IV. DER TRAUM ALS OPERNFORM

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IV. DER TRAUM ALS OPERNFORM
Juliette – Snář (1936-37)
[…] que les directeurs de théâtre écrivent sur leur
porte: Ici l’on vous prendra quelques heures de
sommeil, mais on vous les rendra en rêves1.
DIE SURREALITÄT ALS TRAUM
Analog zum Dadaismus setzt auch der Surrealismus bei der Negation der rational geprägten
Welt an, führt jedoch insofern weiter, als er eine neue Perspektive aufzeigt: Nicht mehr die
Zerstörung aller Werte, um überhaupt erst die Voraussetzung für die Suche nach einem
humanisme dynamique zu schaffen2, sondern die Surrealität ist das erklärte Ziel. Von der tiefgreifenden Verwandtschaft der beiden Bewegungen, die eine eindeutige Zuordnung der Manifestationen gerade in der Übergangszeit wiederholt unmöglich macht, zeugt nicht zuletzt die
Bereitschaft fast aller Dadaisten, sich der surrealistischen Bewegung anzuschliessen3.
Hinsichtlich der zwar utopischen, jedoch explizit angestrebten Surrealität musste die dadaistische Negation rückblickend als blosse Vorstufe des neu postulierten Ideals erscheinen, weshalb der historisch gewordene Dadaismus schliesslich kurz nach der formellen Gründung der
surrealistischen Gruppe ‚offiziell‘ zu Grabe getragenen wurde4. Schon bald stand André
Breton als Führerfigur der Surrealisten fest, der sich etwa gegen Ivan Goll und die Mitarbeiter
der von diesem herausgegebenen Zeitschrift Surréalisme durchgesetzt und mit seinem
Manifeste du surréalisme aus dem Jahr 1924 das theoretische Leitbild der in bemerkenswerter
Weise organisierten Vereinigung formuliert hatte5.
1
Vitrac, Les Mystères du rêve (1925), zitiert nach Béhar, Vitrac, Théâtre ouvert sur le rêve (1980), S. 195.
Zitat Corvin, Le théâtre Dada existe-t-il? (1971), S. 223.
3
Vgl. Gale, Dada & Surrealism (1997), S. 213-264.
4
Interventions 2 (1924), H. 2, abgedruckt in: Ribemont-Dessaignes, DADA, S. 620. Breton bezeichnete den
Dadaismus explizit als vorbereitende Phase des Surrealismus: Il ne sera pas dit que le dadaïsme aura servi à
autre chose qu’à nous maintenir dans cet état de disponibilité parfaite où nous sommes et dont maintenant
nous allons nous éloigner avec lucidité vers ce qui nous réclame. Breton, Les Pas perdus (1924), in: Ders.,
Œuvres complètes, Bd. 1, S. 266. Siehe auch Kapitel II, S. 29 f.
5
Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 309-346. Zur Rolle Bretons zu
Beginn der surrealistischen Bewegung siehe u.a. Nadeau, Histoire du surréalisme (1964), S. 50; Bonnet,
André Breton (1975); Chénieux-Gendron, Le Surréalisme (1984), S. 56 f.
2
187
Nous vivons encore sous le règne de la logique – nachdem die dadaistische Negation
es weder vermocht hatte, die bestimmende Logik zu zerstören, noch den Boden für eine neue
Gesellschaftsform bereiten konnte, galt es nun, die Realität durch ein konstruktives Gegenmodell zu verändern6. Im Kreuzfeuer der surrealistischen Kritik stand nämlich nicht die Idee
einer Logik an sich, sondern deren gegenwärtige Ausformung, da diese laut Breton höchstens
zweitrangige Probleme zu lösen vermöge und stattdessen primär auf die Erhaltung der hierarchisch begründeten Machtverhältnisse ausgerichtet sei. Sowohl die Kausalität – als
Hierarchien bildendes Element per se – als auch die allgegenwärtigen alten Antinomien
müssten aufgegeben werden, seien diese doch nur dazu ausersehen worden, den universalen
Zwang aufrecht zu erhalten, indem sie jegliche unerwartete Regung des Menschen unmöglich
machten7. Weil die Manie vorherrsche, sämtliche Erscheinungen auf bereits bekannte Kategorien zurückzuführen und alles damit nicht Vereinbare aus der Argumentation auszuscheiden,
ziele die Philosophie am eigentlichen Sinn des Denkens vorbei, infolgedessen die philosophischen Erkenntnisse nichts anderes seien als ein Ausdruck von marivaudage8. La Révolution
surréaliste wandte sich gegen den als positivistisch verachteten Realismus, dessen Rationalismus überwunden werden musste, um die wirkliche, also die surrealistische Logik überhaupt
erkennen zu können. Dabei war nur von sekundärem Interesse, in welcher Weise man zu einer
neuen Wahrnehmung der Aussenwelt gelangte, erschien doch jede Manifestation gerechtfertigt, die sich den gesellschaftlichen Zwängen widersetzte – tous les moyens doivent être bons
à employer pour ruiner les idées de famille, de patrie, de religion9. Obwohl der revolutionäre
Charakter des Surrealismus von Anfang an entscheidend gewesen war, was sich etwa in der
Titelgebung des Organs niederschlug (La Révolution surréaliste), zeigte sich in den darauffolgenden Jahren eine zunehmende Gewaltbereitschaft, die Breton im zweitem Manifest zur
Schlussfolgerung führte, dass der blinde Revolverschuss in eine Menschenmenge hinein als
l’acte surréaliste le plus simple zu verstehen sei10. Sollte hinsichtlich von La Révolution
surréaliste das Hauptaugenmerk der Surrealisten bereits nach wenigen Jahren auf La
Révolution liegen, kreisten die Erwägungen der ersten Stunde dagegen vielmehr um die
mögliche Ausprägung des Adjektivs surréaliste; eine Verschiebung des Surrealismus, die
6
Zitat Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 316.
Vgl. Breton, Second manifeste du surréalisme (1930), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 781.
8
Zitat Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 315.
9
Zitat Breton, Second manifeste du surréalisme (1930), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 785.
10
Zitat ebd., S. 782.
7
188
vollständig mit Bretons modifizierter Ausrichtung übereinstimmte, da er als exkommunizierender Papst ohnehin allein über die Zusammensetzung der Gruppe bestimmen konnte11.
In der ersten Phase der Bewegung, als die Surrealisten noch nicht darauf zielten, die Revolution mit Gewalt gegen Aussen zu tragen, beabsichtigten sie stattdessen, das surrealistische
Potenzial des eigenen Geistes auszuschöpfen. Entsprechend der Auffassung, dass die angestrebte Logik nicht etwa erfunden, sondern bloss zurückgewonnen werden müsse, da der
Schlüssel zum gesamten psychischen Vermögen im Innern des Menschen verborgen sei, galt
es, die materialistisch-realistische Anschauung durch eine Sicht auf die geistige Welt, [le]
monde intellectuel, zu ergänzen12. Schliesslich sollte das materialistisch Erfahrbare nicht
ignoriert, sondern zusammen mit dem noch unbekannten geistigen Erkenntnisreichtum
gleichsam zu einer Synthese der realistischen und geistigen Logik geführt werden, dem
eigentlichen Ziel der surrealistischen Utopie.
Je crois à la résolution future de ces deux états, en apparence si contradictoires, que sont le
rêve et la réalité, en une sorte de réalité absolue, de surréalité, si l’on peut ainsi dire. C’est à sa
conquête que je vais, certain de n’y pas parvenir mais trop insoucieux de ma mort pour ne pas
supputer un peu les joies d’une telle possession 13.
Dass der Traum in Bretons Argumentation zum Paradigma des monde intellectuel und damit
zur Gegenwelt der Realität stilisiert werden konnte, führt deutlich das Interesse vor Augen,
das die Surrealisten gerade während der époque des sommeils, also in der Frühphase der
Bewegung, den aufsehenerregenden Traumforschungen der Wissenschaft entgegenbrachten14.
Dennoch waren die konkreten Auswirkungen der psychologischen Erkenntnisse auf die frühe
surrealistische Traumtheorie marginal, was sich etwa darin zeigt, dass Breton zwar im ersten
Manifest ausdrücklich auf die Leistungen Sigmund Freuds sowie auf deren Bedeutung für den
Surrealismus hinwies15, jedoch darüber hinaus keinerlei Spuren der Traumdeutung in der
11
Zitat Grimm, Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895-1930 (1982), S. 182.
Zitat Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 316.
13
Ebd., S. 319.
14
Zitat Nadeau, Histoire du surréalisme (1964), S. 42.
15
Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 316: C’est par le plus grand
hasard, en apparence, qu’a été récemment rendue à la lumière une partie du monde intellectuel, et à mon
sens de beaucoup la plus importante, dont on affectait de ne plus se soucier. Il faut en rendre grâce aux
découvertes de Freud.
12
189
Programmschrift zu finden sind; erst Bretons Texte der 1930er Jahre – ab Les Vases
communicants (1932) – zeugen von einer tatsächlichen Kenntnis der Freudschen Theorie16.
Indem Breton dazu aufrief, den Traum als psychische Tätigkeit ernst zu nehmen, beabsichtigte er eine Annäherung an das eigene Innere, wobei es keinesfalls darum gehen sollte,
den Traum im Sinne Freuds als Wunscherfüllung zu deuten, sondern ihn zu einer Gegenwelt
aufzuwerten. Die grosse Bedeutung, die dem Traum in der frühen surrealistischen Argumentation zukam, verlangte jedoch weniger nach dessen Gleichstellung mit der Realität, als vielmehr danach, ihn als psychische Tätigkeit der Wahrnehmung im Wachzustand überzuordnen.
Je prends, encore une fois, l’état de veille. Je suis obligé de le tenir pour un phénomène
d’interférence17: Die vermeintliche Realität des Tages wurde zum blossen Interferenzzustand
degradiert, der den Geist verwirre, indem er die ungleich komplexere Struktur des Traumes
verdecke.
Il faut tenir compte de l’épaisseur du rêve. Je ne retiens, en général, que ce qui me vient de ses
couches les plus superficielles. Ce qu’en lui j’aime le mieux envisager, c’est tout ce qui
sombre à l’éveil, tout ce qui ne me reste pas de l’emploi de cette précédente journée, feuillages
sombres, branches idiotes18.
Die Störung durch den Wachzustand wirkt sich laut Breton deshalb gravierend aus, weil das
in der Wirklichkeit verhaftete menschliche Hirn keineswegs im Stande sei, die Ordnung
sowie die Kontinuität des Traums zu erfassen, so dass genau in dem Augenblick, in welchem
16
Bretons erste Kenntnisse von Freuds Traumtheorien basierten auf Sekundärliteratur, was womöglich darauf
zurückzuführen ist, dass die erste französische Übersetzung der Traumdeutung erst im Jahr 1926 erscheinen
sollte. Im Gegensatz zu Breton, der sich hauptsächlich in den 1930er Jahren intensiv mit Freuds Forschung
auseinandersetzte, interessierte sich der Psychologie nur sehr am Rande für die surrealistische Bewegung.
Sein freimütiges Geständnis dieses Desinteresses wurde vermutlich durch mehrere Kritikpunkte Bretons an
Freuds Schriften provoziert; umgekehrt muss Breton Freuds Bekenntnis als um so beleidigender empfunden
haben, als der Surrealismus darin letztlich auf eine blosse Kunstrichtung reduziert wurde. Et maintenant un
aveu, que vous devez accueillir avec tolérance! Bien que je reçoive tant de témoignages de l’intérêt que vous
et vos amis portez à mes recherches, moi-même je ne suis pas en état de rendre clair ce qu’est et ce que veut
le surréalisme. Peut-être ne suis-je en rien fait pour le comprendre, moi qui suis si éloigné de l’art. Brief von
Freud an Breton, vom 26. Dezember 1932, in: Breton, Œuvres complètes, Bd. 2, S. 213. Bürger hebt ausserdem hervor, dass für Bretons Traumtheorie im ersten Manifest weniger Freud als vielmehr Gérard de Nervals
Aurélia von Bedeutung gewesen sei. Siehe Bürger, Der französische Surrealismus (1996), S. 84-91;
Chénieux-Gendron, Le Surréalisme (1984), S. 27 f; vgl. auch die Passage zu Nerval in Bretons erstem Manifest, Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 327 f. Daneben ist auch
die Vorstellung des Traumes als einer inkohärenten Folge von Bildern, die erst durch die Traumlogik des
Geistes einen konstruierten Zusammenhang erlangt, und damit der Ausgangspunkt des frühen Surrealismus
in einer vergleichbaren Weise bereits bei Bergson vorgezeichnet; vgl. Bergson, Le Rêve (1901), in: Ders.,
Oeuvres complètes, Bd. 6, S. 92 f.
17
Zitat Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 318.
18
Ebd., S. 317 [Fussnote].
190
man sich das Geträumte in Erinnerung zu rufen suche, dessen Struktur unweigerlich verloren
ginge. Da sich die reale Logik zwingend in der Gedächtnisleistung niederschlage, sei die
Traumlogik nicht mehr präsent und damit das eigentlich Erstrebte unrettbar verloren: Was
bleibe, seien einzig die äusseren Schichten des Geträumten, aus denen die Interpretation des
Wachzustandes nicht mehr herausgelöst werden könnten. Auf der Suche nach der ersehnten
Traumlogik erstellten die Surrealisten zwar Traumprotokolle und übten sich in der écriture
automatique, dies aber immer im Wissen um die Unzulänglichkeit der jeweiligen Vorgehensweisen, musste doch das eigentliche Ziel eines bewusst erlebten Traumes ein utopisches
Anliegen bleiben – A quand les logiciens, les philosophes dormants!19 Indem der Schlaf zum
Idealzustand sowie die Ordnung des Traumes zur erstrebenswerten Logik stilisiert wurden,
lokalisierten die Surrealisten zur Zeit ihrer ‚offiziellen‘ Entstehung die eigentliche Wirklichkeit des Menschen nicht im rationalen, sondern im vorrationalen Bereich. Dies mag insofern
erstaunen, als weniger eine Rückkoppelung der Traumlogik an die Wirklichkeit und damit
eine Versöhnung der realistischen mit der geistigen Welt in der Wirklichkeit, denn vielmehr
eine Existenz im Traum propagiert wurde, wodurch dieser gleichsam zum Ort der Surrealität
avancierte: Le surréalisme est le carrefour des enchantements du sommeil20.
DER TRAUM ALS SZENE
Mit Blick auf den revolutionären Kern des Surrealismus mussten die institutionellen Strukturen des Theaterbetriebs eine surrealistische Überwindung der gesellschaftspolitischen
Zustände gleichermassen ausschliessen, wie der eng abgesteckte Bühnenraum nicht mit einer
entgrenzten Surrealität in Einklang gebracht werden konnte. Zwar hatte Breton etwa zusammen mit Philip Soupault selbst dadaistische Stücke verfasst: In S’il vous plaît sowie in Vous
m’oublierez exponierte er eine literarische, nicht aber eine soziale Kritik an den damaligen
Zuständen. Um so erstaunlicher ist es, dass er selbst dann nicht von diesen Werken distanzierte, als er in der Rolle des ‚gesetzgebenden‘ Surrealisten das Theater als Ausdrucksform
19
20
Zitat ebd., S. 317.
La Révolution surréaliste 1 (1924), S. 1.
191
explizit verurteilte21. Seine Ablehnung gründete zu grossen Teilen auf dem unvermeidlichen
Rollenspiel, bedingte dieses doch, dass ein fremder Charakter angenommen werden musste,
der von aussen diktiert und daher niemals mit der Person des Schauspielers eins werden
könne, weshalb die notwendige Verschmelzung von Leben und Kunst unmöglich und die
Manifestation zum verpönten ‚l’art pour l’art‘ würde22. Literarisches konnte den strengen surrealistischen Anforderungen schliesslich nur dann gerecht werden, wenn das Vermittelte
authentisch war, eine Vorgabe, der selbst Bretons unwahrscheinlicher ‚Roman‘ Nadja
gehorchte, da dieser mit der Titelfigur gleichermassen auf eine reale Person zurückgriff, wie
er das Ich Bretons unangetastet liess23. Im Gegensatz dazu und daher vergleichbar den petites
villes idiotes de la littérature, haftete dem Theater in den Augen Bretons der unverzeihliche
Makel an, sich in fiktiven Anekdoten zu verlieren, was aufgrund des Verzichts auf die Wirklichkeit als Ausgangspunkt eine Überführung des realen Zustandes in die Surrealität von
Beginn an ausschliessen musste24.
Dass die an sich bereits problematischen szenischen Werke darüber hinaus an die
traditionelle Institution Theater gebunden waren, machte sie in einem Masse verdächtig, das
für den zunehmend radikaler argumentierenden Breton nicht mehr tragbar schien25. So kam es
im Jahr 1926 neben dem Rauswurf Roger Vitracs aus der Gruppe auch zum Ausschluss von
Antonin Artaud und Philipp Soupault, deren Aktivitäten Breton als nicht vereinbar mit der
revolutionären Grundhaltung der – zunehmend mit der kommunistischen Partei liebäugelnden
– Surrealisten verurteilte26. Vor diesem Hintergrund führte schliesslich die französische
Erstaufführung von August Strindbergs Ein Traumspiel am 7. Juni 1928 im ‚Théâtre Alfred
Jarry‘ zum Eklat, was zwar in Anbetracht des latent surrealistischen Stücks erstaunen mag,
aber darauf zurückzuführen ist, dass Breton den Veranstaltern Artaud und Roger Aron vorwarf, aus korrupten, sprich finanziellen Gründen zu handeln, war doch die Inszenierung erst
21
Zu S’il vous plaît sowie Vous m’oublierez von Breton und Soupault siehe u.a. Grimm, Das avantgardistische
Theater Frankreichs 1895-1930 (1982), S. 254-268; Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967),
S. 183-201.
22
Breton, Point du jour (1924), Œuvres complètes, Bd. 2, S. 266; vgl. Béhar, Etude sur le théâtre dada et
surréaliste (1967), S. 25.
23
Breton, Nadja (1928), in: Ders. Œuvres complètes, Bd. 1, S. 643-753. Zu Bretons Begegnungen mit der
tatsächlichen Nadja (Léona-Camille-Guislaine D.) siehe u.a. Mourier-Casile, Nadja d’André Breton (1994),
S. 23-28, 120-124; Née, Lire Nadja (1993), S. 68-77; Navarri, André Breton: Nadja (1986); Nadeau, Histoire
du surréalisme (1964), S. 116 f.
24
Zitat Breton, Second manifeste du surréalisme (1930), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 802.
25
Vgl. Brandt, BRAVO! & BUM BUM! (1995), S. 202 f.
26
Zum Ausschluss von Artaud, Soupault und Vitrac sowie der Hinwendung der Surrealisten zum Kommunismus
siehe u.a. Gale, Dada & Surrealism, S. 267-302; Chénieux-Gendron, Le Surréalisme (1984), S. 59-67;
Nadeau, Histoire du surréalisme (1964), S. 117-119; Bernard, Aragon, S. 17.
192
dank der Unterstützung durch die schwedische Kolonie in Paris möglich geworden27. Dass die
Aufführung letztlich nur durch eine von Aron zu verantwortende Polizeipräsenz zustande
kommen konnte, musste in den Augen der ‚orthodoxen‘ Surrealisten als endgültiger Beweis
für den Opportunismus der bereits Ausgeschlossenen erscheinen28.
Während die modifzierte Ausrichtung des Pariser Surrealismus nach der Annäherung an die
kommunistische Partei sowie der Publikation von Bretons zweitem Manifest die Suche nach
einem surrealistischen Theater nach 1930 geradezu obsolet macht, finden sich im Schaffen
der 1920er Jahre zahlreiche Stücke, die durchaus als surrealistische zu deuten sind29. Oui, le
théâtre surréaliste existe, il suffit de le regarder – eine Aussage, die dahingehend zu relativieren ist, als sich die Geschichte des surrealistischen Theaters keineswegs als ‚offizielle‘
erweist, sondern sich aus individuellen Einzelleistungen zusammensetzt30. In diesem
Nebeneinander verschiedener surrealistisch intendierter Theaterstücke, das sich grundsätzlich
von der ansonsten strengen Organisation der als Kollektiv auftretenden surrealistischen
Gruppe unterscheidet, spiegelt sich nicht zuletzt die untergeordnete Rolle der Szene für die
revolutionäre Bewegung. Umgekehrt schlug sich die Position als Nebenschauplatz der Revolution sowohl in einem bisweilen freieren Umgang der Theaterschaffenden mit den surrealistischen Postulaten als auch in der nahezu ausschliesslichen Orientierung am frühen Surrealismus der époque des sommeils nieder. Im Grunde konzentrierte sich das surrealistisch
motivierte Theaterschaffen der 1920er Jahre auf den Kreis um die Autoren Soupault, Artaud
und Vitrac sowie das von den beiden letzteren zusammen mit Aron gegründete ‚Théâtre
Alfred Jarry‘ – ein Theater, das in den knapp drei Jahren seines Bestehens zwar nur vier
27
Artaud rechtfertigte die Aufführung von Strinbergs Ein Traumspiel explizit mit dem surrealistischen Potenzial
des Autors: Strindberg est un révolté, tout comme Jarry, comme Lautréamont, comme Breton, comme moi.
Nous représentons cette pièce en tant que vomissement contre sa patrie, contre toutes les patries, contre la
société. Artaud, [Erklärung während der Aufführung von Strinbergs Ein Traumspiel, 2. und 9. Juni 1928],
zitiert nach Béhar, Roger Vitrac, Un Reprouvé du surréalisme, S. 142; vgl. auch Artaud, Le Songe de
Strindberg (1928), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 40-42.
28
Zur französischen Erstaufführung von Strindbergs Ein Traumspiel siehe u.a. Brandt, BRAVO! & BUM BUM!
(1995), S. 214; Nadeau, Histoire du surréalisme (1964), S. 118; Grimm, Das avantgardistische Theater
Frankreichs 1895-1930 (1982), S. 285.
29
Bezeichnenderweise beschliessen sowohl Béhar als auch Grimm ihre Studien zum dadaistischen und
surrealistischen Theater um 1930, also zum Zeitpunkt von Bretons zweitem Manifest und der damit
verbundenen Radikalisierung der surrealistischen Gruppe. Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste
(1967); Grimm, Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895-1930 (1982).
30
Zitat Béhar, Le Théâtre surréaliste existe-t-il?, in: L’Avant-Scène Opéra 210 (2002), S. 121. Vgl. Béhar, Etude
sur le théâtre dada et surréaliste (1967), S. 30 sowie Brandt, BRAVO! & BUM BUM! (1995), S. 205.
193
Inszenierungen mit insgesamt acht Aufführungen erlebte, jedoch hauptsächlich durch Artaud
eine gewichtige theoretische Grundlage erhielt31.
Ein Jahr vor dem Ausschluss der genannten Theaterautoren aus der surrealistischen
Bewegung, zog der 1900 in der ukrainischen Stadt Poltava geborene Franzose Georges
Neveux von Nizza nach Paris und übernahm nicht nur die Wohnung von Joan Miró, die neben
derjenigen von Robert Desnos gelegen war, sondern wurde von seinem neuen Nachbarn auch
sogleich in die surrealistische Gruppe eingeführt32. Obwohl ein überzeugtes Mitglied, nahm er
dennoch nur selten an den von Breton geradezu zur Pflicht erklärten, täglichen Versammlungen teil, da er einerseits seine eigene Unabhängigkeit zu bewahren trachtete und sich andererseits hauptsächlich mit theaterspezifischen Fragen zu befassen schien33. Der Jurist Neveux,
zwischen 1927 und 1930 als Sekretär von Louis Jouvet sowie als Journalist tätig, verfolgte
zeitweise sogar das Projekt, zusammen mit Aron, Salacrou und Ribement-Dessaignes das
‚Théâtre de la Tour Eiffel‘ zu gründen, was schliesslich an der Unmöglichkeit scheiterte, zu
diesem Zweck den ganzen Eiffelturm zu mieten34. Stattdessen verfasste Neveux mit Juliette
ou La Clé des songes nicht nur das erste, sondern auch das einzige Theaterstück seiner surrealistisch geprägten Phase; seine nachfolgenden dramatischen Werke, etwa das im Jahr 1958
von Martinů unter dem Titel Ariane vertonte Theaterstück Le Voyage de Thésée (1943),
sollten erst nach einer längeren Pause und unter gänzlich anderen Vorzeichen ab den 1940er
Jahren entstehen35. Möglicherweise durch die Vermittlung Jouvets, der schliesslich wie Baty
31
Béhar, Le Théâtre surréaliste existe-t-il?, in: L’Avant-Scène Opéra 210 (2002), S. 119; Brandt, BRAVO! &
BUM BUM! (1995), S. 214 sowie Grimm, Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895-1930 (1982), S.
284 f.
32
Obwohl Šafránek, Karbusický und Halbreich für den Zeitpunkt von Neveux’ Umzug nach Paris das Jahr 1927
angeben, wirkt die Datierung auf das Jahr 1925 in Anlehnung an die Theaterhistoriker Béhar und Brèque
plausibler. Vgl. Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967), S. 281; Jean-Michel Brèque, Juliette,
ou le rêve à tout prix, in: L’Avant-Scène Opéra 210 (2002), S. 112; Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S.
73; Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 271; Halbreich, Juliette ou La Clé
des songes, in: L’Avant-Scène Opéra 210 (2002), S. 8; vgl. auch Pronko, Georges Neveux (1963), S. 246.
33
Vgl. Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967), S. 281.
34
Vgl. G. Lieber, Artikel Neveux, in: Corvin, Dictionnaire encyclopédique du théâtre, S. 1177; Béhar, Etude sur
le théâtre dada et surréaliste (1967), S. 281 f.; Porcile, Maurice Jaubert, S. 45.
35
Béhar, Le Théâtre surréaliste existe-t-il?, in: L’Avant-Scène Opéra 210 (2002), S. 120; Béhar, Etude sur le
théâtre dada et surréaliste (1967), S. 281-286. Offenbar hatte Neveux bereits vor seinem Umzug nach Paris,
nämlich während seiner Zeit bei der französischen Armee für deren ‚Compagnie théâtrale‘ Theaterstücke und
Komödien bearbeitet. Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 73. G. Lieber (in: Corvin, Dictionnaire
encyclopédique du théâtre, S. 1177) vermutet, dass der offenkundige Misserfolg von Juliette in Paris Neveux
dazu bewogen hatte, vorerst auf weitere Theaterstücke zu verzichten (siehe auch Smith, Georges Neveux and
the oral element in modern poetry, S. 86). Neben den genannten Werken verfasste Neveux in späteren Jahren
ausserdem das von Martinů unvollständig vertonte Stück Plainte contre inconnu (1946) sowie Zamore
(1953) und La Voleuse de Londres (1960). Daneben profilierte er sich hauptsächlich mit seinen
Übersetzungen und Adaptionen, etwa von Shakespeares Othello im Jahr 1950 (siehe Smith, Georges Neveux
and the oral element in modern poetry, S. 87), produzierte aber auch Fernsehfilme und schuf für das
Fernsehen die legendäre Serie Vidocq (siehe hierzu Bordaz, Georges Neveux et Vidocq, S. 615-620).
194
Mitbegründer des ‚Cartel‘ war, erregte Neveux’ Juliette zwar noch im selben Jahr das Interesse des Intendanten des ‚Théâtre de l’Avenue‘, jedoch sollte das Stück unter Batys Direktion nicht inszeniert werden36. Erst dessen Nachfolgerin Maria Falconetti zog das Werk aus
der Schublade hervor und brachte es am 7. März 1930 im ‚Théâtre de l’Avenue‘ zur skandalträchtigen Uraufführung, auf die weitere dreissig tumultöse Aufführungen folgten; Falconetti
spielte selbst die Titelrolle, die Inszenierung übernahm der Filmregisseur Alberto Cavalcanti
und die Bühnenmusik stammte von Neveux’ Jugendfreund Maurice Jaubert37.
Im Jahr der Uraufführung lernte Martinů nicht nur Juliette kennen, die er als Beilage
der Zeitschrift Bravo bei einem Bouquinisten erstanden hatte, sondern machte durch die Vermittlung von Miloš Šafránek auch die Bekanntschaft mit Neveux, wohnte dieser doch in demselben Haus an der Rue de Laos wie der Martinů-Biograph38.
Es war in Paris vor mehr als dreissig Jahren, bei unserem gemeinsamen Freund Miloš
Šafránek, als ich mich zum ersten Mal mit Bohuslav Martinůs traf. Ich werde diese erste
Zusammenkunft niemals vergessen. Martinů war bereits berühmt. Darius Milhaud hatte mir
wenige Tage zuvor von ihm als einem der grössten zeitgenössischen Musiker erzählt39.
Zu diesem Zeitpunkt war Martinů vermutlich noch mit Le Jour de la bonté auf ein Libretto
von Ribemont-Dessaignes beschäftigt, seiner Fragment gebliebenen letzten Zeitoper, was
bedeutet, dass seine Hinwendung zum Concerto grosso sowie die Auseinandersetzung mit der
tschechischen Bühnentrilogie Špalíček, Hry o Marii und Divadlo za bránou noch in der
Zukunft lagen. Auch scheint Martinů bei der ersten Lektüre von Neveux’ Juliette keinerlei
Absichten bezüglich einer wie auch immer gearteten Vertonung gezeigt zu haben, stammen
doch die ersten bekannten Erwähnungen einer geplanten Adaption vom April 1935, wobei er
zunächst an eine Umsetzung als Ballett dachte – vorübergehend lenkte er jedoch seine Aufmerksamkeit auf eine mögliche Vertonung eines anderen Traums, nämlich Shakespeares A
36
Zu Gaston Baty und dem ‚Cartel‘ siehe Kapitel III, S. 114 [Fussnote 30].
Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 271; Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 73; Pronko, Georges Neveux (1963), S. 246. Die Wahl Cavalcantis als Regisseur erfolgte auf
Wunsch Neveux’ und erregte grossen Unmut: Comme metteur en scène j’ai pris un metteur en scène de
cinéma: Cavalcanti. C’est la première fois qu’on fait ça et les gens du monde théâtral sont fous de rage.
Brief von Neveux an Maurice Jaubert, [1930], zitiert nach Porcile, Maurice Jaubert, S. 46.
38
Neveux, Juliette, in: Bravo 2 (1930), H. 5 [Beilage]; Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 73. Obwohl
Martinů zur Zeit der Uraufführung seiner Oper Juliette das Jahr seiner Bekanntschaft mit Neveux mit 1926
angegeben hatte, weshalb sämtliche diesbezüglichen Erwähnungen in tschechoslowakischen Zeitungen von
eben diesem Jahr ausgingen, ist diese (Šafránek widersprechende) Datierung wenig wahrscheinlich. Siehe
u.a. Prager Abend-Zeitung vom 11. 2. 1938, Národní noviny vom 5. 3. 1938 sowie Lidový deník vom 16. 3.
