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Ethik – Text – Kultur
Herausgegeben von
Joachim Jacob, Christine Lubkoll,
Mathias Mayer und Claudia Öhlschläger
Band 7
Stephanie Waldow
Schreiben als Begegnung mit
dem Anderen
Zum Verhältnis von Ethik und Narration in
philosophischen und literarischen Texten
der Gegenwart
Wilhelm Fink
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der ‚Ilse und Dr. Alexander Mayer-Stiftung‘ und des
Elitestudiengangs ‚Ethik der Textkulturen‘ der Universität Erlangen-Nürnberg und
der Universität Augsburg.
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© 2013 Wilhelm Fink Verlag, München
(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.fink.de
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
9
9
E-Book ISBN 978-3-84 7-5245ISBN der Printausgabe 978-3-7705-5245-0
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG ...................................................................................
9
1.
ETHIK VOM ANDEREN HER .................................................. 29!
1.1
Ethik Allerorten: Ein Phänomen der Jahrtausendwende? .................... 29
1.1.1 Hinführung ............................................................................. 29
1.1.2 Zur Auswahl der Theorien ....................................................... 35
1.2
Rechenschaft ablegen: Judith Butler.................................................... 40
1.2.1 Zur Kritik der ethischen Gewalt
oder Verantwortung für die Leerstelle des Ich .......................... 40
1.2.2 Wer bist Du? Wer bin ich? ‚Herkunft‘ erzählen........................ 48
1.3
Haltung einnehmen: Michel Foucault ................................................
1.3.1 Das Subjekt des Diskurses oder der Diskurs des Subjekts .........
1.3.2 Die Sorge um Sich: Praktiken der Lebenskunst ........................
1.3.3 Das Subjekt der Erfahrung .......................................................
1.3.4 Schrift als Begegnung mit dem Anderen –
Zur Ethik des Erfahrungsaustausches .......................................
1.3.5 Schreiben als Praxis der Selbstsorge ..........................................
1.4
1.5
Der absolut Andere: Emmanuel Levinas .............................................
1.4.1 Das Subjekt und der Andere ....................................................
1.4.2 „Das Außen des Ich ist für mich“ –
Subjektkonstitution im Angesicht des Anderen ........................
1.4.3 Begegnung mit und durch Sprache:
Ethik und Narration bei Emmanuel Levinas ............................
1.4.3.1 Ich-Konstitution durch den Akt der Anrufung ...........
1.4.3.2 Vorwort allen Sprechens:
Die Sprachauffassung Levinas’ ....................................
1.4.3.3 Die Zweite Tonart......................................................
Begegnungen: Derrida und Levinas ....................................................
1.5.1 Ganz anders – Jacques Derrida.................................................
1.5.2 „Er wird verpflichtet haben“ –
Schreiben als Begegnung mit dem Anderen..............................
1.5.2.1 Kreuzungen: Derrida – Levinas ..................................
1.5.2.2 Kreuzungen: Levinas – Derrida ..................................
53
53
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83
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90
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117
122
131
137
143
151
151
160
6
1.6
2.
INHALTSVERZEICHNIS
Wege der Anerkennung: Paul Ricœur .................................................
1.6.1 Die ethische Ausrichtung auf den Anderen ..............................
1.6.2 „Besitz ist nicht das, worauf es ankommt“ –
Identität zwischen Ethik und Narration ...................................
1.6.3 Erzählen als Erfahrungsaustausch .............................................
167
169
181
189
VERBINDUNGEN ................................................................... 197
Ethik und Narration in Philosophie und
Literatur der Gegenwart – einige Tendenzen ...................................... 197
3.
ERZÄHLEN ALS BEGEGNUNG MIT DEM ANDEREN ................. 201
3.1
Fremdheit als Erfahrung .....................................................................
3.1.1 Hinführung .............................................................................
3.1.2 Christoph Peters ......................................................................
3.1.2.1 Ein Zimmer im Haus des Krieges ...............................
3.1.2.2 Mitsukos Restaurant ...................................................
3.1.3 Terézia Mora – Alle Tage .........................................................
201
201
211
212
228
239
3.2
Der literarische Liebesdiskurs ..............................................................
3.2.1 Hinführung .............................................................................
3.2.2 Ulrike Draesner: Mitgift ..........................................................
3.2.3 Markus Orths: Corpus .............................................................
3.2.4 Michael Lentz: Liebeserklärung ................................................
259
259
269
286
299
3.3
Generationengespräche .......................................................................
