dem Gesichtspunkt der lieux communs eine entsprechende Kompositionsweise in Juliette genau dann, wenn bildhafte Wendungen eine ‚konventionelle‘ Verarbeitung erfahren. Während einerseits lautmalerisch angelegte Motive auf ein Objekt verweisen, indem sie gleichsam indexikalisch dessen Klang nachzeichnen, und sich andererseits kompositionstechnische lieux communs auf eine zum historischen Gegenstand mutierte Musiktradition beziehen, so eignet dem musikalischen Idiom in Juliette darüber hinaus auch eine dritte ‚Realitätsebene‘, nämlich diejenige der intertextuellen Anspielung. Bezeichnenderweise wird diese sogleich in den ersten Takten der Oper etabliert, beginnt doch das Werk mit einem exponierten Fagottsolo, das aufgrund seiner unverkennbaren Ähnlichkeit mit einem legendären Modell 148 Souris, Musique I: Tombeau de Socrate (1925), in: Correspondance (20. Juli 1925), abgedruckt in: Mariën, L’Activité surréaliste en Belgique (1979), S. 88 sowie in: Wangermée, La Lyre à double tranchant (2000), S. 130. Vgl. hierzu auch De la Motte, Handbuch der Musikpsychologie (1996), S. 128. 228 förmlich auf die Wiedererkennung pocht; zumindest musste die Bezugnahme auf eines der zentralen Werke des frühen 20. Jahrhunderts dem im Paris der Zwischenkriegszeit lebenden Komponisten als geradezu unüberhörbar erscheinen. Notenbeispiel 59a: Juliette, I. Akt, 1. Szene, T 1 nach Z 0 bis T 2 nach Z 1 Notenbeispiel 59b: Igor Strawinsky, Le Sacre du printemps, T 1-5 nach Z 0 (Fagott I) Obwohl keineswegs wörtlich zitiert, schimmert das Eröffnungsmotiv von Strawinskys Le Sacre du printemps hörbar durch die ersten Takte von Juliette hindurch: Dies einerseits wegen des eigentümlichen Klangs des sehr hoch gesetzten Fagottes sowie andererseits infolge der nahezu am selben Ort kreisenden Melodielinie, die durch das exponierte Instrument in beiden Fällen beschrieben und deren Bewegungsfluss wiederholt durch die längeren Notenwerte gestaut wird149. Aufgrund der Verwandtschaft des Beginns mit demjenigen des ‚heidnischen‘ Balletts, wird der Oper durch musikalische Mittel gleich von Anfang an eine mythologische Färbung verliehen, die zwar nicht in der rituellen Opferung einer Jungfrau gipfeln wird, jedoch durchaus mit den angestrebten surrealistischen Mythen vereinbar ist, zu denen der in Juliette thematisierte amour fou zweifellos zählt. Das kurze Vorspiel der Oper, das mit Blick auf die anschliessende Ankunft Michels in der Kleinstadt als derjenige Augenblick zu deuten ist, in dem der Wachzustand dem Schlaf weicht – infolgedessen das Orchester den Traum einläutet –, wird durch die Assoziation mit der Introduction aus Le Sacre du printemps gleichsam zu einem Initiationsritus stilisiert. Darüber hinaus lässt sich das an Sacre gemahnende ‚Eintrittsmotiv‘ aufgrund seines kreisenden Charakters mit Karbusický als Traumschlüsselmotiv und damit als indexikalische Nachahmung eines drehenden Schlüssels deuten, der in Anlehnung an den Untertitel von Neveux’ Juliette ou La Clé des songes das Tor zum Traum aufschliesst150. Dies bedeutet, dass in den ersten Takten der Oper neben der Verwendung des Quasi-Zitats zugleich die im weiteren Verlauf auftretenden lautmalerischen Klangbilder als realitätsbezogenes Vorgehen etabliert werden. Auch wenn Martinů mit dem 149 Vgl. Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 288 sowie Halbreich, Juliette ou la Clé des songes, in: L’Avant Scène Opéra 210 (2002), S. 18. 150 Zitat Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 288; vgl. auch Halbreich, Juliette ou la Clé des songes, in: L’Avant Scène Opéra 210 (2002), S. 18. 229 Begriff Snář (Traumbuch) den von Jindřich Hořejší in der tschechischen Übersetzung von Neveux’ Schauspiel verwendeten Untertitel übernommen hat und damit der explizite Bezugspunkt für ein Traumschlüsselmotiv hinfällig wird, so ist dennoch entscheidend, dass das ‚Eintrittsmotiv‘ ein Entgleiten in eine andere Sphäre beschreibt151. Schliesslich erklingt das ‚Eintrittsmotiv‘ in der letzten Szene der Oper erneut als Sinnbild eines Übertritts in den nächsthöheren Zustand, und zwar genau dann, wenn der wahnsinnig gewordene Michel ein weiteres Mal in der Kleinstadt eintrifft (Notenbeispiel 59c). Notenbeispiel 59c: Juliette, III. Akt, 8. Szene, T 1-5 nach Z 62 152 In mehrfacher Hinsicht hat nun aber das vormals prägnante ‚Eintrittsmotiv‘ seine an das Fagottsolo des Sacre gemahnenden Konturen eingebüsst, nicht nur wegen der dezenteren Klangfarbe des Violoncellos, das den Part des Fagottes übernommen hat, sondern auch durch eine offenkundige Reduktion des charakteristischen Kreisens als Folge davon, dass das ‚Eintrittsmotiv‘ in dieser für den Protagonisten schicksalsreichen Sequenz gleich zweimal, jeweils nach einem Takt, von den Holzbläsern und Streichern unterbrochen wird. Indem darüber hinaus auch das Violoncello nach dem erklungen Motivkopf nicht an der beschwörenden Melodielinie festhält, sondern nurmehr chromatisch hinabsinkt (T 3-5 nach Z 62), verweist die Passage zwar als Reminiszenz an den Beginn der Oper darauf, dass Michel wiederum in eine neue Wirklichkeit eintaucht, offenbart jedoch durch die fragmentarische Gestalt der Reprise, wie klein der Schritt vom Traum in den Wahnsinn letztlich ist. Eignete dem in der allerersten Szene musikalisch evozierten Einschlafen des Protagonisten durch die evozierte Klangwelt von Strawinskys Le Sacre du printemps eine mythische Dimension, so erweist sich der einsetzende Wahnsinn durch das nur dezent anklingende ‚Eintrittsmotiv‘ analog zur surrealistischen Auffassung auch in musikalischer Hinsicht als ungleich kleinerer Einschnitt – der Schlafende gleitet aus dem Vorhof der Surrealität in den endlosen Traum des Wahnsinns hinüber. Während das Ende auf der Handlungsebene als Konsequenz der zugrundeliegenden surrealistischen Auffassung zu verstehen ist, so erfüllt sich auch in musikalischer Hinsicht das Verspre- 151 Die tschechoslowakische Erstaufführung von Neveux’ Juliette in der tschechischen Übersetzung von Jindřich Hořejší – Julie aneb Snář (Julie oder das Traumbuch) – fand am 13. Oktober 1932 im Studio des Prager Ständetheaters statt [Unterlagen zur Inszenierung im Archiv des Prager Nationaltheaters]. 152 Deutsche Übersetzung: Szenenanweisung: Langsam taucht ein Teil des Bühnenbildes aus dem I. Akt auf, das Haus mit der Mansarde. Auf dem Boden sitzt der Kleine Araber, in der Haustür steht der Alte Araber. Alles wie im Nebel. 230 chen des verheissungsvollen Eintauchens in den Traum: Die Oper endet mit den oszillierenden Klängen des beginnenden Traums (T 2-4 nach Z 63, Notenbeispiele 56), die in der ersten Szene unmittelbar auf das ‚Eintrittsmotiv‘ folgten (T 4-6 nach Z 0, Notenbeispiel 59a) und am Ende des dritten Aktes in einen E-Dur-Schlussakkord münden, so dass nicht nur der die Oper eröffnende Dominantnonenakkord, sondern auch das um den Ton h’ kreisende ‚Eintrittsmotiv‘ zu einer finalen Auflösung geführt wird. Dass die Vertonung an dieser Stelle zu einem abgerundeten Abschluss findet, ist unter surrealistischen Gesichtspunkten insofern folgerichtig, als die Musik ihre Aufgabe erfüllt hat, mit den ihr eigenen Mitteln zum Erreichen der Surrealität beizutragen, und durch den surrealistischen Wahnsinn Michels obsolet geworden ist. Schliesslich liegt die einzige Berechtigung für Kunst darin, durch unerwartete Konstellationen eine neue Logik zu provozieren, die zu einer Surrealität führen soll, in der sämtliche Lebensbereiche ineinander aufgehen müssen, infolgedessen sowohl die Politik als auch die Religion oder die Kunst in einem einzigen idealen Zustand verschmelzen. Da jedoch die tatsächliche Surrealität aufgrund ihres utopischen Charakters in keiner Kunst mehr zu fassen ist, muss die Musik mit dem Eintritt Michels in den mutmasslich beglückenden Wahnsinn ebenso verstummen, wie die Handlung keine sichtbare Fortsetzung mehr erfahren kann. Dass der mutmasslich erreichte surrealistische Idealzustand durch das Publikum imaginiert werden muss, kommt einer Gedankenleistung gleich, die mit Artaud als Erfolg des ‚operativen Eingriffs‘ durch surrealistisch motiviertes Theater zu bewerten ist. In diesem Sinn hat das, durch den offenkundigen Anklang an Strawinskys Le Sacre du printemps als solches markierte, Ritual des nächtlichen Traumes seinen Zweck erfüllt, provozierte doch der erträumte surrealistische Mythos den Protagonisten Michel – stellvertretend für das Publikum – tatsächlich zum Schritt in die Surrealität. Indem in Martinůs Juliette das Fagottsolo aus Le Sacre du printemps zwar hindurchschimmert, jedoch nicht wörtlich erklingt, entsteht eine vergleichbare Brechung wie sie bereits im Umgang mit den Realitätsebenen durch Lautmalerei oder tradierte Stilmittel und musikalische Formen zutage getreten ist, was als surrealistisches Moment der Verfremdung gedeutet werden kann, die gleichwohl präexistente Konnotationen zu transportieren vermag. Da Martinů auf ein originalgetreues Zitat aus Le Sacre du printemps verzichtete und es bei einem blossen Anklang an Strawinskys archaisch rituelles Werk beliess, verlieh er einerseits der Oper von Beginn an eine mythische Färbung und vermied andererseits, einen allzu expliziten Zusammenhang zwischen den beiden Werken zu evozieren, der über eine bloss assoziative 231 Verwandtschaft hinausreichen würde. Eine vergleichbare Vorgehensweise findet sich bezeichnenderweise an einer weiteren Schlüsselstelle, nämlich beim Lied Juliettes, das Michel nicht vergessen konnte: Verwies die angedeutete Klangwelt des Sacre auf den grundsätzlich rituellen Charakter des nächtlichen Traums in Juliette, so rücken musikalische Reminiszenzen an Claude Debussys Pelléas et Mélisande die ‚Traumfrau‘ in unverkennbare Nähe zu der gleichsam unwirklichen Prinzessin. Notenbeispiel 60a: Juliette, I. Akt, 8. Szene, T 1-16 nach Z 74 153 Notenbeispiel 60b: Claude Debussy, Pelléas et Mélisande, III. Akt, 1. Szene, T 14-31 Aus einem Fenster erklingt ein Lied der Titelheldin, das von einer unbestimmten Sehnsucht nach Liebe kündet und zufälligerweise vom unsterblich Verliebten vernommen wird: Sowohl die szenische Situation als auch der Textinhalt legen die Vermutung nahe, dass bereits Neveux bewusst auf das symbolistische Libretto Debussys rekurrierte, um das folgenreiche Lied Juliettes und damit den Auslöser für Michels amour fou gewissermassen zu überhöhen. Obwohl sich Neveux keineswegs an den Wortlaut der älteren Oper hielt, schwingt in Juliettes Lied dennoch der erste Teil von Mélisandes Gesang mit, klingt doch das sehnsuchtsvolle Hoffen von Neveux’ Titelheldin, Reviendront-elles [mes amours] des colonies, an dasjenige von Debussys Protagonistin an – Mes cheveux vous attendent tout le long de la tour (Pelléas, III, 1. Szene, T 20-22)154. Dagegen lässt sich an dieser Stelle keine Bezugnahme auf Maeterlincks Vorlage rekonstruieren, da dessen Mélisande mit Les trois sœurs aveugles ein Lied singt, das zwar in einem ideengeschichtlichen Zusammenhang mit der symbolistischen Grundhaltung des Theaterstücks steht, jedoch als solches die Sehnsucht der Sängerin nur unbestimmt zu umreissen vermag155. Was auf der Handlungsebene von Neveux’ Theaterstück erst angedeutet wurde, nämlich eine latente Verwandtschaft von Juliette mit Debussys Mélisande, erfährt durch die Vertonung insofern eine neue Qualität, als Juliettes Lied in man- 153 Deutsche Übersetzung: Szenenanweisung: Michel bleibt alleine zurück und betrachtet aufmerksam den ganzen Platz. Ein Fenster im ersten Stock (Haus Nr. 1) wird erleuchtet, geöffnet, und es erklingt daraus eine Frauenstimme. Juliette (hinter der Bühne): Meine Liebe verschwand in der Ferne hinter dem breiten Meer dieser Nacht. Mit der Rückkehr des Sterns am Himmel, scheint es, als kehre auch meine Liebe zurück! 154 Neveux, Juliette ou la Clé des songes, I. Akt, 9. Szene [Juliettes Lied], siehe Kapitel IV, S. 204. 