1938.
39
Neveux, [Handschriftliche Erinnerungen] (1963), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 251.
37
195
Midsommer Night’s Dream40. Erst zu Beginn des darauffolgenden Jahres begann sich Martinů
intensiv mit Juliette als Opernvorlage auseinander zu setzen, indem er zunächst ein tschechisches Libretto verfasste und sogleich mit der Vertonung des ersten Aktes begann, den er
bereits im Juni 1936 abschliessen sollte: [...] ich bereite eine neue Oper vor und habe deren
ersten Akt schon beendet. Sie heisst „Juliette“ und ist im Grunde ein bizarrer Traum41. Allerdings hatte es Martinů versäumt, Neveux rechtzeitig um die Einwilligung für die Bearbeitung
zu bitten, und meldete sich stattdessen erst nach der Fertigstellung des ersten Aktes beim
Schriftsteller, der sogleich der Einladung Folge leistete, sich die bereits vertonten Teile anzuhören. Nahezu dreissig Jahre später sollte sich der Schriftsteller an seine Begeisterung über
das Gehörte erinnern, wenngleich er den Ablauf der tatsächlichen Umstände leicht variierte.
So berichtet er in einer oft zitierten Passage davon, er habe nur wenige Tage vor dem beglückenden Besuch dem Agenten Kurt Weills sein Einverständnis zur Vertonung von Juliette
gegeben, infolge seiner Euphorie für Martinůs Arbeit jedoch die Weill erteilte Bewilligung
sogleich widerrufen: Am nächsten Tag schrieb ich an den amerikanischen Agenten, dass es
sich um ein Missverständnis gehandelt habe und das Stück nicht mehr frei sei42. Wenngleich
die Akteure die selben sind, so entspricht wohl eher die von Martinů in einem Brief an Václav
Talich, dem Dirigenten der Uraufführung, formulierte Sicht der Ereignisse dem tatsächlich
Geschehenen: Etwa eine Woche nach der Unterredung mit dem Librettisten [Neveux] bat
Kurt Weill um dasselbe Libretto, und wie Sie wissen, hat er einen scharfen Blick fürs Theater,
jedoch kam er dieses Mal zu spät43.
Juliette ou La Clé des songes, das Theaterstück, auf das Weill wegen Martinů verzichten musste, beginnt mit der Ankunft des Pariser Buchhändlers Michel Lepic in einer
namenlosen Kleinstadt: Einst hat Michel in dieser Stadt den Gesang einer Frau gehört und
sich augenblicklich in die Unbekannte verliebt, die er nun um jedem Preis wiederfinden will.
Auf der lange Zeit vergeblichen Suche nach der aus irrationalen Gründen ‚Juliette‘ Benann-
40
Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 71 f.
Brief von Martinů an Václav Talich, vom 12. Juni 1936 aus Paris, in: Kuna, Korespondence Bohuslava
Martinů Václavu Talichovi 1924-1939, S. 232. Zur Datierung siehe Martinů, Juliette (Snář), Václav Talich
gewidmete autographe Partitur [liegt heute im Archiv des Nationaltheaters in Prag], I. Akt, S. 203: Das Ende
des ersten Aktes ist datiert mit Konec I. jednání. Paris. 17. června 1936 (Ende I. Akt. Paris. 17. Juni 1936).
42
Zitat Neveux, [Handschriftliche Erinnerungen] (1963), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 252.
Einen Beleg für Weills Interesse an Juliette bildet zudem ein ablehnendes Schreiben von Neveux an Weills
Agenten, das sich im Kurt Weill-Archiv in New York befindet. Siehe dazu Goehr, Juliette fährt nach
Mahagonny (Druck in Vorbereitung). Goehr nahm das Interesse Weills an Juliette zum Anlass, das Libretto
des stattdessen von Weill vertonten Werkes Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny mit Neveux’ Juliette
hinsichtlich des jeweiligen surrealistischen Potenzials zu vergleichen. Siehe ebd.
43
Brief von Martinů an Václav Talich, vom 26. Juni 1936 aus Paris, in: Kuna, Korespondence Bohuslava
Martinů Václavu Talichovi, S. 233 f.
41
196
ten, wird er andauernd mit unerklärlichen Geschehnissen konfrontiert, ist er doch in eine Stadt
geraten, deren Bewohner höchstens über ein Kurzzeitgedächtnis verfügen. Dies muss jegliche
übergreifende logische Entwicklung der Handlung zwingend unmöglich machen. Infolgedessen wird Michel zum überforderten Spielball der ausschliesslich im Augenblick verhafteten Umwelt und erfährt nicht nur nichts über den Aufenthaltsort seiner Juliette, sondern gerät
stattdessen von einer sonderbaren Situation in die nächste. Zu Beginn entführt, dann nahezu
verhaftet und schliesslich zum Bürgermeister ernannt, trifft der Buchhändler erst gegen Ende
des ersten Aktes endlich auf Juliette. Obwohl die Titelheldin ausgesprochen erleichtert
darüber wirkt, dass Michel endlich aufgetaucht ist, entzieht sie sich ihm nach einem kurzen
Dialog aus unerfindlichen Gründen sogleich wieder, um ihn zu einem späteren Zeitpunkt im
Wald ein zweites Mal zu treffen. Zu Beginn des zweiten Aktes ist Michel im Wald angekommen, der ebenfalls von Stadtbewohnern bevölkert scheint, weshalb sich weiterhin eine
sonderbare Szene an die nächste reiht, wobei die Absurditäten mit dem ‚Liebesduett‘ von
Juliette und Michel zu einem Höhepunkt finden: Obwohl sie sich sogleich in Liebesbezeugungen verlieren, lässt ein Streit nicht lange auf sich warten, der schliesslich dazu führt,
dass er einen Revolverschuss auf die Geliebte abfeuert. Michel scheint allmählich die Besinnung verloren zu haben, sucht jedoch in der Stadt nochmals nach Juliette, bis er am Aktende
mit der Absicht, die Stadt zu verlassen, ein vor Anker liegendes Schiff besteigt. Dieses verwandelt sich umgehend in ein Büro, das sich als Traumbüro entpuppt und dessen Beamter den
Schlafenden zu ihren gewünschten Träumen verhilft, womit der letzte Akt nachträglich die
Erklärung für die sonderbaren Ereignisse liefert, denn es ist nur ein Traum44. Auf die Gefahr
hin, verrückt zu werden, zögert Michel zu erwachen: Während das Theaterstück insofern
offen endet, als unklar bleibt, ob Michel nun in die Wirklichkeit des Wachzustandes zurückkehren wird, verbleibt er in der Oper eindeutig im Traum, worauf diese im Unterschied zur
Vorlage mit einer Reminiszenz an den Beginn des ersten Aktes endet.
Juliette ou La Clé des songes besteht also ausschliesslich aus einem Traum des Pariser Buchhändlers Michel Lepic, womit sich das Stück genau auf den Themenkreis bezieht, der in der
von Rausch- und Traumerlebnissen geprägten surrealistischen Frühphase vorherrschend war.
Ausgehend von der für die époque des sommeils typischen Tendenz, den Traum im Gegensatz
zur realen Wirklichkeit als surrealen Zustand zu erachten, liegt es nahe, Juliette als intendiertes Abbild einer solchen Surrealität zu deuten. Wenn jedoch der Traum das Ziel war, stellt
44
Martinů, Juliette ou La Clé des songes, [Vorwort zum Klavierauszug] (1947) [o. S.].
197
sich unweigerlich die Frage, wieso nicht jeder Surrealist ebenso wie Michel im Traum
verblieb und sein Leben erträumte, konnte doch streng genommen eine Aktivität, die im
Wachzustand eine Traumrealität kopierte, nicht über den Status des Plagiats hinausgelangen.
Pourquoi tirer un drame du REVE authentique que je viens de vous raconter? Pour montrer
que la vie et le théâtre sont deux? N’allez pas au spectacle. Couchez-vous 45.
Trotz dieser pointierten Aussage anlässlich seiner Rezension über Luigi Pirandellos Sei
personaggi in cerca d’autore, liess es sich auch Vitrac nicht nehmen, mit Les Mystères de
l’amour ein Stück zu verfassen, das einen auf die Bühne projizierten Traum darstellen
sollte46. Während Vitrac zur Entstehungszeit von Les Mystères de l’amour ein anerkanntes
Mitglied der surrealistischen Gruppe war und seine Aktivitäten vorerst in einen weitgehenden
Einklang mit den Idealen der Bewegung gebracht werden können, ist bei Neveux eine deutlich grössere Distanz zum bereits ungleich dogmatischeren Surrealismus nicht zu übersehen.
Schliesslich waren die Theaterschaffenden zu dem Zeitpunkt, als Neveux seine Juliette verfasste, bereits aus der Gruppe ausgeschlossen worden, was von einer wachsenden Unvereinbarkeit des ‚offiziellen‘ Surrealismus Bretons mit dem Theater als Medium zeugt. Anstelle
des damals aktuellen Surrealismus mit primär kommunistischen Zielen zeigt sich in Juliette
vielmehr eine intensive Auseinandersetzung mit den drei Jahre zuvor formulierten surrealistischen Traumtheorien, infolgedessen Neveux’ Surrealismus in augenfälliger Nähe zu demjenigen von Vitrac und Artaud zur Zeit des ‚Théâtre Alfred Jarry‘ angesiedelt ist, war dieser
doch gleichermassen unvereinbar mit dem agenouillement devant le Communisme.
P.-S. – Ces révolutionnaires au papier de fiente qui voudraient nous faire croire que faire
actuellement un théâtre est (comme si ça en valait la peine, comme si ça pouvait tirer à
conséquence, les lettres, comme si ce n’était pas ailleurs que nous avons depuis toujours fixé
nos vies), ces sales bougres donc voudraient nous faire croire que faire actuellement du théâtre
est une tentative contre-révolutionnaire, comme si la Révolution était une idée-tabou et à
laquelle il soit depuis toujours interdit de toucher.
Eh bien moi, je n’accepte pas d’idée-tabou.
45
46
Vitrac, Dormir (1923), zitiert nach Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967), S. 251.
Vgl. Grimm, Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895-1930 (1982), S. 307-321 sowie Brandt,
BRAVO! & BUM BUM! (1995), S. 214-219. Dass auch Martinů Pirandellos Sei personaggi in cerca d’autore
kannte, steht ausser Frage, hatte er doch selbst während einer Aufführung am 29. August 1929 im Theater
von Polička am Klavier die Bühnenmusik zu diesem Stück improvisiert. Siehe hierzu Halbreich, Bohuslav
Martinů, S. 340.
198
[…] Il y a des bombes à mettre quelque part, mais à la base de la plupart des habitudes de la
pensée présente, européenne ou non. De ces habitudes, Messieurs les Surréalistes sont atteints
beaucoup plus que moi, je vous assure, et leur respect de certains fétiches faits hommes et leur
agenouillement devant le Communisme en est une preuve la meilleure47.
Obwohl die Verbindung der Initiatoren des ‚Théâtre Alfred Jarry‘ zur surrealistischen Gruppe
um Breton mit dieser Beschimpfung ein Jahr nach deren Ausschluss für alle Zeiten gekappt
war und im Eklat anlässlich der Aufführung von Strindbergs Ein Traumspiel in Paris einen
endgültigen Tiefpunkt erreichen sollte, entsprach die Haltung Artauds und Vitracs sowie des
mit ihnen befreundeten Neveux weitgehend den zur Zeit des ersten Manifestes propagierten
surrealistischen Idealen48. Ob man die in diesem Geiste entstandenen Stücke nun mit Béhar
als théâtre surréaliste oder mit Brandt als bloss „surrealistisches Theater“ bezeichnen will,
liegt letztlich darin begründet, inwieweit man Breton als alleinigen Massstab für den jeweils
‚richtigen‘ Surrealismus zu nehmen bereit ist49. Schliesslich blieb Artaud dem ursprünglichen
Surrealismus weitgehend treu und distanzierte sich nicht zuletzt deshalb von Breton, weil
dieser in seinen Augen die einst gemeinsamen Ideale der kommunistischen Revolution
geopfert hatte50. Die Orientierung an den Grundsätzen des im Manifeste du surréalisme
poetologisch definierten Surrealismus bringt zudem mit sich, dass das surrealistisch intendierte Theater trotz seiner individuellen Ausformungen jeweils auf die zentralen surrealistischen Anliegen reagiert, die gleichsam als Fazit der in Juliette behandelten Themen anmuten:
l’amour, le merveilleux, le rêve, le désir, l’humour51.
Ausgehend von der Idee, dass die Kunst Einfluss auf das Leben zu nehmen hat, kann ein
surrealistisch motiviertes Theater nicht eine illusionistische Tradition weiterführen, sondern
muss dem Anspruch der Authentizität entsprechend bei einer irgendwie gearteten Wirklich-
47
Artaud, Manifeste pour un théâtre avorté (P. S.; 1927), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 31-33.
Vgl. Béhar, Le Théâtre surréaliste existe-t-il?, in: L’Avant-Scène Opéra 210 (2002), S. 120.
49
Zitat ebd., S. 121; Zitat Brandt, BRAVO! & BUM BUM! (1995), S. 204. Vgl. auch Fock, Antonin Artaud und
der surrealistische Bluff: Fock stellt primär aufgrund von Artauds späterer Sprachkritik, die tatsächlich nicht
mit der surrealistischen Verabsolutierung der Sprache in Einklang zu bringen ist, die Kategorisierung von
Artauds Theater als surrealistisches grundsätzlich in Frage (u.a. Bd. 1, S. 11). Dieser Einwand ist insofern
problematisch, als Artaud die zentrale Rolle des Wortes im Zug seiner Theoriebildung des ‚Théâtre total‘
sowie des ‚Théâtre de la cruauté‘ explizit in Frage stellte, also erst nach dessen surrealistischer Phase.
50
Vgl. Blüher, Antonin Artaud und das ‚Nouveau Théâtre‘ in Frankreich, S. 39. Siehe auch Breton/Aragon/
Péret/Unik/Eluard, Aux Surréalistes non communistes (1927), in: Breton, Œuvres complètes, Bd. 1, S. 933:
Breton erachtete dagegen den Anschluss an den Kommunismus nicht nur als logische Folge der
surrealistischen Bewegung, sondern darüber hinaus auch als einzigen Weg, die ideologische Grundlage des
Surrealismus weiterhin zu gewährleisten.
51
Zitat Béhar, Le Théâtre surréaliste existe-t-il?, in: L’Avant-Scène Opéra 210 (2002), S. 121.
48
199
keit ansetzen; eine Forderung, die von Artaud und Vitrac explizit an das ‚Théâtre Alfred
Jarry’ gestellt wurde.
C’est cela qui est grave: la formation d’une réalité, l’irruption inédite d’un monde. Le théâtre
doit nous donner ce monde éphémère, mais vrai, ce monde tangent au réel. Il sera ce monde
lui-même ou alors nous nous passerons du théâtre52.
Gemäss dieser Auffassung geht es keinesfalls um das blosse Abbild einer Realität auf der
Bühne – würde dieses doch unweigerlich einen Naturalismus heraufbeschwören –, sondern
um die allein durch das Theater gebildete ‚wahre‘ Wirklichkeit des monde intellectuel53.
Indem es nun gilt, im Theater eine Welt zu erschaffen, verschiebt sich die gezeigte Ebene
vom Dargestellten zum tatsächlich Seienden, eine semiotische Umdeutung, die zugleich zwei
in surrealistischer Hinsicht problematische Aspekte zu vermeiden hilft: Da sich einerseits die
erweiterte Wirklichkeit erst auf der Bühne materialisiert, ist das Gezeigte zwingend authentisch, und andererseits findet das Theater als Ort der erfahrbar gemachten geistigen Welt seine
Legitimation.
Si nous faisons un théâtre ce n’est pas pour jouer des pièces, mais pour arriver à ce que tout ce
qu’il y a d’obscur dans l’esprit, d’enfoui, d’irrévélé se manifeste en une sorte de projection
matérielle, réelle. Nous ne cherchons pas à donner comme cela s’est produit jusqu’ici, comme
cela a toujours été le fait du théâtre, l’illusion de ce qui n’est pas, mais au contraire à faire
apparaître aux regards un certain nombre de tableaux, d’images indestructibles, indéniables qui
parleront à l’esprit directement54.
Im Zentrum des Theaterereignisses steht also nicht eine illusionistische Handlung, sondern
die transportierten ‚wahren‘ Momente, die den Geist der Zuschauer erschüttern sollen, indem
sich diese mit der bislang unbekannten, irrationalen Seite ihrer Existenz konfrontiert sehen
und in surrealistischer Manier dazu angetrieben werden, die rationale Logik grundsätzlich in
Frage zu stellen. Diese Argumentationsweise brachte mit sich, dass für die Authentizität nicht
mehr die Frage nach dem Wahrscheinlichkeitsgehalt der Fabel von primärer Bedeutung war,
sondern la force communicative55. Dass dagegen Vitracs Les Mystères de l’amour von Artaud
rückwirkend zu einem nacherzählten echten Traum erklärt wurden, was in Anbetracht der
52
Artaud, ‚Le Théâtre Alfred Jarry‘ (1926), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 20.
Zitat Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 316.
54
Artaud, Manifeste pour un théâtre avorté (1926), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 29.
55
Zitat Artaud, ‚Le Théâtre Alfred Jarry‘ (1926), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 21.
53
200
sorgfältigen Konstruktion des Stücks wenig wahrscheinlich anmutet, ist wohl als später Legitimationsversuch mit Blick auf Bretons Authentizitätsansprüche zu verstehen, spielt ein
solcher doch bei der Theorie des ‚Théâtre Alfred Jarry‘ keine entscheidende Rolle56. Analog
dazu ist auch bei Neveux’ Juliette die Frage nach dem Ursprung von Michels Traum für die
Bewertung der surrealistischen Intention nicht von Belang: Obwohl es sich mit Sicherheit
nicht um die Transposition eines echten Traumes handelt, sondern um ein bewusst traumanalog konstruiertes Theaterstück, tut dies dem surrealistischen Potenzial keinen Abbruch.
Dieses liegt schliesslich in der force communicative begründet, der sich der Zuschauer im
Wissen um die Ernsthaftigkeit des Ereignisses auszusetzen hat, und die ihn durch die evozierte Idee einer Wirklichkeit jenseits der bekannten Realität unwiderruflich verändern muss.
Le spectateur qui vient chez nous sait qu’il vient s’offrir à une opération véritable, où non
seulement son esprit mais ses sens et sa chair sont en jeu. Il ira désormais au théâtre comme il
va chez le chirurgien ou le dentiste. Dans le même état d’esprit, avec la pensée évidemment
qu’il n’en mourra pas, mais que c’est grave, et qu’il ne sortira pas de là dedans intact. Si nous
n’étions pas persuadés de l’atteindre le plus gravement possible, nous nous estimerions
inférieurs à notre tâche la plus absolue. Il doit être bien persuadé que nous sommes capables de
le faire crier 57.
Der Idee, den Geist des Zuschauers zu verändern, indem man ihm eine weiterführende
Perspektive eröffnet, kommt schliesslich die vorrangige Bedeutung zu, so dass es geradezu
verwerflich wäre, im Theater das reale Leben abzubilden, da dieses die Operation am Publikum – une sorte d’opération magique – unmöglich machen würde58. Die Aktion auf der
Bühne fungiert als Sprachrohr einer unsichtbaren Welt und ist daher nicht als ein bloss metaphorisches Zeichen zu verstehen, sondern als gestischer und verbaler Ausdruck einer
‚wahren‘ Wirklichkeit, wodurch das Theater gleichsam zum Teil der umfassenden Surrealität
avanciert. Damit wird der Anspruch einer echten Handlung als Mass für Authentizität endgültig hinfällig, ist doch alles ‚wahr‘, was in irgendeiner Weise an phantastische Ideen
jenseits einer erlebten Realität anzuknüpfen vermag.
56
Artaud, Le Théâtre Alfred Jarry en 1930 (1930), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 52: Pour la première
fois un rêve réel fut réalisé sur le théâtre. Zu Vitracs ‚Traumspiel‘ Les Mystères de l’amour siehe u.a.
Grimm, Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895-1930 (1982), S. 307-321.
57
Artaud, ‚Le Théâtre Alfred Jarry‘ (1926), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 22.
58
Zitat Artaud, ‚Le Théâtre Alfred Jarry‘, Saison 1928 (1928), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 35.
201
La mise en scène, proprement dite, les évolutions des acteurs ne devront être considérées que
comme les signes visibles d’un langage invisible ou secret. Pas un geste de théâtre qui ne
portera derrière lui toute la fatalité de la vie et les mystérieuses rencontres des rêves. Tout ce
qui dans la vie a un sens augural, divinatoire, correspond à un pressentiment, provient d’une
erreur féconde de l’esprit, on le trouvera à un moment donné sur notre scène59.
Die surrealistische Wahrheit hinter den Theatergesten – la fatalité de la vie et les mystérieuses
rencontres des rêves – schlägt sich in Neveux’ Juliette insofern nieder, als sich einerseits das
ganze Geschehen im Traum eines einzelnen abspielt sowie andererseits eine Traumlogik zum
Tragen kommt, die gleichsam als Instrument für die ‚Operation‘ am Publikum dienen soll.
Wie die Uraufführung sowie die nachfolgenden Aufführungen am ‚Théâtre de l’Avenue‘
zeigten, erwies sich das ‚Operationsinstrument‘ als ein äusserst wirkungsvolles, denn während
es sich beim Skandal anlässlich der Inszenierung von Strindbergs Ein Traumspiel im ‚Théâtre
Alfred Jarry‘ letztlich um Grabenkämpfe von Surrealisten gehandelt hatte, deren Auffassungen vom Surrealismus unvereinbar geworden waren, erwuchs der Tumult bei Juliette tatsächlich der Irritation eines überforderten Publikums60.
Im surrealistischen Theater Vitracs, Artauds aber auch Neveux’ galt es, das Bewusstsein des
Publikums zielgerichtet zu beeinflussen, indem die Grundfesten der Wahrnehmung durch eine
unergründliche Logik erschüttert werden sollten, eine Manipulation, die hauptsächlich auf der
Sprach- und Handlungsebene vonstatten ging. Gerade weil in der Regel eine Irritation auf der
inhaltlichen Seite angestrebt wurde, war ein Erfolg der ‚Operation‘ nicht von einer Destruktion des tradierten Gerüsts abhängig, weshalb einer konventionellen Akteinteilung nichts im
Wege stand – dies um so mehr, als die traditionelle Theaterform zugleich als Kontrastfolie zur
veränderten Handlungsstruktur dienen und damit zusätzliche Verunsicherung hervorrufen
konnte61. Dem entspricht in Juliette eine Anlage als Dreiakter, der keine übergreifende logische Entwicklung des Geschehens transportiert, was im Grunde darauf zurückzuführen ist,
dass abgesehen vom Protagonisten Michel niemand unter den agierenden Personen über ein
Gedächtnis verfügt. Schliesslich bedingt die fehlende Erinnerungsfähigkeit der Stadtbewohner, dass die Zeit sowohl ihrer Vergangenheit als auch der Zukunft beschnitten wird, infolge-
59
Artaud, Manifeste pour un théâtre avorté (1926), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 30.
Vgl. Pronko, Georges Neveux (1963), S. 246 f.; Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967), S. 283;
Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 271 sowie Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů (1979), S. 73.
61
Vgl. Brandt, BRAVO! & BUM BUM! (1995), S. 213.
60
202
dessen allein der jeweils gegenwärtige Augenblick für die Ausformung des unmittelbar nachfolgenden Momentes ausschlaggebend ist. Insbesondere in den ersten zwei Akten gliedert
sich Juliette in unterschiedliche Situationen, die grundlos entstehen und folgenlos bleiben,
woraus sich vielmehr eine Aneinanderreihung von Traumsequenzen denn eine kontinuierlich
ausgeführte Fabel ergibt. Die gemäss surrealistischer Auffassung fatale Kausalität verliert
durch die Anlage des Stückes als Traum genau deshalb ihre Bedeutung, weil die Figuren allesamt Emanationen von Michels Gehirn sind und folglich nur in dem Augenblick, in welchem
sie vom Protagonisten gedacht werden, überhaupt existieren. In diesem Sinn lässt sich mit
Martinů sagen: Juliette hat eigentlich keine „Handlung“ 62.
Während die Stadtbewohner aufgrund ihrer Inexistenz einer rationalen Entwicklung
entgegenwirken, bildet die Suche Michels nach Juliette den eigentlichen Rahmen des Stücks,
womit der Handlung durch den einzigen konsistenten Charakter ein Movens verliehen wird,
das darüber hinaus eine kausale Begründung aufweist, nämlich die Sehnsucht des Protagonisten nach der Titelheldin. Dem surrealistischen Geist entsprechend, wird jedoch auch dieser
logische Grund in mehrerlei Hinsicht konterkariert, was zunächst dadurch geschieht, dass das
Publikum bis zur achten Szene des ersten Aktes ausharren muss, um überhaupt den Grund für
Michels Anwesenheit in der Kleinstadt und damit eine Rechtfertigung für das Gezeigte zu
erfahren. Als sich der Protagonist endlich gegenüber dem Mann mit dem Helm erklärt,
bekommt die Begründung sogleich Risse, stellt sich doch heraus, dass Michel die Geliebte
überhaupt nicht kennt, sondern bloss drei Jahre zuvor an ihrem Haus vorbei gegangen war,
während sie ein Lied sang, worauf der vom Gesang Bezauberte ans Fenster trat und la plus
ravissante créature de la terre erblickte, um sogleich wieder abzureisen63. Drei Jahre mussten
verstreichen, bis sich der rasend Verliebte auf die Suche nach Juliette machte, die er nach
einem längeren Herumirren in der Stadt gegen Ende des ersten Aktes auffindet, wobei sie sich
erstaunlicherweise überhaupt nicht verändert hat: Ihre Kleidung und Frisur sind ebenso
dieselben geblieben – vous n’avez rien changé – wie ihre Position, sitzt sie doch noch immer
am Klavier und singt dasselbe Lied.
62
Martinů, Juliette ou La Clé des songes, [Vorwort zum Klavierauszug] (1947), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 252.
63
Neveux, Juliette ou La Clé des songes (1927), I. Akt, 8. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 136.
203
64
Neveux :
Martinů:
Mes amours, elles sont parties
Moje láska v dálce se stratila,
[Meine Liebe verschwand in der Ferne
Cette nuit sous la grande voile,
za širé moře této noci.
hinter dem breiten Meer dieser Nacht.
Reviendront-elles des colonies
S návratem hvězdy na nebi,
Mit der Rückkehr des Sterns am Himmel,
Comme revient la belle étoile?
zda vrátí se, vrátí i moje láska!
scheint es, als kehre auch meine Liebe
zurück!]
Ein einziges Mal hatte Michel einen Blick auf eine ihm fremde Frau erhaschen können, ein
Erlebnis, das im Lauf der Zeit zunehmend Macht über seine Gefühlswelt gewann und ihn zur
Überzeugung brachte, die wahre Liebe gesehen zu haben – A cette minute commença tout
l’amour de ma vie65. Im Traum vermeint er nun, die Geliebte endlich gefunden zu haben,
jedoch scheitert das Wiedersehen daran, dass es im Grunde keines ist, da es ausschliesslich in
seiner Imagination stattfindet, weshalb er unmöglich auf eine wirkliche Person, sondern nur
auf das unveränderliche Bild der Unbekannten treffen kann. Erschwerend kommt hinzu, dass
Michel seine Juliette überhaupt nicht kennt und die Traumgestalt folglich mit keinen realistischen Eigenschaften zu beleben vermag, infolgedessen sie ihm als Phantom unweigerlich
entgleiten muss. Jeder Dialog der beiden ist zum Scheitern verurteilt, da sie aufgrund von
Juliettes Unbeständigkeit keine gemeinsame Basis finden können: Als blosse Schablone einer
Person ist für sie eine Geschichte so wahr wie die andere, kann sie doch als Traumfrau im
wahrsten Sinne des Wortes jede nur erdenkliche Identität annehmen, so dass die Wirklichkeit
als bestimmende Instanz keinerlei Relevanz besitzt. Während sich Juliette beim Rendezvous
im zweiten Akt eine farbenprächtige gemeinsame Vergangenheit ausmalt, versucht Michel
zunächst verzweifelt, ihr die reale Geschichte als einzig richtige zu erzählen, muss jedoch
rasch einsehen, dass ein lange zurückliegender Blick durch ein offenes Fenster gegen eine
gemeinsame romantische Reise nach Sevilla unmöglich bestehen kann. Obwohl er schon bald
einlenkt und vor ihrer Phantasie kapituliert, ist eine Verständigung nicht möglich, denn was
mit Michels Nachgiebigkeit beginnt, führt über den Spott Juliettes rasch in die pure Gewalt,
wenn Michel in seiner Überforderung nur noch mit einem Schuss die Repliken der Geliebten
zu erwidern weiss. Die einzigen Momente dagegen, in denen eine gegenseitige Kommunikation halbwegs zu funktionieren scheint, beschränken sich auf die mehrfach vorgebrachten
Liebesbekundungen der beiden Unbekannten, die gerade bei ihrem allerersten Zusammentref-
64
Neveux, Juliette ou La Clé des songes (1927), I. Akt, 9. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 141; Martinů, Juliette
(1937), I. Akt, 8. Szene, T 7 nach Z 73.
65
Neveux, Juliette ou La Clé des songes (1927), II. Akt, 5. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 167; siehe auch analoge
Stelle bei Martinů, Juliette (1937), II. Akt, 6. Szene, T 1 nach Z 47.
204
fen um so erstaunlicher anmuten müssen, als sie bis zu diesem Auftritt Juliettes noch kein
Wort miteinander gewechselt haben.
Juliette: […] Je ne sais même pas comment vous dites: bonjour.
Michel: Bonjour.
Juliette: Vous dites bonjour, comme d’autres diraient: je vous aime, je vous attend.
Michel: Je vous aime. Et vous?
Juliette: Moi? Bonjour66.
Obwohl Juliette als einzige Bewohnerin der Stadt einen Eigennamen besitzt und damit etwa
im Gegensatz zum Kleinen oder Alten Araber eine Identität suggeriert, besteht ihre einzige
Eigenschaft darin, keine zu haben. Während Juliette in den ersten beiden Akten als Traum
gewordene Sehnsucht von Michel mehrfach auftaucht, um sogleich wieder spurlos zu verschwinden, wird sie im dritten Akt zur blossen Chiffre kollektiver Männerphantasien, verlangt es doch alle Besucher des Traumbüros nach Juliette, die je nach Neigung der Schlafenden in einer anderen Rolle aufzutreten hat. Die Eigenschaftslosigkeit der Titelheldin entpuppt
sich damit als Voraussetzung für ihre Eignung zur Traumfrau, eine Rolle, die zudem durch
ihre Benennung an die berüchtigte Namensvetterin bei De Sade gemahnt: Mit Juliette wird
das Laster und nicht die Tugend Justines herbeigesehnt.