3.3.1 Hinführung .............................................................................
3.3.2 Minka Pradelski: Und da kam Frau Kugelmann ......................
3.3.3 Doron Rabinovici ....................................................................
3.3.3.1 Wie es war und wie es gewesen sein wird ....................
3.3.3.2 Ohnehin.....................................................................
3.3.4 Eva Menasse: Vienna ...............................................................
315
315
324
334
334
338
352
4.
AUSBLICK .............................................................................. 369
Autor, Text und Leser –
Eine Neuverortung im Zeichen der Ethik ........................................... 369
INHALTSVERZEICHNIS
7
LITERATURVERZEICHNIS ................................................................ 381
REGISTER DER PERSONEN UND SACHBEGRIFFE .............................. 415
EINLEITUNG
Es muss sich etwas ändern, die Frage ist nur: was, wo, wie und wann?1
Matthias Politycki macht in seinem 2007 erschienenen Essayband Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft darauf aufmerksam, dass mit dem Untergang der DDR und dem Verschwinden der sog. Demarkationslinie auch das alte
Bewusstsein der BRD ad absurdum geführt wurde. Entstanden sei eine Gesellschaft, die von Ideologie- und Identitätsverlust geprägt sei, in der nichts mehr tabu, in der alles offen, alles möglich ist, in der es aber auch keine Zukunftsperspektive mehr gebe. Mit dem „Ende der inneren Nachkriegsordnung“ trete man
in eine grundsätzliche Orientierungslosigkeit ein. Der klassische Kulturbegriff sei
von der Abschaffung bedroht, an seine Stelle rückten medial vermittelte Realitäten und ein kulturelles ‚Vakuum‘. Schließlich führe dies zur Umstürzung aller
Werte, ohne jedoch neue Bezugssysteme zu schaffen.2 Gleichzeitig macht er jedoch deutlich:
Weder die Abschaffung des einen noch des anderen soll hier im nachhinein in Frage
gestellt werden; Grund zur Besorgnis gibt vielmehr der Umstand, daß an ihre Stelle
keinerlei neue Begriffe und Konzeptionen getreten sind.3
!
Dementsprechend plädiert Politycki in der ‚ZEIT‘ vom 23.06.2005 gemeinsam
mit Thomas Hettche und anderen für eine Wende zum Wertkonservatismus.
„Wir brauchen einen neuen Glauben“, so Politycki, die Ästhetik dürfe nicht als
Lesebremse fungieren, jetzt gelte es, „die Literatur von ihren Rändern her zu erneuern.“ Er tritt für eine, wie er es formuliert, Beendigung des „postmodernen
Nihilismus“ ein.4
Diese – zugegebenermaßen – recht polemischen Äußerungen spiegeln offensichtlich die Situation der gegenwärtigen Literatur wider, bezeichnet doch Katrin
Lange vom Literaturhaus München Matthias Politycki als „Ideengeber“ für die
1
2
3
4
Matthias Politycki: Alt werden, ohne jung zu bleiben. In: ders.: Vom Verschwinden der Dinge in
der Zukunft. Bestimmte Artikel. 2006-1998. Hamburg 2007. S. 9.
Matthias Politycki: Alt werden, ohne jung zu bleiben. S. 11.
ebd.
Matthias Politycki, Martin R. Dean, Thomas Hettche, Michael Schindhelm: Was soll der Roman? In: DIE ZEIT Nr. 26 vom 23.06.2005.