155 Maeterlinck, Pelléas et Mélisande (1892), III. Akt, 2. Szene, in: Ders., Théâtre, Bd. 2, S. 48. 232 cherlei Hinsicht einen ähnlichen Charakter aufweist wie Mélisandes (insbesondere dessen erster Teil, T 18-25). So sind die betreffenden Gesänge in beiden Fällen als unbegleitete Monodien angelegt, die durch die beschnittene Rolle der Metrik – bei Debussy infolge der Vorgabe librement sowie der verschleiernden Triolenbildungen, bei Martinů aufgrund eines Verzichts auf metrisch wirksame Taktstriche – zu einem archaisch wirkenden, kontemplativen Moment stilisiert werden, wodurch sich die Lieder deutlich vom musikalischen Kontext der jeweiligen Oper abheben. Die Archaik der Monodien wird darüber hinaus durch eine modal gefärbte Tonalität untermauert, die sich bei Pelléas et Mélisande an einem h-Dorisch sowie analog dazu bei Juliette an einem c-Dorisch orientiert, jedoch aufgrund der Einstimmigkeit sowie den geringen, nicht über die obere Quinte hinausreichenden, Ambitus der Singstimmen, in beiden Fällen gleichsam in der Schwebe bleibt. Sowohl durch die markant eingeschränkte Zugkraft harmonischer Fortschreitungen als auch infolge der in sich geschlossenen Formen – eine zweiteilige Periode bei Martinů, eine dreiteilige Barform mit anschliessendem Refrain (T 26-31) bei Debussy – scheint in den Gesängen der beiden Titelheldinnen die Zeit stillzustehen. Diese Wirkung wird um so deutlicher betont, als den Liedern ein vorbereitendes instrumentales Präludium vorangestellt ist, das in Juliette von metrisch ungebundenen Arpeggien ausgeht, in Fis-Dur/c-Moll Akkordrepetitionen mündet und mit der Fermate über einem c-Moll-Akkord zum unbegleiteten Lied überleitet (T 7 nach Z 73), wohingegen in Pelléas et Mélisande der Grundton h des darauffolgenden Liedes ebenso etabliert, wie die Einstimmigkeit der Monodie vorweggenommen wird (T 14-17). In dieser Weise musikalisch inszeniert, kommt den beiden Gesängen ein Gewicht zu, das es nahe legt, den Charakter der Lieder als Ausdruck der Gefühlswelt der Titelheldinnen zu deuten, infolgedessen sowohl das archaische Moment als auch der Verzicht auf vorantreibende harmonische Spannungen von Figuren zeugen, die in einer anderen Zeit verwurzelt sind. Mélisande bleibt geheimnisumwittert, erfährt man doch nichts über ihre Beweggründe, die Herkunft oder ihr Alter, wodurch sie als Frau ohne Vergangenheit in vergleichbarer Weise unfassbar ist wie Juliette, die als Imagination Michels ausschliesslich in der Gegenwart existiert: Dem Lauf der Zeit enthoben, eignet den beiden Titelheldinnen ein zeitloses Moment, dessen mythischer Charakter sich in der archaisch gefärbten Anlage der Lieder musikalisch widerspiegelt. So schlug sich also in der Musik nieder, was bereits in den Vorlagen vorgezeichnet worden war, nämlich die Verwandtschaft zweier Werke, die etwa von Cocteau in einem Atemzug genannt worden sind. 233 Il y a deux pièces de théâtre dont je suis jaloux, que j’aurais voulu avoir écrites. Leurs auteurs le savent, c’est Pelléas de Maeterlinck, et Juliette ou la Clé des songes de Georges Neveux156. Dennoch ist es wenig sinnvoll, aufgrund der Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Werken Juliette als zweite Mélisande zu bezeichnen, da den Theaterstücken mit dem Symbolismus Maeterlincks und dem Surrealismus Neveux’ unterschiedliche Motivationen zugrunde liegen, ein Aspekt, der gerade wegen der surrealistischen Gesinnung des Jüngeren von Bedeutung ist. Schliesslich gehört das verfremdende Spiel mit bekannten Gegenständen und Symbolen zu den wichtigsten Verfahrensweisen des Surrealismus, weshalb jede Evokation von bereits Existierendem unter dringendem Verdacht steht, als blosses Versatzstück der Realität zu fungieren. In diesem Sinn ist auch Martinůs Anleihe an Debussys Pelléas et Mélisande weniger als Hommage an das grosse Vorbild zu deuten, sondern vielmehr als Verwendung eines ‚lieu commun‘, was aufgrund der zahlreichen musikalischen Ähnlichkeiten gerade bei Juliettes Lied offenkundig scheint. Diese Passage weist über die formalen Parallelen sowie die vergleichbare Klangwelt hinaus selbst in der präludienartigen Einleitung sowie im unmittelbar anschliessenden Duett Juliettes und Michels nachdrücklich auf das Vorbild hin, folgt doch auch in Debussys Werk das grosse Duett von Mélisande und Pelléas unmittelbar auf das monodische Lied157. Dass die Verwandtschaft als solche rezipiert werden soll, liegt insofern auf der Hand, als Debussys Oper ebenso wie Strawinskys Ballettmusik zu den zentralen Werken des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zählt, weshalb von einem bewusst intendierten Wiedererkennungseffekt ausgegangen werden kann. Durchaus in Einklang mit den surrealistischen Gepflogenheiten war Martinů jedoch bestrebt, die Referenz an mögliche Vorlagen so weit als möglich zu brechen, was sich sowohl im Verzicht auf ein einziges wörtliches Zitat niederschlug als etwa auch in der Idee, den ‚Hadač‘ (Handleser) als Hosenrolle zu besetzen, um eine ebenso offensichtliche wie stereotype Bezugnahme auf den ‚Principál‘ in Smetanas Prodaná nevěsta (Die verkaufte Braut) auszuschliessen158. Während lautmalerische Momente und Stilzitate analog zu Souris’ lieux communs wiederholt in einer Weise auftreten, dass sie die surrealistische Dimension der Traumsphäre als solche 156 Zitat Cocteau, in: L’Avant-Scène 109 (28. Juni 1952), S. 12. Goehrs Einwand dagegen, dass die Anlehnung von Martinůs Juliette an Debussys Pelléas et Mélisande nicht mit einer surrealistischen Vorgehensweise vereinbar sei, erscheint in Anbetracht der für den Surrealismus bedeutsamen Objekt- und Symbolbezogenheit unhaltbar. Vgl. Goehr, Juliette fährt nach Mahagonny (Druck in Vorbereitung). 158 Vgl. Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 23. Oktober 1937 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 259. 157 234 charakterisieren – sei es durch das ‚Entenfugato‘ oder den Choral des Erinnerungsverkäufers (II, 5. Szene, T 1 nach Z 38 bis T 11 nach Z 39) –, so markieren die Anspielungen an zentrale Werke aus dem Opern- und Konzertrepertoire mehrere Schlüsselstellen von Martinůs Juliette159. Die semantisch konnotierten Motive und längeren Passagen treten in einer Dichte auf, die es vor dem Hintergrund des surrealistisch ausgerichteten Librettos nahe legt, darin eine musikalische Annäherung an die Praktiken der Literatur und Malerei des Surrealismus zu sehen, nämlich eine Neuordnung von Objekten, die aus dem logischen Kontext der rationalen Wirklichkeit herausgelöst worden sind. Dafür, dass Martinů das Libretto durchaus in surrealistischem Sinn deutete, spricht nicht zuletzt seine Reaktion auf die Premiere von Juliette in Wiesbaden am 25. Januar 1959160. Von der existentialistisch gefärbten Interpretation der Inszenierung Walther Pohls vollkommen überrascht, schrieb er sogleich an Šafránek: Kurz gesagt, ist es ein ganzer Kafka, Le Château, furchtbar beängstigend und faszinierend161. Zwar räumte er seinem Biographen gegenüber ein, dass dem Werk auch diese Dimension eigne, er jedoch niemals daran gedacht habe, die Handlung als pessimistisch-dramatische zu deuten. Da Martinů eine optimistische Auffassung vertrat, zeugt dies zwingend von einer surrealistischen Sichtweise, erscheint doch Michels Irrweg durch die Traumstadt sowie sein Wahnsinn am Ende unter jeder anderen Perspektive unweigerlich als kafkaeskes Horrorszenario. Da es sich bei Martinů aber keineswegs um einen dogmatischen Verfechter des Surrealismus handelte, kann nicht erstaunen, dass die Tendenz zu einer ‚objekthaften‘ Tonsprache einen zwar wichtigen, nicht jedoch den allein entscheidenden Aspekt der musikalischen Seite von Juliette ausmacht. So stellte es nicht Martinůs erklärtes Ziel dar, einen eigenständigen musikalischen Surrealismus zu definieren – der Intention Souris’ entsprechend –, weshalb es wenig sinnvoll wäre, diejenigen musikalischen Momente von Juliette, die sich nicht auf eine ‚Wirklichkeit‘ jenseits des Werks beziehen, als eindeutig surrealistische zu bezeichnen. Schliesslich bedürfte es einer expliziten Absicht, um das surrealistische Potenzial selbst dann als solches deuten zu können, wenn sich der musikalische Surrealismus nicht mehr an den – durch Bretons Gruppe – legitimierten Verfahrensweisen orientiert, die letztlich musikfremden Kunstformen entstammen. Nur solange den musikalischen Mitteln ein offenkundiger Realitätsbezug eignet, lässt sich sinnvoll von einer surrealistischen Vorgehensweise sprechen, alles andere über- 159 Zum Choral des Erinnerungsverkäufers im II. Akt von Martinůs Juliette siehe Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 249 f. 160 Siehe Martinůs Briefe an Miloš Šafránek, vom 2. und 12. Februar 1959 aus Schönenberg, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 279 f. 161 Zitat Martinů, Brief an Miloš Šafránek, vom 2. Februar 1959 aus Schönenberg, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 279. 235 schreitet dagegen die engen Grenzen dieser Bewegung, weshalb sich in Bezug auf Juliette durchaus die Frage stellt, welche Rolle die Musik jenseits eines dogmatischen Surrealismus spielt. SURREALISMUS IM ‚LYRISCHEN SINGSPIEL‘ Le surréalisme s’est beaucoup trop marié à la peinture. Il est temps d’aller à la musique162. Sobald man versucht, musikalischen Strukturen, die nicht mehr auf erkennbare Vorläufer rekurrieren, eine surrealistische Deutung zuteil werden zu lassen, ergeben sich nahezu unüberbrückbare Schwierigkeiten, potenziert sich doch hierbei das Problem, das sich bereits bei der Frage nach einem Realismus in der Musik als grundlegend erweist. Schliesslich ist die Möglichkeit eines Surrealismus insofern direkt von derjenigen eines Realismus abhängig, als der Bezug zu einer bekannten Wirklichkeit im surrealistischen Verständnis zwingend den Ausgangspunkt bilden muss, also eine eindeutige Definition der realistischen Stufe für den Weg zu Höherem unabdingbar ist. Orientiert man sich an dem von Carl Dahlhaus für die Musik des 19. Jahrhunderts postulierten Realismusbegriff, wonach es galt, die ebenso erstarrte wie subjektive Genieästhetik durch einen erstrebten objektiven Ausdruck zu überwinden, beschränkt sich der realistische Gehalt weitgehend in der Intention, der musikalischen Sprache anstelle einer stilisierten, eine ‚alltägliche‘ Gestalt zu verleihen163. Selbst wenn man von denjenigen ‚veristischen‘ Bühnenwerken absieht, die sich zwar wirklichkeitsnaher Elemente bedienen, jedoch oft in einer Weise, die als blosse ‚couleur locale‘ mit exotistischem Reiz nicht in die traditionelle Opernform einzugreifen vermag, erschöpft sich das realistische Moment kompositionstechnisch weitgehend in einer Aufweichung der Periodenstruktur bis hin zu einer musikalischen Prosa, einer am Sprachtonfall orientierten Melodik oder in einer exzessiven Affektdarstellung, die nicht mehr allein dem ‚Musikalisch-Schönen‘ verpflichtet ist164. Wenn aber die Auflösung musikalischer Konventionen zum Ausdruck eines Realismus wird, stellt sich die Frage, wie daraus ein musikalischer Surrealismus abgeleitet 162 Brief von Neveux an Maurice Jaubert, vom 19. März 1927, zitiert nach Porcile, Maurice Jaubert (1971), S. 178. 163 Vgl. Dahlhaus, Musikalischer Realismus (1982), S. 26-40. 164 Vgl. Voss, Verismo in der Oper (1978), S. 310; Dahlhaus, Musikalischer Realismus (1982), S. 26-40. 