Da sich Juliette zunehmend als Wunschtraum aller Männer erweist – was in Martinůs
Libretto um so deutlicher hervortritt, als darin im Unterschied zur Vorlage bereits im zweiten
Akt drei graue Herren nach der Titelheldin suchen67 – und aufgrund der eindeutigen Verweisfunktion ihres Namens auf De Sades zügellose Heldin, gelangt Goehr zum folgenreichen
Schluss, dass Juliette letztlich eine vergleichbare Rolle wie die Prostituierte Jenny Smith in
Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny innehabe68. Die daraus abgeleitete Vermutung
kommt unweigerlich einer gesellschaftskritischen Deutung der Handlung als Abbild einer
gegenseitigen Entfremdung gleich.
Could it be in fact, that beneath the dream like appearance of true love, Juliette is about
fetishism, collective fantasy, and modernist alienation, such that a comparison with the antibourgeois and anti-capitalistic Mahagonny now proves entirely legitimate? 69
66
Neveux, Juliette ou La Clé des songes (1927), I. Akt, 9. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 144; siehe auch analoge
Stelle bei Martinů, Juliette (1937), I. Akt, 8. Szene, T 1-7 nach Z 84.
67
Martinů, Juliette (1937), II. Akt, 1. Szene.
68
Goehr, Juliette fährt nach Mahagonny (Druck in Vorbereitung).
69
Ebd.
205
Will man diese Frage mit Goehr bejahen, muss man sich Theodor W. Adornos eigenwilliger
Auffassung von Surrealismus anschliessen, die sich einerseits auf Bretons Standpunkt nach
dessen Annäherung an den Kommunismus stützt sowie andererseits von einem stark eingeengten Blickfeld zeugt, so dass die surrealistischen Aspekte kaum mehr mit denjenigen der
1920er Jahre in Einklang gebracht werden können70. Wenn nämlich Adorno Weills
Mahagonny als die erste surrealistische Oper bewertete – und später bemerken sollte: Hat
irgendein musikalisches Kunstwerk Anteil am Surrealismus, dann Bergs Lulu –, konnte er
dies allein aufgrund des gesellschaftskritischen Potenzials eines Surrealismus tun, der die
gegenwärtige Welt als vollumfänglich ‚falsche‘ abqualifizierte und in einer Revolution zu
ersticken plante71. Mit dem ursprünglichen Ziel der Bewegung, also durch den Griff ins
Unterbewusste eine ‚wahre‘ Logik und damit die Surrealität zu erlangen, haben dagegen
weder Mahagonny noch Lulu etwas gemein, da die ‚kulinarische‘ ebensowenig wie Bergs
Oper einen erkennbaren Ausgangspunkt für eine (utopische) Hoffnung offenbart, erschöpfen
sich doch stattdessen beide in der unerbittlichen Entlarvung des negativen Ist-Zustandes: Die
bürgerliche Welt wird als schon abgestorbene im Moment des Grauens präsentiert und
demoliert im Skandal, in dem ihre Vergangenheit sich kundtut72.
Erscheint eine surrealistische Bewertung von Mahagonny und Lulu nicht nur wegen
des Kriteriums der absoluten Negativität problematisch, sondern auch aus dem Grund, dass
diese in beiden Opern vollends auf eine Entzauberung der Liebe zielt, so mutet umgekehrt
eine Interpretation der in Juliette dargebotenen Liebe als ‚unwahre‘ gerade deshalb wenig
plausibel an, weil dem Stück eine surrealistische Haltung zugrunde liegt73. Schliesslich nahm
die unerklärliche Faszination der Liebe in der surrealistischen Bewegung selbst dann einen
der Revolution ebenbürtigen Stellenwert ein, als sich der Surrealismus Bretons nicht mehr mit
den poetologischen Fragen der Frühphase, sondern vorwiegend mit kommunistischem
Gedankengut auseinandersetzte.
70
Schubert vertritt die These, dass Adorno in den 1930er Jahren auf den Surrealismus-Begriff auswich, um
Weill von seiner umfassenden Kritik an der Neuen Sachlichkeit und am Klassizismus ausnehmen zu können,
indem er sich einer Surrealismus-Definition bediente, die auf einer absoluten Negativität fusste (Zitat
Schubert, S. 34) und deren musikalische Ausformung durch die Verwandlung des alten geschrumpften
Materials zu wirken suche (Zitat Adorno, Frankfurter Opern- und Konzertkritiken, Dezember 1928, in: Ders.,
Gesammelte Schriften, Bd. 19, S. 138). Siehe Schubert, Surrealismus bei Weill? (2000).
71
Adorno, Mahagonny (1930), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 17, S. 119 sowie Adorno, Rede über Alban
Bergs Lulu (1960), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 18, S. 647. In einer ähnlichen Weise wie Adorno
versucht auch Jarman, die absurden Aspekte in Bergs Lulu surrealistisch zu deuten; siehe Jarman, Berg’s
surrealist opera (1970).
72
Adorno, Mahagonny (1930), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 17, S. 119. Vgl. auch Schubert,
Surrealismus bei Weill?, S. 34.
73
Schubert, Surrealismus bei Weill? (2000), S. 34.
206
Le problème de la femme est, au monde, tout ce qu’il y a de merveilleux et de trouble. Et cela
dans la mesure même où nous y ramène la foi qu’un homme non corrompu doit être capable de
mettre, non seulement dans la Révolution, mais encore dans l’amour74.
Das revolutionäre Potenzial, das der Liebe eignet, sollte folglich für eine Überwindung der
Realität nutzbar gemacht werden und nicht die Liebe der surrealistischen Revolution zum
Opfer fallen, galt diese doch gleichsam als letzter Lichtblick einer verlorenen Gesellschaft.
Indem Breton Le problème de la femme mit dem ‚Wunderbaren‘ gleichsetzte, erfuhr die Liebe
insofern eine bemerkenswerte Aufwertung, als sie zu einer Kraft stilisiert wurde, die aufgrund
ihrer Intensität zwingend mit der Realität in Konflikt geraten musste, ein Zustand, der
wiederum als geeignete Voraussetzung für die Surrealität erachtet wurde75. Die positive
Wertigkeit der Liebe wurde gerade durch die Gleichsetzung mit einem der symbolträchtigsten
Begriffe des Surrealismus – Le merveilleux – unwiderruflich besiegelt, denn: le merveilleux
est toujours beau, n’importe quel merveilleux est beau, il n’y a même que le merveilleux qui
soit beau76.
Dass es sich bei einer Liebe, die von den Surrealisten propagiert wurde, jedoch keinesfalls um eine eheartige Verbindung zwischen Mann und Frau handeln konnte, liegt in Anbetracht des zu überwindenden bürgerlichen status quo auf der Hand, vermochte doch nur
eine von unbewussten Kräften angetriebene Leidenschaft den herkömmlichen Rahmen zu
sprengen. Es galt, die Liebe von den religiösen und sozialen Schranken zu befreien und die
körperliche Anziehung wieder zu ihrem eigentlichen Ausgangspunkt zu machen, da erst eine
vollständige sexuelle Freiheit eine surrealistisch relevante Liebe überhaupt möglich machen
konnte, ein Zustand, der sich über die allgegenwärtige Trennung von der Erotik hinwegzusetzen hatte77. Analog zum Interesse der Surrealisten am Traum sollte durch eine entgrenzte
Liebe jenseits von sittlichen Tabus der Reichtum der inneren Welt aufgedeckt werden,
weshalb Breton neben Freud und Fourier auch den Marquis de Sade als grossen Entdecker des
Unterbewussten propagierte78. Obwohl die sadistische Liebespraxis nahezu unmöglich mit der
Idee eines vergeistigten amour fou in Einklang gebracht werden kann, spielten für die surrealistische Bewegungen beide Ausprägungen einer entgrenzten Liebe eine zentrale Rolle; die
geradezu antagonistisch anmutende Opposition der vertretenen Ansätze sollte zwischen 1928
74
Breton, Second manifeste du surréalisme (1930), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 822 [Fussnote].
Vgl. Clébert, Dictionnaire du surréalisme (1996), S. 379.
76
Zitat Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 319.
77
Vgl. Péret, Anthologie de l’amour sublime (1956).
78
Vgl. Bezzola/Pfister/Zweifel, Sade surreal (2001); Clébert, Dictionnaire du surréalisme (1996), S. 533-535.
75
207
und 1932 sogar zu insgesamt zwölf Sitzungen über eine Definition der surrealistische Erotik
Anlass geben79. Nicht das unbestritten revolutionäre Moment von De Sades Erotik, sondern
die absolute Grenzenlosigkeit bildete hierbei den Zankapfel, denn während die rein fleischliche Beziehung in Bretons Augen eine geistige Bewusstseinserweiterung durch einen amour
sublime ausschliessen musste, erkannte etwa Aragon auch in der Pornographie sowie der
Pädophilie ein surrealistisches Potenzial80. Obwohl Breton vergleichsweise prüde Ansichten
vertrat, zollte er De Sade – pour qui la liberté des mœurs à été une question de vie ou de mort
– uneingeschränkt Respekt, was sich als latenter Widerspruch darin auflösen lässt, dass der
Marquis nicht mehr wie in der Rezeption durch den Dadaismus als Verkörperung eines
kannibalistischen Nihilismus gesehen wurde, sondern zum Sinnbild einer aus revolutionären
Gründen gelebten Erotik avancierte81.
Der immanente Widerspruch in der Auffassung einer surrealistischen Liebe spiegelt
sich nicht zuletzt in Juliette, ist doch die darin ersehnte Liebe genau auf der Grenze zwischen
einer animalisch sadistischen und einer intellektuellen angesiedelt, ein schmaler Grat, der
allein die beiden Ausformungen zu vereinen vermag. Während einerseits die symbolische
Bedeutung des Namens Juliette sowie die Darstellung der Titelheldin als erotischer Männertraum eindeutig an den Mythos der sadistischen Liebe anknüpfen, so nimmt andererseits die
Art der Beziehung zwischen Juliette und Michel in mehreren Punkten Bretons Überlegungen
zum amour fou gleichsam vorweg82. Dies betrifft in erster Linie die Idee der ‚konvulsivischen‘ Schönheit – La beauté convulsive –, eine Schönheit, die nur im Augenblick ihrer
Offenbarung existiert, weshalb sie zwar keineswegs absolut gesehen schön ist, jedoch als
überwältigendes Moment des merveilleux in die surrealistische Sphäre verweist83. Während
Juliette dem Anspruch der ‚konvulsivischen‘, also unvorhersehbaren und kurzfristigen Materialisierung insofern entspricht, als sie überraschend auftritt, um sich ihrem Gegenüber jeweils
viel zu früh wieder zu entziehen, so bietet andererseits ihre Eigenschaftslosigkeit die ideale
Projektionsfläche für einen amour fou. Schliesslich ist diese direkt mit der Fähigkeit ver-
79
Das Protokoll der ersten Sitzung wurde veröffentlicht unter dem Titel Recherches sur la sexualité, in: La
Révolution surréaliste, 4 (1928), H. 11, S. 32-40. Siehe auch Vincent Gilles, Si vous aimez l’amour… , in:
Riottot El-Habib/Gille, Le surréalisme et l’amour (1997), S. 15-73 sowie Clébert, Dictionnaire du
surréalisme (1996), S. 252.
80
Vgl. u.a. Aragon, Le Libertinage (1924), in: Ders., Œuvres romanesques complètes S. 251-286; Recherches
sur la sexualité, in: La Révolution surréaliste, 4 (1928), H. 11, S. 32-40.
81
Zitat Breton, Recherches sur la sexualité, in: La Révolution surréaliste, 4 (1928), H. 11, S. 33. Zur Rezeption
De Sades durch die Surrealisten siehe u.a. Bezzola/Pfister/Zweifel, Sade surreal (2001) sowie Clébert,
Dictionnaire du surréalisme (1996), S. 533-535.
82
Vgl. Breton, L’Amour fou (1937), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 673-785.
83
Ebd., S. 680-687.
208
knüpft, jede erwünschte Identität anzunehmen, weshalb Juliette im Grunde alle Frauen in sich
vereint, das Weibliche an sich verkörpernd84.
Juliette ist das Symbol der Sehnsucht, sämtliche Frauen im Stück heissen Juliette, und alle
suchen nach diesem einen Namen. Ist es immer ein und dieselbe Juliette?85
Im Augenblick ihres Erscheinens offenbart sie sich als perfekte Geliebte, die dem image
souriante du passé eines jeden Mannes entspricht, indem sie sämtliche Vorstellungen zu
erfüllen vermag, deren Ursprung zwar sexueller Natur ist, die sich jedoch ausschliesslich auf
der geistigen Ebene abspielen86. Der amour fou erweist sich damit als intellektuelles Erlebnis,
dessen erotischer Auslöser als blosse Momentaufnahme aufblitzt und letztlich den surrealistisch relevanten Konflikt transportiert: La beauté convulsive sera érotique-voilée, explosantefixe, magique-circonstancielle ou ne sera pas87.
Gerade weil die in Juliette dargestellte Liebe in unmittelbarer Nähe zum amour fou
und damit im geistigen Bereich angesiedelt ist, kann sie nur schwerlich mit der käuflichen
Liebe in Mahagonny gleichgesetzt werden, denn während Jenny als individuelle Person ihren
Körper verkauft, ist Juliette nichts anderes als ein kollektives Symbol für die erotische Frau
schlechthin. Die symbolische Funktion der Titelheldin tritt nicht zuletzt dann deutlich zutage,
wenn sie sich weigert, Michel ihren Namen zu nennen, und er sie dennoch unbeirrt Juliette
nennt – er orientiert sich dabei ausschliesslich an den fremden sehnsuchtsvollen Männern,
erkennt er doch in deren Wunschobjekt auch seine flüchtige Geliebte88. Verortet ist diese
Liebe in der Nacht des Traumes, infolgedessen sie nicht der Wirklichkeit des Tages Eingang
zugeführt werden kann, sondern in der Gestalt des Symbols Juliette auf die Rückkehr der
Träumenden warten muss, ganz dem Inhalt ihres Liedes entsprechend: Mes amours, elles sont
parties cette nuit sous la grande voile, reviendront-elles des colonies comme revient la belle
étoile? Wie wenig der amour fou mit dem realen Leben vereinbar ist, zeigt sich insofern
exemplarisch in Michels krisengebeutelter nächtlicher ‚Rückkehr‘ zu seiner Traumfrau, als er
mit seiner rationalistischen Logik dem eigenen Traum nicht gerecht zu werden vermag.
84
Vgl. Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967), S. 284: […] Juliette, unique dispensatrice de tous
les biens, la femme.
85
Zitat Martinů, Poznámky k Juliette [Anmerkungen zu Juliette] (1938), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 276.
86
Zitat Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967), S. 284.
87
Zitat Breton, L’Amour fou (1937), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 687. Zum amour fou siehe u.a. Guy
Rosolato, L’Amour fou, in: Chénieux-Gendron, Du Surréalisme et du Plaisir (1987), S. 125-136.
88
Neveux, Juliette ou La Clé des songes (1927), II. Akt, 5. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 160; siehe auch analoge
Stelle bei Martinů, Juliette (1937), II. Akt, 5. Szene, T 1-5 nach Z 28.
209
Das ganze Spiel ist ein verzweifelter Kampf, sich an etwas Stabiles, Konkretes anlehnen zu
können, an das Gedächtnis, das Bewusstsein, welches jeden Augenblick unterbrochen und in
eine tragische Situation gewendet wird, in der Michel um die eigene Stabilität kämpft [...] 89.
Obwohl dem Protagonisten wegen seines alltagsgeprüften Verstandes in den ersten beiden
Akten ein beglückendes Wiedersehen mit Juliette verwehrt bleibt und er auf dem Höhepunkt
der Krise sogar auf sie schiesst, um sie am Ende des zweiten Aktes bereits wieder vergessen
zu haben, erscheint ihm die Liebe im entscheidenden Augenblick dennoch bedeutender als
das wirkliche Leben ‚vernünftiger‘ Menschen. Mit Michels unbedingtem Verlangen nach
Juliette findet im dritten Akt die eigentliche surrealistische Wendung des Stückes statt, ist er
doch bereit, für die im surrealistischen Verständnis zwischen ‚Sadismus‘ und amour fou
schwankende Liebe seinen Verstand preiszugeben, da er in ihr die einzig relevante Kraft
erfährt, neben der alles andere verblassen muss – tout le reste n’est que feuille morte90. Dem
surrealistischen Verständnis der époque des sommeils entsprechend, liegt es durchaus nahe,
die Liebe im Traum und damit in der Surrealität des Unterbewusstseins anzusiedeln, eine
Verknüpfung zweier surrealistisch relevanter Zustände, die sich in vergleichbarer Weise auch
bei Aragon findet: Si vous avez aimé rien qu’une fois au monde ne me réveillez pas si vous
avez aimé!91 In Martinůs Libretto kommt der Triumph der Traumwelt um so deutlicher zum
Tragen, als er den letzten Akt nicht wie Neveux offen im Traumbüro enden lässt, sondern den
Helden wieder in die Kleinstadt des Beginns zurückführt, womit die Entscheidung Michels
für die Liebe im Wahnsinn gefallen ist. Ursprünglich hatte Neveux sogar geplant, Juliette
nach dem zweiten Akt enden zu lassen, und verfasste den letzten Teil schliesslich nur deshalb,
um das Stück aufführbar zu machen, dies jedoch in der Hoffnung, dass die beiden ersten Akte
unabhängig vom dritten gespielt würden92. Auf der formalen Ebene hätte dies die surrealistisch gefärbte Inkohärenz der aneinandergereihten Situationen ohne die explizite Erkenntnis,
89
Martinů, Juliette ou La Clé des songes, [Vorwort zum Klavierauszug] (1947), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 253.
90
Zitat Aragon, Le Libertinage (Préface; 1924), in: Ders., Œuvres romanesques complètes, S. 272.
91
Aragon, La Défense de l’infini (Fragmente, 1923-1927), in: Ders., Œuvres romanesques complètes, S. 438.
Vgl. auch Eluard, der das wahre Leben genau deshalb im Traum findet, weil die erstrebenswerte Liebe allein
dort angesiedelt sei – Le plus grand jour de ma vie, toujours. Eluard, Dors (1931), in: Ders., Œuvres
complètes, Bd. 1, S. 360.
92
Siehe Neveux, Lettre en guise de préface (1930), in: Ders., Théâtre, S. 113: L’histoire de ‚Juliette‘ s’achève
avec le départ de Michel sur le bateau. L’acte du Bureau Central des Rêves n’a été ajouté que pour rendre la
pièce jouable, comme on verse un colorant sur un précipité pour le rendre visible. Mais si ‚Juliette’ devait
être rejouée un jour, j’aimerais que ce fût en deux pièces distinctes, l’une en deux actes – les deux premiers –
l’autre en un acte – le dernier. Siehe hierzu auch Béhar, Etude sur le théâtre dada et surréaliste (1967), S.
282 f.; Pronko, Georges Neveux (1963), S. 247; Jean-Michel Brèque, Juliette, ou le rêve à tout prix, in:
L’Avant-Scène Opéra 210 (2002), S. 113.
210
dass es sich um einen Traum handelt, bewahrt, andererseits jedoch die Handlung mit der
fluchtartigen Abreise des Protagonisten aus der Traumwelt enden lassen. Es war somit der
Komponist und nicht der surrealistische Schriftsteller, der mit der Entscheidung Michels für
den Traum auf der Handlungsebene von Juliette die Konsequenzen des Surrealismus gezogen
hatte, eine Änderung, die bei Neveux auf eine derartige Begeisterung stiess, dass dieser sogar
enttäuscht war, als Martinů vorübergehend an der Richtigkeit des neuen Endes zweifelte93.
Obwohl der Schluss von Martinůs Juliette auf den ersten Blick suggeriert, dass die allererste
Szene als Mysterium der Wiederkehr wieder aufgegriffen werde, findet sich dennoch ein entscheidender Unterschied zwischen diesen beiden Situationen94: Nur das Bühnenbild ist dasselbe geblieben, Michel dagegen hat sich verändert, denn aufgrund seiner Entscheidung für
den Wahnsinn kommt es nicht mehr zu Konflikten zwischen seiner früheren rationalistischen
Denkweise und der Traumlogik der Stadtbewohner. Die Oper endet schliesslich damit, dass
Michel zögernd auf Juliettes Haus zugeht und eintritt, während die Stadtbewohner vor der Tür
stehen bleiben, um zu lauschen, wobei alles wortlos geschieht und allein vom ‚Traummotiv‘
im Orchester umflutet wird (Notenbeispiel 56), das bereits Michels ersten Eintritt in den
Traum begleitet hatte (I, 1. Szene, T 5-7 nach Z 0; siehe Notenbeispiel 59a).
Notenbeispiel 56: Juliette, III. Akt, 8. Szene, T 1-8 nach Z 6395
Auch wenn ungewiss bleibt, ob die ‚konvulsivische‘ Geliebte durch den Wahnsinn greifbar
wird, so ist Michel mit seinem ungestörten Eintritt in Juliettes Haus ungleich weiter gekommen, als es ihm zuvor mit seinem logischen Verstand möglich gewesen war. Was jedoch von
der rationalistischen Warte aus zwingend als Verrücktheit grauer Gestalten anmuten muss, die
vermeintlich ziellos im Traumbüro umherwandeln (III. Akt, 7. Szene), kann unter surrealistischen Gesichtspunkten als konsequente Hinwendung zur Innenwelt durch eine kompromiss93
Siehe Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 23. Oktober 1937 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 259: Neveux bedauert sehr, dass wir „meinen“ Schluss auslassen wollen, aber ich bin von der
Richtigkeit der Idee nicht mehr so sehr überzeugt.
94
Zitat Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 311. Vgl. auch Panagel,
Lebenstrauma – Traumwelt (Druck in Vorbereitung), S. 351; Goehr, Juliette fährt nach Mahagonny (Druck
in Vorbereitung); Stöck, Zu Bohuslav Martinůs Opernschaffen (1996), S. 142.
95
Deutsche Übersetzung: Szenenanweisung: Das Mansardenfenster wird erleuchtet, und hinter der Bühne
erklingt das Akkordeon. Während dessen Spiel tauchen wie Puppen die beiden Marktfrauen, der Mann mit
dem Helm und die übrigen Stadtbewohner auf und nähern sich neugierig. [Z 63] Michel zögert, geht langsam
auf das Haus zu und tritt ein. Die Marktfrauen und der Mann mit dem Helm kommen rasch näher, sie
scheinen an der Tür zu lauschen. Die beiden Araber bleiben unbeweglich stehen. Die Bühne verdunkelt sich
allmählich, und der VORHANG fällt.
211
lose Imagination gedeutet werden. Schliesslich spielte der Tod auf der Suche nach der
Surrealität genauso wenig eine Rolle, wie der Wahnsinn davor abzuschrecken vermochte, sich
der Vorstellungskraft hinzugeben: Ce n’est pas la crainte de la folie qui nous forcera à laisser
en berne le drapeau de l’imagination96. Infolgedessen lässt sich zwar das Geschehen als das
ewige Mysterium von Liebe und Tod, Eros und Thanatos deuten, wobei jedoch das ganze
Gewicht auf Eros zu legen und Thanatos als unbedeutende Nebenerscheinung mitzutragen
ist97. Vor diesem Hintergrund fällt Michels Realitätsverlust kaum ins Gewicht, eröffnet sich
ihm doch erst dadurch die Hoffnung auf einen an sich paradoxen dauerhaften amour fou, eine
surrealistische Liebe, die bereits durch ihre Benennung unmissverständlich klarstellt, dass sie
ausschliesslich in der Irrationalität der folie existiert98. Das verrückte Moment des amour fou
spielte nicht zuletzt eine zentrale Rolle in Bretons Plänen zur Schaffung moderner Mythen,
die in der Art eines kollektiven Wahnsinns das Urmenschliche zum Ausdruck bringen sollten
und in dieser Form auch von Neveux angestrebt wurden, nämlich im Bewusstsein, dass des
mythes et des légendes [...] dorment depuis des millénaires au fond de nous et ne demandent
qu’à se réveiller, à éclater en images99. Analog dazu liegt es nahe, Juliette mit dem von
Breton als amour fou deklarierten, sexuell motivierten Mythos zu identifizieren, erweist sie
sich doch spätestens durch ihre Allgegenwart in den Männerphantasien des dritten Aktes als
das Urweibliche100.
Gleichermassen aufgrund der mythologischen Dimension der Titelheldin als auch
wegen der positiven Auffassung der folie als mögliche Existenzform des Surrealismus ist eine
96
Vgl. Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 319. Eluard pries den
Tod gar als erstrebenswerten Zustand: Ceux qui meurent sont légers, ils s’étendent et ne peuvent plus tomber.
Pour dire qu’ils sont comme le vent du nuage… […] dans une absence de sang, quel bonheur! Eluard, Les
Nésessités de la vie (1921), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 82. Zitat Breton, Manifeste du surréalisme
(1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 313.
97
Zitat Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 297.
98
Analog dazu erkannte auch Eluard die Liebe im Traum als eine zeitlich unbegrenzte: [...] un amour qui n’est
pas nouveau, mais éternel. Eluard, Dors (1931), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 359.
99
Zitat Neveux, zitiert nach Bordaz, Georges Neveux et Vidocq (1971), S. 616. Zur Rolle des Mythos in Bretons
Konzeption des amour fou siehe u.a. Guy Rosolato, L’Amour fou, in: Chénieux-Gendron, Du Surréalisme et
du Plaisir (1987), S. 132, 136.
100
Vor dem Hintergrund der mit surrealistischem Gedankengut durchdrungenen Handlung von Juliette erscheint
Brées Beschreibung von Neveux’ Theater, worunter sie sämtliche Stücke subsumiert, wenig überzeugend,
stützt sie sich doch ausschliesslich auf die äussere Erscheinungsform, nicht aber auf die mithilfe traditioneller
Mittel transportierte surrealistische Aussage. Neuveux’ Theater sei […] a theatre which makes no claims: no
claim to „engagement“ of any kind, metaphysical, philosophical or political; no claim to being anything but
theatre, a game played according to its own rules and patterns, on a stage, before a public. Brée, Georges
Neveux (1954), S. 65. Dass Neveux selbst bei seinen späteren Theaterstücken bestrebt war, gesellschaftlich
relevante Themen aufzugreifen, liegt in Anbetracht seiner eigenen Aussage auf der Hand: C’est que mon
ambition est toujours de parler sans gravité des choses graves et que je suis persuadé, comme un grand
moraliste de notre temps, qu’il faut prendre la vie au tragique, mais jamais au sérieux. Neveux, in: L’AvantScène 239 (15. März 1961), S. 7.
212
Deutung von Juliette als destruktives Symbol – a modernist figure of death and anonymity –
unmöglich mit der surrealistischen Grundhaltung vereinbar, sondern zeugt vielmehr von einer
wirklichkeitsverhafteten ‚realistischen‘ Wertung101. Genau diesen Realismus des Wachzustandes, der auch das Denken des Publikums bestimmte, galt es nun aber im Geiste Artauds mit
Hilfe einer opération magique zu erschüttern, was sich in Juliette darin niederschlug, dass auf
der Bühne eine Traumrealität verwirklicht wurde, die während zweier Akte in ständigem
Widerspruch zur rationalen Logik – mit Michel als deren Stellvertreter – steht102. Indem sich
Michel im dritten Akt jedoch für den Wahnsinn entscheidet, offenbart sich das irrationale
Dasein endgültig als erstrebenswerte Gegenwelt, die allein den amour fou in Form eines endlosen intellektuellen Traumes von einer sadistischen Liebe ermöglicht, weshalb das Ende
keiner Katastrophe gleichkommt, sondern vielmehr einem surrealistischen Glücksfall103. Die
Provokation von Juliette liegt folglich nicht in der Darstellung dessen, dass die Entfremdung
in der kapitalistischen Gesellschaft die Liebe zu einer egoistisch sadistischen hat verkommen
lassen, sondern im Gegenteil darin, dass die grenzenlose Liebespraxis eines surrealistisch
verklärten De Sade zum Ideal erhoben wird. In diesem Sinne muss auch Goehrs Deutung der
syntaktischen Analogie zwischen Juliette ou La Clé du songe und De Sades Juliette ou La
Prosperité du vice als Hinweis auf eine identische Verkommenheit der dargestellten Liebe
dahingehend positiv gewendet werden, als das ‚nutzbringende Laster‘ des Marquis mit
Neveux’ ‚Traumschlüssel‘ gleichzusetzen ist und damit als Instrument par excellence
erscheint, das allein das Tor zur Surrealität aufzuschliessen vermag104.
101
Vgl. Goehr, Juliette fährt nach Mahagonny (Druck in Vorbereitung): However, it is a destructive and elusive
agency [of Juliette], because the way it lures Michel deeper and deeper into his dream, and finally to his
madness or death, depends on its being made devoid of personality and identity. This is the key to my reading
of ‚Juliette‘, how Juliette is made the figure of a courtesan, and how, in this figuration, she comes to
symbolize a modernist figure of death and anonymity, and a figure, paradoxically, lacking the character
Jenny still has.
102
Zitat Artaud, ‚Le Théâtre Alfred Jarry‘ (1928), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 35.
103
Zitat Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 312.
104
Vgl. Goehr, Juliette fährt nach Mahagonny (Druck in Vorbereitung).
213
MUSIKALISCHER SURREALISMUS?
Obwohl das Problem eines Surrealismus auf der Bühne zu unüberbrückbaren Spannungen
zwischen den Theaterschaffenden und Breton geführt hatte, so konnte das Haupt der Gruppe
zumindest selbst auf eine Theatervergangenheit zurückblicken, was ein gewisses Mass an
Akzeptanz erahnen lässt, das bei der Frage nach einer surrealistischen Musik dagegen keineswegs gegeben war. Breton hatte nicht nur kein Interesse an Musik, es fehlte ihm sogar die
Fähigkeit, selbst die einfachsten musikalischen Zusammenhänge hörend zu erfassen105.
Il [Breton] m’a déclaré: „Je ne sais pas reconnaître la différence entre deux sons. Pour moi, les
rapports entre les sons, qui constituent la musique m’échappent totalement.“ C’est un cas bien
connu […] qui s’appelle l’amusique comme on dit l’aphasie. Breton est atteint d’amusique106.