10
EINLEITUNG
gesellschaftliche und literarische Landschaft.5 Gefordert wird, so ist in Polityckis
Manifest für den Relevanten Realismus zu lesen, eine „Kultur der Relevanz“.6
Ausgehend von der von Politycki aufgeworfenen und in die ästhetische Diskussion eingebrachten Krise gibt es offensichtlich verschiedene Muster, um mit
dieser Situation umzugehen.7 Zum einen wird von gegenwärtigen Autorinnen
und Autoren die durch Globalisierung, Medialisierung und Ideologieverlust entstandene Sinn- und Orientierungslosigkeit aufgezeigt und mit ihr eine Renaissance des Melancholiebegriffs vorgenommen. So konstatiert Judith Hermann mit
Bezug auf Tom Waits in ihrem Erzählband Sommerhaus, später (1998) fast in
Vertretung für eine ganze schreibende Generation: „The doctor says, I’ll be alright but I’m feeling blue.“8 Dieser Diagnose schließen sich Autorinnen und Autoren wie Bettina Galvagni (Melancholia, 1999), Terézia Mora (Seltsame Materie, 1999), Zoë Jenny (Das Blütenstaubzimmer, 1999), Inka Parei (Die Schattenboxerin, 1999), Zsuzsá Bánk (Der Schwimmer, 2002), Alexa Hennig von Lange
(Warum so traurig?, 2005), Dimitré Dinev (Ein Licht über dem Kopf, 2005),
Tina Übel (Horror Vacui, 2005) oder Thomas Glavinic (Die Arbeit der Nacht,
2006) an, um nur einige wenige zu nennen. Die Melancholie scheint allerdings
im Zusammenhang mit den genannten Büchern nicht mehr den Verlust konkreter Lebenswelten anzuzeigen, vielmehr potenziert sich das Gefühl der Melancholie dahingehend, dass der Gegenstand des Verlusts nicht mehr klar benannt werden kann. Melancholie kreist schließlich um eine Leerstelle.
Auch ironische Distanznahmen von sich als inhaltslos erweisenden gesellschaftlichen Strukturen, wie dies in der sog. Popliteratur versucht wurde, lassen
sich zahlreich finden. Man denke nur an Benjamin von Stuckrad-Barre, der sich
u.a. mit Büchern wie Soloalbum (1998) oder Livealbum (1999) hervorgetan hat,
Kathrin Röggla mit Abrauschen (2001) oder den Begründer jenes Genres,
Thomas Meinecke, mit seinem Tomboy (1998).9
Von dem sog. ‚Wenderoman‘, auf den sich lange Zeit die ganze Aufmerksamkeit konzentrierte, wünschte man sich schließlich, er möge die veränderte Gesellschaftsordnung endlich für jedermann nachvollziehbar und lebbar werden lassen.
!
5
6
7
8
9
So geschehen auf einer Podiumsdiskussion zum Thema ‚Ethik in der Gegenwartsliteratur‘, an der
außerdem Juli Zeh und Christoph Peters mitwirkten. Die Diskussion fand am 04. Oktober 2008
im Theater Erlangen im Rahmen der Tagung Ethik in der Gegenwartsliteratur des Departments
Germanistik/Komparatistik der Universität Erlangen statt.
Matthias Politycki, Martin R. Dean, Thomas Hettche, Michael Schindhelm: Was soll der Roman?; Vgl. außerdem: Matthias Politycki: Relevanter Realismus. In: ders.: Vom Verschwinden
der Dinge in der Zukunft. S. 102-107.
Vgl. dazu auch die Antworten einiger zeitgenössischer Autoren auf Polityckis Positionspapier, die
ebenfalls in der ZEIT erschienen sind: Der Roman schaut in fremde Zimmer hinein. DIE ZEIT,
Nr. 26 vom 23.06.2005. Hier äußern sich Juli Zeh, Andreas Meier, Hans-Ulrich Treichel und
Uwe Tellkamp.
Vgl. dazu Tom Waits: I’m your late night evening prostitute (vom Album: The Early Years
Vol. 1, 2006).
Thomas Meinecke: Tomboy. Frankfurt a. M. 1998; Benjamin von Stuckrad-Barre: Soloalbum.
Köln 1998; ders.: Livealbum. Köln 1999; ders.: Was Wir Wissen. Köln 2006; Kathrin Röggla:
Abrauschen. Salzburg 2001.
EINLEITUNG
11
So entstanden und entstehen nach wie vor eine Reihe von Büchern, die sich mit
diesem Markstein deutscher Geschichte und Identität auseinandersetzen, zumal
sich im Jahr 2009 der Mauerfall zum 20. Mal gejährt hat.10 Zumeist werden diese
Texte allerdings von Autoren geschrieben, die der ehemaligen DDR entstammen.