236 werden sollte, käme doch die surrealistische Manipulation einer derart definierten Realität einer Auflösung der Auflösung gleich. Verzichtet man dagegen auf die Formulierung unveränderlicher äusserer Merkmale als Massstab für einen musikalischen Realismus und sucht stattdessen – wie von Dahlhaus in Anlehnung an Michel Butor postuliert – nach Sinn- und Funktionszusammenhängen zwischen musikalischer Struktur und bestimmender Umwelt, erlangt man den Vorteil, sich nicht auf mehr oder weniger offensichtliche Tonmalereien beschränken zu müssen165. Der musikalische Realismus beruht gemäss dieser Auffassung nicht zuletzt auf Strukturanalogien zwischen einem naturwissenschaftlichen Naturbegriff, der die Realität als Zeichensystem zu erfassen sucht, und einer als ‚tönendes Funktionssystem‘ verstandenen Musik. Sobald man jedoch den musikalischen Realismus in Funktionszusammenhängen verortet, wird musikalischer Surrealismus unmöglich, müssten doch hierfür die bestehenden Relationen aufgegeben werden, infolgedessen sich mit der musikalischen Realität die zu manipulierende Wirklichkeit auflöste, so dass der Surrealismus seinen Ausgangspunkt endgültig verloren hätte166. Während sich die Schwierigkeit, ein Element der Wirklichkeit in der Musik zu finden, negativ auf das übliche surrealistische Verfahren auswirkt, kann umgekehrt die weitgehende Unabhängigkeit von der Realität positiv umgedeutet werden, nämlich als Hinweis darauf, dass die Musik der Surrealität bereits ungleich näher sei als jede andere, noch in der objekthaften Welt verankerte Ausdrucksform. Da sie mit ihrer Struktur weitgehend akustischen, nicht aber gesellschaftlichen Gesetzen gehorcht, erfüllt sie jenen surrealistischen Anspruch, wonach es gilt, mithilfe einer ‚unrealistischen‘ Logik ein neues Zeichensystem zu definieren, weshalb es nahe liegt, die Musik mit Ribemont-Dessaignes zu le plus surréaliste des arts zu erklären167. Diese Interpretation ist jedoch nur dann nachvollziehbar, wenn nicht in Analogie zur Literatur sowie zu den Bildenden Künsten an der gegenständlichen Welt als zwingendem Ausgangspunkt für die Surrealität festgehalten wird und die revolutionäre Verwerfung der 165 Vgl. ebd., S. 59, 154. Als ähnlich problematisch erweist sich auch der Versuch, einen Ausgangspunkt für surrealistische Zwecke im musikalischen Realismus der marxistisch-leninistisch orientierten Musikforschung zu finden, die insofern geeignet erscheinen könnte, als Breton bereits zur Zeit des Second Manifeste du surréalisme (1930) im Kommunismus eine dem Surrealismus verwandte Ideologie erkannte. Obwohl von Lenin niemals auf Kunst angewendet, wurde dessen Begriff der Widerspiegelung seit den 1920er Jahren in die ästhetischen Theorien übernommen, weshalb Kunst fortan eine erkenntnisvermittelnde „Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit“ zu leisten hatte [Zitat Karbusický, Modelle und Probleme des „Marxismus in der Musikwissenschaft“ (1980), S. 539; siehe auch Karbusický, Widerspiegelungstheorie und Strukturalismus (1973)]. Während jedoch der marxistisch-leninistisch motivierte Realismus als einzig wahre Kunstrichtung allein dem Zwecke diente, die kommunistische Gesellschaftsform als ideale zu vermitteln, so galt es gemäss der surrealistischen Theorie, jegliche bekannte Wirklichkeit aufzugeben, um eine utopische Surrealität zu erlangen, infolgedessen die Sphäre marxistisch-leninistischer Kunstauffassung vollständig verlassen wird. 167 Zitat Ribemont-Dessaignes, Déjà jadis (1958), S. 273; vgl. Kap. II, S. 83-87. 166 237 rationalen Logik nicht als bewusster intellektueller Akt vonstatten gehen muss, also entgegen den Gepflogenheiten der Surrealisten um Breton, denen Ribemont-Dessaignes vorwarf: Le Surréalisme ne s’attaque qu’aux parties nobles de l’homme: l’esprit!168. Während es in Anbetracht der untergeordneten Rolle der Musik innerhalb der surrealistischen Bewegung wenig sinnvoll erscheint, der polemischen Aussage Ribemont-Dessaignes entsprechend die Musik zum surrealistischen Ausdrucksmittel par excellence zu erklären, so ist ungleich bedeutender, dass das irreale Moment der musikalischen Klangwelt gegebenenfalls als dem Surrealen analog bewertet werden kann. Le rendez-vous historique de la musique et du surréalisme à été manqué, mais ce n’est pas grave. Toutes les fois que la musique entre en contact avec le réel, elle libère soudain de la trivialité utilitaire des foules de sons qu’elle nous apprend à réentendre. Si ce n’est pas là la surréalité que Breton partait conquérir, c’en est du moins une sorte d’équivalent169. Die vom Komponisten François-Bernard Mâche hervorgehobene irreale Qualität von Musik ist mit Blick auf Martinůs Juliette gerade deshalb von Interesse, weil sie über die verfremdeten Realitätsbezüge – als Ausdruck typisch surrealistischer Techniken – hinaus eine Verbindung zur surrealistischen Intention von Neveux’ Vorlage schafft170. Dieser Grenzbereich zwischen explizitem und latentem Surrealismus erscheint für Juliette um so bedeutender, als Martinů mit seiner Oper keinen kommunistisch motivierten, revolutionären Akt vollziehen wollte, sondern vielmehr einer Geisteshaltung zu entsprechen suchte, die bereits zur Entstehungszeit des Theaterstücks – geschweige denn in den Jahren der Komposition – nicht mehr mit dem ‚offiziellen‘ Surrealismus Bretons vereinbar war. Nach den im engeren Sinn des Wortes surrealistisch zu nennenden kompositorischen Verfahren, die von Tonmalereien, Stilzitaten und Referenzen auf das Konzertrepertoire ausgegangen sind, gilt es nun, den Charakteristiken einer Beziehung nachzuspüren, die durch die gattungsspezifische Konfrontation von surrealistischem Libretto mit Musik unweigerlich gegeben ist. Schliesslich geht es darum zu ergründen, welche Funktion der Musik in Juliette jenseits eines streng definierten Surrealismus zukommt und in welcher Weise sie auf das surrealistische Libretto reagiert. 168 Zitat ebd., S. 274. Zitat Mâche, Surréalisme et musique (1974), S. 49. Siehe auch Arfouilloux, La Partition surréaliste (1999), S. 55. 170 Zu François-Bernard Mâche siehe u.a. Charles, Petite introduction à l’esthétique de François-Bernard Mâche (1991/92), S. 23-32; Szendy, Polyphonies, S. 83-94 (1994); Grabócz, La Poétique de François-Bernard Mâche (1991/92), S. 107-116; Rigoni, Le Vivace et le bel aujourd’hui (1991/92), S. 35-64 sowie Durney, La Musique et son double (1991/92), S. 133-169. 169 238 Wie bereits in Neveux’ Theaterstück kommt die Funktion der Musik auch in Martinůs Juliette dann explizit zur Sprache, wenn das Akkordeonspiel von dem Mann im Fenster sowie dem Kleinen Araber als hilfreiches Mittel dafür erklärt wird, der identitätslosen Existenz infolge des fehlenden Gedächtnisses entgegenzuwirken. Neveux 171: Martinů: Muž v okně: [Der Mann im Fenster172: Tu n’as pas horreur, toi, Tobě nevadí Dich stört nicht du bruit de mon instrument? hluk tohoto nástroje? der Lärm dieses Instrumentes? Le petit Arabe: Malý Arab: Kleiner Araber: Non, joue encore. Je t’écoute. Ne! Hrej ještě! Mám to rád! Nein! Spiel weiter! Mir gefällt es! L’homme à la schapska: Muž v okně: Der Mann im Fenster: Tu vois, les choses Když hraji, Wenn ich spiele, me reviennent quand je joue… vzpomínky se mi vrací… kehren meine Erinnerungen zurück… mais pas toutes, pas toutes. Ale ne všechny, ne všechny! Aber nicht alle, nicht alle! Le petit Arabe: Malý Arab: Kleiner Araber: A moi aussi. Joue encore. A mně také! Hrej ješte! Und meine auch! Spiel weiter!] L’homme à la schapska : Keineswegs in künstlerischer Abicht, sondern allein um längst vergessene Erinnerungen ins Gedächtnis zurückzurufen, spielt der Mann im Fenster auf seinem Akkordeon, wobei nicht von Bedeutung ist, ob es sich bei der gewonnenen Vergangenheit um tatsächlich Geschehenes oder bloss Erfundenes handelt. Da eine eigene Identität zwingend ein Vergangenheitsbewusstsein voraussetzt, sind sämtliche Stadtbewohner begierig nach Erzählungen, die von aussen an sie herangeführt werden, sei es Michels Bericht über die Spielzeugente oder durch das Akkordeonspiel hervorgerufene Quasi-Erinnerungen: Die Geschichten werden sogleich vereinnahmt, um daraus zumindest vorübergehend eine ‚Second-hand-Identität‘ zu schöpfen. Obwohl sich das musikalische Ereignis nur in der absoluten Gegenwart manifestiert, eignet der transitorischen Ausdrucksform eine Zeitdimension, die für die vergesslichen Stadtbewohner zum Stellvertreter einer über den blossen Augenblick hinausreichenden Geschichte wird. Gerade weil es der Musik an einem eindeutigen Realitätsbezug mangelt, bietet sie sich in 171 Neveux, Juliette ou La Clé des songes, I. Akt, 4. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 121; Martinů, Juliette, I. Akt, 4. Szene, T 3-5 nach Z 25. 172 [Übersetzung des tschechischen Librettos] 239 besonderem Masse dafür an, die grassierende Amnesie zu lindern, eröffnet sie doch durch ihre Indetermination unzählige Deutungsmöglichkeiten; in diesem Sinne ist die Interpretation des – auf dem Akkordeon gespielten – Volksliedes (I. Akt, 4. Szene, T 11 nach Z 27) als Darstellung eines kleinen Bahnhofs durch den Mann im Fenster genauso ‚wahr‘ wie der vom Kleinen Araber imaginierte Blick auf einen Sandstrand (T 1 nach Z 26 bis T 5 nach Z 27)173. Mit ihrer phantasievollen Rezeption des volkstümlichen, auf dem Akkordeon erklingenden Liedes erweisen sich die beiden als ungleich erfolgreicher als die übrigen Stadtbewohner in der vorangegangenen dritten Szene, die der Musik nicht standzuhalten vermochten und in Panik verfielen. Dieser zweite Teil der dritten Szene, die vielmehr die Fortsetzung der zweiten denn eine eigenständige Szene bildet, beginnt mit dem Akkordeonspiel des Mannes im Fenster, worauf nach sechs Takten zunächst das Orchester, danach die beiden Marktfrauen und schliesslich der Chor hinzutreten, die auf dem Höhepunkt des ersten Abschnitts zu folgender Erkenntnis gelangen: Vše se mění! Vše se točí! Všechno mizí! Jenom zůstaňme, kde jsme! (Alles ändert sich! Alles dreht sich! Alles verschwindet! Bleiben wir, wo wir sind!; I. Akt, 3. Szene, T 3 nach Z 22 bis T 4 nach Z 23). Nach einem kurzen Gedächtnistest der Händlerinnen erfolgt die Wiederaufnahme, die schliesslich in den Ausruf To je konec světa! (Dies ist das Ende der Welt; I. Akt, 3. Szene, T 2 nach Z 24) mündet. Notenbeispiel 61a: Juliette, I. Akt, 3. Szene, T 1 nach Z 19 bis T 5 nach Z 20174 Hinter der Bühne erklingt das Akkordeon des Mannes im Fenster, wobei im Autograph – das als Dirigierpartitur der Uraufführung diente – zwar sechs Takte im 3/4-Takt vorgesehen sind, die auf einen Walzer schliessen lassen, wovon jedoch kein einziger Ton notiert ist (I. Akt, 3. Szene, Z 19; Notenbeispiel 61a)175. Nur mit viel gutem Willen kann bei dem unmittelbar 173 Beim Akkordeonpart (I. Akt, 4. Szene, T 11 nach Z 27) handelt es sich laut Halbreich um das mährische Volkslied Lásko, milá lásko, kde tě lidi berú? (Liebe, teure Liebe, wo nehmen dich die Menschen her?). Halbreich, Juliette ou la Clé des songes, in: L’Avant Scène Opéra 210 (2002), S. 24. Mit einer überaus stark abweichenden Melodie ist das Volkslied u.a. in der Sammlung Sušils enthalten; Sušil, Moravské národní písně, „Láska“ (Liebe), Nr. 509, S. 208. 174 Deutsche Übersetzung: Szenenanweisung: [Z 19] Der Mann im Fenster spielt Akkordeon. Das Akkordeon hinter der Bühne spielt 6 Takte im Walzertempo. [Z 20] Die erste Marktfrau taumelt über die Bühne. 