Inwiefern Bretons Desinteresse für Musik pathologischer Natur war, ist hierbei weniger von
Interesse, als vielmehr die Auswirkungen, die dieses Unverständnis für jegliche Ausformung
eines musikalischen Surrealismus mit sich bringen musste. Kein Wunder, dass sich die französischen Surrealisten in Anlehnung an ihre Leitfigur allesamt gegen Musik wandten107. Ohne
genauer auf die Frage nach dem Wesen der Musik an sich einzugehen, zeichnen sich die diesbezüglichen Äusserungen der Surrealisten um Breton sowohl durch eine überraschende
Vehemenz als auch durch ein hohes Mass an Emotionalität aus, die etwa in Aragons Aussage
l’amour m’intéresse plus que la musique deutlich zutage tritt108. Musik wird jedoch nicht nur
aus purem Desinteresse abgelehnt, sondern sogar als destruktiv für die surrealistische Gedankenwelt erachtet, indem sie die Liebe und damit das zentrale Moment des merveilleux
zerstöre, eine Denkfigur, die sich in dieser radikalen Ausprägung in Eluards vielzitierter
Formulierung wiederfindet: Je n’aime pas la musique, tout ce piano me prend tout ce que
j’aime109. Dennoch liegt es nahe, in der allgemeinen Ablehnung von Musik eine geradezu
bedingungslose Loyalität der Pariser Mitglieder zu sehen, die sich zwar grundsätzlich Bretons
Verdikt fügten, jedoch verschiedentlich in mehr oder weniger direkter Weise an musikali-
105
Siehe auch Breton, La Clé des champs (1953), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 3, S. 731: […] mon
ignorance absolue des lois de la composition musicale […].
106
Souris, Paul Nougé et ses complices, in: Alquié, Entretiens sur le surréalisme (1968), S. 526.
107
Vgl. Bonnefoy, Le Surréalisme et la musique, in: Ders., Entretiens sur la poésie (1972-1990) (1990), S. 162.
108
Aragon, Le Libertinage (Préface; 1924), in: Ders., Œuvres romanesques complètes, S. 272.
109
Eluard, Les Nécessités de la vie et les conséquences des rêves (1921), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S.
77.
214
schen Projekten beteiligt waren, wie ausgerechnet Eluard, der einerseits die musikalische
Ausdrucksform verdammte und andererseits mehrere seiner Texte Francis Poulenc zur Vertonung überliess110.
Neben Bretons musikalischer Taubheit scheint dem Interesse der Pariser Gruppe an
einem musikalischen Surrealismus auch die Orientierung zahlreicher zeitgenössischer französischer Komponisten an Jean Cocteau im Wege gestanden zu haben, galt dieser doch als einer
der verachtungswürdigsten Dichter111. Der verpönte Schriftsteller hatte insofern der
surrealistischen Bewegung sogar zu deren Namen verholfen, als Apollinaire in seiner legendären Vorankündigung der Uraufführung von Parade das von Cocteau initiierte ballet réaliste
zum Ausdruck eines überhöhten Realismus – une sorte de sur-réalisme – ernannt und dabei
bezeichnenderweise die Leistungen aller Beteiligten bis auf den totgeschwiegenen Dichter
hervorgehoben hatte112. Hatte er in seinem Kommentar zu Parade den diagnostizierten
Surrealismus durch das vorbereitende une sorte sowie den Bindestrich bei sur-réalisme gleich
doppelt relativiert, so verfasste Apollinaire kurz darauf mit Les Mamelles de Tirésias das erste
als solches bezeichnete drame surréaliste – vermutlich primär als Überhöhung eines blossen
ballet réaliste und damit als Spitze gegen Cocteau gedacht113. Da aber bereits zur Zeit von
Apollinaire und folglich vor der ‚offiziellen‘ Entstehung von Bretons Surrealismus das Stadium Cocteaus als überwunden gegolten hatte, konnte es unmöglich im Sinn der Gruppe sein,
mit den Komponisten aus dem Umkreis des ‚Groupe des Six‘ den Antipoden gleichsam durch
die Hintertür hereinzubitten. Indem sich die betreffenden Komponisten dem Ruf des faux
poète notoire nach einer musique française de France anschlossen, gerieten sie zusammen
mit Cocteau unter einen Kunst-Verdacht, der das durch Bretons ‚Taubheit‘ vorgegebene
Desinteresse an Musik unweigerlich ins Negative wenden musste114.
110
Neben einzelnen Liedern verfasste Francis Poulenc vier Liederzyklen auf Texte von Paul Eluard: Tel jour,
telle nuit (1937), Miroirs brûlants (1939), La fraîcheur et le feu (1950) und Le travail du peintre (1956). Vgl.
Arfouilloux, La Partition surréaliste (1999), S. 56.
111
Vgl. Wangermée, Surréalisme et musique à Paris et à Bruxelles (1997), S. 308 f. sowie Arfouilloux, La
Partition surréaliste (1999), S. 54.
112
Apollinaire, [Parade] (1917), in: Ders., Œuvres en prose complètes, S. 865: De cette alliance nouvelle, car
jusqu’ici les décors et les costumes, d’une part, la chorégraphie, d’autre part, n’avaient entre eux qu’un lien
factice, il est résulté, dans „Parade“, une sorte de sur-réalisme où je vois le point de départ d’une série de
manifestations de cet esprit nouveau, qui, trouvant aujourd’hui l’occasion de se montrer, ne manquera pas
de séduire l’élite et se promet de modifier de fond en comble les arts et les mœurs dans l’allégresse
universelle […].
113
Zur Bezeichnung von Les Mamelles de Tirésias als drame surréaliste, siehe u.a. Pierre Albert-Birot, Les
Mamelles de Tirésias, in: Adéma, Guillaume Apollinaire (1946), S. 47. Vgl. Grimm, Das avantgardistische
Theater Frankreichs 1895-1930 (1982), S. 110 f.
114
Zitat Cocteau, Le Coq et l’arlequin (1918), S. 58. Zur Gleichsetzung des faux poète mit Cocteau siehe
Arfouilloux, La Partition surréaliste (1999), S. 54. Zur Kritik an Cocteau siehe auch Breton, Les Pas perdus
(1924), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 265.
215
Si certains seulement se montrent violemment hostiles à la musique, donnent à son propos des
signes d’agressivité, bien d’autres n’éprouvent pour elle que de l’indifférence ou ne lui
marquent qu’une sorte de complaisance polie, que je n’ai guère vu aller jusqu’à s’instruire de
ses problèmes actuels et se passionner pour eux, à l’inverse de ce qui s’est produit pour la
peinture. Cette défaveur, dans les vingt dernières années, s’accentuait peut-être encore du fait
qu’à Paris la cause de la musique moderne avait quelque temps admis pour champion un faux
poète notoire, autrement dit un de ces versificateurs à qui il échoit inexorablement d’abaisser
au lieu d’élever tout ce qu’il touche et qui, par définition, ne peut être que rebelle à tout
arrangement harmonieux des mots115.
Die nach aussen getragene Verachtung der Musik durch die französischen Surrealisten führte
schliesslich dazu, dass in Paris keine Musiker im engeren Kreis der surrealistischen Gruppe
vertreten waren, oder mit den Worten Man Rays: The Surrealists disapproved of music –
there were no musicians in the group – since they were considered of an inferior mentality116.
Damit unterschied sich die Pariser Gruppe grundsätzlich von derjenigen in Prag, die zumindest eine kleine musikalische Minderheit – in der Person des Komponisten Jaroslav Ježek –
aufzuweisen hatte, und hauptsächlich von der surrealistischen Vereinigung in Brüssel, wo
neben Paul Hooreman und E. L. T. Mesens auch André Souris über Jahre hinweg der Bewegung angehörte117.
Anders als in Paris kam der Musik in der ebenfalls im November 1924 gegründeten
Brüsseler Gruppe – namens Correspondance – eine gewichtige Rolle zu, was einerseits durch
das Interesse der Leitfigur Paul Nougé an einer musikalischen Ausformung des Surrealismus
bedingt war, als auch auf die aktive Mitgliedschaft der genannten Komponisten zurückzuführen ist, wobei die folgenreichsten Beiträge zweifellos von Souris stammten118. Dabei lag dem
Komponisten keinesfalls daran, eine neue Kunstrichtung zu definieren – L’avènement d’un
art nouveau ne nous préoccupe guère –, vielmehr beabsichtigte er dem Geist der Bewegung
entsprechend tatsächlich, der Surrealität als utopisches Ziel mithilfe musikalischer Mittel
115
Breton, La Clé des champs (1953), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 3, S. 729.
Zitat Man Ray, Self portrait (1963), S. 175. Georges Auric wurde zwar als einziger Musiker in Bretons
erstem surrealistischen Manifest von 1924 genannt, verlor jedoch sehr bald dadurch die Hochachtung der
Gruppe, dass er sich verstärkt Cocteau zuwandte; indem er schliesslich zum Mitglied der ‚Legion d’honneur‘
ernannt wurde, erwies er sich endgültig als ausgesprochen ‚unsurrealistisch‘. Vgl. Christopher Schiff,
Banging on the windowpane. Sound in early surrealism, in: Kahn, Wireless imagination (1992), S. 161.
117
Zu Jaroslav Ježek siehe u.a. Holzknecht, Jaroslav Ježek & Osvobozené divadlo (1957). Zu den Musikern in
der Brüsseler Gruppe siehe u.a. Wangermée, André Souris et le complexe d’Orphée (1995); Wangermée, La
Lyre à double tranchant (2000); Wangermée, Les Musiciens du surréalisme bruxellois et l’esprit dada
(1992); Huys, In memoriam Paul Hooreman (1978-79); Geurts-Krauss, E .L .T. Mesens (1998), S. 37-48.
118
Vgl. Wangermée, Surréalisme et musique à Paris et à Bruxelles (1997), S. 315.
116
216
einen Schritt näher zu kommen119. Der Musik wurde gleichermassen wie der Malerei und der
Poesie eine gesellschaftspolitische Wirksamkeit zugetraut, die allein eine surrealistische
Kunst zu rechtfertigen vermochte, eine Voraussetzung für jegliches surrealistische Tun, die
von den Brüsseler Surrealisten in weitaus radikalerer Weise als von der Pariser Gruppe vertreten wurde. So unterzeichnete auch Souris die von Nougé verfasste Stellungnahme La
poésie transfiguré, worin die Pariser Surrealisten aufgrund ihres Vorgehens in der Affaire
Aragon aufs Schärfste kritisiert wurden, hatten sich diese doch auf eine ästhetische Absolutheit der Poesie berufen, die jegliche politische Deutung von vornherein ausschliessen musste;
dies zum Zweck, Aragon – gegen dessen Willen – vor einer Verurteilung wegen eines Aufrufs zum Mord zu bewahren, den er in seinem Gedicht Front rouge mit den Worten
Descendez les flics formuliert hatte120.
Während einerseits die Funktion einer surrealistischen Musik mit Blick auf die
revolutionäre Intention der Bewegung von Beginn an feststand, indem es in Anlehnung an
jegliche surrealistischen Aktionen galt, die Gesellschaft zu verändern, so erwies es sich andererseits als ungleich schwieriger, die Frage nach den Eigenschaften einer solchen Musik
schlüssig zu beantworten. Es stellte ein Charakteristikum der Brüsseler Surrealisten überhaupt
dar, dass diese von der Idee einer écriture automatique Abstand nahmen, und stattdessen für
eine bewusste Vorgehensweise plädierten, ohne den Zufall als konstitutives Element in die
Überlegungen einzubeziehen121. Da den eruptiven Äusserungen des Unterbewusstseins in der
Gruppe um Nougé keine grössere Bedeutung zukam, wurde folglich mit der Improvisation
auch das annähernde musikalische Äquivalent zur écriture automatique für die Theoriebildung hinfällig, weshalb Souris weder Jazz noch Aleatorik jemals ernsthaft als Weg zu einer
angestrebten surrealistischen Musik in Erwägung zog122. Auch musste in Souris’ Augen
gegen eine auf dem Zufallsprinzip basierende Musik – wie sie bereits früh von Georges
119
Zitat Souris, Festival de Venise (1925), in: Wangermée, La Lyre à double tranchant, S. 131.
Nougé, La poésie transfiguré (1932), in: Ders., Histoire de ne pas rire, S. 92-95. Vgl. Souris, Paul Nougé et
ses complices, in: Alquié, Entretiens sur le surréalisme (1968), S. 438 f., 444-447; Wangermée, Surréalisme
et musique à Paris et à Bruxelles (1997), S. 321; Bernard, Aragon, S. 17.
121
Zu den Merkmalen der surrealistischen Gruppe in Brüssel siehe u.a. Souris, Paul Nougé et ses complices, in:
Alquié, Entretiens sur le surréalisme (1968), S. 439; Blampain, Le Surréalisme belge; Marcel Mariën, Der
Surrealismus aus Brüsseler Sicht, in: De Croës, René Magritte und der Surrealismus in Belgien, S. 15-30;
Mariën, L’Activité surréaliste en Belgique; Wangermée, André Souris et le complexe d’Orphée (1995), S.
137; Wangermée, Les Musiciens du surréalisme bruxellois et l’esprit dada (1992), S. 259; Wangermée,
Surréalisme et musique à Paris et à Bruxelles (1997), S. 307.
122
Il faut rejeter l’écriture automatique; en musique, toute improvisation est automatique, dans l’élaboration
sinon dans les résultats. Souris, [Notiz, Ende Juli 1931], in: Wangermée, La Lyre à double tranchant, S. 142.
Dementsprechend finden sich in Souris’ Schriften, die die Frage bezüglich eines musikalischen Surrealismus
betreffen, keinerlei Erwägungen, Jazz oder Aleatorik einzubeziehen. Siehe Souris Aufsätze, Briefe und
Notizen zu diesem Thema, in: Wangermée, La Lyre à double tranchant (2000), S. 121-172.
120
217
Ribemont-Dessaignes und Marcel Duchamps praktiziert wurde – sprechen, dass in Anbetracht
der Negation sämtlicher bislang bestimmender Parameter unweigerlich die Grenze eines im
Grunde konstruktiven Surrealismus hin zum destruktiven Dadaismus überschritten worden
wäre123. Obwohl der Verzicht auf eindeutig festgelegte Klangfolgen in den 1920er Jahren als
latent nihilistischer Akt anmuten musste, könnte der vollständige Rückzug auf die aleatorische Kompositionsweise insofern mit Bretons Surrealismusverständnis in Einklang gebracht
werden, als es sich dabei gleichsam um einen Befreiungsakt der Töne handelt, die den hierarchisch geordneten Tonraum überwinden, um zu einem irrationalen Zusammenhang zu finden.
Diese Kompositionsweise entspräche gewissermassen dem angestrebten dichterischen Verfahren, wonach es galt, eine wahre Sprache dadurch zu erlangen, dass der ursprüngliche
Zustand der Zeichen – à la naissance du signifiant – wieder hergestellt werden sollte, also die
unmittelbare Verbindung zwischen Ferdinand de Saussures signifié und signifiant ohne die im
Laufe der Zeit angehäuften Konnotationen124. Um diesen idealen Urzustand der sprachlichen
Ausdrucksmittel zu erreichen, musste laut Breton das Zeichen mit dem Bezeichneten konfrontiert werden, wodurch eine Spannung erzeugt wurde, die künstlich reproduziert und verstärkt, näher an die Surrealität heranführen sollte. Aufgrund dieser durch und durch sprachtheoretisch ausgerichteten Argumentation kann es kaum erstaunen, dass die in Bretons
Schriften formulierten poetologischen Überlegungen hauptsächlich auf die literarische Ebene
zielten125. Auf die Malerei übertragen, bedeutete diese Anleitung zu einem surrealistischen
Kunstgebrauch, dass der Maler die innere Vorstellung des Bildes mit konkreten Objekten der
realen Welt zu verknüpfen hatte, eine Anforderung, die Breton in geglückter Weise etwa bei
Pablo Picasso, Giorgio de Chirico oder André Masson verwirklicht sah126. Dementsprechend
müssten in der Musik zwingend die Ausdrucksmittel mit der eigentlichen musikalischen
Existenz konfrontiert werden, was nicht nur zu aleatorischen Experimenten führte, sondern
123
Zu Souris’ Ablehnung des Dadaismus siehe Wangermée, Les Musiciens du surréalisme bruxellois et l’esprit
dada (1992), S. 267. Vgl. Mache, Surréalisme et musique, remarques et glosses, S. 47: Ce qui interdit
cependant de voir en Cage le musicien surréaliste par excellence, c’est moins ce retard historique, sans
gravité au fond, que le nihilisme propre à l’auteur de „Silence“, et sa personnalité plus inspirée par la
sagesse du que par un fol espoir révolutionnaire. Siehe auch Wangermée, Surréalisme et musique à Paris et
à Bruxelles (1997), S. 313; Vgl. De la Motte, Warum es keinen musikalischen Surrealismus geben konnte, S.
459. Zu Ribemont-Dessaignes Musikauffassung siehe auch Kapitel II, S. 82-87;
124
Zitat Breton, Du Surréalisme en ses œuvres vives (1953), in: Ders., Manifestes du surréalisme, S. 313.
125
Vgl. Bürger, Der französische Surrealismus (1996), S. 74-83.
126
Siehe Breton, Le Surréalisme et la peinture (1928/1965); Vgl. Gale, Dada & Surrealism, S. 250 f.
218
beispielsweise Mesens dazu veranlasste, Musik vom Klang zu trennen, um diese schliesslich
als eigentliche Collage in die reine Bildwelt überzuführen127.
Selbst wenn man im Gegensatz zu Souris die Aleatorik oder Mesens’ stumme Komposition
als Ausdrucksform eines musikalischen Surrealismus gelten lassen möchte, kann man sich
keineswegs der grundsätzlichen zeichentheoretischen Unterschiede zwischen Musik und
Surrealismus entziehen. Da diese auf einer ungleich ausgeprägten Determination fussen,
lassen sie einen musikalischen Surrealismus im Geiste Bretons a priori zum Problem werden.
Die eingeschränkte Tauglichkeit für surrealistische Zwecke resultiert daraus, dass der Musik
eine Gegenstandslosigkeit eignet – la musique, c’est l’indéterminé –, die dem objektbezogenen Ausgangspunkt der surrealistischen Poetologie zuwiderläuft128. Schliesslich galt es
gemäss der surrealistischen Zielsetzung, jegliche rationale Logik zugunsten einer irrationalen
aufzugeben, weshalb der eigentliche Ausgangspunkt für die Surrealität allein in den Gegenständen sowie den ‚ursprünglichen‘ Zeichen, die diese bezeichneten, nicht aber in irgendwelchen Zusammenhängen zwischen den Objekten zu finden war. Um jedoch überhaupt neue
Relationen zwischen den einzelnen Zeichen provozieren zu können, war es unabdingbar,
deren Wiedererkennung auch ohne ein sinnstiftendes Umfeld jederzeit zu gewährleisten. Ein
derart definierter Surrealismus musste folglich zwingend auf eine Objektwelt zurückgreifen,
eine Bedingung, die einerseits die Schriftsteller mit sprachlich evozierten Bildern zu erfüllen
suchten und der andererseits die Bildenden Künstler mit den ihnen angestammten Techniken
in geradezu idealer Weise entsprachen. Gerade wegen ihrer Fähigkeit, in eindeutiger Weise
ikonische Zeichen zu erzeugen, war insbesondere die Malerei für ein surrealistisches Vorgehen prädestiniert, konnten darin doch Gegenstände zerlegt und neu zusammengesetzt abgebildet werden, wobei die einzelnen Teile klar erkennbar blieben, ohne dass das ursprüngliche
Objekt als solches noch vorhanden gewesen wäre.
A ces divers degrés de sensations correspondent des réalisations spirituelles assez précises et
assez distinctes pour qu’il me soit permis d’accorder à l’expression plastique une valeur que
par contre je ne cesserai de refuser à l’expression musicale, celle-ci de toutes la plus
profondément confusionnelle. En effet, les images auditives le cèdent aux images visuelles non
127
Zu E. T. L. (Edouard Léon Théodor) Mesens siehe u.a. Wangermée, Moi, je suis musicien; Wangermée,
André Souris et le complexe d’Orphée (1995), S. 53 f.; Kelly, E. L. T. Mesens renouncement of music; De la
Motte, Handbuch der Musikpsychologie (1996), S. 130 f. sowie Geurts-Krauss, E .L. T. Mesens, S. 37-48.
128
Breton, [Interview durch Alfred H. Barr] (um 1940), zitiert nach Clébert, Dictionnaire du Surréalisme (1996),
S. 393.
219
seulement en netteté, mais encore en rigueur et, n’en déplaise à quelques mélomanes, elles ne
sont pas faites pour fortifier l’idée de la grandeur humaine. Que la nuit continue donc à tomber
sur l’orchestre et qu’on me laisse, moi qui cherche encore quelque chose au monde, qu’on me
laisse les yeux ouverts, les yeux fermés – il fait grand jour – à ma contemplation silencieuse129.
In Anbetracht ihrer für Bretons Surrealismus ungenügenden Eignung, eindeutige Bilder zu
erzeugen, die eine Verankerung in der gegenständlichen Welt gewährleisten würden, konnte
die musikalische Ausdrucksform im Pariser Surrealismus niemals denselben Stellenwert einnehmen wie die sprachliche oder visuelle, erschien die Musik – zumal für den ‚tauben‘ Breton
– doch als la plus profondément confusionnelle aller Künste. Sogar Souris, der selbst nach
seinem Rauswurf aus der belgischen Gruppe den musikalischen Surrealismus vehement vertrat, hat viele Jahre später Bretons Verdikt hinsichtlich der Unmöglichkeit eines musikalischen Surrealismus bestätigt130. Ob man Souris’ pointierte Absage an einen musikalischen
Surrealismus als Verbitterung darüber deuten will, dass er wegen seiner Entscheidung für eine
künstlerische Karriere als Kapellmeister aus der Bewegung ausgeschlossen worden war, oder
aber mit Wangermée als einen der vielen Anlässe, bei denen der Komponist seinen
Gesprächspartner verblüffen wollte, so schwingt in jedem Fall eine Resignation mit, die
letztlich den Versuch, mithilfe von Musik surrealistische Ziele zu erreichen, für gescheitert
erklärte131.
En effet, puisqu’il n’y a pas de musique surréaliste, c’est qu’il ne devait pas y en avoir! Le fait
de s’interroger là-dessus aujourd’hui relève, à mes yeux, d’une curiosité naïve, pour ne pas
dire primaire. On pourrait tout aussi bien décréter qu’il y a une cuisine surréaliste, ou des
guides de chemin de fer surréaliste… Pourquoi diable vouloir à toute force qu’il y ait une
musique surréaliste? 132
Diesem apodiktischen Urteil zum Trotz hatte Souris während Jahren versucht, eine revolutionär wirksame, surrealistische Musik zu definieren, wobei er gerade deshalb auf die Verfahren
der Literatur und der Bildenden Künste zurückgreifen musste, weil er die écriture
automatique verwarf. Analog zur Vorgehensweise dieser Künste galt es, die unabdingbaren
determinierten Zeichen in der Musik aufzuspüren, was letztlich auf Symbole – sei es ein
129
Breton, Le Surréalisme et la peinture (1928/1965), S. 1 f.
Vgl. u.a. Clébert, Dictionnaire du Surréalisme (1996), S. 393.
131
Wangermée, La Lyre à double tranchant (2000), S. 171 [Fussnote]. Zu Souris Karriere als Kapellmeister des
I.N.R. (Institut national de radiodiffusion) ab 1937 siehe Wangermée, André Souris et le complexe d’Orphée
(1995), S. 197-201.
132
Zitat Souris (1976), in: Wangermée, La Lyre à double tranchant, S. 171.
130
220
Trauermarsch oder ein Walzer – oder auf die wenigen musikalischen Ikone – in Form von
Lautmalereien – hinauslaufen musste. Um selbst nach der surrealistischen Manipulation der
Zeichen den Erkennungseffekt der Versatzstücke zu gewährleisten, müssen die musikalischen
Symbole als solche erkennbar bleiben, ist es doch unmöglich, die Bedeutung eines unbekannten Symbols zu erraten, da dieses im Unterschied zum Ikon in keinem erkennbaren
Zusammenhang zum Bezeichneten steht. Es liegt auf der Hand, dass für einen musikalischen
Surrealismus die beschränkte Zahl der determinierten musikalischen Zeichen ein grundsätzliches Problem darstellt, das sich jedoch dahingehend abschwächen lässt, als sich über die
Symbole hinaus ebenso die Volksmusik wie Stile vergangener Zeiten als Stellvertreter einer
bekannten Wirklichkeit für ein verfremdendes Verfahren anbieten. In Anlehnung an die von
Nougé propagierte Gleichwertigkeit der verschiedenen Künste – bis hin zu deren
Austauschbarkeit –, erkannte Souris in einer Fuge von Bach ebenso eine stellvertretende Realität, wie Magritte das Abbild eines Menschen als manipulierbare Wirklichkeit heranzog133.
A vrai dire, je ne pense pas qu’il y ait de différence spécifique, du point de vue surréaliste,
entre les problèmes qui se posent à la poésie, à la peinture et à la musique. Il faut considérer
tous les arts comme des possibilités de manœuvre vis-à-vis des objets134.
In Anlehnung an Magritte und an Nougé suchte Souris in der Musik nach allgemeinverständlichen lieux communs, denen durchaus eine realistische Banalität anhaften sollte, die es durch
eine unerwartete Manipulation des Bekannten zu überwinden galt, hin zu einer surrealistischen Magie135. Indem Souris alle bekannten Ausdrucksformen der Musikgeschichte zu
potenziellen lieux communs ernannte, erreichte er eine ungleich vielseitigere Ausgangslage,
als sie mit einer ausschliesslich an der sprachlichen Zeichentheorie orientierten musikalischen
Realität denkbar gewesen wäre, was allein dadurch möglich wurde, dass er die historischen
Konventionen der Musik letztlich zu Objekten erklärte, die es gemäss der Auffassung von
133
Nougé, André Souris (1928), in: Ders., Histoire de ne pas rire, S. 56: Mais il reste cependant qu’à l’heure
présente, les mots, les couleurs, les sons et les formes, quelque humiliation qu’ils aient à subir, nous ne
pouvons encore leur refuser la chance d’une mystérieuse et solenelle affectation. Ainsi se justifierait la
musique d’André Souris, la peinture de René Magritte ou la poésie de Camille Goemans, aujourd’hui
musicien, peintre ou poète, mais demain peut-être…. Vgl. Souris, Discussion générale, in: Alquié, Entretiens
sur le surréalisme (1968), S. 527.
134
Zitat Souris, Paul Nougé et ses complices, in: Alquié, Entretiens sur le surréalisme (1968), S. 454.
135
Vgl. Souris, Discussion générale, in: Alquié, Entretiens sur le surréalisme (1968), S. 526 f. sowie
Wangermée, André Souris et le complexe d’Orphée (1995), S. 139 f. Zur Bedeutung des Banalen im
Schaffen René Magrittes siehe u.a. Schiebler, Die Kunsttheorie René Magrittes (1981), S. 75-84. Zur Rolle
Magrittes im Brüsseler Surrealismus vgl. Nougé, Histoire de ne pas rire (1980), S. 213-296.
221
Kunst als einem manœuvre vis-à-vis des objets zu verändern galt136. Einerseits legitimierte
Souris seine um tradierte musikalische Idiome erweiterte Ausgangslage dadurch, dass er diese
zu ‚Gegenständen‘ ernannte, die er mithilfe einer zu Magrittes Malerei nahezu analogen
Praxis zu verfremden suchte, andererseits barg jedoch diese Umdeutung musikalischer Stile
und Gattungen zu einem musikalischen Objekt die Gefahr, einer erkennbaren surrealistischen
Intention verlustig zu gehen. Schliesslich rückten Souris’ Werke damit in unverkennbare
Nähe zu denjenigen verschiedener zeitgenössischer Komponisten, die gleichermassen mit
Verfremdungen arbeiteten und sich nur deshalb grundsätzlich von seiner Vorgehensweise
unterschieden, weil sie sich nicht wie der Surrealist auf eine realistische Objekthaftigkeit des
Ausgangsmaterials beriefen137.
Il existe un musicien contemporain, qui ne s’est jamais intéressé au surréalisme, qui en est au
contraire très éloigné puisque c’est un ennemi de toute révolte, un traditionaliste et un
catholique orthodoxe: je veux parler d’Igor Strawinsky. Durant toute sa carrière, Strawinsky
s’est servi d’objets musicaux qui étaient déjà en quelque sorte éprouvés par l’usage […]. Mais
c’est toute l’œuvre de Strawinsky, depuis cinquante ans, qui témoigne de cette utilisation
systématique du lieu commun 138.
Wie problematisch die Bewertung einer Komposition als surrealistische letztlich ist, zeigt
sich etwa darin, dass Souris ausgerechnet Strawinsky mehrfach als Ideal eines jeden surrealistischen Tonschöpfers bezeichnete, was im Grunde nur deshalb möglich war, weil das entscheidende Kriterium für einen eigentlichen musikalischen Surrealismus – vergleichbar einem
musikalischen Dadaismus oder Poetismus – einerseits in der revolutionären Intention des
Komponisten sowie andererseits in der Rezeptionshaltung des Hörers zu finden ist139. Vor
diesem Hintergrund muss gerade bei rein instrumentalen Werken einer surrealistischen Deutung von ‚lieux communs‘ aufgrund des blossen Notentextes – seien es Strawinskys Kompositionen, seien es Gustav Mahlers frühe Symphonien – zwingend ein Moment von Beliebigkeit anhaften140. Im Gegensatz dazu erweist sich der Fall bei vokalen Kompositionen deshalb
als ein gänzlich anderer, weil die vertonte Dichtung eine explizite Deutungsebene transportiert, ein Phänomen, das nicht zuletzt in Martinůs Oper zum Tragen kommt: Da der Surrea-
136
Zitat Souris, Paul Nougé et ses complices, in: Alquié, Entretiens sur le surréalisme (1968), S. 454.
Vgl. De la Motte, Handbuch der Musikpsychologie (1996), S. 127 sowie Wangermée, André Souris et le
complexe d’Orphée (1995), S. 139 f.
138
Zitat Souris, [Interview durch Marcel Croës, April 1967], in: Wangermée, La Lyre à double tranchant, S. 172
139
Vgl. Kapitel II, S. 104-107 sowie III, S. 182 f.
140
Vgl. Danuser, Gustav Mahler und seine Zeit (1991), S. 168.
137
222
lismus durch das Libretto von Juliette eindeutig als Stossrichtung vorgegeben ist, wird jeder
‚lieu commun‘ unweigerlich zu einem Moment surrealistischer Musik.