Allen voran seien ah Ingo Schulze, der sich in seinen Texten immer wieder mit
der Ost-West-Problematik auseinandersetzt (exemplarisch: Simple Storys, 1998),
aber auch Thomas Brussig (Helden wie wir, 1995; Am kürzeren Ende der Sonnenallee, 1999) oder Der Turm (2008) von Uwe Tellkamp genannt, der darüber
hinaus auch in der öffentlichen Diskussion als ‚Buch des Jahres 2008‘ u.a. mit der
Verleihung des Deutschen Buchpreises ausführlich gewürdigt wurde. Signifikanterweise ging der Deutsche Buchpreis im Jahr 2011 wieder an einen sog. Wenderoman, diesmal an Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts.
Die Aufzählung der veränderten Erzählmuster und -gegenstände könnte noch
um einige weitere Aspekte ergänzt werden. Im Folgenden richtet sich der Fokus
des Interesses allerdings auf eine Strategie, die in dem Zusammenhang als besonders virulent erscheint: Schreiben avanciert zur existenziellen Aufgabe, mit der der
Schreibende sich selbst und seine Leser wieder in die Verantwortung nimmt.
Verantwortung erweist sich dabei aber nicht mehr als moralische Verpflichtung,
sondern vollzieht sich in erster Linie in der sprachlichen Begegnung mit dem Anderen.11
In letzter Konsequenz läuft [es darauf, S.W.] hinaus, eine weltanschauliche Position
beziehen zu müssen, deren Resonanzboden nicht unter den fetten Bässen der Gegenwart vibriert, sondern im fernen Taktschlag des Kommenden erzittert. Eine Art
Aufsichtspflicht, der man sich gerade auch als Schriftsteller, meine ich, nicht entziehen darf, sofern man Schreiben nicht als bloßen Broterwerb, sondern als existentielle Aufgabe begreift, die über serielle Produktion von Texten hinausgeht: Ein
Schriftsteller ist mehr als die Summe seiner Bücher, er hat einen Standpunkt, der
sich in der Wahl seiner Adjektive ebenso ausdrückt wie in der Wahl seines Lieblingstürken. Für diesen Standpunkt, der wiederum mehr ist als die Summe seiner
Meinungen, ist er persönlich haftbar, weit mehr als für jede einzelne seiner kontextabhängig gewonnenen Thesen. Denn im Gegensatz zum bloßen Autor, der als Plotist seriell Texte erstellt, kann der Schriftsteller seine Werke nur mit eigener Lebenserfahrung beglaubigen; will er seinem Leser mehr als das reine Lesevergnügen
bereiten, muß er zusätzlich zu allen Qualen einer relevanten literarischen Gestaltung
das Wagnis auf sich nehmen, Zeitgenosse zu sein. Muß sich als Teil des regionalen,
nationalen, globalen Zusammenlebens begreifen, wie es aus der Warte eines Elfenbeinturmbewohners nie in all seiner Komplexität wahrzunehmen und entsprechend
detailreich zu schildern gelänge12 .
!
10
!
11
12
Vgl. dazu auch Julia Franck (Hg.): Grenzübergänge. Autoren aus Ost und West erinnern sich.
Frankfurt a. M. 2009; Claudia Rausch: Aufbau Ost. Unterwegs zwischen Zinnowitz und Zwickau. Frankfurt a. M. 2009.
Vgl. dazu auch: Stephanie Waldow (Hg.): Ethik im Gespräch. Autorinnen und Autoren über das
Verhältnis von Literatur und Ethik heute. Bielefeld 2011.
Matthias Politycki: Alt werden, ohne jung zu bleiben. S. 14f.
12
EINLEITUNG
Der Angriff auf die postmoderne Beliebigkeit sei – so Politycki – zugleich verbunden mit dem Versuch, ein „freigeistiges Nachdenken jenseits herrschender
Diskurse“ zu praktizieren. Der neue Typus des Schriftstellers nehme lustvoll an
der Gesellschaft teil und wisse diese Anteilnahme in sinnlicher Form zu reflektieren.13 Eine neuerliche Zusammenführung von Ethik und Ästhetik scheint unter
diesen Vorzeichen unausweichlich.
Blickt man auf die in der Literatur aktuell verhandelten Themen, lässt sich
dementsprechend feststellen, dass es stets um etwas ‚Wichtiges‘ geht: den Zustand
der Gesellschaft oder das menschliche Dasein in all seinen Ausprägungen. Die Literatur verweist auf Tatbestände jenseits der Konstrukte und es entsteht der Ruf
nach einer ethisch geprägten Gesellschaft. Grundgefühle wie Liebe14, Vertrauen
oder der Umgang mit Krankheit und Tod15 finden vermehrt Eingang in die Literatur, verbunden mit dem Appell zu einem ‚guten Leben‘.16 Zahlreiche Bücher
etwa sind entstanden, die sich mit dem eigenen Sterbeprozess auseinandersetzen.