175 Martinů, Juliette (Snář), Václav Talich gewidmetes Autograph [liegt heute im Archiv des Nationaltheaters in Prag], I. Akt, S. 30: Unter der Aufforderung des Kleinen Arabers an den Mann im Fenster, Akkordeon zu spielen, findet sich bloss ein eingeklebtes unliniertes Blatt, das ein sechsteiliges Raster mit vorgeschriebenem 3/4-Takt und der szenischen Anweisung hraje harmonika za scénou! (Das Akkordeon spielt hinter der Bühne!) aufweist. Martinů plante zwar eine festgelegten Akkordeonpart, jedoch ist dieser nicht rekonstruierbar. Vgl. Brief von Martinů an Václav Talich, vom 25. Mai 1937 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo 240 daran anschliessenden Orchesterpart im 2/4-Takt eine Reminiszenz an den soeben verklungenen, beliebigen Walzer erahnt werden: Entweder in der kreisenden Bewegung der Motive a und c, die entfernt an einen Tanz erinnern mag, oder im Motiv b, das sich in diminuierter Form und durch eine Achtelpause verfremdet, vage an den 3-er Takt eines Walzers anlehnt. Während die Hörner mit der Dominante zum folgenden reinen c-Moll den Auftakt bilden, setzen die Holzbläser und die Hörner kurz darauf einen – an Strawinskys Petrouchka gemahnenden – Part in C-Dur mit lauter Quint- und Oktavparallelen entgegen, infolgedessen der Harmonik bis auf den Grundton c jegliches Fundament entzogen wird (T 6-16 nach Z 20)176. Anschliessend beginnt sinnbildlich für die durch den hluk (Lärm) des Akkordeons hervorgerufenen Änderungen über dem ostinaten Motiv c eine aufsteigende Sequenzierung des Motivs a (T 1 nach Z 21), die mit der panischen Feststellung Už nerozeznáváme nic (Wir können nichts mehr erkennen) nach as-Moll findet. Obwohl weiterhin von Sequenzen des abgespalteten Motivs a geprägt, verdünnt sich der Satz (ab T 1 nach Z 22) zu blossen Oktavparallelen, die beim fatalistischen Ausruf Jenom zůstaňme, kde jsme! (Bleiben wir bloss, wo wir sind!) in einer ostinaten Sekundbewegung um den Quintton es verharren (ab T 12 nach Z 22 bis T 5 nach Z 23). Der Schrecken über die verlorene Kontrolle veranlasst die beiden Verkäuferinnen zu einem kurzen Gedächtnistest, zu dessen Zweck sie sich kurzfristig dem Sog der Musik entziehen: Das Akkordeon erklingt wieder als solches, denn es hat vorübergehend seine phantastische Wirkung verloren (zwischen T 5 und 6 nach Z 23). Nachdem die erste Marktfrau anhand dessen ihr Gedächtnis überprüft hat, dass sie von sieben bis zwölf zu zählen vermochte, und die andere dadurch, einen Kanarienvogel von einem Huhn unterscheiden zu können, geben sich die beiden wieder der Musik hin. Das Erinnerungsvermögen des Kurzzeitgedächtnisses schlägt sich in den folgenden sieben Takten insofern musikalisch nieder (T 6-12 nach Z 23), als es sich beim Orchesterpart um die wörtliche Reprise einer Passage aus der vorhergegangenen Szene handelt. Allerdings entlarvt der Umstand, dass an der dortigen Stelle der Kleine Araber von den Händlerinnen zu schweigen verlangt hatte, da diese ohnehin alles nur erfinden würden (I. Akt, 2. Szene, T 1-7 nach Z 12), die zurückgewonnene Sicherheit bezüglich eines funktionierenden Gedächtnisses als blosses Trugbild. Dementsprechend bricht die Reprise nach sieben Takten abrupt ab, die Fortsetzung scheint vergessen: Der Vorwurf des Kleinen Arabers aus der zweiten Szene, dessen orchestrale Begleitung die Reminis- 176 Bohuslava Martinů, S. 257: In der Partitur fehlt die Partie des Akkordeons hinter der Bühne, die ich während der Proben und nach Absprache mit dem Akkordeonisten ergänzen werde. Zur Analogie dieser Holzbläser-Passage zu Strawinskys Petrouchka siehe Halbreich, Juliette ou la Clé des songes, in: L’Avant Scène Opéra 210 (2002), S. 22. 241 zenz weitergeführt hätte, erhält dadurch eine weitere Bestätigung – Vy hned všecko zapomenete! (Ihr vergesst sogleich alles!) (T 11-12 nach Z 12). Anstelle einer Fortsetzung der Reprise greift das Orchester das Motiv a wieder auf, womit dieses nach der vorherigen Verwirrung nun endgültig zum Sinnbild des Weltuntergangs wird – To je konec světa! (dies ist das Ende der Welt!) –, den das Akkordeon in der Rezeption der Bewohner vorwegzunehmen scheint (T 13 nach Z 23 bis T 2 nach Z 24). In den ausklingenden Takten der dritten Szene verkörpert das Orchester den prophezeiten Untergang nun insofern auch lautmalerisch, als das ‚Untergangsmotiv‘ einem unerbittlichen Abwärtsgang im Fortissmimo weicht, worauf der Orchestersatz nach wenigen Takten ein weiteres Mal zu blossen Oktaven ausgedünnt wird (T 6-8 nach Z 24), deren ostinater Terzgang nach dreimaligem Erklingen auf dem Ton a zum Stillstand kommt und abbricht (siehe Notenbeispiel 61b). Notenbeispiel 61b: Juliette, I. Akt, 3. Szene, T 14 nach Z 23 bis T 8 nach Z 24 177 Da es den Stadtbewohnern aufgrund ihres mangelnden Gedächtnisses nicht gegeben ist, Veränderungen in der Zeit zu verfolgen, ist es ihnen auch nicht möglich, musikalische Entwicklungen – gleichsam ein klingender Ausdruck der Zeit – als solche wahrzunehmen, infolgedessen die Rezeption des Akkordeonspiels von einer wachsenden Überforderung zeugt. Was bleibt, ist eine weitgehend der Zeit beraubte Musik, die einerseits durch die kleingliedrige, unerbittliche Drehbewegung des ‚Untergangmotivs‘ geprägt ist, und andererseits weder eine übergreifende motivische noch harmonische Entwicklung erkennen lässt. Von einem ostinaten Charakter gezeichnet, vermittelt die Vertonung einen Eindruck von der absoluten Gegenwart der Traumbevölkerung, deren Wahrnehmung am Ende nur noch aus Tonrepetitionen in farblosen leeren Oktaven besteht. Der musikalische Ausgang, der gleichermassen zeitlos wie sinnentleert und hohl anmutet, wird vor diesem Hintergrund zur klingenden Konsequenz des Umstandes, dass die ausschliesslich in der Imagination von Michels Hirn existierenden Figuren selbst durch die transitorische Musik nicht zu einer über den Augenblick hinausreichenden Identität gelangen können. Mit der zweimaligen Ablösung des Akkordeons durch das Orchester findet jeweils ein abrupter Perspektivenwechsel statt, der von der ‚realen‘ Wahrnehmung eines einfachen 177 Deutsche Übersetzung: Marktfrauen/Chor: Dies ist das Ende der Welt! Hou! Hou! Dies ist das Ende der Welt! Hou! 242 Walzers in die traumlogische Perzeption führt und damit gleichsam den Weg zu einer irrationalen Logik nachzeichnet. Obwohl der Walzer des Akkordeons durchaus als objekthaftes, da allgemeinverständliches Moment in die Reihe der zahlreichen Realitätsbezüge aufgenommen werden kann, so wird der Tanz durch das Orchester in einem Ausmass verfremdet, das die Grenzen eines als solchen erkennbaren ‚lieu commun‘ bei weitem überschreitet. Nicht nur das charakteristische Merkmal des 3/4-Taktes erweist sich für die musikalische Struktur als irrelevant, sondern auch jegliche motivische Anknüpfung wird durch die lapidare Angabe ausgeschlossen, wonach das Akkordeon sechs Takte eines beliebigen Walzers zu spielen hat. Allein aufgrund des Librettos ist es möglich, einen Zusammenhang zwischen dem Walzer und dem anschliessenden Orchesterpart herzustellen, der sich etwa darin manifestiert, dass das panische Vše se toči! (Alles dreht sich!; T 5-11 nach Z 22) der Stadtbevölkerung als Folge des tänzerischen Ausgangspunktes zu deuten ist. Während einerseits die zahlreichen Realitätsbezüge in der Vertonung von Juliette als bewusst gesetzte surrealistische Momente zu bewerten sind, so zeugen andererseits die grösseren musikalischen Zusammenhänge von einem Grad an Unabhängigkeit von den Gepflogenheiten der avantgardistischen Bewegung, der allein deshalb in Einklang mit der surrealistischen Stossrichtung gebracht werden kann, weil diese durchgehend vom Libretto gewährleistet wird. Dass Martinů durchaus am surrealistischen Potenzial von Juliette gelegen war, zeigt sich in deutlicher Weise darin, dass der Komponist die Charakteristiken der surrealistischen Grundhaltung im Libretto ungleich konsequenter umsetzte, als dies der Schriftsteller bei seinem Stück getan hatte. So sah Martinů nicht nur davon ab, auf die bereits existierende, nahezu wörtliche tschechische Übersetzung von Hořejší zurückzugreifen, sondern bemühte sich in seinem Libretto erst gar nicht um eine wortgetreue Umsetzung – es wird Ihnen seltsam vorkommen, aber meine Übersetzung stimmt mit seiner [Hořejšís] in nahezu keinem einzigen Satz überein178. Der praktische Grund für die freie Übertragung, die zu zahllosen kleinen Abweichungen gegenüber der Vorlage führte, lag darin, dass er das Original aus sprachlichen Gründen für unübersetzbar hielt, da er nicht an die Möglichkeit glaubte, der Zartheit des Originals in der tschechischen Sprache entsprechen zu können, ein Urteil, das auf die überaus tote Übertragung von Hořejší rekurrierte179. Während der sehr freie Umgang mit dem origina- 178 Jindřich Hořejší, Julie aneb Snář (Julie oder das Traumbuch), Premiere am 13. Oktober 1932 im Studio des Prager Ständetheaters [Archiv des Nationaltheaters in Prag]. Zitat Martinů, Brief des Komponisten an Jindřich Honzl, vom 9. Juni 1936 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 256. 179 Zitate ebd., S. 255. 243 len Wortlaut jegliche Ambitionen einer intendierten Texttreue, wie sie den modischen Literaturopern eignet, von vornherein ausschliesst, so fällt auf der inhaltlichen Seite ins Auge, dass die Auslassungen nahezu allesamt darauf zielen, das inkohärente Moment des surrealistischen Geschehens verstärkt zu betonen180. Martinů verzichtete weitgehend auf temporale Aussagen, wodurch eine zeitliche Einordnung des Handlungsablaufs unmöglich wird, was insofern konsequent erscheint, als die Geschehnisse der allein in der Gegenwart lebenden Bevölkerung nicht in einer erfahrbaren Zeit verankert sind. Dementsprechend wird etwa die Wahl Michels zum Bürgermeister im Libretto nicht mehr mit le jour de Saint-Martin in Verbindung gebracht, sondern findet an einem beliebigen Tag statt, so dass kein Anzeichen für eine kalendarisch festgelegte Zeit mehr vorhanden ist: Der in sich kreisende Tag – einer so gut wie der andere – erscheint als einziger Bezugspunkt181. Analog dazu, dass sich das Zeitverständnis der Bewohner nicht an der Wirklichkeit orientiert, verweigert das Libretto auch eine Verortung der Stadt innerhalb der realen Geographie. Während sich beispielsweise der Kommissar in Neveux’ Stück durchaus dessen bewusst ist, sich nicht in Afrika zu befinden, fehlt im Libretto jeglicher Hinweis auf ein Wissen um eine Welt jenseits des Stadtgebietes. Michel182: Michel: Je pense que je suis l’objet Myslím, že je to [Ich glaube, dies ist entweder d’une plaisanterie ou d’une illusion. žert nebo podvod! ein Witz oder ein Betrug! On dit que, dans le Sahara, ces choses-là se produisent. Le Commissaire: Komisař: Vous n’êtes la proie d’aucun mirage, Ani žert, ani podvod! [Weder ein Witz, noch ein Betrug! Vous êtes, à partir de cette minute, Od teto chvíle Von diesem Augenblick an le premier magistrat de la cité jste pánem města! sind sie der Herr über diese Stadt! et vous n’êtes point en Afrique, malgré ce riche Arabe dont la vue provoque parfois des erreurs dans l’esprit des habitants. 180 Zitat Martinů, Přežila se opera? [Hat sich die Oper überlebt?] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 225. 181 Zitat Neveux, Juliette ou La Clé des songes, I. Akt, 7. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 129. Vgl. Martinů, Juliette aneb Snář, I. Akt, 7. Szene, T 4 nach Z 49. 182 Neveux, Juliette ou La Clé des songes, I. Akt, 7. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 130; Martinů, Juliette aneb Snář, I. Akt, 7. Szene, T 1-7 nach Z 51. 244 et je vais vous remettre A já Vám předám Und ich übergebe Ihnen vos insignes. Vaše odznaky! Ihre Insignien.] Neben dem Verzicht auf temporale und geographische Hinweise, sticht bei einem Vergleich mit dem Theaterstück zudem ins Auge, dass nahezu alle von Neveux kausal strukturierten Erklärungen sonderbarer Ereignisse nicht ins Libretto Eingang fanden: So weiss etwa Martinůs Kommissar weder von einem fernen Afrika, noch versucht er, Michels Verwirrung durch logische Erläuterungen zu lindern. Überhaupt stellen die Stadtbewohner in der Oper keine Anstrengungen an, die ebenso unmotivierten wie überraschenden Aussagen und Handlungsumschwünge in irgendeiner Weise herzuleiten, um ihnen einen Anschein von Sinn zu verleihen, was insofern folgerichtig anmutet, als die Figuren ausschliesslich in der Gegenwart leben, weshalb ihr Tun de facto nicht von kausalen Verknüpfungen gezeichnet sein kann. Während Martinůs Michel niemals erfahren wird, wieso sich ihm Juliette bei ihrem allerersten Duett im ersten Akt vollkommen unerwartet vorübergehend entzieht, liefert sie bei Neveux eine erstaunlich rationale Erklärung für ihr kurzzeitiges Verschwinden: Il faut que je voie si maman est montée dans sa chambre183. Nicht nur im Lauf der ersten beiden Akte, die den eigentlichen Kern des Traumes bilden, sondern sogar im Traumbüro des dritten Aktes, welches bereits auf der Grenze zum Wachzustand angesiedelt ist, zeigt sich das Bestreben, das Geschehen möglichst wenig zu erläutern. So fand als einzige Figur aus dem letzten Akt der Vorlage ausgerechnet ‚Le Monsieur‘ nicht ins Libretto Eingang: Mit dieser Rolle fehlen genau diejenigen Textpassagen, in denen der ansonsten eher desinteressierte Beamte seinem neuen Kunden – und damit zugleich dem Publikum – erklärt, wie der Übergang in den frei gewählten Traum funktioniert, eine Prozedur, die in der Oper nicht thematisiert wird184. Ohnehin werden im Theaterstück nicht nur Vorgänge, sondern auch hierarchisch organisierte Strukturen der Stadt sowie des Traumbüros zur Sprache gebracht, die im Grunde kaum mit der surrealistischen Grundhaltung vereinbar sind. Die angekündigte Amtseinführung Michels als Bürgermeister erinnert gleichermassen an das politische Pendant in der Realität, wie der Verwaltungsapparat im letzten Akt an die alltägliche Bürokratie gemahnt, weshalb sich ‚Le Monsieur‘ auch nicht grundlegend vom Beamten im Traumbüro unterscheidet, was letzterem durchaus bewusst ist: Ne vous troublez pas, Monsieur, je suis fonctionnaire comme vous et 183 Zitat Neveux, Juliette ou La Clé des songes, I. Akt, 8. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 141. Vgl. Martinů, Juliette aneb Snář, I. Akt, 8. Szene, T 1-2 nach Z 77: Juliette: Stále mlčíte! Na co myslíte? Počkejte zde, vrátím se hned, počkejte! (Immer schweigen sie! Woran denken sie? Warten sie hier, ich komme gleich zurück, warten sie!). 184 Neveux, Juliette ou La Clé des songes, III. Akt, 5. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 196-199. 245 nous sommes faits pour nous entendre185. Zwar haftet der kafkaesken Überzeichnung der – vom Beamten bloss angetönten – zahllosen Bürolisten in unterschiedlichen Abteilungen ein offensichtliches Moment der Verfremdung an, jedoch transportiert das Theaterstück dadurch genau diejenigen kausalen und hierarchischen Strukturen, die der Surrealismus vehement bekämpfte186. Während das Theaterstück das surrealistische Traumideal – Puisque je suis en train de rêver, tout est permis – auf der Folie einer letztlich kausal bestimmten Ordnung ausbreitet, bleibt dagegen im Libretto die Logik der Stadtbewohner ebenso unergründlich wie die Organisation des Traumbüros187. Dass die häufig irrationalen Gedanken nicht wie im Theaterstück zwar absurde, jedoch in sich schlüssige Erklärungen erfahren, schlägt sich darüber hinaus direkt in der Sprache des Textbuches nieder: Nicht nur bedingt durch die Anlage als Opernlibretto, sondern auch infolge des Verzichtes auf eine explizite Logik vermitteln in Martinůs Version die charakteristischen Wortwiederholungen anstelle kausal angelegter Repliken, den Eindruck, als ob sich die Personen an den Worten festhalten würden, um wenigstens kurzfristig den Faden nicht zu verlieren. So spiegelt sich die kollektive Amnesie insbesondere bei den Marktfrauen in einer ausgeprägt ostinaten Sprechweise, die den Figuren eine spürbare Unnahbarkeit verleiht und um so deutlicher macht, dass der in der rationalen Logik des Wachzustandes verhaftete Michel niemals Eingang in die Wirklichkeit des Traumgeschehens finden kann (siehe beispielsweise Auftritte der Marktfrauen im I. Akt, 2., 3. Szene und 8. Szene). Obwohl Martinů ebenso wie Neveux die syntaktische Struktur weitgehend respektierte, sich also keineswegs der écriture automatique aus der Anfangsphase des Surrealismus verpflichtet fühlte, wirkt das Libretto infolge der penetranten Wortwiederholungen, der kürzeren Sätze sowie aufgrund der weitgehend vermiedenen, sinnstiftenden Erklärungen ungleich prägnanter und deutlich inkohärenter als das Theaterstück, weshalb sich im Textbuch die Konsequenzen aus dem Fehlen des Gedächtnisses kompromissloser als in der Vorlage niederschlagen. Obwohl sich die gesamte Handlung ausschliesslich im Hirn des träumenden Protagonisten abspielt, kommt es in den ersten beiden Akten – des Schauspiels sowie der Oper – durch den selbst im Schlaf der realen Logik verpflichteten Michel zu einer andauernden Konfrontation zwischen Fiktion und Realität, infolgedessen die Charakteristiken der Traumwelt permanent exponiert werden. 185 Neveux, Juliette ou La Clé des songes, III. Akt, 5. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 197. Vgl. Kapitel IV, S. 188. 187 Zitat Neveux, Juliette ou La Clé des songes, III. Akt, 5. Szene (Le Monsieur), in: Ders., Théâtre, S. 198. 186 246 Das ganze Spiel stellt im Grunde eine Konfrontation zwischen Fiktion und Realität dar, eine Konfrontation, die aus einem sonderbaren Blickwinkel – aus demjenigen der Traumatmosphäre – gesehen wird, wo häufig die Fiktion gegenüber der Realität stark überwiegt, wo erdachte, fantastische und unmögliche Dinge Wirklichkeit werden, und wo die konkrete und reale Wirklichkeit zunehmend die Form gänzlicher Unwahrscheinlichkeit und reiner Fiktion annimmt. Dieser Prozess ist dermassen offensichtlich, dass wir ihn Schritt für Schritt im II. Akt verfolgen können, wo der Verstand und das Bewusstsein des Protagonisten Michel in jedem Satz und auf Schritt und Tritt mit fantastischen, unwahrscheinlichen Gedanken attackiert werden, bis in dem ganzen Durcheinander der unvorhergesehenen und seltsamen Ereignisse Michels logischer Verstand verpufft, sich verliert und unterliegt, bis er gänzlich verschwindet188. Tatsächlich kommt Michel am Ende des zweiten Aktes die rationale Logik abhanden, kann er sich doch nun ebenfalls an nichts mehr erinnern, auch nicht an Juliettes Lied, das genau in dem Augenblick erklingt, als er sich anschickt, das Schiff zu betreten, um die Stadt zu verlassen: To je podivná písnička! (Das ist ein seltsames Lied!; II. Akt, 13. Szene, 4 T vor Z 92)189. Ambivalent ist diese offenkundige Amnesie insofern, als unklar bleibt, ob sich Michel nicht mehr an die ‚konvulsivische‘ Geliebte erinnern kann, weil er dem morgendlichen Erwachen mittlerweile zu nahe ist und er den Ort des amour fou bereits verlassen hat, oder ob dies ein Ausdruck davon ist, dass er vom schmalen Grat zwischen Traumwelt und Realität ins irrationale Denken der Traumfiguren abgeglitten ist. So sehnt sich Michel im Traumbüro – gleichsam ein Vorhof zwischen Traum und Wachzustand – schon wieder nach der geliebten Unbekannten, ohne dass er sich im Unterschied zu seinem Verhalten in den vorangegangenen zwei Akten noch um die absurde Beschaffenheit der Traumstadt kümmern würde190. Angetrieben von einer brennenden Leidenschaft nach der imaginierten Titelheldin, drängt es ihn um jeden Preis zu einer Rückkehr in die erträumte Welt, hat er doch erkannt, dass sein amour fou allein dort existieren kann, denn die Wirklichkeit tötet Juliette191. Folglich spielt sich die gesamte Oper jenseits einer rational bestimmten Welt ab: Michel irrt in den ersten 188 189 190 191 Martinů, Poznámky k Juliette [Anmerkungen zu Juliette] (1937-38), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 276. Inhaltlich identische Wendung bereits bei Neveux; siehe dessen Juliette ou La Clé des songes, II. Akt, 12. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 184: Michel (il écoute distraitement, puis...): En voilà une chanson! (et il disparaît dans le bateau). Siehe Martinů, Juliette, III. Akt, 2. Szene, nach T 9 nach Z 8: Michel: Pardon, ale já se nechci vrátit. Chápejte mě! Já jsem tady kohosi dlouho hledal a dnes jsem jej konečně našel! Vy asi víte, kdo to je? (Verzeihung, aber ich will ja gar nicht [nach Hause] zurück. Verstehen sie mich doch! Ich habe hier lange nach jemandem gesucht und ihn heute endlich gefunden. Sie wissen wohl, wer es ist?). Jindřich Honzl, Před premiérou opery Julietta nebo Snář [Vor der Uraufführung der Oper Juliette oder das Traumbuch] (1937-38), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 270. 247 beiden Akten mit realem Verstand durch eine absurde Stadt, bis er im letzten Akt schliesslich selbst jede logische Vernunft der unbändigen Leidenschaft seines amour fou opfert, weshalb die expliziten Warnungen des Beamten sowie des Nachtwächters im Traumbüro sogleich in den Wind geschlagen werden. Analog zu Sestra Paskalina, dem letzten Akt der Hry o Marii, worin die ambivalente Erzählung offen liess, ob es sich um tatsächlich Geschehenes oder um einen blossen Traum der Titelheldin handelte, und damit den Komponisten von einer ‚realistischen‘ Vertonung entband, kommt auch in Juliette den bereits damals angestrebten Momenten einer beschnittenen Kausalität sowie einer zu vermeidenden Psychologisierung erneut ein zentraler Stellenwert zu. Mit Blick auf das Libretto liegt ein entscheidender Unterschied jedoch darin, dass es in Sestra Paskalina einer Aneinanderreihung präexistenter Texte bedurft hatte, um infolge fehlender Übergänge eine logische Entwicklung von Handlung und Musik zu vermeiden, in Juliette dagegen ein zusammenhängendes Textbuch wieder möglich war, weil den Anforderungen einer zu umgehenden Kausalität und Psychologisierung nun auf der Inhaltsebene vollauf genüge geleistet wurde. Der Traum als Ort des Geschehens bot damit letztlich die Voraussetzung dafür, anstelle eines Zyklus von Einaktern – wie in den Hry o Marii – wiederum auf eine dreiaktige Opernform zurückgreifen zu können. Michel and the characters seem to us to be surrounded by the past and the present... A dream. I have chosen it because I cannot describe psychology… I am not looking for Freud or psychoanalysis192. Weil die Stadtbewohner über keinerlei Gedächtnis verfügen, können sie unmöglich einen konsistenten Charakter erlangen, wobei die Figuren um so mehr blosse Schemen bleiben, als sowohl im Theaterstück als auch in der Oper ausser Michel und Juliette sämtliche Akteure Doppel- oder gar Tripelrollen innehaben. Obwohl diese Mehrfachbesetzungen nicht zuletzt mit einem praktischen Grund zusammenhingen, nämlich der beträchtlichen Zahl der zu besetzenden Rollen, versuchte der Komponist erst gar nicht, eine Einzelbesetzung durchzusetzen, vertrat er doch die Auffassung, dass die Rollenverdoppelung im Hinblick auf das phantastische Sujet überhaupt nicht von Nachteil sei193. Schliesslich erweist sich die Mehrfachbesetzung als wirkungsvolles Mittel, eine in der physischen Erscheinung der Sänger begründete 192 Neveux, Notizbucheintrag [französische Quelle unbekannt], zitiert nach Lambert, Desperately seeking Julietta, S. 34. 193 Brief von Martinů an Václav Talich, vom 25. Mai 1937 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 256. 248 Identität der einzelnen Figuren zu verhindern, infolgedessen diese weder über ein Gedächtnis noch über einen eindeutig definierten Körper verfügen. Indem jedoch die ständige Verwandlung der Orte auf die Personen übergreift, und beispielsweise derselbe Tenor die Rolle des Kommissars, des Briefträger sowie des Waldhüters verkörpert, wird nicht nur eine Identität der verschiedenen Personen unmöglich, sondern zugleich die Bedeutung der jeweils bekleideten Funktion irrelevant. Es geht weniger darum, welchem Beruf die einzelnen Bewohner gerade nachgehen, als vielmehr darum, dass sie prinzipiell alles sein könnten, treten die instabilen Personen doch stellvertretend für das Universum des Traumes auf, wodurch ihr unmotiviertes Auftauchen und die daraus resultierenden Szenen paradoxerweise ihre sinnvolle Berechtigung erhalten194. Als sich spätestens im dritten Akt auch Juliette, der einzige Eigenname in der Traumstadt, als Symbol für den amour fou erweist und damit gleichsam zu einer ‚Berufsbezeichnung‘ wird, verbleibt allein Michel als weitgehend konsistenter Charakter, was insofern folgerichtig ist, als die übrigen Personen bloss in seinem träumenden Hirn auftreten und somit ausschliesslich durch seine Gedankenleistung determiniert werden. Diese für die auftretenden Figuren existenzielle Beziehung macht eine eigenständige musikalische Personengestaltung obsolet, gibt es doch abgesehen von Michel keine stabilen Figuren, deren Entwicklung es nachzuzeichnen gälte. Obwohl der Protagonist die einzige ‚reale‘ Person in der ganzen Oper darstellt – insofern, als er sich im Traum selbst verkörpert – und damit durchaus für eine Charakterisierung durch die Vertonung prädestiniert wäre, wird eine wirklichkeitsnahe psychologische Entwicklung aufgrund der instabilen Traumrealität von Beginn an ausgeschlossen. Juliette ist ein Traum, und damit ist bereits jeglicher psychologischer Prozess in eine andere Sphäre und auf eine andere Ebene überführt worden. Es ist zwar ein innerer Prozess, der jedoch aus dem Feld der geläufigen psychologischen Gesetze ausschert, es ist, wenn Sie so wollen, ein psychologischer Traum, d.h. eine Phantasie195. 