SURREALISTISCHE REALITÄTSBEZÜGE IN MARTINŮS JULIETTE
Martinů kannte zum Zeitpunkt der Entstehung von Juliette mit ziemlicher Sicherheit nicht die
theoretischen Texte Souris’, was jedoch insofern kaum ins Gewicht fällt, als um so mehr
davon ausgegangen werden kann, dass er unabhängig vom belgischen Komponisten auf ein
vergleichbares Resultat hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen eines musikalischen
Surrealismus gekommen ist. Schliesslich verfolgte Martinů nicht nur zeitlebens die jeweils
aktuelle naturwissenschaftliche Forschungsliteratur, sondern setzte sich auch intensiv mit der
Geisteswissenschaft im allgemeinen und der Semiotik im besonderen auseinander, so dass er
ausser mit den bereits gängigen Theorien Ferdinand de Saussures sogar mit den von Charles
S. Peirce neu definierten, zeichentheoretischen Kategorien vertraut war141. Aufgrund der
Reflexion über semiotische Fragen einerseits sowie andererseits der offensichtlichen Vertrautheit mit dem Surrealismus in Paris – der zentralen Bewegung im französischen Kulturleben der Zwischenkriegszeit – drängt es sich geradezu auf, die zahlreichen semantisch besetzten, musikalischen Passagen in Juliette als surrealistisch intendierte zu deuten142. Eine an den
Surrealismus gemahnende Vorgehensweise tritt etwa in der Spielzeugentenpassage in der
siebten Szene des ersten Aktes besonders deutlich zutage.
Notenbeispiel 57a: Juliette, I. Akt, 7. Szene, T 1-5 nach Z 46143
Das onomatopoetische Kva kva der kleinen Spielzeugente bildet nicht allein deshalb den
eigentlichen Kern von Michels kurzer Erzählung aus der Kindheit, weil es auf dem
Höhepunkt seiner kurzen Phrase exponiert wird (I, 7. Szene, T 4 nach Z 46), sondern auch
141
Vgl. Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 283.
Vgl. Bürger, Der französische Surrealismus (1996), S. 22; Karbusický, Der erträumte und nacherlebte
Surrealismus (1995), S. 301 f.
143
Deutsche Übersetzung: Michel: Ich glaube, es war ein Spielzeug, eine kleine Ente, ein Spielzeug, das rannte
rund herum, sie machte: Kva kva! Mann mit Helm/Mann im Fenster/Alter Araber/Chor: Oh! Kommissar:
Wie! Wie! Eine kleine [Ente!].
142
223
insofern, als die Holzbläser das charakteristische Quaken über weite Strecken übernehmen;
dies in klanglicher Hinsicht mithilfe von dominierenden Sekundreibungen sowie durch eine
Rhythmisierung, die den von Michel gesungenen zwei Achteln auf Kva kva entspricht
(Notenbeispiel 57a). Überhaupt gemahnt die kurzatmige, andauernd von Achtelpausen unterbrochene Melodielinie Michels gleichermassen an die abgehackten Rufe des Spielzeugs, wie
sich im Orchester das durch unzählige Alterationen und Querstände verzerrte G-Dur der
unreinen Intonation des Entenlautes annähert. Daneben findet sich ein weiteres tonmalerisches Moment im kurzen Motiv auf která běhala (die rannte), das durch die Wiederholung
um so deutlicher das Drehen im Kreis (kolem dokola [rund herum]) der Ente musikalisch
nachzeichnet, als durch die Nebennote ais’ der zirkulierende Melodiefluss nach der Achtelpause verdeutlicht wird (T 2-3 nach Z 46). In diesen ersten fünf Takten wird mit musikalischen Mitteln eine quakende, im Kreis laufende Ente ‚gezeichnet‘ und damit der beschriebene
Gegenstand gleichsam zum Klingen gebracht, wodurch ein – für den Surrealismus –
notwendiger Bezug zur Realität hergestellt wird. Während das bildhaft geprägte Ententhema
aufgrund seiner geradezu wirklichkeitsgetreuen Anlage zunächst nur deshalb nicht vollständig
mit einer realistisch motivierten Tonmalerei vereinbar ist, weil der Gegenstand ebenso nichtig
wie lächerlich anmutet, kommt es im weiteren Verlauf zu einer eigentlich surrealistischen
Vorgehensweise. Denn entgegen der Situation, dass Michel aus seiner Kindheit berichten soll,
was traditionellerweise auf einen Monolog des Protagonisten hinauslaufen müsste, setzen die
Stadtbewohner sogleich mit einem Ensemble ein, das den erwarteten epischen Charakter der
Passage zunichte macht und stattdessen in ein kurzatmiges Fugato führt, das in der Art konventioneller Opernensembles die Qualitäten der Spielzeugente kommentiert.
Notenbeispiel 57b: Juliette, I. Akt, 7. Szene, T 4-7 nach Z 48144
Bevor das Erstaunen über die getäuschte Erwartungshaltung jedoch dadurch verfliegen
könnte, dass sich das Publikum zwar nicht in einem Monolog, aber dafür in einem eigentlichen ‚kontemplativen Ensemble‘ wiederfinden würde, bricht das einmütige Fugato nach
wenigen Takten abrupt ab: Michel verstummt, nachdem er selbst während vier Takten am
144
Deutsche Übersetzung: Michel: Eine kleine Ente, ganz weiss, mit einem roten Schnabel! Sie machte kva kva,
kva kva!
224
Ensemble teilhatte, erstaunt über die Begeisterung der unaufmerksamen Zuhörer (I, 7. Szene,
T 1 nach Z 49).
Indem sich einerseits die tonmalerisch erklingende Spielzeugente verselbständigt und
zur zentralen musikalischen Substanz der Passage wird sowie andererseits die Vertonung in
eine Form gefasst ist, die der zugrundeliegenden Erzählhaltung widerspricht, lässt sich in
zweifacher Hinsicht von einem surrealistischen, da gegen die vertraute Logik gerichteten
Vorgehen sprechen. Eingebettet ist Michels fragmentarischer Monolog sowie das störende
Fugato der Stadtbewohner in die lange siebte Szene, die auf einer Aneinanderreihung von
Teilen basiert, deren Bau weitgehend demselben Schema gehorcht: Die Abschnitte setzten mit
einer rationalen Aussage Michels ein, auf die eine unlogisch anmutende Replik des Kommissars folgt, worauf sich die übrigen Anwesenden früher oder später förmlich auf einen Satzfetzen stürzen, um mit einem Ensemble den Erzählfluss vorübergehend aufzuheben. Dies
geschieht zum ersten Mal, nachdem Michel dem Kommissar von seiner Entführung berichtet
hat und letzterer sogleich wieder vergisst, was er gehört hat: O co tu jde? (Worum geht es
hier?), eine Frage die von den übrigen fugiert aufgegriffen wird (I, 7. Szene, T 8 nach Z 39 bis
T 2 nach Z 40); nach einem weiteren Versuch Michels, seine Erlebnisse zu schildern, markiert
das Fugato der Stadtbewohner den unvermittelten Stimmungsumschwung des Kommissars,
der nun plötzlich das Entführungsopfer verhaften will (T 8-11 nach Z 40). Nach einem absurden Verhör Michels in Form eines fugierten Ensembles aller Anwesenden folgt die unerwartete Frage des Kommissars nach der ältesten Kindheitserinnerung, worauf die obengenannte
Spielzeugentenpassage einsetzt, um schliesslich in die Ernennung Michels zum Bürgermeister
überzugehen, die gleichermassen in ein Ensemble gefasst ist, wie die Verleihung der
Insignien – Hut, Pistole und Papagei – an den frischgebackenen Amtsinhaber. Mit den jeweils
den Erzählfluss störenden, jedoch zugleich gliedernden Einsätzen der Stadtbewohner werden
Wendepunkte in einer sich überstürzenden Handlung markiert, was den Ereignissen einen
unverkennbaren grossformalen Rhythmus verleiht, der darüber hinaus als klingendes Pendant
einer irrational begründeten Logik erscheint. Denn obwohl das fehlende Gedächtnis der
Bevölkerung eine der Situation adäquate musikalische Entwicklung der Szene unmöglich
macht, entsteht aus den Trümmern des Dialogs zwischen Michel und dem Kommissar eine
musikalisch strukturierte Szene mit deutlich hervortretenden Gesetzmässigkeiten. Während
diese ebenso hektische wie unstete Kommunikation letztlich auf die Konfrontation von
Michels logischem Denken mit der charakteristischen Vergesslichkeit der Figuren zurückzuführen ist, so prägen die auf kurzatmigen Phrasen beruhenden Ensembles – sei es als Fugato,
225
sei es in homophonem Satz – sämtliche Auftritte der Stadtbewohner, was als musikalische
Konsequenz ihrer ausschliesslich gegenwartsbezogenen Denkweise zu verstehen ist, die keinerlei grössere Entwicklungen ermöglicht. Dies gilt gleichermassen für die Szene mit den
keifenden Verkäuferinnen auf dem Marktplatz (I, 3. Szene145) wie für die unvermittelte
Verurteilung Michels zum Tode durch die zufällig Anwesenden, nachdem er auf die fliehende
Juliette geschossen hat (II, 7. Szene, T 1 nach Z 59 bis T 5 nach Z 61).
Während sich einerseits die irrationale Denkweise der Stadtbewohner direkt in der musikalischen Faktur niederschlägt, die dadurch eine eigene Logik gewinnt, so spielen andererseits –
analog zum Spielzeugententhema – die wiederholt evozierten Bilder eine ähnlich wichtige
Rolle für das surrealistische Potenzial der Vertonung. Dabei fällt auf, dass die semantisch
wirksamen Motive im Grunde voneinander getrennt auftreten und nicht gleichzeitig erklingen, wie dies etwa analog zu surrealistischen Gemälden erwartet werden könnte, die in der
Collage scheinbar unvereinbare Objekte konfrontieren, um den Betrachter zur Überwindung
des rationalen Denkens zu provozieren. Die semantisch besetzten Klangfolgen in Juliette
treten dagegen vereinzelt und in ungleich kleinerer Zahl als bei den betreffenden Werken der
Bildenden Künste auf, weshalb die klingenden ‚Bilder‘ zwar nicht durch gegenseitige Reibungen Spannung zu erzeugen vermögen, stattdessen aber als zentrale musikalische Motive
die entsprechenden Passagen dominieren.
Notenbeispiel 58: Juliette, III. Akt, 6. Szene, T 1-4 nach Z 29146
Der soeben eingenickte Lokomotivführer des Orient-Express taucht aus dem Nichts des
Wachzustandes im Traumbüro auf, um sich einen kurzen Traum – einen Blick in das
imaginäre Fotoalbum – zu verschaffen, wobei er seinem realen Leben insofern nicht gänzlich
zu entkommen vermag, als das Orchester unverkennbar an das ratternde Geräusch eines
Zuges anknüpft. Wie aus einer unwirklichen Ferne beginnt die Szene mit raschen Sechzehnteln der kleinen Pauke, die direkt an die dumpfe Monotonie der Räder anzuknüpfen scheint
und zugleich das eigentliche Verbindungsglied zwischen der abwesenden Realität und dem
musikalischen Motiv in den Streichern darstellt, in das die leisen Paukenschläge übergehen
145
146
Siehe Kapitel IV, S. 240-243.
Deutsche Übersetzung: Szenenanweisung: Ein Lokomotivführer tritt ein und setzt sich müde auf einen Stuhl.
226
(III, 6. Szene, T 3 nach Z 29). Indem im Orchester nun eine eigentliche „toccata ferroviaire“
über das semantisch konnotierte Motiv erklingt147, verselbständigt sich das musikalische
Sinnbild zunehmend und führt weg vom vertrauten Geräusch der Eisenbahn, hin zu einer
strukturierten Klangabfolge, die als Toccata zwar in keinerlei Zusammenhang zum OrientExpress steht, jedoch durch das verarbeitete Motiv nach wie vor auf den Ursprung im Rattern
der Räder verweist. Unter surrealistischen Gesichtspunkten hat folglich die Musik, die von
Versatzstücken der rationalen Wirklichkeit ausgegangen ist, zu einer neuen Logik gefunden,
weshalb die Toccata nicht als blosser Ausdruck einer kunstvoll verarbeiteten, tonmalerischen
Motivik gedeutet werden sollte, sondern vielmehr als musikalisches Pendant zum kurzen
Traum des Lokomotivführers. Zudem erreicht der Satz nach einem steten Crescendo, das sein
wortloses Blättern durch das Album begleitet, ausgerechnet dann den dynamischen Kulminationspunkt, als der Träumende das imaginäre Lieblingsfoto der verstorbenen Tochter erblickt
(III, 6. Szene, T 9 nach Z 31), weshalb die rein instrumental gehaltene Vertonung unmöglich
mit der Fahrt der Eisenbahn hinter der rumänischen Grenze in Verbindung gebracht werden
kann, die schliesslich dermassen unspektakulär verläuft, dass der Lokomotivführer regelmässig einschläft. Obwohl das ratternde Motiv an ein reales Moment anknüpft, dient es als Ausgangspunkt, um einen irrationalen Zustand darzustellen, der genau dann zu seinem Höhepunkt findet, als sich der Wunsch des Träumenden erfüllt: Die Toccata wird damit zum musikalischen Ausdruck eines beglückenden Traumes, der unter den Vorzeichen der époque des
sommeils weitgehend mit der Surrealität gleichgesetzt werden kann. Sobald der Traum vorüber ist, muss folglich auch die Toccata zusammenbrechen, da diese nur dank einer surrealistischen Logik zustande kommen kann, klingt doch ein Bahngeräusch in der rationalen Wirklichkeit nicht anders als ein Bahngeräusch; dementsprechend erwacht der Lokomotivführer
über ostinaten Paukenschlägen und einem anschliessenden Tremolo der Streicher, das bereits
vom Ende des surrealen Glücks kündet und sogleich dem entfernten Pfiff einer Lokomotive
weichen muss (III, 6. Szene, T 10-11 nach Z 31).
Neben dem Traum des Eisenbahnführer zeichnen sich auch die Auftritte der übrigen
Kunden des Traumbüros durch klangliche Assoziationen mit deren jeweiligen Situation im
wirklichen Leben aus, sei es die flinke Bewegung des jungen Hotelboys (III, 2. Szene), sei es
die dumpfe Klangfarbe beim Auftritt des blinden Bettlers, dessen düsteres Leben sich darüber
hinaus in einem unmelodischen, lediglich melodramatischen Sprechen niederschlägt (III, 3.
Szene), oder das stumpfe ziellose Schlurfen des Sträflings (III, 5. Szene). Während sich der
147
Zitat Halbreich, Juliette ou la Clé des songes, in: L’Avant Scène Opéra 210 (2002), S. 86.
227
für surrealistische Zwecke unabdingbare Bezug zur Realität sowohl bei den Szenen mit den
Kunden im Traumbüro als auch bei der Spielzeugentenpassage in einer lautmalerisch angelegten Motivik findet, übernehmen wiederholt stilistische Anklänge an bekannte Gattungen
die Funktion, in die Surrealität überzuleiten. Vergleicht man diese Vorgehensweise mit den
von Souris’ verwendeten lieux communs, so zeigt sich ein grundlegender Unterschied gerade
darin, dass Martinů mit einer wiederholt tonmalerisch gezeichneten Motivik am objektbezogenen Ausgangspunkt des Surrealismus festhält, während sich der belgische Komponist auf
abstrakte Gattungs- und Stilmerkmale als Ausdruck einer bekannten Realität beschränkt.
Folglich erfüllen die aufgegriffenen musikalischen Konventionen bei den beiden Komponisten jeweils unterschiedliche Funktionen: Liegt das surrealistische Potenzial von Juliette in
solcherart gestalteten Passagen darin, dass ein semantisch konnotiertes Motiv zu einer Fuge
oder einer Toccata verarbeitet wird, so resultiert Souris’ Surrealismus beispielsweise in
Musique I: Tombeau de Socrate aus der rhythmischen und harmonischen Verzerrung einer
einfach gebauten Monodie148. Martinů geht insofern einen Schritt weiter, als er im Grunde
zwei lieux communs miteinander konfrontiert, gelten doch neben der Tonmalerei sämtliche
tradierten Gattungs- und Stilmerkmale als allgemeinverständliche Teile der Wirklichkeit,
infolgedessen etwa das Quaken der Spielzeugente zusammen mit einem letztlich traditionellen Fugato zu einem surrealen Entenfugato geführt wird. Obzwar nicht auf der Ebene der
semantisch determinierten Motive von einem Vorgehen gesprochen werden kann, das in
Anlehnung an die Malerei scheinbar unvereinbare ‚Objekte‘ in ein Spannungsverhältnis setzt,
um dadurch die surrealistische Assoziationskraft zu provozieren, findet sich dennoch unter
dem Gesichtspunkt der lieux communs eine entsprechende Kompositionsweise in Juliette
genau dann, wenn bildhafte Wendungen eine ‚konventionelle‘ Verarbeitung erfahren.
Während einerseits lautmalerisch angelegte Motive auf ein Objekt verweisen, indem sie
gleichsam indexikalisch dessen Klang nachzeichnen, und sich andererseits kompositionstechnische lieux communs auf eine zum historischen Gegenstand mutierte Musiktradition beziehen, so eignet dem musikalischen Idiom in Juliette darüber hinaus auch eine dritte ‚Realitätsebene‘, nämlich diejenige der intertextuellen Anspielung. Bezeichnenderweise wird diese
sogleich in den ersten Takten der Oper etabliert, beginnt doch das Werk mit einem exponierten Fagottsolo, das aufgrund seiner unverkennbaren Ähnlichkeit mit einem legendären Modell
148
Souris, Musique I: Tombeau de Socrate (1925), in: Correspondance (20. Juli 1925), abgedruckt in: Mariën,
L’Activité surréaliste en Belgique (1979), S. 88 sowie in: Wangermée, La Lyre à double tranchant (2000), S.
130. Vgl. hierzu auch De la Motte, Handbuch der Musikpsychologie (1996), S. 128.
228
förmlich auf die Wiedererkennung pocht; zumindest musste die Bezugnahme auf eines der
zentralen Werke des frühen 20. Jahrhunderts dem im Paris der Zwischenkriegszeit lebenden
Komponisten als geradezu unüberhörbar erscheinen.
Notenbeispiel 59a: Juliette, I. Akt, 1. Szene, T 1 nach Z 0 bis T 2 nach Z 1
Notenbeispiel 59b: Igor Strawinsky, Le Sacre du printemps, T 1-5 nach Z 0 (Fagott I)
Obwohl keineswegs wörtlich zitiert, schimmert das Eröffnungsmotiv von Strawinskys Le
Sacre du printemps hörbar durch die ersten Takte von Juliette hindurch: Dies einerseits
wegen des eigentümlichen Klangs des sehr hoch gesetzten Fagottes sowie andererseits infolge
der nahezu am selben Ort kreisenden Melodielinie, die durch das exponierte Instrument in
beiden Fällen beschrieben und deren Bewegungsfluss wiederholt durch die längeren Notenwerte gestaut wird149. Aufgrund der Verwandtschaft des Beginns mit demjenigen des
‚heidnischen‘ Balletts, wird der Oper durch musikalische Mittel gleich von Anfang an eine
mythologische Färbung verliehen, die zwar nicht in der rituellen Opferung einer Jungfrau
gipfeln wird, jedoch durchaus mit den angestrebten surrealistischen Mythen vereinbar ist, zu
denen der in Juliette thematisierte amour fou zweifellos zählt. Das kurze Vorspiel der Oper,
das mit Blick auf die anschliessende Ankunft Michels in der Kleinstadt als derjenige Augenblick zu deuten ist, in dem der Wachzustand dem Schlaf weicht – infolgedessen das Orchester
den Traum einläutet –, wird durch die Assoziation mit der Introduction aus Le Sacre du
printemps gleichsam zu einem Initiationsritus stilisiert. Darüber hinaus lässt sich das an Sacre
gemahnende ‚Eintrittsmotiv‘ aufgrund seines kreisenden Charakters mit Karbusický als
Traumschlüsselmotiv und damit als indexikalische Nachahmung eines drehenden Schlüssels
deuten, der in Anlehnung an den Untertitel von Neveux’ Juliette ou La Clé des songes das
Tor zum Traum aufschliesst150. Dies bedeutet, dass in den ersten Takten der Oper neben der
Verwendung des Quasi-Zitats zugleich die im weiteren Verlauf auftretenden lautmalerischen
Klangbilder als realitätsbezogenes Vorgehen etabliert werden. Auch wenn Martinů mit dem
149
Vgl. Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 288 sowie Halbreich, Juliette ou la
Clé des songes, in: L’Avant Scène Opéra 210 (2002), S. 18.
150
Zitat Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 288; vgl. auch Halbreich, Juliette
ou la Clé des songes, in: L’Avant Scène Opéra 210 (2002), S. 18.
229
Begriff Snář (Traumbuch) den von Jindřich Hořejší in der tschechischen Übersetzung von
Neveux’ Schauspiel verwendeten Untertitel übernommen hat und damit der explizite Bezugspunkt für ein Traumschlüsselmotiv hinfällig wird, so ist dennoch entscheidend, dass das ‚Eintrittsmotiv‘ ein Entgleiten in eine andere Sphäre beschreibt151. Schliesslich erklingt das ‚Eintrittsmotiv‘ in der letzten Szene der Oper erneut als Sinnbild eines Übertritts in den nächsthöheren Zustand, und zwar genau dann, wenn der wahnsinnig gewordene Michel ein weiteres
Mal in der Kleinstadt eintrifft (Notenbeispiel 59c).
Notenbeispiel 59c: Juliette, III. Akt, 8. Szene, T 1-5 nach Z 62 152
In mehrfacher Hinsicht hat nun aber das vormals prägnante ‚Eintrittsmotiv‘ seine an das
Fagottsolo des Sacre gemahnenden Konturen eingebüsst, nicht nur wegen der dezenteren
Klangfarbe des Violoncellos, das den Part des Fagottes übernommen hat, sondern auch durch
eine offenkundige Reduktion des charakteristischen Kreisens als Folge davon, dass das ‚Eintrittsmotiv‘ in dieser für den Protagonisten schicksalsreichen Sequenz gleich zweimal, jeweils
nach einem Takt, von den Holzbläsern und Streichern unterbrochen wird. Indem darüber hinaus auch das Violoncello nach dem erklungen Motivkopf nicht an der beschwörenden Melodielinie festhält, sondern nurmehr chromatisch hinabsinkt (T 3-5 nach Z 62), verweist die
Passage zwar als Reminiszenz an den Beginn der Oper darauf, dass Michel wiederum in eine
neue Wirklichkeit eintaucht, offenbart jedoch durch die fragmentarische Gestalt der Reprise,
wie klein der Schritt vom Traum in den Wahnsinn letztlich ist. Eignete dem in der allerersten
Szene musikalisch evozierten Einschlafen des Protagonisten durch die evozierte Klangwelt
von Strawinskys Le Sacre du printemps eine mythische Dimension, so erweist sich der einsetzende Wahnsinn durch das nur dezent anklingende ‚Eintrittsmotiv‘ analog zur surrealistischen
Auffassung auch in musikalischer Hinsicht als ungleich kleinerer Einschnitt – der Schlafende
gleitet aus dem Vorhof der Surrealität in den endlosen Traum des Wahnsinns hinüber. Während das Ende auf der Handlungsebene als Konsequenz der zugrundeliegenden surrealistischen Auffassung zu verstehen ist, so erfüllt sich auch in musikalischer Hinsicht das Verspre-
151
Die tschechoslowakische Erstaufführung von Neveux’ Juliette in der tschechischen Übersetzung von Jindřich
Hořejší – Julie aneb Snář (Julie oder das Traumbuch) – fand am 13. Oktober 1932 im Studio des Prager
Ständetheaters statt [Unterlagen zur Inszenierung im Archiv des Prager Nationaltheaters].
152
Deutsche Übersetzung: Szenenanweisung: Langsam taucht ein Teil des Bühnenbildes aus dem I. Akt auf, das
Haus mit der Mansarde. Auf dem Boden sitzt der Kleine Araber, in der Haustür steht der Alte Araber. Alles
wie im Nebel.
230
chen des verheissungsvollen Eintauchens in den Traum: Die Oper endet mit den oszillierenden Klängen des beginnenden Traums (T 2-4 nach Z 63, Notenbeispiele 56), die in der ersten
Szene unmittelbar auf das ‚Eintrittsmotiv‘ folgten (T 4-6 nach Z 0, Notenbeispiel 59a) und am
Ende des dritten Aktes in einen E-Dur-Schlussakkord münden, so dass nicht nur der die Oper
eröffnende Dominantnonenakkord, sondern auch das um den Ton h’ kreisende ‚Eintrittsmotiv‘ zu einer finalen Auflösung geführt wird.
Dass die Vertonung an dieser Stelle zu einem abgerundeten Abschluss findet, ist unter
surrealistischen Gesichtspunkten insofern folgerichtig, als die Musik ihre Aufgabe erfüllt hat,
mit den ihr eigenen Mitteln zum Erreichen der Surrealität beizutragen, und durch den surrealistischen Wahnsinn Michels obsolet geworden ist. Schliesslich liegt die einzige Berechtigung
für Kunst darin, durch unerwartete Konstellationen eine neue Logik zu provozieren, die zu
einer Surrealität führen soll, in der sämtliche Lebensbereiche ineinander aufgehen müssen,
infolgedessen sowohl die Politik als auch die Religion oder die Kunst in einem einzigen
idealen Zustand verschmelzen. Da jedoch die tatsächliche Surrealität aufgrund ihres utopischen Charakters in keiner Kunst mehr zu fassen ist, muss die Musik mit dem Eintritt Michels
in den mutmasslich beglückenden Wahnsinn ebenso verstummen, wie die Handlung keine
sichtbare Fortsetzung mehr erfahren kann. Dass der mutmasslich erreichte surrealistische
Idealzustand durch das Publikum imaginiert werden muss, kommt einer Gedankenleistung
gleich, die mit Artaud als Erfolg des ‚operativen Eingriffs‘ durch surrealistisch motiviertes
Theater zu bewerten ist. In diesem Sinn hat das, durch den offenkundigen Anklang an
Strawinskys Le Sacre du printemps als solches markierte, Ritual des nächtlichen Traumes
seinen Zweck erfüllt, provozierte doch der erträumte surrealistische Mythos den Protagonisten Michel – stellvertretend für das Publikum – tatsächlich zum Schritt in die Surrealität.
Indem in Martinůs Juliette das Fagottsolo aus Le Sacre du printemps zwar hindurchschimmert, jedoch nicht wörtlich erklingt, entsteht eine vergleichbare Brechung wie sie bereits im
Umgang mit den Realitätsebenen durch Lautmalerei oder tradierte Stilmittel und musikalische
Formen zutage getreten ist, was als surrealistisches Moment der Verfremdung gedeutet
werden kann, die gleichwohl präexistente Konnotationen zu transportieren vermag. Da
Martinů auf ein originalgetreues Zitat aus Le Sacre du printemps verzichtete und es bei einem
blossen Anklang an Strawinskys archaisch rituelles Werk beliess, verlieh er einerseits der
Oper von Beginn an eine mythische Färbung und vermied andererseits, einen allzu expliziten
Zusammenhang zwischen den beiden Werken zu evozieren, der über eine bloss assoziative
231
Verwandtschaft hinausreichen würde. Eine vergleichbare Vorgehensweise findet sich
bezeichnenderweise an einer weiteren Schlüsselstelle, nämlich beim Lied Juliettes, das
Michel nicht vergessen konnte: Verwies die angedeutete Klangwelt des Sacre auf den grundsätzlich rituellen Charakter des nächtlichen Traums in Juliette, so rücken musikalische Reminiszenzen an Claude Debussys Pelléas et Mélisande die ‚Traumfrau‘ in unverkennbare Nähe
zu der gleichsam unwirklichen Prinzessin.
Notenbeispiel 60a: Juliette, I. Akt, 8. Szene, T 1-16 nach Z 74 153
Notenbeispiel 60b: Claude Debussy, Pelléas et Mélisande, III. Akt, 1. Szene, T 14-31
Aus einem Fenster erklingt ein Lied der Titelheldin, das von einer unbestimmten Sehnsucht
nach Liebe kündet und zufälligerweise vom unsterblich Verliebten vernommen wird: Sowohl
die szenische Situation als auch der Textinhalt legen die Vermutung nahe, dass bereits
Neveux bewusst auf das symbolistische Libretto Debussys rekurrierte, um das folgenreiche
Lied Juliettes und damit den Auslöser für Michels amour fou gewissermassen zu überhöhen.
Obwohl sich Neveux keineswegs an den Wortlaut der älteren Oper hielt, schwingt in Juliettes
Lied dennoch der erste Teil von Mélisandes Gesang mit, klingt doch das sehnsuchtsvolle
Hoffen von Neveux’ Titelheldin, Reviendront-elles [mes amours] des colonies, an dasjenige
von Debussys Protagonistin an – Mes cheveux vous attendent tout le long de la tour (Pelléas,
III, 1. Szene, T 20-22)154. Dagegen lässt sich an dieser Stelle keine Bezugnahme auf Maeterlincks Vorlage rekonstruieren, da dessen Mélisande mit Les trois sœurs aveugles ein Lied
singt, das zwar in einem ideengeschichtlichen Zusammenhang mit der symbolistischen
Grundhaltung des Theaterstücks steht, jedoch als solches die Sehnsucht der Sängerin nur
unbestimmt zu umreissen vermag155. Was auf der Handlungsebene von Neveux’ Theaterstück
erst angedeutet wurde, nämlich eine latente Verwandtschaft von Juliette mit Debussys
Mélisande, erfährt durch die Vertonung insofern eine neue Qualität, als Juliettes Lied in man-
153
Deutsche Übersetzung: Szenenanweisung: Michel bleibt alleine zurück und betrachtet aufmerksam den
ganzen Platz. Ein Fenster im ersten Stock (Haus Nr. 1) wird erleuchtet, geöffnet, und es erklingt daraus eine
Frauenstimme. Juliette (hinter der Bühne): Meine Liebe verschwand in der Ferne hinter dem breiten Meer
dieser Nacht. Mit der Rückkehr des Sterns am Himmel, scheint es, als kehre auch meine Liebe zurück!
154
Neveux, Juliette ou la Clé des songes, I. Akt, 9. Szene [Juliettes Lied], siehe Kapitel IV, S. 204.
155
Maeterlinck, Pelléas et Mélisande (1892), III. Akt, 2. Szene, in: Ders., Théâtre, Bd. 2, S. 48.