Zum einen scheint hier ein schreibendes Subjekt sich seiner selbst zu vergewissern
und Zeugnis abzulegen, zum anderen ist auffällig, dass dies im öffentlichen Raum
stattfindet. Die Erfahrung des Sterbens wird einem Anderen mitgeteilt, mit dem
gemeinsam Trauerarbeit geleistet werden kann. Schreiben und Lesen avancieren
in diesem Zusammenhang zu einer existenziellen Erfahrung und erlangen damit
ethische Qualität.17
Auch die Auseinandersetzung mit dem ‚Grenzereignis‘ Holocaust und die sich
daran anschließende Suche nach adäquaten Ausdrucks- und Erinnerungsformen
oder der Umgang mit den Terroranschlägen vom 11. September stärken offensichtlich die Tendenz, Tugenden wie Fürsorge und Verantwortung wieder aufzu!
13
14
15
16
17
Matthias Politycki: Alt werden, ohne jung zu bleiben. S. 15. Außerdem: Als Ästhet ist man immer auch schon Moralist. Matthias Politycki im Gespräch. In: Stephanie Waldow (Hg.): Ethik
im Gespräch. S. 35-55.
Dementsprechend ist dem Thema Liebe und ihren unterschiedlichen Ausprägungen ein ganzes
Kapitel gewidmet. Vgl. Der literarische Liebesdiskurs in dieser Studie.
Vgl. dazu die Fülle an Literatur, die in den letzten Jahren erschienen ist. Exemplarisch: Annette
Pehnt: Das Haus der Schildkröten. München 2006; Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil.
München 2011.
Die Frage nach dem sog. ‚guten Leben‘ wird explizit in Juli Zehs Roman Spieltrieb gestellt, in
dem die Zeit nach dem Postnihilismus zur Darstellung kommt. Vor dem Hintergrund einer
Schulgeschichte werden Grenzen und Möglichkeiten eines guten Handelns ausgelotet. Auch in
ihrem Roman Schilf wird die Frage nach der Verantwortung gestellt. Diese entzündet sich an einem Physikerstreit, anhand dessen zwei Positionen vertreten werden: Die ‚Viele-Welten-Theorie‘,
nach der alles möglich scheint und in der der Mensch für sein Handeln keine Verantwortung zu
tragen hat, wird der ‚Eine-Welt-Theorie‘ gegenübergestellt, in der der Mensch für sein Tun verantwortlich zeichnet. Juli Zeh: Spieltrieb. Frankfurt a. M. 2004; dies.: Schilf. Frankfurt a. M.
2007.
Vgl. dazu etwa das Buch von Christof Schlingensief, in dem er über seine Krebserkrankung
spricht: Christof Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein. Tagebuch einer Krebserkrankung. Köln 2009 oder das Buch von Helmut Dubiel, in dem er von seinem Umgang mit der Krankheit Parkinson erzählt. Helmut Dubiel: Tief im Hirn. München 2006. Dazu:
Iris Radisch: Metaphysik des Tumors. Bücher über Krebs und Tod haben Konjunktur. Wozu
brauchen wir eine literarische Sterbebegleitung? In: DIE ZEIT, Nr. 39 vom 17.09.2009.
EINLEITUNG
13
rufen.18 Folgt man den Überlegungen Polityckis, führt dies jedoch nicht – wie
noch in den 1960er und 70er Jahren in Deutschland geschehen – zu einer Politisierung der Literatur. Vielmehr steht die Suche nach einer authentischen Vergangenheit, die unmittelbar mit dem Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizont des
Subjekts verbunden ist, im Mittelpunkt des Interesses. Infolgedessen weicht das
Abarbeiten an großen historischen Konstellationen einer Ethnografie des Alltags:
Vergangenheit wird zur individuellen Geschichte. Damit einher geht eine Rückkehr zum Imaginären; Gefühle und Fantasmen werden wieder in das Erzählgeschehen integriert.19 Durch Akte des Fingierens werden sie zu Bestandteilen des
Fiktiven. Stierle spricht in diesem Zusammenhang von einem Paradigmenwechsel
vom ‚linguistic turn‘ zum ‚anthropologic turn‘.20 Die Welt der internationalen
Politik wird am Mikrokosmos Mensch kenntlich gemacht, wie dies u.a. an Adler
und Engel (2001) von Juli Zeh oder Alle Tage (2004) von Terézia Mora deutlich
wird. Stets geht es um bewusste und künstlich hergestellte Bindungen, die das
Individuum freiwillig in ein besseres und vor allem selbst gewähltes soziales Netz
einbinden. Im Sinne einer Wahlverwandtschaft wird Solidarität narrativ hergestellt, jenseits von festen Zuschreibungen wie class, race und gender.