194 195 Vgl. Brief von Jindřich Honzl an Václav Talich, vom 13. Oktober 1937 aus Prag, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 261: Diese Personen und Charaktere bewegen sich zwischen den Polen dieses Paradoxons: in der äusseren Erscheinung ziemlich wirklich zu sein [...] – aber zugleich ziemlich fantastisch darin zu sein, was die ganze Figur belebt und ihr eine Bedeutung verleiht [...]. Martinů, Poznámky k Juliette [Anmerkungen zu Juliette] (1937-38), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 276. Siehe auch Martinů, Juliette ou La Clé des songes, [Vorwort zum Klavierauszug] (1947), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 252 f.: Nur ein einziger Mensch, Michel, ist nach wie vor im Besitz seines Gedächtnisses und seiner Erinnerungen an vergangene Ereignisse. Hier allerdings, in dieser seltsamen Welt jenseits der Zeit, ist ihm diese Eigenschaft eher im Wege, seine normale logische Denkweise stösst in jedem Moment auf unvorhergesehene absurde Ereignisse und deren Lösungen. 249 Da sich das Geschehen aufgrund der instabilen Umwelt einer übergreifenden Entwicklung entzieht, verliert der grosse Bogen zugunsten der einzelnen Augenblicke das bestimmende Gewicht, liegt doch in Ermangelung einer stringenten Fabel die Bedeutung im Kleinen, infolgedessen jedes Detail wichtig ist196. Angetrieben von seiner leidenschaftlichen Sehnsucht nach Juliette, stolpert Michel von einer absurden Situation in die nächste, was sich musikalisch insofern niederschlägt, als etwa bei der Spielzeugenten-Passage, der Marktplatz- oder der Lokomotivszene ein charakteristisches Motiv zu einem in sich geschlossenen musikalischen Abschnitt verarbeitet wird. Damit wird die Vertonung jedoch weniger von der Befindlichkeit des Protagonisten geprägt, als vielmehr von der instabilen Traumrealität mit ihren irrational changierenden Eigenschaften, die nur vorübergehend greifbar sind, um sich sogleich wieder zu entziehen. Obwohl Martinů durchaus bewusst war, dass sich in der Konfrontation des rational denkenden Michel mit einer unwirklichen Welt eine existenzielle Frage verbirgt, nämlich diejenige nach dem Wesen des Menschen jenseits einer identitätsstiftenden Realität, räumte er dennoch dem poetischen Moment des wundersamen Traumes einen vorrangigen Stellenwert ein. Im Grunde ist es ein psychologisches Problem und tatsächlich ein altes menschliches Problem: „Was ist der Mensch, was bin ich, was sind Sie, was ist die Wahrheit?“ [...] das Theaterstück von Neveux ist allerdings keine philosophische Dissertation, sondern eine aussergewöhnlich poetische Phantasie197. Die Charakterisierung als aussergewöhnlich poetische Phantasie verweist direkt auf Martinůs Ideal eines wirklichen Theaters, das er bereits bei den Hry o Marii explizit angestrebt hatte, und das sich einerseits durch eine nicht psychologisch motivierte Handlung sowie andererseits durch ein betont spielerisches Moment der Bühnenkunst auszeichnet198. Dass der Komponist zudem nach wie vor am Prinzip der weitgehend voneinander unabhängigen Bühnenmittel festhielt, ermöglichte schliesslich eine enge Zusammenarbeit mit dem Regisseuren Jindřich Honzl – einem der wichtigsten Theaterschaffenden des avantgardistischen ‚Osvobozené Divadlo‘ (Das Befreite Theater) –, der wiederholt auf die übereinstimmende Auffassung hinsichtlich theaterästhetischen Fragen hinwies hat, wobei er hauptsächlich auf 196 Martinů, Juliette ou La Clé des songes, [Vorwort zum Klavierauszug] (1947), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 253. 197 Ebd., S. 252. 198 Vgl. Kapitel III. 250 Martinůs Aufsatz anlässlich der Uraufführung der Hry o Marii rekurrierte199. In diesem Text erkannte der Regisseur nicht nur die Grundzüge des von ihm selbst angestrebten zeitgenössischen Theaters, sondern zugleich die seiner Meinung nach einzig richtige Rolle der Musik sowohl im modernen Schauspiel als auch im Musiktheater200. Dementsprechend erlangte die Musik auch in Juliette eine weitgehende Unabhängigkeit von der Textvorlage, da sie vor dem Hintergrund eines irrationalen Traumes jeglicher psychologisierenden Funktion enthoben und durch das fehlende Zeitbewusstsein der Figuren zudem im blossen Augenblick angesiedelt wurde, den auszudehnen sich geradezu anbot. Begreift man Juliette mit Martinů als eine Art Zeit- und Raumkontinuum, dem die Zeit abhanden gekommen ist, dann erweist sich das Libretto als prädestiniert für eine Kompositionsweise, die bereits die Hry o Marii geprägt hatte, wo es gleichermassen darum ging, die musikalische Form jenseits einer sich entwickelnden Handlung zu gestalten201. Als Traum angelegt, ist die Oper von der Charakteristik der fehlenden Zeit, des unspezifischen Raums und der ausgeblendeten Kausalität geprägt, woraus sich hinsichtlich der musikalischen Form eine Freiheit ergibt, die durch das zugrundeliegende Textbuch nun sogar eine inhaltliche Berechtigung erfährt. Dass Martinů trotz dieser Eignung für eine den Hry o Marii vergleichbare Kompositionsweise in Juliette zu einer Vertonung gelangen sollte, die er in folgende Worte fasste, mag dagegen – und gerade in Anbetracht von Honzls Begeisterung – erstaunen: Es wird eine sonderbare Phantasie und eigentlich entgegen aller Prinzipien, zu denen ich mich bisher mit einer solchen Vehemenz bekannt habe202. Das Paradoxon, zwar eine den Hry o Marii vergleichbare Musikauffassung zu vertreten, jedoch zugleich gegen eigene Grundsätze verstossen zu haben, lässt sich dahingehend auflösen, als einerseits die Idee einer weitgehend zu vermeidenden musikalischen Psychologisierung sowie einer logischen Entwicklung nach wie vor prägend war, andererseits jedoch in der motivischen Verarbeitung sowie in der Behandlung der Singstimmen Unterschiede zu finden sind, die nicht zuletzt durch das Libretto ihre Berechtigung erhalten. 199 200 201 202 Honzl, Před premiérou opery Julietta nebo Snář [Vor der Uraufführung von Juliette oder das Traumbuch] (1937-38), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 268; Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Premiere] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 215-224; siehe auch Kapitel III, S. 111131. Vgl. Honzls Texte zum Theater Sláva a bída divadel (1937) sowie dessen russische Theatergeschichte Moderní ruské divadlo (1928); zum ‚Osvobozené Divadlo‘ siehe auch Kapitel III, S. 183 [Fussnote 199]. Honzl, Před premiérou opery Julietta nebo Snář [Vor der Uraufführung von Juliette oder das Traumbuch] (1937-38), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 268. Martinů, Juliette ou La Clé des songes, [Vorwort zum Klavierauszug] (1947), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 252. Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 9. Juni 1936 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 255. 251 Dem bizarren Traum mit den zahlreichen Stimmungswechseln entsprechend, entgleitet die Musik andauernd203: nothing is definite, almost as if any clear and unchallengeable statement either verbal or musical would shatter the iridescent, barely apprehended surface204. Während dieser Verzicht auf übergreifende musikalische Entwicklungen durchaus in die Tradition der Hry o Marii eingereiht werden kann, so ist dies bei der gleichsam leitmotivisch anmutenden Verwendung zahlreicher semantisch deutbarer Klangfolgen ungleich schwieriger, erwies sich doch Martinů gerade in seinen Texten zu den mittelalterlichen Spielen als unerbittlicher Kritiker des verbreiteten Leitmotiv-Gebrauchs in den Opern der WagnerNachfolge205. Dennoch beginnt Juliette mit einem Fagottsolo, das durch den mutmasslich beginnenden Traum sogleich als ‚Eintrittsmotiv‘ konnotiert wird, und nicht nur am Ende der Oper in fragmentierter Form den Augenblick des einsetzenden Wahnsinns bezeichnet, sondern auch im Lauf der drei Akte wiederholt durch kurze Reminiszenzen in Form eines abwärts gerichteten Motivs mit zwei kleinen Sekundschritten und anschliessendem kleinem Terzsprung den labilen Traumzustand als solchen markiert (siehe Notenbeispiele 56, 59a, 62). Notenbeispiel 62: Juliette, II. Akt, 10. Szene, T 1-4 nach Z 76 Da der Traum in Juliette auf der schmalen Grenze zwischen Wachzustand und dauerhaftem Wahnsinn angesiedelt ist, befindet sich Michel permanent an der Schwelle zu einer anderen Sphäre, wie dies etwa in der zehnten Szene des zweiten Aktes der Fall ist, als er sich plötzlich nicht mehr an das Traumgeschehen erinnern kann: Das ‚Eintrittsmotiv‘ hebt zwar die plötzliche Amnesie als Übertritt in eine andere Wirklichkeit hervor, lässt jedoch offen, ob diese bereits in der Nähe des morgendlichen Wachzustandes oder in derjenigen der einsetzenden Verrücktheit angesiedelt ist (Notenbeispiel 62). Dass selbst innerhalb des eigentlichen Traumes in den ersten zwei Akten, als sich die Frage des Erwachens noch in keiner Weise stellt, durch subtile Reminiszenzen an das ‚Eintrittsmotiv‘ die Grenzsituation als solche gekennzeichnet ist, zeigt sich auch im Lied der Titelheldin (siehe Notenbeispiel 60a). In überaus verkürzter Form findet sich das Motiv in den letzten drei Tönen von Juliettes Lied über dem Wort láska (Liebe) wieder, wobei dem kaum mehr distinkten Charakter dadurch entgegengewirkt wird, 203 Brief von Martinů an Václav Talich, vom 12 Juni 1936 aus Paris, in: Kuna, Korespondence Bohuslava Martinů Václavu Talichovi 1924-1939, S. 232. 204 Smaczny, A Key to Martinů’s Julietta (1997), S. 1166. 205 Vgl. Martinů, Přežila se opera? [Hat sich die Oper überlebt?] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 228. 