232
cherlei Hinsicht einen ähnlichen Charakter aufweist wie Mélisandes (insbesondere dessen
erster Teil, T 18-25). So sind die betreffenden Gesänge in beiden Fällen als unbegleitete
Monodien angelegt, die durch die beschnittene Rolle der Metrik – bei Debussy infolge der
Vorgabe librement sowie der verschleiernden Triolenbildungen, bei Martinů aufgrund eines
Verzichts auf metrisch wirksame Taktstriche – zu einem archaisch wirkenden,
kontemplativen Moment stilisiert werden, wodurch sich die Lieder deutlich vom
musikalischen Kontext der jeweiligen Oper abheben. Die Archaik der Monodien wird darüber
hinaus durch eine modal gefärbte Tonalität untermauert, die sich bei Pelléas et Mélisande an
einem h-Dorisch sowie analog dazu bei Juliette an einem c-Dorisch orientiert, jedoch
aufgrund der Einstimmigkeit sowie den geringen, nicht über die obere Quinte
hinausreichenden, Ambitus der Singstimmen, in beiden Fällen gleichsam in der Schwebe
bleibt. Sowohl durch die markant eingeschränkte Zugkraft harmonischer Fortschreitungen als
auch infolge der in sich geschlossenen Formen – eine zweiteilige Periode bei Martinů, eine
dreiteilige Barform mit anschliessendem Refrain (T 26-31) bei Debussy – scheint in den
Gesängen der beiden Titelheldinnen die Zeit stillzustehen. Diese Wirkung wird um so
deutlicher betont, als den Liedern ein vorbereitendes instrumentales Präludium vorangestellt
ist, das in Juliette von metrisch ungebundenen Arpeggien ausgeht, in Fis-Dur/c-Moll
Akkordrepetitionen mündet und mit der Fermate über einem c-Moll-Akkord zum
unbegleiteten Lied überleitet (T 7 nach Z 73), wohingegen in Pelléas et Mélisande der
Grundton h des darauffolgenden Liedes ebenso etabliert, wie die Einstimmigkeit der Monodie
vorweggenommen wird (T 14-17). In dieser Weise musikalisch inszeniert, kommt den beiden
Gesängen ein Gewicht zu, das es nahe legt, den Charakter der Lieder als Ausdruck der
Gefühlswelt der Titelheldinnen zu deuten, infolgedessen sowohl das archaische Moment als
auch der Verzicht auf vorantreibende harmonische Spannungen von Figuren zeugen, die in
einer anderen Zeit verwurzelt sind. Mélisande bleibt geheimnisumwittert, erfährt man doch
nichts über ihre Beweggründe, die Herkunft oder ihr Alter, wodurch sie als Frau ohne
Vergangenheit in vergleichbarer Weise unfassbar ist wie Juliette, die als Imagination Michels
ausschliesslich in der Gegenwart existiert: Dem Lauf der Zeit enthoben, eignet den beiden
Titelheldinnen ein zeitloses Moment, dessen mythischer Charakter sich in der archaisch
gefärbten Anlage der Lieder musikalisch widerspiegelt. So schlug sich also in der Musik
nieder, was bereits in den Vorlagen vorgezeichnet worden war, nämlich die Verwandtschaft
zweier Werke, die etwa von Cocteau in einem Atemzug genannt worden sind.
233
Il y a deux pièces de théâtre dont je suis jaloux, que j’aurais voulu avoir écrites. Leurs auteurs
le savent, c’est Pelléas de Maeterlinck, et Juliette ou la Clé des songes de Georges Neveux156.
Dennoch ist es wenig sinnvoll, aufgrund der Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Werken
Juliette als zweite Mélisande zu bezeichnen, da den Theaterstücken mit dem Symbolismus
Maeterlincks und dem Surrealismus Neveux’ unterschiedliche Motivationen zugrunde liegen,
ein Aspekt, der gerade wegen der surrealistischen Gesinnung des Jüngeren von Bedeutung ist.
Schliesslich gehört das verfremdende Spiel mit bekannten Gegenständen und Symbolen zu
den wichtigsten Verfahrensweisen des Surrealismus, weshalb jede Evokation von bereits
Existierendem unter dringendem Verdacht steht, als blosses Versatzstück der Realität zu fungieren. In diesem Sinn ist auch Martinůs Anleihe an Debussys Pelléas et Mélisande weniger
als Hommage an das grosse Vorbild zu deuten, sondern vielmehr als Verwendung eines ‚lieu
commun‘, was aufgrund der zahlreichen musikalischen Ähnlichkeiten gerade bei Juliettes
Lied offenkundig scheint. Diese Passage weist über die formalen Parallelen sowie die vergleichbare Klangwelt hinaus selbst in der präludienartigen Einleitung sowie im unmittelbar
anschliessenden Duett Juliettes und Michels nachdrücklich auf das Vorbild hin, folgt doch
auch in Debussys Werk das grosse Duett von Mélisande und Pelléas unmittelbar auf das
monodische Lied157. Dass die Verwandtschaft als solche rezipiert werden soll, liegt insofern
auf der Hand, als Debussys Oper ebenso wie Strawinskys Ballettmusik zu den zentralen Werken des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zählt, weshalb von einem bewusst intendierten
Wiedererkennungseffekt ausgegangen werden kann. Durchaus in Einklang mit den surrealistischen Gepflogenheiten war Martinů jedoch bestrebt, die Referenz an mögliche Vorlagen so
weit als möglich zu brechen, was sich sowohl im Verzicht auf ein einziges wörtliches Zitat
niederschlug als etwa auch in der Idee, den ‚Hadač‘ (Handleser) als Hosenrolle zu besetzen,
um eine ebenso offensichtliche wie stereotype Bezugnahme auf den ‚Principál‘ in Smetanas
Prodaná nevěsta (Die verkaufte Braut) auszuschliessen158.
Während lautmalerische Momente und Stilzitate analog zu Souris’ lieux communs wiederholt
in einer Weise auftreten, dass sie die surrealistische Dimension der Traumsphäre als solche
156
Zitat Cocteau, in: L’Avant-Scène 109 (28. Juni 1952), S. 12.
Goehrs Einwand dagegen, dass die Anlehnung von Martinůs Juliette an Debussys Pelléas et Mélisande nicht
mit einer surrealistischen Vorgehensweise vereinbar sei, erscheint in Anbetracht der für den Surrealismus
bedeutsamen Objekt- und Symbolbezogenheit unhaltbar. Vgl. Goehr, Juliette fährt nach Mahagonny (Druck
in Vorbereitung).
158
Vgl. Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 23. Oktober 1937 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 259.
157
234
charakterisieren – sei es durch das ‚Entenfugato‘ oder den Choral des Erinnerungsverkäufers
(II, 5. Szene, T 1 nach Z 38 bis T 11 nach Z 39) –, so markieren die Anspielungen an zentrale
Werke aus dem Opern- und Konzertrepertoire mehrere Schlüsselstellen von Martinůs
Juliette159. Die semantisch konnotierten Motive und längeren Passagen treten in einer Dichte
auf, die es vor dem Hintergrund des surrealistisch ausgerichteten Librettos nahe legt, darin
eine musikalische Annäherung an die Praktiken der Literatur und Malerei des Surrealismus zu
sehen, nämlich eine Neuordnung von Objekten, die aus dem logischen Kontext der rationalen
Wirklichkeit herausgelöst worden sind. Dafür, dass Martinů das Libretto durchaus in surrealistischem Sinn deutete, spricht nicht zuletzt seine Reaktion auf die Premiere von Juliette in
Wiesbaden am 25. Januar 1959160. Von der existentialistisch gefärbten Interpretation der
Inszenierung Walther Pohls vollkommen überrascht, schrieb er sogleich an Šafránek: Kurz
gesagt, ist es ein ganzer Kafka, Le Château, furchtbar beängstigend und faszinierend161. Zwar
räumte er seinem Biographen gegenüber ein, dass dem Werk auch diese Dimension eigne, er
jedoch niemals daran gedacht habe, die Handlung als pessimistisch-dramatische zu deuten.
Da Martinů eine optimistische Auffassung vertrat, zeugt dies zwingend von einer surrealistischen Sichtweise, erscheint doch Michels Irrweg durch die Traumstadt sowie sein Wahnsinn
am Ende unter jeder anderen Perspektive unweigerlich als kafkaeskes Horrorszenario. Da es
sich bei Martinů aber keineswegs um einen dogmatischen Verfechter des Surrealismus handelte, kann nicht erstaunen, dass die Tendenz zu einer ‚objekthaften‘ Tonsprache einen zwar
wichtigen, nicht jedoch den allein entscheidenden Aspekt der musikalischen Seite von Juliette
ausmacht. So stellte es nicht Martinůs erklärtes Ziel dar, einen eigenständigen musikalischen
Surrealismus zu definieren – der Intention Souris’ entsprechend –, weshalb es wenig sinnvoll
wäre, diejenigen musikalischen Momente von Juliette, die sich nicht auf eine ‚Wirklichkeit‘
jenseits des Werks beziehen, als eindeutig surrealistische zu bezeichnen. Schliesslich bedürfte
es einer expliziten Absicht, um das surrealistische Potenzial selbst dann als solches deuten zu
können, wenn sich der musikalische Surrealismus nicht mehr an den – durch Bretons Gruppe
– legitimierten Verfahrensweisen orientiert, die letztlich musikfremden Kunstformen entstammen. Nur solange den musikalischen Mitteln ein offenkundiger Realitätsbezug eignet,
lässt sich sinnvoll von einer surrealistischen Vorgehensweise sprechen, alles andere über-
159
Zum Choral des Erinnerungsverkäufers im II. Akt von Martinůs Juliette siehe Karbusický, Der erträumte und
nacherlebte Surrealismus (1995), S. 249 f.
160
Siehe Martinůs Briefe an Miloš Šafránek, vom 2. und 12. Februar 1959 aus Schönenberg, in: Šafránek,
Divadlo Bohuslava Martinů, S. 279 f.
161
Zitat Martinů, Brief an Miloš Šafránek, vom 2. Februar 1959 aus Schönenberg, in: Šafránek, Divadlo
Bohuslava Martinů, S. 279.
235
schreitet dagegen die engen Grenzen dieser Bewegung, weshalb sich in Bezug auf Juliette
durchaus die Frage stellt, welche Rolle die Musik jenseits eines dogmatischen Surrealismus
spielt.
SURREALISMUS IM ‚LYRISCHEN SINGSPIEL‘
Le surréalisme s’est beaucoup trop marié à la
peinture. Il est temps d’aller à la musique162.
Sobald man versucht, musikalischen Strukturen, die nicht mehr auf erkennbare Vorläufer
rekurrieren, eine surrealistische Deutung zuteil werden zu lassen, ergeben sich nahezu
unüberbrückbare Schwierigkeiten, potenziert sich doch hierbei das Problem, das sich bereits
bei der Frage nach einem Realismus in der Musik als grundlegend erweist. Schliesslich ist die
Möglichkeit eines Surrealismus insofern direkt von derjenigen eines Realismus abhängig, als
der Bezug zu einer bekannten Wirklichkeit im surrealistischen Verständnis zwingend den
Ausgangspunkt bilden muss, also eine eindeutige Definition der realistischen Stufe für den
Weg zu Höherem unabdingbar ist. Orientiert man sich an dem von Carl Dahlhaus für die
Musik des 19. Jahrhunderts postulierten Realismusbegriff, wonach es galt, die ebenso
erstarrte wie subjektive Genieästhetik durch einen erstrebten objektiven Ausdruck zu überwinden, beschränkt sich der realistische Gehalt weitgehend in der Intention, der musikalischen Sprache anstelle einer stilisierten, eine ‚alltägliche‘ Gestalt zu verleihen163. Selbst wenn
man von denjenigen ‚veristischen‘ Bühnenwerken absieht, die sich zwar wirklichkeitsnaher
Elemente bedienen, jedoch oft in einer Weise, die als blosse ‚couleur locale‘ mit exotistischem Reiz nicht in die traditionelle Opernform einzugreifen vermag, erschöpft sich das
realistische Moment kompositionstechnisch weitgehend in einer Aufweichung der Periodenstruktur bis hin zu einer musikalischen Prosa, einer am Sprachtonfall orientierten Melodik
oder in einer exzessiven Affektdarstellung, die nicht mehr allein dem ‚Musikalisch-Schönen‘
verpflichtet ist164. Wenn aber die Auflösung musikalischer Konventionen zum Ausdruck eines
Realismus wird, stellt sich die Frage, wie daraus ein musikalischer Surrealismus abgeleitet
162
Brief von Neveux an Maurice Jaubert, vom 19. März 1927, zitiert nach Porcile, Maurice Jaubert (1971), S.
178.
163
Vgl. Dahlhaus, Musikalischer Realismus (1982), S. 26-40.
164
Vgl. Voss, Verismo in der Oper (1978), S. 310; Dahlhaus, Musikalischer Realismus (1982), S. 26-40.
236
werden sollte, käme doch die surrealistische Manipulation einer derart definierten Realität
einer Auflösung der Auflösung gleich. Verzichtet man dagegen auf die Formulierung unveränderlicher äusserer Merkmale als Massstab für einen musikalischen Realismus und sucht
stattdessen – wie von Dahlhaus in Anlehnung an Michel Butor postuliert – nach Sinn- und
Funktionszusammenhängen zwischen musikalischer Struktur und bestimmender Umwelt,
erlangt man den Vorteil, sich nicht auf mehr oder weniger offensichtliche Tonmalereien
beschränken zu müssen165. Der musikalische Realismus beruht gemäss dieser Auffassung
nicht zuletzt auf Strukturanalogien zwischen einem naturwissenschaftlichen Naturbegriff, der
die Realität als Zeichensystem zu erfassen sucht, und einer als ‚tönendes Funktionssystem‘
verstandenen Musik. Sobald man jedoch den musikalischen Realismus in Funktionszusammenhängen verortet, wird musikalischer Surrealismus unmöglich, müssten doch hierfür die
bestehenden Relationen aufgegeben werden, infolgedessen sich mit der musikalischen
Realität die zu manipulierende Wirklichkeit auflöste, so dass der Surrealismus seinen Ausgangspunkt endgültig verloren hätte166.
Während sich die Schwierigkeit, ein Element der Wirklichkeit in der Musik zu finden,
negativ auf das übliche surrealistische Verfahren auswirkt, kann umgekehrt die weitgehende
Unabhängigkeit von der Realität positiv umgedeutet werden, nämlich als Hinweis darauf,
dass die Musik der Surrealität bereits ungleich näher sei als jede andere, noch in der objekthaften Welt verankerte Ausdrucksform. Da sie mit ihrer Struktur weitgehend akustischen,
nicht aber gesellschaftlichen Gesetzen gehorcht, erfüllt sie jenen surrealistischen Anspruch,
wonach es gilt, mithilfe einer ‚unrealistischen‘ Logik ein neues Zeichensystem zu definieren,
weshalb es nahe liegt, die Musik mit Ribemont-Dessaignes zu le plus surréaliste des arts zu
erklären167. Diese Interpretation ist jedoch nur dann nachvollziehbar, wenn nicht in Analogie
zur Literatur sowie zu den Bildenden Künsten an der gegenständlichen Welt als zwingendem
Ausgangspunkt für die Surrealität festgehalten wird und die revolutionäre Verwerfung der
165
Vgl. ebd., S. 59, 154.
Als ähnlich problematisch erweist sich auch der Versuch, einen Ausgangspunkt für surrealistische Zwecke im
musikalischen Realismus der marxistisch-leninistisch orientierten Musikforschung zu finden, die insofern
geeignet erscheinen könnte, als Breton bereits zur Zeit des Second Manifeste du surréalisme (1930) im
Kommunismus eine dem Surrealismus verwandte Ideologie erkannte. Obwohl von Lenin niemals auf Kunst
angewendet, wurde dessen Begriff der Widerspiegelung seit den 1920er Jahren in die ästhetischen Theorien
übernommen, weshalb Kunst fortan eine erkenntnisvermittelnde „Widerspiegelung der objektiven
Wirklichkeit“ zu leisten hatte [Zitat Karbusický, Modelle und Probleme des „Marxismus in der
Musikwissenschaft“ (1980), S. 539; siehe auch Karbusický, Widerspiegelungstheorie und Strukturalismus
(1973)]. Während jedoch der marxistisch-leninistisch motivierte Realismus als einzig wahre Kunstrichtung
allein dem Zwecke diente, die kommunistische Gesellschaftsform als ideale zu vermitteln, so galt es gemäss
der surrealistischen Theorie, jegliche bekannte Wirklichkeit aufzugeben, um eine utopische Surrealität zu
erlangen, infolgedessen die Sphäre marxistisch-leninistischer Kunstauffassung vollständig verlassen wird.
167
Zitat Ribemont-Dessaignes, Déjà jadis (1958), S. 273; vgl. Kap. II, S. 83-87.
166
237
rationalen Logik nicht als bewusster intellektueller Akt vonstatten gehen muss, also entgegen
den Gepflogenheiten der Surrealisten um Breton, denen Ribemont-Dessaignes vorwarf: Le
Surréalisme ne s’attaque qu’aux parties nobles de l’homme: l’esprit!168. Während es in
Anbetracht der untergeordneten Rolle der Musik innerhalb der surrealistischen Bewegung
wenig sinnvoll erscheint, der polemischen Aussage Ribemont-Dessaignes entsprechend die
Musik zum surrealistischen Ausdrucksmittel par excellence zu erklären, so ist ungleich
bedeutender, dass das irreale Moment der musikalischen Klangwelt gegebenenfalls als dem
Surrealen analog bewertet werden kann.
Le rendez-vous historique de la musique et du surréalisme à été manqué, mais ce n’est pas
grave. Toutes les fois que la musique entre en contact avec le réel, elle libère soudain de la
trivialité utilitaire des foules de sons qu’elle nous apprend à réentendre. Si ce n’est pas là la
surréalité que Breton partait conquérir, c’en est du moins une sorte d’équivalent169.
Die vom Komponisten François-Bernard Mâche hervorgehobene irreale Qualität von Musik
ist mit Blick auf Martinůs Juliette gerade deshalb von Interesse, weil sie über die verfremdeten Realitätsbezüge – als Ausdruck typisch surrealistischer Techniken – hinaus eine Verbindung zur surrealistischen Intention von Neveux’ Vorlage schafft170. Dieser Grenzbereich
zwischen explizitem und latentem Surrealismus erscheint für Juliette um so bedeutender, als
Martinů mit seiner Oper keinen kommunistisch motivierten, revolutionären Akt vollziehen
wollte, sondern vielmehr einer Geisteshaltung zu entsprechen suchte, die bereits zur Entstehungszeit des Theaterstücks – geschweige denn in den Jahren der Komposition – nicht mehr
mit dem ‚offiziellen‘ Surrealismus Bretons vereinbar war. Nach den im engeren Sinn des
Wortes surrealistisch zu nennenden kompositorischen Verfahren, die von Tonmalereien, Stilzitaten und Referenzen auf das Konzertrepertoire ausgegangen sind, gilt es nun, den Charakteristiken einer Beziehung nachzuspüren, die durch die gattungsspezifische Konfrontation von
surrealistischem Libretto mit Musik unweigerlich gegeben ist. Schliesslich geht es darum zu
ergründen, welche Funktion der Musik in Juliette jenseits eines streng definierten Surrealismus zukommt und in welcher Weise sie auf das surrealistische Libretto reagiert.
168
Zitat ebd., S. 274.
Zitat Mâche, Surréalisme et musique (1974), S. 49. Siehe auch Arfouilloux, La Partition surréaliste (1999),
S. 55.
170
Zu François-Bernard Mâche siehe u.a. Charles, Petite introduction à l’esthétique de François-Bernard Mâche
(1991/92), S. 23-32; Szendy, Polyphonies, S. 83-94 (1994); Grabócz, La Poétique de François-Bernard
Mâche (1991/92), S. 107-116; Rigoni, Le Vivace et le bel aujourd’hui (1991/92), S. 35-64 sowie Durney, La
Musique et son double (1991/92), S. 133-169.
169
238
Wie bereits in Neveux’ Theaterstück kommt die Funktion der Musik auch in Martinůs Juliette
dann explizit zur Sprache, wenn das Akkordeonspiel von dem Mann im Fenster sowie dem
Kleinen Araber als hilfreiches Mittel dafür erklärt wird, der identitätslosen Existenz infolge
des fehlenden Gedächtnisses entgegenzuwirken.
Neveux 171:
Martinů:
Muž v okně:
[Der Mann im Fenster172:
Tu n’as pas horreur, toi,
Tobě nevadí
Dich stört nicht
du bruit de mon instrument?
hluk tohoto nástroje?
der Lärm dieses Instrumentes?
Le petit Arabe:
Malý Arab:
Kleiner Araber:
Non, joue encore. Je t’écoute.
Ne! Hrej ještě! Mám to rád!
Nein! Spiel weiter! Mir gefällt es!
L’homme à la schapska:
Muž v okně:
Der Mann im Fenster:
Tu vois, les choses
Když hraji,
Wenn ich spiele,
me reviennent quand je joue…
vzpomínky se mi vrací…
kehren meine Erinnerungen zurück…
mais pas toutes, pas toutes.
Ale ne všechny, ne všechny!
Aber nicht alle, nicht alle!
Le petit Arabe:
Malý Arab:
Kleiner Araber:
A moi aussi. Joue encore.
A mně také! Hrej ješte!
Und meine auch! Spiel weiter!]
L’homme à la schapska
:
Keineswegs in künstlerischer Abicht, sondern allein um längst vergessene Erinnerungen ins
Gedächtnis zurückzurufen, spielt der Mann im Fenster auf seinem Akkordeon, wobei nicht
von Bedeutung ist, ob es sich bei der gewonnenen Vergangenheit um tatsächlich Geschehenes
oder bloss Erfundenes handelt. Da eine eigene Identität zwingend ein Vergangenheitsbewusstsein voraussetzt, sind sämtliche Stadtbewohner begierig nach Erzählungen, die von aussen an sie herangeführt werden, sei es Michels Bericht über die Spielzeugente oder durch das
Akkordeonspiel hervorgerufene Quasi-Erinnerungen: Die Geschichten werden sogleich vereinnahmt, um daraus zumindest vorübergehend eine ‚Second-hand-Identität‘ zu schöpfen.
Obwohl sich das musikalische Ereignis nur in der absoluten Gegenwart manifestiert, eignet
der transitorischen Ausdrucksform eine Zeitdimension, die für die vergesslichen Stadtbewohner zum Stellvertreter einer über den blossen Augenblick hinausreichenden Geschichte wird.
Gerade weil es der Musik an einem eindeutigen Realitätsbezug mangelt, bietet sie sich in
171
Neveux, Juliette ou La Clé des songes, I. Akt, 4. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 121; Martinů, Juliette, I. Akt, 4.
Szene, T 3-5 nach Z 25.
172
[Übersetzung des tschechischen Librettos]
239
besonderem Masse dafür an, die grassierende Amnesie zu lindern, eröffnet sie doch durch
ihre Indetermination unzählige Deutungsmöglichkeiten; in diesem Sinne ist die Interpretation
des – auf dem Akkordeon gespielten – Volksliedes (I. Akt, 4. Szene, T 11 nach Z 27) als
Darstellung eines kleinen Bahnhofs durch den Mann im Fenster genauso ‚wahr‘ wie der vom
Kleinen Araber imaginierte Blick auf einen Sandstrand (T 1 nach Z 26 bis T 5 nach Z 27)173.
Mit ihrer phantasievollen Rezeption des volkstümlichen, auf dem Akkordeon
erklingenden Liedes erweisen sich die beiden als ungleich erfolgreicher als die übrigen Stadtbewohner in der vorangegangenen dritten Szene, die der Musik nicht standzuhalten vermochten und in Panik verfielen. Dieser zweite Teil der dritten Szene, die vielmehr die Fortsetzung der zweiten denn eine eigenständige Szene bildet, beginnt mit dem Akkordeonspiel
des Mannes im Fenster, worauf nach sechs Takten zunächst das Orchester, danach die beiden
Marktfrauen und schliesslich der Chor hinzutreten, die auf dem Höhepunkt des ersten
Abschnitts zu folgender Erkenntnis gelangen: Vše se mění! Vše se točí! Všechno mizí! Jenom
zůstaňme, kde jsme! (Alles ändert sich! Alles dreht sich! Alles verschwindet! Bleiben wir, wo
wir sind!; I. Akt, 3. Szene, T 3 nach Z 22 bis T 4 nach Z 23). Nach einem kurzen Gedächtnistest der Händlerinnen erfolgt die Wiederaufnahme, die schliesslich in den Ausruf To je
konec světa! (Dies ist das Ende der Welt; I. Akt, 3. Szene, T 2 nach Z 24) mündet.
Notenbeispiel 61a: Juliette, I. Akt, 3. Szene, T 1 nach Z 19 bis T 5 nach Z 20174
Hinter der Bühne erklingt das Akkordeon des Mannes im Fenster, wobei im Autograph – das
als Dirigierpartitur der Uraufführung diente – zwar sechs Takte im 3/4-Takt vorgesehen sind,
die auf einen Walzer schliessen lassen, wovon jedoch kein einziger Ton notiert ist (I. Akt, 3.
Szene, Z 19; Notenbeispiel 61a)175. Nur mit viel gutem Willen kann bei dem unmittelbar
173
Beim Akkordeonpart (I. Akt, 4. Szene, T 11 nach Z 27) handelt es sich laut Halbreich um das mährische
Volkslied Lásko, milá lásko, kde tě lidi berú? (Liebe, teure Liebe, wo nehmen dich die Menschen her?).
Halbreich, Juliette ou la Clé des songes, in: L’Avant Scène Opéra 210 (2002), S. 24. Mit einer überaus stark
abweichenden Melodie ist das Volkslied u.a. in der Sammlung Sušils enthalten; Sušil, Moravské národní
písně, „Láska“ (Liebe), Nr. 509, S. 208.
174
Deutsche Übersetzung: Szenenanweisung: [Z 19] Der Mann im Fenster spielt Akkordeon. Das Akkordeon
hinter der Bühne spielt 6 Takte im Walzertempo. [Z 20] Die erste Marktfrau taumelt über die Bühne.
175
Martinů, Juliette (Snář), Václav Talich gewidmetes Autograph [liegt heute im Archiv des Nationaltheaters in
Prag], I. Akt, S. 30: Unter der Aufforderung des Kleinen Arabers an den Mann im Fenster, Akkordeon zu
spielen, findet sich bloss ein eingeklebtes unliniertes Blatt, das ein sechsteiliges Raster mit vorgeschriebenem
3/4-Takt und der szenischen Anweisung hraje harmonika za scénou! (Das Akkordeon spielt hinter der
Bühne!) aufweist. Martinů plante zwar eine festgelegten Akkordeonpart, jedoch ist dieser nicht
rekonstruierbar. Vgl. Brief von Martinů an Václav Talich, vom 25. Mai 1937 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo
240
daran anschliessenden Orchesterpart im 2/4-Takt eine Reminiszenz an den soeben verklungenen, beliebigen Walzer erahnt werden: Entweder in der kreisenden Bewegung der Motive a
und c, die entfernt an einen Tanz erinnern mag, oder im Motiv b, das sich in diminuierter
Form und durch eine Achtelpause verfremdet, vage an den 3-er Takt eines Walzers anlehnt.
Während die Hörner mit der Dominante zum folgenden reinen c-Moll den Auftakt bilden,
setzen die Holzbläser und die Hörner kurz darauf einen – an Strawinskys Petrouchka gemahnenden – Part in C-Dur mit lauter Quint- und Oktavparallelen entgegen, infolgedessen der
Harmonik bis auf den Grundton c jegliches Fundament entzogen wird (T 6-16 nach Z 20)176.
Anschliessend beginnt sinnbildlich für die durch den hluk (Lärm) des Akkordeons hervorgerufenen Änderungen über dem ostinaten Motiv c eine aufsteigende Sequenzierung des Motivs
a (T 1 nach Z 21), die mit der panischen Feststellung Už nerozeznáváme nic (Wir können
nichts mehr erkennen) nach as-Moll findet. Obwohl weiterhin von Sequenzen des abgespalteten Motivs a geprägt, verdünnt sich der Satz (ab T 1 nach Z 22) zu blossen Oktavparallelen,
die beim fatalistischen Ausruf Jenom zůstaňme, kde jsme! (Bleiben wir bloss, wo wir sind!) in
einer ostinaten Sekundbewegung um den Quintton es verharren (ab T 12 nach Z 22 bis T 5
nach Z 23). Der Schrecken über die verlorene Kontrolle veranlasst die beiden Verkäuferinnen
zu einem kurzen Gedächtnistest, zu dessen Zweck sie sich kurzfristig dem Sog der Musik
entziehen: Das Akkordeon erklingt wieder als solches, denn es hat vorübergehend seine
phantastische Wirkung verloren (zwischen T 5 und 6 nach Z 23). Nachdem die erste Marktfrau anhand dessen ihr Gedächtnis überprüft hat, dass sie von sieben bis zwölf zu zählen vermochte, und die andere dadurch, einen Kanarienvogel von einem Huhn unterscheiden zu
können, geben sich die beiden wieder der Musik hin. Das Erinnerungsvermögen des Kurzzeitgedächtnisses schlägt sich in den folgenden sieben Takten insofern musikalisch nieder (T
6-12 nach Z 23), als es sich beim Orchesterpart um die wörtliche Reprise einer Passage aus
der vorhergegangenen Szene handelt. Allerdings entlarvt der Umstand, dass an der dortigen
Stelle der Kleine Araber von den Händlerinnen zu schweigen verlangt hatte, da diese ohnehin
alles nur erfinden würden (I. Akt, 2. Szene, T 1-7 nach Z 12), die zurückgewonnene Sicherheit bezüglich eines funktionierenden Gedächtnisses als blosses Trugbild. Dementsprechend
bricht die Reprise nach sieben Takten abrupt ab, die Fortsetzung scheint vergessen: Der Vorwurf des Kleinen Arabers aus der zweiten Szene, dessen orchestrale Begleitung die Reminis-
176
Bohuslava Martinů, S. 257: In der Partitur fehlt die Partie des Akkordeons hinter der Bühne, die ich
während der Proben und nach Absprache mit dem Akkordeonisten ergänzen werde.
Zur Analogie dieser Holzbläser-Passage zu Strawinskys Petrouchka siehe Halbreich, Juliette ou la Clé des
songes, in: L’Avant Scène Opéra 210 (2002), S. 22.
241
zenz weitergeführt hätte, erhält dadurch eine weitere Bestätigung – Vy hned všecko
zapomenete! (Ihr vergesst sogleich alles!) (T 11-12 nach Z 12). Anstelle einer Fortsetzung der
Reprise greift das Orchester das Motiv a wieder auf, womit dieses nach der vorherigen Verwirrung nun endgültig zum Sinnbild des Weltuntergangs wird – To je konec světa! (dies ist
das Ende der Welt!) –, den das Akkordeon in der Rezeption der Bewohner vorwegzunehmen
scheint (T 13 nach Z 23 bis T 2 nach Z 24). In den ausklingenden Takten der dritten Szene
verkörpert das Orchester den prophezeiten Untergang nun insofern auch lautmalerisch, als das
‚Untergangsmotiv‘ einem unerbittlichen Abwärtsgang im Fortissmimo weicht, worauf der
Orchestersatz nach wenigen Takten ein weiteres Mal zu blossen Oktaven ausgedünnt wird (T
6-8 nach Z 24), deren ostinater Terzgang nach dreimaligem Erklingen auf dem Ton a zum
Stillstand kommt und abbricht (siehe Notenbeispiel 61b).