252 dass die Alteration der letzten beiden Töne den kleinen Sekundgang mit kleinem Terzsprung deutlich aus dem Kontext des c-Dorisch heraustreten lässt. Ausgehend von der nahen Verwandtschaft der letzten drei Töne mit dem ‚Eintrittsmotiv‘, kann auch die – durch ein mehrfaches Auf und Ab geprägte – Melodie rückwirkend als Folge von Variationen dieses Motivs gedeutet werden, infolgedessen Juliettes Lied zum klanglichen Ausdruck davon wird, dass die von ihr besungene Liebe allein im Grenzbereich des Traumes angesiedelt ist. Dass auf einer weiteren Stufe letztlich jeder abwärts gerichtete Sekundgang mit abschliessendem Sprung als mehr oder weniger distinkte Ableitung des ‚Eintrittsmotivs‘ gedeutet werden kann, verleiht der Vertonung insofern einen ambivalenten Charakter, als der Rückkoppelung kleinstgliedriger Motivteile an die semantisch konnotierte Klangfolge zwar die Gefahr der Beliebigkeit anhaftet, andererseits jedoch in der gesamten Vertonung gerade deshalb das labile Moment des Traumes latent durchschimmert. In vergleichbarer Weise fliessend ist der Übergang von einer klar konturierten zu einer bloss mutmasslich anklingenden Gestalt auch bei der Verwendung des ‚Traummotivs‘, das unmittelbar nach dem ‚Eintrittsmotiv‘ sogleich zu Beginn der allerersten Szene exponiert wird (I, 1. Szene, T 5-7 nach Z 0, siehe Notenbeispiel 59a). So tritt das tremolierende ‚Traummotiv‘ etwa am Ende der Oper offenkundig zutage (III, 7. Szene, T 2-4 nach Z 63, siehe Notenbeispiel 56), während es unmittelbar vor dem ersten Auftritt Juliettes nur in verfremdeter Form – als arpeggierter Aufstieg im Klaviers – auf den Traumzustand verweist (I, 8. Szene, T 1 nach Z 74, siehe Notenbeispiel 60a). Sieht man von einem klanglich evozierten Eindruck des nach oben gleitenden, oszillierenden Motivs als Ausdruck des entschwindenden Bodens ab, kommt es erst durch dessen unmittelbare Nähe zum ersten Auftritt der Titelheldin zu einer offenkundigen Verknüpfung mit dem Kern von Michels Traum, bereitet das ‚Traummotiv‘ doch Juliettes Gesang und damit das eigentliche Movens der Handlung vor. Die Bedeutung dieses Liedes für die Oper spiegelt sich in einer Überlagerung mehrerer semantisch konnotierter Ebenen wider, wozu die Verwendung des ‚Traummotivs‘ gleichermassen zu zählen ist wie die Reminiszenz an Debussys Pelléas et Mélisande oder der Klang des Klaviers, das anstelle des Orchesters den Gesangseinsatz vorbereitet206. Schliesslich wurde das ‚gutbürgerliche‘ Tasteninstrument gerade von den Surrealisten nicht nur wie bei Eluard als Inbegriff für die Musik schlechthin gesehen und verurteilt, sondern auch als allgemeinverständliches Symbol für Erotik herangezogen207. Dementsprechend ist das Instrument in Juliette direkt an die Liebe gekoppelt, indem 206 207 Zum Verhältnis von Martinůs Juliette zu Debussys Pelléas et Mélisande siehe Kapitel IV, S. 232-234. Vgl. Kapitel IV, 4, S. 214 f.; Clébert, Dictionnaire du surréalisme (1996), S. 462 f. 253 es einerseits die Auftritte der Titelheldin begleitet – sei es bei ihrem Lied, sei es als Bühnenrequisit im Wald stehend (II. Akt) – sowie andererseits etwa den Erinnerungen des alten Paares ‚Babička‘ (Grossmutter) und ‚Dědeček‘ (Grossvater) an die gemeinsame Jugend eine charakteristische Klangfarbe verleiht (II. Akt, 3. Szene). Eine vergleichbare Verquickung mehrerer semantisch besetzter Ebenen findet sich bei einem weiteren zentralen Motiv, von Karbusický deshalb ‚Erinnerungsmotiv‘ benannt, weil es Juliettes Frage nach Michels Erinnerung an sie ebenso begleitet wie den Auftritt des Verkäufers vermeintlicher Souvenirs (II. Akt, 5. Szene, Z 38-39)208. Notenbeispiel 63a: Juliette, I. Akt, 8. Szene, T 5-7 nach Z 76 (‚Erinnerungsmotiv‘) 209 Notenbeispiel 63b: Bedřich Smetana, Má vlast: Vyšehrad, T 1-2 Durch das Libretto als Sinnbild einer vermissten Vergangenheit etabliert, finden sich in diesem kurzen Motiv darüber hinaus Anspielungen an Bedřich Smetanas ‚Vyšehrad‘-Motiv aus Má vlast (Mein Vaterland) einerseits sowie an die von Leoš Janáček in Taras Bulba erstmals im Rahmen der Kunstmusik exponierte ‚Mährische Kadenz‘ andererseits210. Indem die beiden Modelle miteinander kombiniert werden, verfremden sie sich gegenseitig, vereinigt sich doch Smetanas Motiv über einer T-Sg-D-T-Kadenz (in Es-Dur) mit der ‚Mährischen Kadenz‘ zu einer plagalen T-T7>3 -Sp-T-Kadenz (in B-Dur). Geht man von der Definition der ‚Mährischen Kadenz‘ durch H. Owen Reed – einem Schüler Martinůs in Tanglewood – aus, nämlich als Dominantseptakkord ohne Quinte mit sixte ajouté, der sich in die Doppeldominante auflöst, wird die Wendung hier insofern gebrochen, als sich in Martinůs ‚Erinnerungsmotiv‘ allein der Sekundschritt von der ‚sixte ajoutée‘ des Dominantseptakkordes zum Grundton der Doppeldominante im Verhältnis der Grundtöne von der Subdominantparallele zur Tonika wiederfindet211. Vergleichbar den Anspielungen an Strawinskys Sacre oder Debussys Pelléas, erhält also weder Smetanas Má vlast noch die ‚Mährische Kadenz‘ ungebrochen Eingang in Juliette, 208 Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 286 f. Deutsche Übersetzung: Michel: Letztes Mal trugen sie genau dasselbe [Kleid]! Juliette: Und meine Haare, gefallen sie Ihnen so? 210 Vgl. Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 286 f. Zur Mährischen Kadenz siehe auch Kapitel III, S. 159. 211 Siehe Definition der ‚Mährischen Kadenz‘ durch H. Owen Reed, in: Meyer, Sport, Technik, Jazz und mährische Kadenzen (1998/99), S. 3. 209 254 was mit Blick auf die Stossrichtung des Textbuches als direkte Konsequenz des Surrealismus zu verstehen ist. Sowohl beim ‚Erinnerungsmotiv‘, als auch beim ‚Traummotiv‘ vermischen sich zwei Arten semantisch besetzter musikalischer Klänge, nämlich einerseits die präexistente Bedeutung charakteristischer Wendungen aus bekannten Kompositionen sowie andererseits die innerhalb des Werkes mithilfe des Librettos generierte Konnotation mehrerer Motive, die gleichsam leitmotivisch am Satz unterschiedlicher Szenen teilhaben. In Einklang mit dem zwingend objektbezogenen Surrealismus des Textbuches weist Juliette eine grundlegend andere Kompositionsweise auf, als sie den Hry o Marii eignete, die in hohem Masse durch den Verzicht auf eine direkte musikalische Bezugnahme auf die jeweilige Handlungssituation geprägt war212. Wenngleich das surrealistische Libretto die Verwendung von Leitmotiven für Martinů erst möglich machte, so wirkte einer grossformalen Einheit ausschliesslich durch leitmotivische Bezüge wiederum die Inkohärenz des allein der absoluten Gegenwart Entsprungenen entgegen. Obwohl der Surrealismus letztlich nach einer (surrealistischen) Logik strebte, zeigt sich der Traum Michels in einer überaus sprunghaften Form, deren Einzelteile zwar zumeist an Versatzstücke der Realität geknüpft und folglich semantisch besetzt sind, jedoch kaum einer übergreifenden Einheit gehorchen. Bezogen auf die Handlung lässt sich die Gleichzeitigkeit leitmotivischer Klangfolgen und -farben sowie die sprunghaft wechselnde Motivik insofern auflösen, als sich die zentralen Motive, sei es das ‚Eintrittsmotiv‘, sei es das ‚Traummotiv‘ zumeist auf die Situation Michels beziehen, während die kleinteilig wirksamen Motive, wie das ‚Spielzeugentenmotiv‘ oder das ‚Lokomotivmotiv‘ in der Regel auf die Traumrealität ausserhalb der Person Michels zielen. Eine weitere Möglichkeit, der Vertonung eine aussermusikalische Bedeutung zu verleihen, findet sich in der mehrfach angewandten Vorgehensweise, bereits erklungene Abschnitte wörtlich wieder aufzunehmen, wodurch die betreffenden Situationen unweigerlich in einen direkten Zusammenhang zueinander gebracht werden. Dies geschieht beispielsweise in der dritten Szene des ersten Aktes, wenn sieben Takte der vorangegangenen Szene in identischer Weise nochmals erklingen213, oder aber in ausgeprägter Weise im dritten Akt, dessen vierte Szene ausschliesslich aus zwei wörtlichen Reprisen der zweiten Szene desselben Aktes besteht: T 1 nach Z 21 bis T 1 nach Z 24 entspricht musikalisch der Passage T 10 nach Z 4 bis 212 Zu Martinůs Kritik an der Leitmotivik der Wagnernachfolge siehe Martinů, Přežila se opera? [Hat sich die Oper überlebt?] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 228; siehe auch Kapitel III, S. 133-135. 213 Siehe Kapitel IV, S. 241 f. 255 T 8 nach Z 8 und der anschliessende Teil von T 2 nach Z 24 bis T 3 nach Z 25 nimmt T 1 nach Z 7 bis T 1 nach Z 8 wieder auf. Während sich diese Reprisen insofern durch das Libretto erklären lassen, als der Hotelboy nach seinem Traum in der vierten Szene wieder an demselben Punkt angelangt ist, den er in der zweiten Szene verlassen hatte, und somit trotz der temporären ‚Flucht‘ in den Wilden Westen keinen Schritt weiter gekommen ist, erhalten manche wörtlichen Wiederholungen erst beim zweiten Erklingen eine explizite Bedeutung. So begleitet die Orchestereinleitung des dritten Aktes Michels Eintritt in das Traumbüro, wobei allein die instabile bitonale Harmonik (mit Des-Dur beginnend, dem erst h-Moll und anschliessend e-Moll gegenübergestellt wird, in f-Moll auf der Dominante endend) sowie die charakteristischen Tremoli von der Grenzsituation zwischen Traum und Wachzustand künden, während dieselbe Musik in der dritten Szene dem Dialog zwischen Michel und dem Traumbeamten unterlegt ist (III., 3. Szene, T 10 nach Z 17 bis T 8 nach Z 19). Durch das Libretto erhält das schwebende Moment dieser Passage eine weitere Deutungsebene, erweist sich doch die Instabilität nicht mehr nur als Ausdruck eines entrückten Traumes, sondern neu auch als Konflikt zwischen der rationalen Vernunft, verkörpert durch die Person des Beamten, und der Sehnsucht Michels nach dem amour fou. Da einerseits die surrealistische Grundhaltung geradezu nach einer Semantisierung der Musik verlangt und es andererseits die Verortung im Traum wie bereits in Sestra Paskalina erlaubt, auf eine konsequente Logik der musikalischen Entwicklung zugunsten einer gleichsam assoziativ wechselnden Motivik zu verzichten, zeugt Juliette zwar weitgehend von derselben Musikauffassung wie die Hry o Marii, offenbart jedoch darüber hinaus eine ungleich engere Verbundenheit von Wort und Ton. Der Surrealismus legitimierte also eine Kompositionsweise, die noch wenige Jahre zuvor für Martinů kaum denkbar gewesen wäre, nämlich das Spiel mit semantisch besetzten Motiven und Klängen im Orchester, was genauso entgegen allen Prinzipien war, wie die grösstenteils rezitativisch gesetzten Gesangspartien214. Denn während der durchgearbeitete Orchesterpart primär auf eine bildhafte Tonsprache zielt, sind die Singstimmen in hohem Masse deklamatorisch geprägt, angesiedelt auf dem schmalen Grat zwischen der Deutlichkeit einer natürlichen Sprache sowie dem Melos des Gesangs215. Obwohl Martinů sich insbesondere zur Zeit der Hry o Marii polemisch gegen jegliches Rezi- 214 215 Zitat Martinů, Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 9. Juni 1936 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 255. Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 27. Januar 1938 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 271. 256 tativ gewandt hatte, erweist sich der Schritt zu Juliette trotzdem als ein geringer, liegt doch das damals propagierte Gesangsideal einer mélopée in unverkennbarer Nähe zum deklamatorischen Stil der Traumoper. Er [Martinů] legt grossen Wert auf die Textverständlichkeit beim Gesang, jedoch ohne rezitativische Deklamation, sondern in der Art einer mélopée, einer Melodie im Sinn einer ganzheitlichen Phrase216. Der eigentliche Unterschied in der Stimmbehandlung der beiden Opern findet sich allein darin, dass die syllabische Gesangsweise der Hry o Marii im Geiste der mittelalterlichen mélopée verstärkt auf eine liedhafte Einfachheit gezielt hatte, wohingegen sich die sprachbezogene Vertonung in Juliette einem eigentlichen Rezitativ annäherte217. Dass sich Martinů des kurz zuvor verschmähten Rezitativs bedienen konnte, ohne seine vormalige Polemik widerrufen zu müssen, liegt einerseits in einem stark melodischen Charakter begründet sowie andererseits in der unterschiedlichen Motivation. Das Rezitativ in Juliette erscheint demnach nicht als Folge eines Orchestersatzes, der eine psychologische Entwicklung nachvollzieht und daher direkt von einer völligen Textverständlichkeit abhängt – wie Martinů dies beim rezitativischen, vom Text tyrannisierten Musiktheater anprangerte –, vielmehr soll der artifizielle Gesangscharakter dem phantastischen Gehalt der Handlung gerecht werden218. Ich habe den Eindruck, dass das rezitativische Singen dem Ganzen einen weit artifizielleren Anstrich verleiht als das bloss gesprochene Wort, das überaus real ist, während zur Hälfte gesprochen, zur Hälfte gesungen, die Situation an grösserer Unwirklichkeit und gewollter Geziertheit gewinnt, wodurch die Bizarrerie sowohl der Situation als auch des Wortes eine noch grössere Plastizität erlangt219. Zwar setzt der wiederholt semantisch konnotierte Orchesterpart in Juliette durchaus ein hohes Mass an Textverständlichkeit voraus, jedoch wird der praktische Zwang durch eine inhaltliche Legitimation überlagert, wonach das Rezitativ als klingendes Pendant zur Traumwelt und 216 Martinů, Autobiografie (1941), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 323. Zitat Martinů, Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 9. Juni 1936 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 255. Zur mélopée in mittelalterlichen Mysterienspielen siehe u.a. Deloffre, Le Vers français (1973), S. 55. 218 Zitat Martinů, Přežila se opera? [Hat sich die Oper überlebt?] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 225; vgl. auch Kapitel III, S. 116-118, 153 f. 219 Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 9. Juni 1936 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 255. 217 257 damit zum musikalischen Ausdruck einer Art von Hypnose avanciert220. Dass Martinů gerade dem phantastischen Moment, nicht aber der inhaltlichen Seite des Gesangs das grössere Gewicht beimass, zeigt sich sowohl in seinem Bestreben, das Libretto kurz zu halten, als auch in der Orientierung am melodischen Gehalt des jeweiligen Wortlautes: Vom Wort bin ich mehr abhängig, als ich es mir wünschte, aber Neveux hat für mich vieles geändert, d. h. ich habe es getan, und er ist darauf eingetreten221. Auch beschnitt Martinů die tragende Bedeutung des Textbuches dadurch, dass er vergleichbar der ‚Zeitoper‘ Les trois Souhaits oder den mittelalterlichen Spielen Hry o Marii erneut auf die Möglichkeit zurückgriff, gesprochene Dialoge zwischen die vertonten Teile einzufügen. Einerseits erlaubte diese Vorgehensweise, komplexere Entwicklungen nicht in eine vom Text tyrannisierte Vertonung fassen zu müssen, andererseits entsprach die Abspaltung rein deklamierter Passagen auf der grossformalen Ebene durchaus dem rezitativischen Gesangsstil, wonach zur Hälfte gesprochen, zur Hälfte gesungen, die Situation an grösserer Unwirklichkeit gewinne222. Aufgrund der grossformalen Anlage, die sich wechselweise aus gesprochenen Dialogen und aus rein instrumentalen, solistischen und chorischen Teilen zusammensetzt, sowie wegen der überaus freien Übersetzung von Neveux’ Vorlage ins Tschechische durch Martinů, erinnert Juliette keineswegs an eine ‚Literaturoper‘, dagegen um so mehr an ein Singspiel. Während der Rückgriff auf die Opernkonventionen vergangener Zeiten in Les trois Souhaits durch das dadaistische Potenzial der Gattung ‚Zeitoper‘ seine Rechtfertigung gefunden hat, geschieht dies in Juliette aufgrund des surrealistischen Gehalts der tradierten Operndramaturgie. Begreift man nämlich mit Dahlhaus einen zentralen Unterschied zwischen dem Theater und der Oper darin, dass in letzterer die sichtbare Handlung und damit die einzelnen Situationen für die Entwicklung entscheidend sind, wohingegen die im Schauspiel relevante Stringenz des oft verdeckten, bloss referierten Geschehens für den Fortgang sekundär bleibt, stösst man auf 220 221 222 Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 27. Januar 1938 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 271. Zitat Martinů, Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 9. Juni 1936 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 255; vgl. auch Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 27. Januar 1938 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 271. Dass auch Neveux in seinen Texten auf die musikalische Qualität der Sprache achtete, kam Martinůs Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller sicherlich entgegen. Zum musikalischen Moment von Neveux’ Sprache siehe Smith, Georges Neveux and the oral element in modern poetry (1968), S. 84-103. Zitat Martinů, Přežila se opera? [Hat sich die Oper überlebt?] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 225; Zitat Martinů, Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 9. Juni 1936 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 255. 258 bemerkenswerte Übereinstimmungen mit den surrealistischen Aspekten von Juliette223. Indem die ersten beiden Akte durchwegs von der Amnesie der Stadtbewohner geprägt sind und der letzte Akt im Traumbüro in einem ähnlich absurden Rahmen angesiedelt ist, erweist sich der dialektische Gehalt der einzelnen unvorhersehbaren Situationen für die unlogische Entwicklung als allein entscheidend, kann doch von einer übergreifenden Logik der Fabel keine Rede sein224. Dass infolgedessen die ‚parole sceniche‘ – etwa beim kva kva der Spielzeugente auf das Sinnlose reduziert (I. Akt, 7. Szene) – sowie überraschende Affektwechsel zum bestimmenden Faktor für das Geschehen werden, wohingegen von einer tatsächlichen Einheit der Charaktere im Grunde keine Rede sein kann, bedingt im Fall des Theaterstücks Juliette allein die Vergesslichkeit der Stadtbewohner. Da Martinů jedoch die Vorlage in den Rahmen des Musiktheaters überführte, wurde die auf der inhaltlichen Ebene angesiedelte Konfrontation der ‚antiaristotelischen‘ Fabel mit den Konventionen des klassischen Schauspiels zwingend preisgeben, entsprachen doch die dramaturgischen Eigenheiten in hohem Masse denjenigen der traditionellen Oper als einem Drama der absoluten Gegenwart225. Dadurch erhält Juliette einerseits insofern eine subversive Note, als die Charakteristiken der traditionellen Oper durch den surrealistisch motivierten Inhalt gleichsam potenziert und infolge der Überhöhung leicht verfremdet werden, wohingegen andererseits die analoge Struktur zwischen Inhalt und Form zugleich den Rückgriff auf eine altbekannte Gattung rechtfertigt. Martinůs Oper wird dem Surrealismus von Neveux’ Juliette auf mehreren Ebenen gerecht: Während die überwiegend semantisch konnotierte Tonsprache geradezu der objektbezogenen Vorgehensweise von Bretons Gruppe und damit dem ‚offiziellen‘ Surrealismus entspricht, manifestiert sich das phantastische Moment der Fabel ebenso im rezitativischen Gesang wie im Umstand, dass überhaupt Musik erklingt. Die Vertonung wird dadurch Teil des surrealistischen Geschehens, weshalb sich Juliette mit Karbusický durchaus als einmalige[s] Werk des musikalischen Surrealismus bezeichnen lässt, dies jedoch nur unter der Bedingung, dass ein erweiterter Surrealismusbegriff angewandt wird, der sich über die dogmatische Auslegung von Bretons Definition hinwegsetzt226. Analog zum Theater Artauds und Vitracs bedingt allein die zugrundeliegende Definition von Surrealismus, ob Juliette als surrealistische oder ‚surrealistische‘ Oper zu etikettieren ist, eine Frage, die sich zumindest für 223 Vgl. Dahlhaus, Zeitstrukturen in der Oper, in: Ders., Vom Musikdrama zur Literaturoper (1983), S. 25-32. Zitat Martinů, Juliette ou La Clé des songes, [Vorwort zum Klavierauszug] (1947), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 252. 225 Zitat Dahlhaus, Zeitstrukturen in der Oper, in: Ders., Vom Musikdrama zur Literaturoper (1983), S. 27. 226 Zitat Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 303. 224 259 Neveux nicht stellte, da der Schriftsteller in Martinůs Werk ohnehin von Beginn an seine eigene Auffassung von Surrealismus verwirklicht sah. Um Mitternacht stieg ich die Stufen zu mir nach Hause hinunter und war zutiefst erschüttert. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich wirklich die Welt Juliettes betreten, in die man in meinem Stück bloss hineinschauen konnte227. Während sich einerseits die Gattung Oper aufgrund ihrer dramaturgischen Eigenheiten als ideales Vehikel für die Wiedergabe des surrealen Geschehens in Juliette erweist, infolgedessen sich Surrealismus und Opernform gegenseitig stützen, so ist andererseits offenkundig, dass das Werk nicht allein die Folge einer bewussten Auseinandersetzung mit surrealistischen Postulaten darstellt, sondern zugleich in einem Zusammenhang mit Martinůs Ideal des wirklichen Theaters steht228. Schliesslich ermöglichte es die Verortung des Librettos in einem Traum, vergleichbar den Hry o Marii auf eine logische Entwicklung der Handlung und der psychologischen Natur der einzelnen Figuren zu verzichten, weshalb Juliette über die surrealistisch motivierten Implikationen hinaus auch als theaterhaftes Spektakel zu verstehen ist229. Da sich Martinů auf den Standpunkt stellte, dass es trotz unterschiedlicher Auffassungen bezüglich der Funktion des Theaters unumstössliche Anforderungen der Bühne gebe, die es zu erfüllen gelte, konnte er sich des surrealistischen Stoffes in Juliette nur bedienen, weil dieser den gleichsam ‚organischen‘ Bedingungen der Szene genüge leistete. [...] auch in dieser neuen Arbeit [Juliette] habe ich dasselbe Ziel verfolgt und mich bemüht, den Weg fortzusetzen, der mit Špalíček begann. [...] Es wird sich immer die fesselnde Frage stellen, nämlich diejenige nach dem Theater an sich. Es soll didaktisch sein, geistig, volkstümlich, unterhaltsam, sozial, aktuell, allen oder nur einem bestimmten Kreis von Liebhabern zugänglich sein, es soll theaterhafter werden oder eben nicht, befreit usw.? Wie Sie sehen, ist dies ein ganzer Komplex, aus dem man sophistisch oder verbal alles ableiten kann, was sie sich nur wünschen. Dies ist alles schön und hat seine Berechtigung, solange man über die Frage spricht und debattiert, aber sobald man sich dem Werk nähert, verändert sich die Situation. Dann erkennen wir gute und schlechte Konventionen, die über den ganzen Zeitraum der Theatergeschichte hindurch entstanden sind, aber auch die Anforderungen der Bühne selbst, die strikt und nicht erfunden, sondern Teil des eigentlichen Organismus der Szene und des 227 Zitat Neveux, [Handschriftliche Erinnerung] (1963), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 252. Zitat Martinů, Poznámky k cyklu Hry o Marii [Anmerkungen zum Zyklus Hry o Marii] (1935), in: Safránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 206; vgl. auch Kapitel III, S. 111-131. 229 Zitat Martinů, Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 9. Juni 1936 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 256. 228 260 Theaters sind, und denen man zwingend gerecht werden muss. Es ist genauso, wie man dem Oboisten und allen „Bläsern“ im Orchester Zeit zum Ausatmen lassen muss, damit sie weiterspielen können 230. Obwohl Martinů erst infolge seines veränderten Selbstverständnisses in Zusammenhang mit der Weltwirtschaftskrise ernsthaft nach einer zukunftsgerichteten Erneuerung der Opernform suchte, hatte er den Gattungskonventionen bereits in seinem Musiktheaterschaffen der 1920er Jahren Folge geleistet. Die Anlage als Singspiel wurde zwar auf der Folie als ‚Zeitoper’ demonstrativ gebrochen, musste jedoch zum Zweck der Negation nach wie vor in erkennbarer Weise transportiert werden. So weisen beispielsweise die ‚Opernparodien‘ Les trois souhaits, aber auch Voják a tanečnice (Der Soldat und die Tänzerin), Les Larmes du couteau oder Le Jour de bonté durch einen mehr oder minder expliziten Dadaismus im Textbuch einen literarischen Bezugspunkt auf, der die Charakteristiken der musikdramatischen Gattung gleichsam von aussen rechtfertigt. Wenngleich Martinůs Bühnenwerken ab Špalíček eine neue Ernsthaftigkeit eignet, die von der Suche nach einem wirklichen Theater auf der Opernbühne zeugt, so bleibt die gegenseitige Verquickung von aussermusikalischer Theaterästhetik und Opernform ein bestimmendes Moment nicht nur der volkstümlich inspirierten Werke Špalíček, Hry o Marii und Divadlo za bránou (Das Vorstadtteater), sondern auch der surrealistisch geprägten Werke Juliette und Alexander bis. Schliesslich orientierte sich der Komponist bei seinen Bühnenwerken am zeitgenössischen Theaterschaffen und an dessen Bestreben, das ‚aristotelische‘ Drama zu überwinden, was im Grunde eine Analogie zu Martinůs Idee darstellte, der Wagner-Nachfolge – worunter ebenso die modischen Literaturopern wie das psychologische Musikdrama fällt – ein undramatisches theaterhaftes Opernmodell entgegenzusetzen231. So paradox es klingen mag, war es also das avantgardistische Theater der Zwischenkriegszeit, das den Weg zu Martinůs ‚klassizistisch‘ motiviertem, wirklichen Theater erst möglich machte. 230 231 Martinů, Poznámky k Juliette [Anmerkungen zu Juliette] (1937-38), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 274 f. Zitat Martinů, Přežila se opera? [Hat sich die Oper überlebt?] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 225. 261 262