Notenbeispiel 61b: Juliette, I. Akt, 3. Szene, T 14 nach Z 23 bis T 8 nach Z 24 177
Da es den Stadtbewohnern aufgrund ihres mangelnden Gedächtnisses nicht gegeben ist, Veränderungen in der Zeit zu verfolgen, ist es ihnen auch nicht möglich, musikalische Entwicklungen – gleichsam ein klingender Ausdruck der Zeit – als solche wahrzunehmen, infolgedessen die Rezeption des Akkordeonspiels von einer wachsenden Überforderung zeugt. Was
bleibt, ist eine weitgehend der Zeit beraubte Musik, die einerseits durch die kleingliedrige,
unerbittliche Drehbewegung des ‚Untergangmotivs‘ geprägt ist, und andererseits weder eine
übergreifende motivische noch harmonische Entwicklung erkennen lässt. Von einem ostinaten Charakter gezeichnet, vermittelt die Vertonung einen Eindruck von der absoluten Gegenwart der Traumbevölkerung, deren Wahrnehmung am Ende nur noch aus Tonrepetitionen in
farblosen leeren Oktaven besteht. Der musikalische Ausgang, der gleichermassen zeitlos wie
sinnentleert und hohl anmutet, wird vor diesem Hintergrund zur klingenden Konsequenz des
Umstandes, dass die ausschliesslich in der Imagination von Michels Hirn existierenden Figuren selbst durch die transitorische Musik nicht zu einer über den Augenblick hinausreichenden Identität gelangen können.
Mit der zweimaligen Ablösung des Akkordeons durch das Orchester findet jeweils ein
abrupter Perspektivenwechsel statt, der von der ‚realen‘ Wahrnehmung eines einfachen
177
Deutsche Übersetzung: Marktfrauen/Chor: Dies ist das Ende der Welt! Hou! Hou! Dies ist das Ende der
Welt! Hou!
242
Walzers in die traumlogische Perzeption führt und damit gleichsam den Weg zu einer
irrationalen Logik nachzeichnet. Obwohl der Walzer des Akkordeons durchaus als objekthaftes, da allgemeinverständliches Moment in die Reihe der zahlreichen Realitätsbezüge aufgenommen werden kann, so wird der Tanz durch das Orchester in einem Ausmass verfremdet,
das die Grenzen eines als solchen erkennbaren ‚lieu commun‘ bei weitem überschreitet. Nicht
nur das charakteristische Merkmal des 3/4-Taktes erweist sich für die musikalische Struktur
als irrelevant, sondern auch jegliche motivische Anknüpfung wird durch die lapidare Angabe
ausgeschlossen, wonach das Akkordeon sechs Takte eines beliebigen Walzers zu spielen hat.
Allein aufgrund des Librettos ist es möglich, einen Zusammenhang zwischen dem Walzer und
dem anschliessenden Orchesterpart herzustellen, der sich etwa darin manifestiert, dass das
panische Vše se toči! (Alles dreht sich!; T 5-11 nach Z 22) der Stadtbevölkerung als Folge des
tänzerischen Ausgangspunktes zu deuten ist.
Während einerseits die zahlreichen Realitätsbezüge in der Vertonung von Juliette als bewusst
gesetzte surrealistische Momente zu bewerten sind, so zeugen andererseits die grösseren
musikalischen Zusammenhänge von einem Grad an Unabhängigkeit von den Gepflogenheiten
der avantgardistischen Bewegung, der allein deshalb in Einklang mit der surrealistischen
Stossrichtung gebracht werden kann, weil diese durchgehend vom Libretto gewährleistet
wird. Dass Martinů durchaus am surrealistischen Potenzial von Juliette gelegen war, zeigt
sich in deutlicher Weise darin, dass der Komponist die Charakteristiken der surrealistischen
Grundhaltung im Libretto ungleich konsequenter umsetzte, als dies der Schriftsteller bei
seinem Stück getan hatte. So sah Martinů nicht nur davon ab, auf die bereits existierende,
nahezu wörtliche tschechische Übersetzung von Hořejší zurückzugreifen, sondern bemühte
sich in seinem Libretto erst gar nicht um eine wortgetreue Umsetzung – es wird Ihnen seltsam
vorkommen, aber meine Übersetzung stimmt mit seiner [Hořejšís] in nahezu keinem einzigen
Satz überein178. Der praktische Grund für die freie Übertragung, die zu zahllosen kleinen
Abweichungen gegenüber der Vorlage führte, lag darin, dass er das Original aus sprachlichen
Gründen für unübersetzbar hielt, da er nicht an die Möglichkeit glaubte, der Zartheit des
Originals in der tschechischen Sprache entsprechen zu können, ein Urteil, das auf die überaus
tote Übertragung von Hořejší rekurrierte179. Während der sehr freie Umgang mit dem origina-
178
Jindřich Hořejší, Julie aneb Snář (Julie oder das Traumbuch), Premiere am 13. Oktober 1932 im Studio des
Prager Ständetheaters [Archiv des Nationaltheaters in Prag]. Zitat Martinů, Brief des Komponisten an
Jindřich Honzl, vom 9. Juni 1936 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 256.
179
Zitate ebd., S. 255.
243
len Wortlaut jegliche Ambitionen einer intendierten Texttreue, wie sie den modischen Literaturopern eignet, von vornherein ausschliesst, so fällt auf der inhaltlichen Seite ins Auge,
dass die Auslassungen nahezu allesamt darauf zielen, das inkohärente Moment des surrealistischen Geschehens verstärkt zu betonen180. Martinů verzichtete weitgehend auf temporale
Aussagen, wodurch eine zeitliche Einordnung des Handlungsablaufs unmöglich wird, was
insofern konsequent erscheint, als die Geschehnisse der allein in der Gegenwart lebenden
Bevölkerung nicht in einer erfahrbaren Zeit verankert sind. Dementsprechend wird etwa die
Wahl Michels zum Bürgermeister im Libretto nicht mehr mit le jour de Saint-Martin in Verbindung gebracht, sondern findet an einem beliebigen Tag statt, so dass kein Anzeichen für
eine kalendarisch festgelegte Zeit mehr vorhanden ist: Der in sich kreisende Tag – einer so
gut wie der andere – erscheint als einziger Bezugspunkt181.
Analog dazu, dass sich das Zeitverständnis der Bewohner nicht an der Wirklichkeit
orientiert, verweigert das Libretto auch eine Verortung der Stadt innerhalb der realen Geographie. Während sich beispielsweise der Kommissar in Neveux’ Stück durchaus dessen bewusst
ist, sich nicht in Afrika zu befinden, fehlt im Libretto jeglicher Hinweis auf ein Wissen um
eine Welt jenseits des Stadtgebietes.
Michel182:
Michel:
Je pense que je suis l’objet
Myslím, že je to
[Ich glaube, dies ist entweder
d’une plaisanterie ou d’une illusion.
žert nebo podvod!
ein Witz oder ein Betrug!
On dit que, dans le Sahara,
ces choses-là se produisent.
Le Commissaire:
Komisař:
Vous n’êtes la proie d’aucun mirage,
Ani žert, ani podvod!
[Weder ein Witz, noch ein Betrug!
Vous êtes, à partir de cette minute,
Od teto chvíle
Von diesem Augenblick an
le premier magistrat de la cité
jste pánem města!
sind sie der Herr über diese Stadt!
et vous n’êtes point en Afrique, malgré
ce riche Arabe dont la vue provoque
parfois des erreurs dans l’esprit
des habitants.
180
Zitat Martinů, Přežila se opera? [Hat sich die Oper überlebt?] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 225.
181
Zitat Neveux, Juliette ou La Clé des songes, I. Akt, 7. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 129. Vgl. Martinů, Juliette
aneb Snář, I. Akt, 7. Szene, T 4 nach Z 49.
182
Neveux, Juliette ou La Clé des songes, I. Akt, 7. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 130; Martinů, Juliette aneb
Snář, I. Akt, 7. Szene, T 1-7 nach Z 51.
244
et je vais vous remettre
A já Vám předám
Und ich übergebe Ihnen
vos insignes.
Vaše odznaky!
Ihre Insignien.]
Neben dem Verzicht auf temporale und geographische Hinweise, sticht bei einem Vergleich
mit dem Theaterstück zudem ins Auge, dass nahezu alle von Neveux kausal strukturierten
Erklärungen sonderbarer Ereignisse nicht ins Libretto Eingang fanden: So weiss etwa
Martinůs Kommissar weder von einem fernen Afrika, noch versucht er, Michels Verwirrung
durch logische Erläuterungen zu lindern. Überhaupt stellen die Stadtbewohner in der Oper
keine Anstrengungen an, die ebenso unmotivierten wie überraschenden Aussagen und Handlungsumschwünge in irgendeiner Weise herzuleiten, um ihnen einen Anschein von Sinn zu
verleihen, was insofern folgerichtig anmutet, als die Figuren ausschliesslich in der Gegenwart
leben, weshalb ihr Tun de facto nicht von kausalen Verknüpfungen gezeichnet sein kann.
Während Martinůs Michel niemals erfahren wird, wieso sich ihm Juliette bei ihrem allerersten
Duett im ersten Akt vollkommen unerwartet vorübergehend entzieht, liefert sie bei Neveux
eine erstaunlich rationale Erklärung für ihr kurzzeitiges Verschwinden: Il faut que je voie si
maman est montée dans sa chambre183. Nicht nur im Lauf der ersten beiden Akte, die den
eigentlichen Kern des Traumes bilden, sondern sogar im Traumbüro des dritten Aktes,
welches bereits auf der Grenze zum Wachzustand angesiedelt ist, zeigt sich das Bestreben,
das Geschehen möglichst wenig zu erläutern. So fand als einzige Figur aus dem letzten Akt
der Vorlage ausgerechnet ‚Le Monsieur‘ nicht ins Libretto Eingang: Mit dieser Rolle fehlen
genau diejenigen Textpassagen, in denen der ansonsten eher desinteressierte Beamte seinem
neuen Kunden – und damit zugleich dem Publikum – erklärt, wie der Übergang in den frei
gewählten Traum funktioniert, eine Prozedur, die in der Oper nicht thematisiert wird184.
Ohnehin werden im Theaterstück nicht nur Vorgänge, sondern auch hierarchisch organisierte
Strukturen der Stadt sowie des Traumbüros zur Sprache gebracht, die im Grunde kaum mit
der surrealistischen Grundhaltung vereinbar sind. Die angekündigte Amtseinführung Michels
als Bürgermeister erinnert gleichermassen an das politische Pendant in der Realität, wie der
Verwaltungsapparat im letzten Akt an die alltägliche Bürokratie gemahnt, weshalb sich ‚Le
Monsieur‘ auch nicht grundlegend vom Beamten im Traumbüro unterscheidet, was letzterem
durchaus bewusst ist: Ne vous troublez pas, Monsieur, je suis fonctionnaire comme vous et
183
Zitat Neveux, Juliette ou La Clé des songes, I. Akt, 8. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 141. Vgl. Martinů, Juliette
aneb Snář, I. Akt, 8. Szene, T 1-2 nach Z 77: Juliette: Stále mlčíte! Na co myslíte? Počkejte zde, vrátím se
hned, počkejte! (Immer schweigen sie! Woran denken sie? Warten sie hier, ich komme gleich zurück, warten
sie!).
184
Neveux, Juliette ou La Clé des songes, III. Akt, 5. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 196-199.
245
nous sommes faits pour nous entendre185. Zwar haftet der kafkaesken Überzeichnung der –
vom Beamten bloss angetönten – zahllosen Bürolisten in unterschiedlichen Abteilungen ein
offensichtliches Moment der Verfremdung an, jedoch transportiert das Theaterstück dadurch
genau diejenigen kausalen und hierarchischen Strukturen, die der Surrealismus vehement
bekämpfte186. Während das Theaterstück das surrealistische Traumideal – Puisque je suis en
train de rêver, tout est permis – auf der Folie einer letztlich kausal bestimmten Ordnung ausbreitet, bleibt dagegen im Libretto die Logik der Stadtbewohner ebenso unergründlich wie die
Organisation des Traumbüros187.
Dass die häufig irrationalen Gedanken nicht wie im Theaterstück zwar absurde, jedoch
in sich schlüssige Erklärungen erfahren, schlägt sich darüber hinaus direkt in der Sprache des
Textbuches nieder: Nicht nur bedingt durch die Anlage als Opernlibretto, sondern auch
infolge des Verzichtes auf eine explizite Logik vermitteln in Martinůs Version die charakteristischen Wortwiederholungen anstelle kausal angelegter Repliken, den Eindruck, als ob sich
die Personen an den Worten festhalten würden, um wenigstens kurzfristig den Faden nicht zu
verlieren. So spiegelt sich die kollektive Amnesie insbesondere bei den Marktfrauen in einer
ausgeprägt ostinaten Sprechweise, die den Figuren eine spürbare Unnahbarkeit verleiht und
um so deutlicher macht, dass der in der rationalen Logik des Wachzustandes verhaftete
Michel niemals Eingang in die Wirklichkeit des Traumgeschehens finden kann (siehe
beispielsweise Auftritte der Marktfrauen im I. Akt, 2., 3. Szene und 8. Szene). Obwohl
Martinů ebenso wie Neveux die syntaktische Struktur weitgehend respektierte, sich also
keineswegs der écriture automatique aus der Anfangsphase des Surrealismus verpflichtet
fühlte, wirkt das Libretto infolge der penetranten Wortwiederholungen, der kürzeren Sätze
sowie aufgrund der weitgehend vermiedenen, sinnstiftenden Erklärungen ungleich prägnanter
und deutlich inkohärenter als das Theaterstück, weshalb sich im Textbuch die Konsequenzen
aus dem Fehlen des Gedächtnisses kompromissloser als in der Vorlage niederschlagen.
Obwohl sich die gesamte Handlung ausschliesslich im Hirn des träumenden Protagonisten
abspielt, kommt es in den ersten beiden Akten – des Schauspiels sowie der Oper – durch den
selbst im Schlaf der realen Logik verpflichteten Michel zu einer andauernden Konfrontation
zwischen Fiktion und Realität, infolgedessen die Charakteristiken der Traumwelt permanent
exponiert werden.
185
Neveux, Juliette ou La Clé des songes, III. Akt, 5. Szene, in: Ders., Théâtre, S. 197.
Vgl. Kapitel IV, S. 188.
187
Zitat Neveux, Juliette ou La Clé des songes, III. Akt, 5. Szene (Le Monsieur), in: Ders., Théâtre, S. 198.
186
246
Das ganze Spiel stellt im Grunde eine Konfrontation zwischen Fiktion und Realität dar, eine
Konfrontation, die aus einem sonderbaren Blickwinkel – aus demjenigen der Traumatmosphäre – gesehen wird, wo häufig die Fiktion gegenüber der Realität stark überwiegt, wo
erdachte, fantastische und unmögliche Dinge Wirklichkeit werden, und wo die konkrete und
reale Wirklichkeit zunehmend die Form gänzlicher Unwahrscheinlichkeit und reiner Fiktion
annimmt. Dieser Prozess ist dermassen offensichtlich, dass wir ihn Schritt für Schritt im II.
Akt verfolgen können, wo der Verstand und das Bewusstsein des Protagonisten Michel in
jedem Satz und auf Schritt und Tritt mit fantastischen, unwahrscheinlichen Gedanken attackiert werden, bis in dem ganzen Durcheinander der unvorhergesehenen und seltsamen Ereignisse Michels logischer Verstand verpufft, sich verliert und unterliegt, bis er gänzlich verschwindet188.
Tatsächlich kommt Michel am Ende des zweiten Aktes die rationale Logik abhanden, kann er
sich doch nun ebenfalls an nichts mehr erinnern, auch nicht an Juliettes Lied, das genau in
dem Augenblick erklingt, als er sich anschickt, das Schiff zu betreten, um die Stadt zu verlassen: To je podivná písnička! (Das ist ein seltsames Lied!; II. Akt, 13. Szene, 4 T vor Z 92)189.
Ambivalent ist diese offenkundige Amnesie insofern, als unklar bleibt, ob sich Michel nicht
mehr an die ‚konvulsivische‘ Geliebte erinnern kann, weil er dem morgendlichen Erwachen
mittlerweile zu nahe ist und er den Ort des amour fou bereits verlassen hat, oder ob dies ein
Ausdruck davon ist, dass er vom schmalen Grat zwischen Traumwelt und Realität ins irrationale Denken der Traumfiguren abgeglitten ist. So sehnt sich Michel im Traumbüro –
gleichsam ein Vorhof zwischen Traum und Wachzustand – schon wieder nach der geliebten
Unbekannten, ohne dass er sich im Unterschied zu seinem Verhalten in den vorangegangenen
zwei Akten noch um die absurde Beschaffenheit der Traumstadt kümmern würde190.
Angetrieben von einer brennenden Leidenschaft nach der imaginierten Titelheldin, drängt es
ihn um jeden Preis zu einer Rückkehr in die erträumte Welt, hat er doch erkannt, dass sein
amour fou allein dort existieren kann, denn die Wirklichkeit tötet Juliette191. Folglich spielt
sich die gesamte Oper jenseits einer rational bestimmten Welt ab: Michel irrt in den ersten
188
189
190
191
Martinů, Poznámky k Juliette [Anmerkungen zu Juliette] (1937-38), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 276.
Inhaltlich identische Wendung bereits bei Neveux; siehe dessen Juliette ou La Clé des songes, II. Akt, 12.
Szene, in: Ders., Théâtre, S. 184: Michel (il écoute distraitement, puis...): En voilà une chanson! (et il
disparaît dans le bateau).
Siehe Martinů, Juliette, III. Akt, 2. Szene, nach T 9 nach Z 8: Michel: Pardon, ale já se nechci vrátit.
Chápejte mě! Já jsem tady kohosi dlouho hledal a dnes jsem jej konečně našel! Vy asi víte, kdo to je?
(Verzeihung, aber ich will ja gar nicht [nach Hause] zurück. Verstehen sie mich doch! Ich habe hier lange
nach jemandem gesucht und ihn heute endlich gefunden. Sie wissen wohl, wer es ist?).
Jindřich Honzl, Před premiérou opery Julietta nebo Snář [Vor der Uraufführung der Oper Juliette oder das
Traumbuch] (1937-38), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 270.
247
beiden Akten mit realem Verstand durch eine absurde Stadt, bis er im letzten Akt schliesslich
selbst jede logische Vernunft der unbändigen Leidenschaft seines amour fou opfert, weshalb
die expliziten Warnungen des Beamten sowie des Nachtwächters im Traumbüro sogleich in
den Wind geschlagen werden.
Analog zu Sestra Paskalina, dem letzten Akt der Hry o Marii, worin die ambivalente
Erzählung offen liess, ob es sich um tatsächlich Geschehenes oder um einen blossen Traum
der Titelheldin handelte, und damit den Komponisten von einer ‚realistischen‘ Vertonung
entband, kommt auch in Juliette den bereits damals angestrebten Momenten einer beschnittenen Kausalität sowie einer zu vermeidenden Psychologisierung erneut ein zentraler Stellenwert zu. Mit Blick auf das Libretto liegt ein entscheidender Unterschied jedoch darin, dass es
in Sestra Paskalina einer Aneinanderreihung präexistenter Texte bedurft hatte, um infolge
fehlender Übergänge eine logische Entwicklung von Handlung und Musik zu vermeiden, in
Juliette dagegen ein zusammenhängendes Textbuch wieder möglich war, weil den Anforderungen einer zu umgehenden Kausalität und Psychologisierung nun auf der Inhaltsebene vollauf genüge geleistet wurde. Der Traum als Ort des Geschehens bot damit letztlich die Voraussetzung dafür, anstelle eines Zyklus von Einaktern – wie in den Hry o Marii – wiederum auf
eine dreiaktige Opernform zurückgreifen zu können.
Michel and the characters seem to us to be surrounded by the past and the present... A dream. I
have chosen it because I cannot describe psychology… I am not looking for Freud or
psychoanalysis192.
Weil die Stadtbewohner über keinerlei Gedächtnis verfügen, können sie unmöglich einen
konsistenten Charakter erlangen, wobei die Figuren um so mehr blosse Schemen bleiben, als
sowohl im Theaterstück als auch in der Oper ausser Michel und Juliette sämtliche Akteure
Doppel- oder gar Tripelrollen innehaben. Obwohl diese Mehrfachbesetzungen nicht zuletzt
mit einem praktischen Grund zusammenhingen, nämlich der beträchtlichen Zahl der zu besetzenden Rollen, versuchte der Komponist erst gar nicht, eine Einzelbesetzung durchzusetzen,
vertrat er doch die Auffassung, dass die Rollenverdoppelung im Hinblick auf das phantastische Sujet überhaupt nicht von Nachteil sei193. Schliesslich erweist sich die Mehrfachbesetzung als wirkungsvolles Mittel, eine in der physischen Erscheinung der Sänger begründete
192
Neveux, Notizbucheintrag [französische Quelle unbekannt], zitiert nach Lambert, Desperately seeking
Julietta, S. 34.
193
Brief von Martinů an Václav Talich, vom 25. Mai 1937 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů,
S. 256.
248
Identität der einzelnen Figuren zu verhindern, infolgedessen diese weder über ein Gedächtnis
noch über einen eindeutig definierten Körper verfügen. Indem jedoch die ständige Verwandlung der Orte auf die Personen übergreift, und beispielsweise derselbe Tenor die Rolle des
Kommissars, des Briefträger sowie des Waldhüters verkörpert, wird nicht nur eine Identität
der verschiedenen Personen unmöglich, sondern zugleich die Bedeutung der jeweils bekleideten Funktion irrelevant. Es geht weniger darum, welchem Beruf die einzelnen Bewohner
gerade nachgehen, als vielmehr darum, dass sie prinzipiell alles sein könnten, treten die instabilen Personen doch stellvertretend für das Universum des Traumes auf, wodurch ihr unmotiviertes Auftauchen und die daraus resultierenden Szenen paradoxerweise ihre sinnvolle
Berechtigung erhalten194. Als sich spätestens im dritten Akt auch Juliette, der einzige Eigenname in der Traumstadt, als Symbol für den amour fou erweist und damit gleichsam zu einer
‚Berufsbezeichnung‘ wird, verbleibt allein Michel als weitgehend konsistenter Charakter, was
insofern folgerichtig ist, als die übrigen Personen bloss in seinem träumenden Hirn auftreten
und somit ausschliesslich durch seine Gedankenleistung determiniert werden. Diese für die
auftretenden Figuren existenzielle Beziehung macht eine eigenständige musikalische Personengestaltung obsolet, gibt es doch abgesehen von Michel keine stabilen Figuren, deren Entwicklung es nachzuzeichnen gälte. Obwohl der Protagonist die einzige ‚reale‘ Person in der
ganzen Oper darstellt – insofern, als er sich im Traum selbst verkörpert – und damit durchaus
für eine Charakterisierung durch die Vertonung prädestiniert wäre, wird eine wirklichkeitsnahe psychologische Entwicklung aufgrund der instabilen Traumrealität von Beginn an ausgeschlossen.
Juliette ist ein Traum, und damit ist bereits jeglicher psychologischer Prozess in eine andere
Sphäre und auf eine andere Ebene überführt worden. Es ist zwar ein innerer Prozess, der
jedoch aus dem Feld der geläufigen psychologischen Gesetze ausschert, es ist, wenn Sie so
wollen, ein psychologischer Traum, d.h. eine Phantasie195.
194
195
Vgl. Brief von Jindřich Honzl an Václav Talich, vom 13. Oktober 1937 aus Prag, in: Šafránek, Divadlo
Bohuslava Martinů, S. 261: Diese Personen und Charaktere bewegen sich zwischen den Polen dieses
Paradoxons: in der äusseren Erscheinung ziemlich wirklich zu sein [...] – aber zugleich ziemlich fantastisch
darin zu sein, was die ganze Figur belebt und ihr eine Bedeutung verleiht [...].
Martinů, Poznámky k Juliette [Anmerkungen zu Juliette] (1937-38), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 276. Siehe auch Martinů, Juliette ou La Clé des songes, [Vorwort zum Klavierauszug] (1947), in:
Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 252 f.: Nur ein einziger Mensch, Michel, ist nach wie vor im Besitz
seines Gedächtnisses und seiner Erinnerungen an vergangene Ereignisse. Hier allerdings, in dieser
seltsamen Welt jenseits der Zeit, ist ihm diese Eigenschaft eher im Wege, seine normale logische Denkweise
stösst in jedem Moment auf unvorhergesehene absurde Ereignisse und deren Lösungen.
249
Da sich das Geschehen aufgrund der instabilen Umwelt einer übergreifenden Entwicklung
entzieht, verliert der grosse Bogen zugunsten der einzelnen Augenblicke das bestimmende
Gewicht, liegt doch in Ermangelung einer stringenten Fabel die Bedeutung im Kleinen, infolgedessen jedes Detail wichtig ist196. Angetrieben von seiner leidenschaftlichen Sehnsucht
nach Juliette, stolpert Michel von einer absurden Situation in die nächste, was sich musikalisch insofern niederschlägt, als etwa bei der Spielzeugenten-Passage, der Marktplatz- oder
der Lokomotivszene ein charakteristisches Motiv zu einem in sich geschlossenen musikalischen Abschnitt verarbeitet wird. Damit wird die Vertonung jedoch weniger von der Befindlichkeit des Protagonisten geprägt, als vielmehr von der instabilen Traumrealität mit ihren
irrational changierenden Eigenschaften, die nur vorübergehend greifbar sind, um sich sogleich
wieder zu entziehen. Obwohl Martinů durchaus bewusst war, dass sich in der Konfrontation
des rational denkenden Michel mit einer unwirklichen Welt eine existenzielle Frage verbirgt,
nämlich diejenige nach dem Wesen des Menschen jenseits einer identitätsstiftenden Realität,
räumte er dennoch dem poetischen Moment des wundersamen Traumes einen vorrangigen
Stellenwert ein.
Im Grunde ist es ein psychologisches Problem und tatsächlich ein altes menschliches Problem:
„Was ist der Mensch, was bin ich, was sind Sie, was ist die Wahrheit?“ [...] das Theaterstück
von Neveux ist allerdings keine philosophische Dissertation, sondern eine aussergewöhnlich
poetische Phantasie197.
Die Charakterisierung als aussergewöhnlich poetische Phantasie verweist direkt auf Martinůs
Ideal eines wirklichen Theaters, das er bereits bei den Hry o Marii explizit angestrebt hatte,
und das sich einerseits durch eine nicht psychologisch motivierte Handlung sowie andererseits durch ein betont spielerisches Moment der Bühnenkunst auszeichnet198. Dass der
Komponist zudem nach wie vor am Prinzip der weitgehend voneinander unabhängigen
Bühnenmittel festhielt, ermöglichte schliesslich eine enge Zusammenarbeit mit dem Regisseuren Jindřich Honzl – einem der wichtigsten Theaterschaffenden des avantgardistischen
‚Osvobozené Divadlo‘ (Das Befreite Theater) –, der wiederholt auf die übereinstimmende
Auffassung hinsichtlich theaterästhetischen Fragen hinwies hat, wobei er hauptsächlich auf
196
Martinů, Juliette ou La Clé des songes, [Vorwort zum Klavierauszug] (1947), in: Šafránek, Divadlo
Bohuslava Martinů, S. 253.
197
Ebd., S. 252.
198
Vgl. Kapitel III.
250
Martinůs Aufsatz anlässlich der Uraufführung der Hry o Marii rekurrierte199. In diesem Text
erkannte der Regisseur nicht nur die Grundzüge des von ihm selbst angestrebten zeitgenössischen Theaters, sondern zugleich die seiner Meinung nach einzig richtige Rolle der Musik
sowohl im modernen Schauspiel als auch im Musiktheater200. Dementsprechend erlangte die
Musik auch in Juliette eine weitgehende Unabhängigkeit von der Textvorlage, da sie vor dem
Hintergrund eines irrationalen Traumes jeglicher psychologisierenden Funktion enthoben und
durch das fehlende Zeitbewusstsein der Figuren zudem im blossen Augenblick angesiedelt
wurde, den auszudehnen sich geradezu anbot. Begreift man Juliette mit Martinů als eine Art
Zeit- und Raumkontinuum, dem die Zeit abhanden gekommen ist, dann erweist sich das
Libretto als prädestiniert für eine Kompositionsweise, die bereits die Hry o Marii geprägt
hatte, wo es gleichermassen darum ging, die musikalische Form jenseits einer sich
entwickelnden Handlung zu gestalten201. Als Traum angelegt, ist die Oper von der
Charakteristik der fehlenden Zeit, des unspezifischen Raums und der ausgeblendeten Kausalität geprägt, woraus sich hinsichtlich der musikalischen Form eine Freiheit ergibt, die durch
das zugrundeliegende Textbuch nun sogar eine inhaltliche Berechtigung erfährt. Dass Martinů
trotz dieser Eignung für eine den Hry o Marii vergleichbare Kompositionsweise in Juliette zu
einer Vertonung gelangen sollte, die er in folgende Worte fasste, mag dagegen – und gerade
in Anbetracht von Honzls Begeisterung – erstaunen: Es wird eine sonderbare Phantasie und
eigentlich entgegen aller Prinzipien, zu denen ich mich bisher mit einer solchen Vehemenz
bekannt habe202. Das Paradoxon, zwar eine den Hry o Marii vergleichbare Musikauffassung
zu vertreten, jedoch zugleich gegen eigene Grundsätze verstossen zu haben, lässt sich dahingehend auflösen, als einerseits die Idee einer weitgehend zu vermeidenden musikalischen
Psychologisierung sowie einer logischen Entwicklung nach wie vor prägend war, andererseits
jedoch in der motivischen Verarbeitung sowie in der Behandlung der Singstimmen Unterschiede zu finden sind, die nicht zuletzt durch das Libretto ihre Berechtigung erhalten.
199
200
201
202
Honzl, Před premiérou opery Julietta nebo Snář [Vor der Uraufführung von Juliette oder das Traumbuch]
(1937-38), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 268; Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner
Premiere] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 215-224; siehe auch Kapitel III, S. 111131. Vgl. Honzls Texte zum Theater Sláva a bída divadel (1937) sowie dessen russische Theatergeschichte
Moderní ruské divadlo (1928); zum ‚Osvobozené Divadlo‘ siehe auch Kapitel III, S. 183 [Fussnote 199].
Honzl, Před premiérou opery Julietta nebo Snář [Vor der Uraufführung von Juliette oder das Traumbuch]
(1937-38), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 268.
Martinů, Juliette ou La Clé des songes, [Vorwort zum Klavierauszug] (1947), in: Šafránek, Divadlo
Bohuslava Martinů, S. 252.
Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 9. Juni 1936 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů,
S. 255.
251
Dem bizarren Traum mit den zahlreichen Stimmungswechseln entsprechend, entgleitet die Musik andauernd203: nothing is definite, almost as if any clear and unchallengeable
statement either verbal or musical would shatter the iridescent, barely apprehended
surface204. Während dieser Verzicht auf übergreifende musikalische Entwicklungen durchaus
in die Tradition der Hry o Marii eingereiht werden kann, so ist dies bei der gleichsam leitmotivisch anmutenden Verwendung zahlreicher semantisch deutbarer Klangfolgen ungleich
schwieriger, erwies sich doch Martinů gerade in seinen Texten zu den mittelalterlichen Spielen als unerbittlicher Kritiker des verbreiteten Leitmotiv-Gebrauchs in den Opern der WagnerNachfolge205. Dennoch beginnt Juliette mit einem Fagottsolo, das durch den mutmasslich
beginnenden Traum sogleich als ‚Eintrittsmotiv‘ konnotiert wird, und nicht nur am Ende der
Oper in fragmentierter Form den Augenblick des einsetzenden Wahnsinns bezeichnet, sondern auch im Lauf der drei Akte wiederholt durch kurze Reminiszenzen in Form eines abwärts gerichteten Motivs mit zwei kleinen Sekundschritten und anschliessendem kleinem
Terzsprung den labilen Traumzustand als solchen markiert (siehe Notenbeispiele 56, 59a, 62).
Notenbeispiel 62: Juliette, II. Akt, 10. Szene, T 1-4 nach Z 76
Da der Traum in Juliette auf der schmalen Grenze zwischen Wachzustand und dauerhaftem
Wahnsinn angesiedelt ist, befindet sich Michel permanent an der Schwelle zu einer anderen
Sphäre, wie dies etwa in der zehnten Szene des zweiten Aktes der Fall ist, als er sich plötzlich
nicht mehr an das Traumgeschehen erinnern kann: Das ‚Eintrittsmotiv‘ hebt zwar die plötzliche Amnesie als Übertritt in eine andere Wirklichkeit hervor, lässt jedoch offen, ob diese bereits in der Nähe des morgendlichen Wachzustandes oder in derjenigen der einsetzenden Verrücktheit angesiedelt ist (Notenbeispiel 62). Dass selbst innerhalb des eigentlichen Traumes in
den ersten zwei Akten, als sich die Frage des Erwachens noch in keiner Weise stellt, durch
subtile Reminiszenzen an das ‚Eintrittsmotiv‘ die Grenzsituation als solche gekennzeichnet
ist, zeigt sich auch im Lied der Titelheldin (siehe Notenbeispiel 60a). In überaus verkürzter
Form findet sich das Motiv in den letzten drei Tönen von Juliettes Lied über dem Wort láska
(Liebe) wieder, wobei dem kaum mehr distinkten Charakter dadurch entgegengewirkt wird,
203
Brief von Martinů an Václav Talich, vom 12 Juni 1936 aus Paris, in: Kuna, Korespondence Bohuslava
Martinů Václavu Talichovi 1924-1939, S. 232.
204
Smaczny, A Key to Martinů’s Julietta (1997), S. 1166.
205
Vgl. Martinů, Přežila se opera? [Hat sich die Oper überlebt?] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 228.
252
dass die Alteration der letzten beiden Töne den kleinen Sekundgang mit kleinem Terzsprung
deutlich aus dem Kontext des c-Dorisch heraustreten lässt. Ausgehend von der nahen Verwandtschaft der letzten drei Töne mit dem ‚Eintrittsmotiv‘, kann auch die – durch ein
mehrfaches Auf und Ab geprägte – Melodie rückwirkend als Folge von Variationen dieses
Motivs gedeutet werden, infolgedessen Juliettes Lied zum klanglichen Ausdruck davon wird,
dass die von ihr besungene Liebe allein im Grenzbereich des Traumes angesiedelt ist.
Dass auf einer weiteren Stufe letztlich jeder abwärts gerichtete Sekundgang mit
abschliessendem Sprung als mehr oder weniger distinkte Ableitung des ‚Eintrittsmotivs‘
gedeutet werden kann, verleiht der Vertonung insofern einen ambivalenten Charakter, als der
Rückkoppelung kleinstgliedriger Motivteile an die semantisch konnotierte Klangfolge zwar
die Gefahr der Beliebigkeit anhaftet, andererseits jedoch in der gesamten Vertonung gerade
deshalb das labile Moment des Traumes latent durchschimmert. In vergleichbarer Weise fliessend ist der Übergang von einer klar konturierten zu einer bloss mutmasslich anklingenden
Gestalt auch bei der Verwendung des ‚Traummotivs‘, das unmittelbar nach dem ‚Eintrittsmotiv‘ sogleich zu Beginn der allerersten Szene exponiert wird (I, 1. Szene, T 5-7 nach Z 0,
siehe Notenbeispiel 59a). So tritt das tremolierende ‚Traummotiv‘ etwa am Ende der Oper
offenkundig zutage (III, 7. Szene, T 2-4 nach Z 63, siehe Notenbeispiel 56), während es
unmittelbar vor dem ersten Auftritt Juliettes nur in verfremdeter Form – als arpeggierter Aufstieg im Klaviers – auf den Traumzustand verweist (I, 8. Szene, T 1 nach Z 74, siehe Notenbeispiel 60a). Sieht man von einem klanglich evozierten Eindruck des nach oben gleitenden,
oszillierenden Motivs als Ausdruck des entschwindenden Bodens ab, kommt es erst durch
dessen unmittelbare Nähe zum ersten Auftritt der Titelheldin zu einer offenkundigen Verknüpfung mit dem Kern von Michels Traum, bereitet das ‚Traummotiv‘ doch Juliettes Gesang
und damit das eigentliche Movens der Handlung vor. Die Bedeutung dieses Liedes für die
Oper spiegelt sich in einer Überlagerung mehrerer semantisch konnotierter Ebenen wider,
wozu die Verwendung des ‚Traummotivs‘ gleichermassen zu zählen ist wie die Reminiszenz
an Debussys Pelléas et Mélisande oder der Klang des Klaviers, das anstelle des Orchesters
den Gesangseinsatz vorbereitet206. Schliesslich wurde das ‚gutbürgerliche‘ Tasteninstrument
gerade von den Surrealisten nicht nur wie bei Eluard als Inbegriff für die Musik schlechthin
gesehen und verurteilt, sondern auch als allgemeinverständliches Symbol für Erotik herangezogen207. Dementsprechend ist das Instrument in Juliette direkt an die Liebe gekoppelt, indem
206
207
Zum Verhältnis von Martinůs Juliette zu Debussys Pelléas et Mélisande siehe Kapitel IV, S. 232-234.
Vgl. Kapitel IV, 4, S. 214 f.; Clébert, Dictionnaire du surréalisme (1996), S. 462 f.
253
es einerseits die Auftritte der Titelheldin begleitet – sei es bei ihrem Lied, sei es als Bühnenrequisit im Wald stehend (II. Akt) – sowie andererseits etwa den Erinnerungen des alten
Paares ‚Babička‘ (Grossmutter) und ‚Dědeček‘ (Grossvater) an die gemeinsame Jugend eine
charakteristische Klangfarbe verleiht (II. Akt, 3. Szene).
Eine vergleichbare Verquickung mehrerer semantisch besetzter Ebenen findet sich bei
einem weiteren zentralen Motiv, von Karbusický deshalb ‚Erinnerungsmotiv‘ benannt, weil es
Juliettes Frage nach Michels Erinnerung an sie ebenso begleitet wie den Auftritt des Verkäufers vermeintlicher Souvenirs (II. Akt, 5. Szene, Z 38-39)208.
Notenbeispiel 63a: Juliette, I. Akt, 8. Szene, T 5-7 nach Z 76 (‚Erinnerungsmotiv‘) 209
Notenbeispiel 63b: Bedřich Smetana, Má vlast: Vyšehrad, T 1-2
Durch das Libretto als Sinnbild einer vermissten Vergangenheit etabliert, finden sich in diesem kurzen Motiv darüber hinaus Anspielungen an Bedřich Smetanas ‚Vyšehrad‘-Motiv aus
Má vlast (Mein Vaterland) einerseits sowie an die von Leoš Janáček in Taras Bulba erstmals
im Rahmen der Kunstmusik exponierte ‚Mährische Kadenz‘ andererseits210. Indem die beiden
Modelle miteinander kombiniert werden, verfremden sie sich gegenseitig, vereinigt sich doch
Smetanas Motiv über einer T-Sg-D-T-Kadenz (in Es-Dur) mit der ‚Mährischen Kadenz‘ zu
einer plagalen T-T7>3 -Sp-T-Kadenz (in B-Dur). Geht man von der Definition der ‚Mährischen
Kadenz‘ durch H. Owen Reed – einem Schüler Martinůs in Tanglewood – aus, nämlich als
Dominantseptakkord ohne Quinte mit sixte ajouté, der sich in die Doppeldominante auflöst,
wird die Wendung hier insofern gebrochen, als sich in Martinůs ‚Erinnerungsmotiv‘ allein der
Sekundschritt von der ‚sixte ajoutée‘ des Dominantseptakkordes zum Grundton der Doppeldominante im Verhältnis der Grundtöne von der Subdominantparallele zur Tonika wiederfindet211. Vergleichbar den Anspielungen an Strawinskys Sacre oder Debussys Pelléas, erhält
also weder Smetanas Má vlast noch die ‚Mährische Kadenz‘ ungebrochen Eingang in Juliette,
208
Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 286 f.
Deutsche Übersetzung: Michel: Letztes Mal trugen sie genau dasselbe [Kleid]! Juliette: Und meine Haare,
gefallen sie Ihnen so?
210
Vgl. Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 286 f. Zur Mährischen Kadenz
siehe auch Kapitel III, S. 159.
211
Siehe Definition der ‚Mährischen Kadenz‘ durch H. Owen Reed, in: Meyer, Sport, Technik, Jazz und
mährische Kadenzen (1998/99), S. 3.
209
254
was mit Blick auf die Stossrichtung des Textbuches als direkte Konsequenz des Surrealismus
zu verstehen ist.
Sowohl beim ‚Erinnerungsmotiv‘, als auch beim ‚Traummotiv‘ vermischen sich zwei Arten
semantisch besetzter musikalischer Klänge, nämlich einerseits die präexistente Bedeutung
charakteristischer Wendungen aus bekannten Kompositionen sowie andererseits die innerhalb
des Werkes mithilfe des Librettos generierte Konnotation mehrerer Motive, die gleichsam
leitmotivisch am Satz unterschiedlicher Szenen teilhaben. In Einklang mit dem zwingend
objektbezogenen Surrealismus des Textbuches weist Juliette eine grundlegend andere
Kompositionsweise auf, als sie den Hry o Marii eignete, die in hohem Masse durch den Verzicht auf eine direkte musikalische Bezugnahme auf die jeweilige Handlungssituation geprägt
war212. Wenngleich das surrealistische Libretto die Verwendung von Leitmotiven für Martinů
erst möglich machte, so wirkte einer grossformalen Einheit ausschliesslich durch leitmotivische Bezüge wiederum die Inkohärenz des allein der absoluten Gegenwart Entsprungenen
entgegen. Obwohl der Surrealismus letztlich nach einer (surrealistischen) Logik strebte, zeigt
sich der Traum Michels in einer überaus sprunghaften Form, deren Einzelteile zwar zumeist
an Versatzstücke der Realität geknüpft und folglich semantisch besetzt sind, jedoch kaum
einer übergreifenden Einheit gehorchen. Bezogen auf die Handlung lässt sich die Gleichzeitigkeit leitmotivischer Klangfolgen und -farben sowie die sprunghaft wechselnde Motivik
insofern auflösen, als sich die zentralen Motive, sei es das ‚Eintrittsmotiv‘, sei es das
‚Traummotiv‘ zumeist auf die Situation Michels beziehen, während die kleinteilig wirksamen
Motive, wie das ‚Spielzeugentenmotiv‘ oder das ‚Lokomotivmotiv‘ in der Regel auf die
Traumrealität ausserhalb der Person Michels zielen.
Eine weitere Möglichkeit, der Vertonung eine aussermusikalische Bedeutung zu
verleihen, findet sich in der mehrfach angewandten Vorgehensweise, bereits erklungene Abschnitte wörtlich wieder aufzunehmen, wodurch die betreffenden Situationen unweigerlich in
einen direkten Zusammenhang zueinander gebracht werden. Dies geschieht beispielsweise in
der dritten Szene des ersten Aktes, wenn sieben Takte der vorangegangenen Szene in identischer Weise nochmals erklingen213, oder aber in ausgeprägter Weise im dritten Akt, dessen
vierte Szene ausschliesslich aus zwei wörtlichen Reprisen der zweiten Szene desselben Aktes
besteht: T 1 nach Z 21 bis T 1 nach Z 24 entspricht musikalisch der Passage T 10 nach Z 4 bis
212
Zu Martinůs Kritik an der Leitmotivik der Wagnernachfolge siehe Martinů, Přežila se opera? [Hat sich die
Oper überlebt?] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 228; siehe auch Kapitel III, S. 133-135.
213
Siehe Kapitel IV, S. 241 f.
255
T 8 nach Z 8 und der anschliessende Teil von T 2 nach Z 24 bis T 3 nach Z 25 nimmt T 1
nach Z 7 bis T 1 nach Z 8 wieder auf. Während sich diese Reprisen insofern durch das
Libretto erklären lassen, als der Hotelboy nach seinem Traum in der vierten Szene wieder an
demselben Punkt angelangt ist, den er in der zweiten Szene verlassen hatte, und somit trotz
der temporären ‚Flucht‘ in den Wilden Westen keinen Schritt weiter gekommen ist, erhalten
manche wörtlichen Wiederholungen erst beim zweiten Erklingen eine explizite Bedeutung.
So begleitet die Orchestereinleitung des dritten Aktes Michels Eintritt in das Traumbüro,
wobei allein die instabile bitonale Harmonik (mit Des-Dur beginnend, dem erst h-Moll und
anschliessend e-Moll gegenübergestellt wird, in f-Moll auf der Dominante endend) sowie die
charakteristischen Tremoli von der Grenzsituation zwischen Traum und Wachzustand
künden, während dieselbe Musik in der dritten Szene dem Dialog zwischen Michel und dem
Traumbeamten unterlegt ist (III., 3. Szene, T 10 nach Z 17 bis T 8 nach Z 19). Durch das
Libretto erhält das schwebende Moment dieser Passage eine weitere Deutungsebene, erweist
sich doch die Instabilität nicht mehr nur als Ausdruck eines entrückten Traumes, sondern neu
auch als Konflikt zwischen der rationalen Vernunft, verkörpert durch die Person des Beamten,
und der Sehnsucht Michels nach dem amour fou.
Da einerseits die surrealistische Grundhaltung geradezu nach einer Semantisierung der Musik
verlangt und es andererseits die Verortung im Traum wie bereits in Sestra Paskalina erlaubt,
auf eine konsequente Logik der musikalischen Entwicklung zugunsten einer gleichsam assoziativ wechselnden Motivik zu verzichten, zeugt Juliette zwar weitgehend von derselben
Musikauffassung wie die Hry o Marii, offenbart jedoch darüber hinaus eine ungleich engere
Verbundenheit von Wort und Ton. Der Surrealismus legitimierte also eine Kompositionsweise, die noch wenige Jahre zuvor für Martinů kaum denkbar gewesen wäre, nämlich das
Spiel mit semantisch besetzten Motiven und Klängen im Orchester, was genauso entgegen
allen Prinzipien war, wie die grösstenteils rezitativisch gesetzten Gesangspartien214. Denn
während der durchgearbeitete Orchesterpart primär auf eine bildhafte Tonsprache zielt, sind
die Singstimmen in hohem Masse deklamatorisch geprägt, angesiedelt auf dem schmalen Grat
zwischen der Deutlichkeit einer natürlichen Sprache sowie dem Melos des Gesangs215.
Obwohl Martinů sich insbesondere zur Zeit der Hry o Marii polemisch gegen jegliches Rezi-
214
215
Zitat Martinů, Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 9. Juni 1936 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo
Bohuslava Martinů, S. 255.
Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 27. Januar 1938 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 271.
256
tativ gewandt hatte, erweist sich der Schritt zu Juliette trotzdem als ein geringer, liegt doch
das damals propagierte Gesangsideal einer mélopée in unverkennbarer Nähe zum deklamatorischen Stil der Traumoper.
Er [Martinů] legt grossen Wert auf die Textverständlichkeit beim Gesang, jedoch ohne rezitativische Deklamation, sondern in der Art einer mélopée, einer Melodie im Sinn einer ganzheitlichen Phrase216.
Der eigentliche Unterschied in der Stimmbehandlung der beiden Opern findet sich allein
darin, dass die syllabische Gesangsweise der Hry o Marii im Geiste der mittelalterlichen
mélopée verstärkt auf eine liedhafte Einfachheit gezielt hatte, wohingegen sich die sprachbezogene Vertonung in Juliette einem eigentlichen Rezitativ annäherte217. Dass sich Martinů des
kurz zuvor verschmähten Rezitativs bedienen konnte, ohne seine vormalige Polemik widerrufen zu müssen, liegt einerseits in einem stark melodischen Charakter begründet sowie andererseits in der unterschiedlichen Motivation. Das Rezitativ in Juliette erscheint demnach nicht
als Folge eines Orchestersatzes, der eine psychologische Entwicklung nachvollzieht und
daher direkt von einer völligen Textverständlichkeit abhängt – wie Martinů dies beim
rezitativischen, vom Text tyrannisierten Musiktheater anprangerte –, vielmehr soll der
artifizielle Gesangscharakter dem phantastischen Gehalt der Handlung gerecht werden218.
Ich habe den Eindruck, dass das rezitativische Singen dem Ganzen einen weit artifizielleren
Anstrich verleiht als das bloss gesprochene Wort, das überaus real ist, während zur Hälfte
gesprochen, zur Hälfte gesungen, die Situation an grösserer Unwirklichkeit und gewollter
Geziertheit gewinnt, wodurch die Bizarrerie sowohl der Situation als auch des Wortes eine
noch grössere Plastizität erlangt219.
Zwar setzt der wiederholt semantisch konnotierte Orchesterpart in Juliette durchaus ein hohes
Mass an Textverständlichkeit voraus, jedoch wird der praktische Zwang durch eine inhaltliche
Legitimation überlagert, wonach das Rezitativ als klingendes Pendant zur Traumwelt und
216
Martinů, Autobiografie (1941), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 323.
Zitat Martinů, Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 9. Juni 1936 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo
Bohuslava Martinů, S. 255. Zur mélopée in mittelalterlichen Mysterienspielen siehe u.a. Deloffre, Le Vers
français (1973), S. 55.
218
Zitat Martinů, Přežila se opera? [Hat sich die Oper überlebt?] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 225; vgl. auch Kapitel III, S. 116-118, 153 f.
219
Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 9. Juni 1936 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů,
S. 255.
217
257
damit zum musikalischen Ausdruck einer Art von Hypnose avanciert220. Dass Martinů gerade
dem phantastischen Moment, nicht aber der inhaltlichen Seite des Gesangs das grössere
Gewicht beimass, zeigt sich sowohl in seinem Bestreben, das Libretto kurz zu halten, als auch
in der Orientierung am melodischen Gehalt des jeweiligen Wortlautes: Vom Wort bin ich
mehr abhängig, als ich es mir wünschte, aber Neveux hat für mich vieles geändert, d. h. ich
habe es getan, und er ist darauf eingetreten221. Auch beschnitt Martinů die tragende Bedeutung des Textbuches dadurch, dass er vergleichbar der ‚Zeitoper‘ Les trois Souhaits oder den
mittelalterlichen Spielen Hry o Marii erneut auf die Möglichkeit zurückgriff, gesprochene
Dialoge zwischen die vertonten Teile einzufügen. Einerseits erlaubte diese Vorgehensweise,
komplexere Entwicklungen nicht in eine vom Text tyrannisierte Vertonung fassen zu müssen,
andererseits entsprach die Abspaltung rein deklamierter Passagen auf der grossformalen
Ebene durchaus dem rezitativischen Gesangsstil, wonach zur Hälfte gesprochen, zur Hälfte
gesungen, die Situation an grösserer Unwirklichkeit gewinne222.
Aufgrund der grossformalen Anlage, die sich wechselweise aus gesprochenen Dialogen und
aus rein instrumentalen, solistischen und chorischen Teilen zusammensetzt, sowie wegen der
überaus freien Übersetzung von Neveux’ Vorlage ins Tschechische durch Martinů, erinnert
Juliette keineswegs an eine ‚Literaturoper‘, dagegen um so mehr an ein Singspiel. Während
der Rückgriff auf die Opernkonventionen vergangener Zeiten in Les trois Souhaits durch das
dadaistische Potenzial der Gattung ‚Zeitoper‘ seine Rechtfertigung gefunden hat, geschieht
dies in Juliette aufgrund des surrealistischen Gehalts der tradierten Operndramaturgie.
Begreift man nämlich mit Dahlhaus einen zentralen Unterschied zwischen dem Theater und
der Oper darin, dass in letzterer die sichtbare Handlung und damit die einzelnen Situationen
für die Entwicklung entscheidend sind, wohingegen die im Schauspiel relevante Stringenz des
oft verdeckten, bloss referierten Geschehens für den Fortgang sekundär bleibt, stösst man auf
220
221
222
Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 27. Januar 1938 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 271.
Zitat Martinů, Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 9. Juni 1936 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo
Bohuslava Martinů, S. 255; vgl. auch Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 27. Januar 1938 aus Paris,
in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 271. Dass auch Neveux in seinen Texten auf die musikalische
Qualität der Sprache achtete, kam Martinůs Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller sicherlich entgegen. Zum
musikalischen Moment von Neveux’ Sprache siehe Smith, Georges Neveux and the oral element in modern
poetry (1968), S. 84-103.
Zitat Martinů, Přežila se opera? [Hat sich die Oper überlebt?] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 225; Zitat Martinů, Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 9. Juni 1936 aus Paris, in:
Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 255.
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bemerkenswerte Übereinstimmungen mit den surrealistischen Aspekten von Juliette223. Indem
die ersten beiden Akte durchwegs von der Amnesie der Stadtbewohner geprägt sind und der
letzte Akt im Traumbüro in einem ähnlich absurden Rahmen angesiedelt ist, erweist sich der
dialektische Gehalt der einzelnen unvorhersehbaren Situationen für die unlogische Entwicklung als allein entscheidend, kann doch von einer übergreifenden Logik der Fabel keine Rede
sein224. Dass infolgedessen die ‚parole sceniche‘ – etwa beim kva kva der Spielzeugente auf
das Sinnlose reduziert (I. Akt, 7. Szene) – sowie überraschende Affektwechsel zum bestimmenden Faktor für das Geschehen werden, wohingegen von einer tatsächlichen Einheit der
Charaktere im Grunde keine Rede sein kann, bedingt im Fall des Theaterstücks Juliette allein
die Vergesslichkeit der Stadtbewohner. Da Martinů jedoch die Vorlage in den Rahmen des
Musiktheaters überführte, wurde die auf der inhaltlichen Ebene angesiedelte Konfrontation
der ‚antiaristotelischen‘ Fabel mit den Konventionen des klassischen Schauspiels zwingend
preisgeben, entsprachen doch die dramaturgischen Eigenheiten in hohem Masse denjenigen
der traditionellen Oper als einem Drama der absoluten Gegenwart225. Dadurch erhält Juliette
einerseits insofern eine subversive Note, als die Charakteristiken der traditionellen Oper durch
den surrealistisch motivierten Inhalt gleichsam potenziert und infolge der Überhöhung leicht
verfremdet werden, wohingegen andererseits die analoge Struktur zwischen Inhalt und Form
zugleich den Rückgriff auf eine altbekannte Gattung rechtfertigt.
Martinůs Oper wird dem Surrealismus von Neveux’ Juliette auf mehreren Ebenen
gerecht: Während die überwiegend semantisch konnotierte Tonsprache geradezu der objektbezogenen Vorgehensweise von Bretons Gruppe und damit dem ‚offiziellen‘ Surrealismus
entspricht, manifestiert sich das phantastische Moment der Fabel ebenso im rezitativischen
Gesang wie im Umstand, dass überhaupt Musik erklingt. Die Vertonung wird dadurch Teil
des surrealistischen Geschehens, weshalb sich Juliette mit Karbusický durchaus als einmalige[s] Werk des musikalischen Surrealismus bezeichnen lässt, dies jedoch nur unter der
Bedingung, dass ein erweiterter Surrealismusbegriff angewandt wird, der sich über die dogmatische Auslegung von Bretons Definition hinwegsetzt226. Analog zum Theater Artauds und
Vitracs bedingt allein die zugrundeliegende Definition von Surrealismus, ob Juliette als surrealistische oder ‚surrealistische‘ Oper zu etikettieren ist, eine Frage, die sich zumindest für
223
Vgl. Dahlhaus, Zeitstrukturen in der Oper, in: Ders., Vom Musikdrama zur Literaturoper (1983), S. 25-32.
Zitat Martinů, Juliette ou La Clé des songes, [Vorwort zum Klavierauszug] (1947), in: Šafránek, Divadlo
Bohuslava Martinů, S. 252.
225
Zitat Dahlhaus, Zeitstrukturen in der Oper, in: Ders., Vom Musikdrama zur Literaturoper (1983), S. 27.
226
Zitat Karbusický, Der erträumte und nacherlebte Surrealismus (1995), S. 303.
224
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Neveux nicht stellte, da der Schriftsteller in Martinůs Werk ohnehin von Beginn an seine
eigene Auffassung von Surrealismus verwirklicht sah.
Um Mitternacht stieg ich die Stufen zu mir nach Hause hinunter und war zutiefst erschüttert.
Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich wirklich die Welt Juliettes betreten, in die man in
meinem Stück bloss hineinschauen konnte227.
Während sich einerseits die Gattung Oper aufgrund ihrer dramaturgischen Eigenheiten als
ideales Vehikel für die Wiedergabe des surrealen Geschehens in Juliette erweist, infolgedessen sich Surrealismus und Opernform gegenseitig stützen, so ist andererseits offenkundig,
dass das Werk nicht allein die Folge einer bewussten Auseinandersetzung mit surrealistischen
Postulaten darstellt, sondern zugleich in einem Zusammenhang mit Martinůs Ideal des wirklichen Theaters steht228. Schliesslich ermöglichte es die Verortung des Librettos in einem
Traum, vergleichbar den Hry o Marii auf eine logische Entwicklung der Handlung und der
psychologischen Natur der einzelnen Figuren zu verzichten, weshalb Juliette über die surrealistisch motivierten Implikationen hinaus auch als theaterhaftes Spektakel zu verstehen ist229.
Da sich Martinů auf den Standpunkt stellte, dass es trotz unterschiedlicher Auffassungen
bezüglich der Funktion des Theaters unumstössliche Anforderungen der Bühne gebe, die es
zu erfüllen gelte, konnte er sich des surrealistischen Stoffes in Juliette nur bedienen, weil dieser den gleichsam ‚organischen‘ Bedingungen der Szene genüge leistete.
[...] auch in dieser neuen Arbeit [Juliette] habe ich dasselbe Ziel verfolgt und mich bemüht,
den Weg fortzusetzen, der mit Špalíček begann. [...] Es wird sich immer die fesselnde Frage
stellen, nämlich diejenige nach dem Theater an sich. Es soll didaktisch sein, geistig, volkstümlich, unterhaltsam, sozial, aktuell, allen oder nur einem bestimmten Kreis von Liebhabern
zugänglich sein, es soll theaterhafter werden oder eben nicht, befreit usw.? Wie Sie sehen, ist
dies ein ganzer Komplex, aus dem man sophistisch oder verbal alles ableiten kann, was sie
sich nur wünschen. Dies ist alles schön und hat seine Berechtigung, solange man über die
Frage spricht und debattiert, aber sobald man sich dem Werk nähert, verändert sich die Situation. Dann erkennen wir gute und schlechte Konventionen, die über den ganzen Zeitraum der
Theatergeschichte hindurch entstanden sind, aber auch die Anforderungen der Bühne selbst,
die strikt und nicht erfunden, sondern Teil des eigentlichen Organismus der Szene und des
227
Zitat Neveux, [Handschriftliche Erinnerung] (1963), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 252.
Zitat Martinů, Poznámky k cyklu Hry o Marii [Anmerkungen zum Zyklus Hry o Marii] (1935), in: Safránek,
Divadlo Bohuslava Martinů, S. 206; vgl. auch Kapitel III, S. 111-131.
229
Zitat Martinů, Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 9. Juni 1936 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo
Bohuslava Martinů, S. 256.
228
260
Theaters sind, und denen man zwingend gerecht werden muss. Es ist genauso, wie man dem
Oboisten und allen „Bläsern“ im Orchester Zeit zum Ausatmen lassen muss, damit sie weiterspielen können 230.
Obwohl Martinů erst infolge seines veränderten Selbstverständnisses in Zusammenhang mit
der Weltwirtschaftskrise ernsthaft nach einer zukunftsgerichteten Erneuerung der Opernform
suchte, hatte er den Gattungskonventionen bereits in seinem Musiktheaterschaffen der 1920er
Jahren Folge geleistet. Die Anlage als Singspiel wurde zwar auf der Folie als ‚Zeitoper’
demonstrativ gebrochen, musste jedoch zum Zweck der Negation nach wie vor in erkennbarer
Weise transportiert werden. So weisen beispielsweise die ‚Opernparodien‘ Les trois souhaits,
aber auch Voják a tanečnice (Der Soldat und die Tänzerin), Les Larmes du couteau oder Le
Jour de bonté durch einen mehr oder minder expliziten Dadaismus im Textbuch einen literarischen Bezugspunkt auf, der die Charakteristiken der musikdramatischen Gattung gleichsam
von aussen rechtfertigt. Wenngleich Martinůs Bühnenwerken ab Špalíček eine neue Ernsthaftigkeit eignet, die von der Suche nach einem wirklichen Theater auf der Opernbühne zeugt, so
bleibt die gegenseitige Verquickung von aussermusikalischer Theaterästhetik und Opernform
ein bestimmendes Moment nicht nur der volkstümlich inspirierten Werke Špalíček, Hry o
Marii und Divadlo za bránou (Das Vorstadtteater), sondern auch der surrealistisch geprägten
Werke Juliette und Alexander bis. Schliesslich orientierte sich der Komponist bei seinen
Bühnenwerken am zeitgenössischen Theaterschaffen und an dessen Bestreben, das ‚aristotelische‘ Drama zu überwinden, was im Grunde eine Analogie zu Martinůs Idee darstellte, der
Wagner-Nachfolge – worunter ebenso die modischen Literaturopern wie das psychologische
Musikdrama fällt – ein undramatisches theaterhaftes Opernmodell entgegenzusetzen231. So
paradox es klingen mag, war es also das avantgardistische Theater der Zwischenkriegszeit,
das den Weg zu Martinůs ‚klassizistisch‘ motiviertem, wirklichen Theater erst möglich
machte.
230
231
Martinů, Poznámky k Juliette [Anmerkungen zu Juliette] (1937-38), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 274 f.
Zitat Martinů, Přežila se opera? [Hat sich die Oper überlebt?] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 225.
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