Mit Blick auf die deutschsprachige Literatur versucht die vorliegende Studie
eine Standortbestimmung, die sich auf diese konkreten gesellschaftspolitischen
und kulturanthropologischen Umbrüche stützt sowie den Ruf nach Verantwortung einer genaueren Betrachtung unterzieht.
Hierfür scheint es sinnvoll, den vielfach auch als Wendezeit oder Schwellenepoche beschriebenen Zeitraum ab 1989 als Ausgangspunkt zu nehmen, weil
hier erstens einige für die deutsche und deutschsprachige Gegenwartsliteratur paradigmatische gesellschaftliche Umbrüche wie z.B. der Fall der Mauer und das
Ende des kalten Krieges stattfanden, die als historische Ausgangspunkte verstan18
19
20
Dazu: Matthias N. Lorenz: Narrative des Entsetzens. Künstlerische, mediale und intellektuelle
Deutungen des 11. September 2001. Reihe Film – Medium – Diskurs. Hg. v. Oliver Jahraus,
Stefan Neuhaus. Würzburg 2004; 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September
in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien. Hg. v. Sandra Poppe, Thorsten Schüller, Sascha Seiler. Bielefeld 2009; Heide Reinhäckel: Traumatische Texturen. Der 11. September
in der deutschen Gegenwartsliteratur. Bielefeld 2012.
So stellt etwa der Autor Thomas Glavinic die Bemerkung in den Raum, er sei ein realistischer
Schriftsteller, auch und gerade wenn er phantastische Elemente in seine Romane einbaue. Er
stützt sich dabei auf die These, dass alles, was für ihn sinnlich wahrnehmbar und vorstellbar ist,
auch Realitätscharakter beanspruche. Thomas Glavinic: Diese Bücher, alles was sie lesen, das bin
ich. Thomas Glavinic im Gespräch mit Stephanie Waldow. In: Stephanie Waldow (Hg.): Ethik
im Gespräch. S. 147-157.
In dem Zusammenhang ist die These Eshelmans, der für die Gegenwart eine Wendung weg von
einer Semiotik des Wissens hin zu einer Semiotik des ästhetisch vermittelten Glaubens diagnostiziert, einleuchtend. Raoul Eshelman: Aus der Epoche auschecken. Die Spätpostmoderne in Ali
Smiths Hotel World und deren performative Überwindung in Olga Tokarczuks Numery (Zimmernummern) und Milos Urbans Sedmikostelf (Die Rache der Baumeister). In: Poetica. Zeitschrift für Sprache und Literaturwissenschaft. Hg. v. Joachim Küpper. 36. Band, München 2004,
Heft 1-4, S. 193-219, hier S. 195.
Karlheinz Stierle: Wege aus dem nouveau roman. In: ders., Ulrich Schulz-Buschhaus (Hgg.):
Projekte des Romans nach der Moderne. München 1997. S. 311-329, hier S. 328.
14
EINLEITUNG
den werden können, aber auch, weil sich nun die Auswirkungen der Globalisierung und des ‚medial turn‘21 zu manifestieren beginnen und in die konkrete Lebenswelt überführt werden.22 Damit einher gehen ein verändertes Vergangenheitsbewusstsein und eine Neubestimmung der Erinnerungskultur.23
Wenn hier der Versuch unternommen wird, ein Bild der gegenwärtigen Literaturlandschaft zu zeichnen, geht dies jedoch nicht mit dem Gedanken an die
Einführung einer neuen Epoche einher.24 Wenig hilfreich erscheinen daher auch
die in der Forschung bereits vielfach eingeführten Termini der ‚Nachpostmoderne‘ oder der ‚Postpostmoderne‘. Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Studie auf den Begriff der ‚Gegenwart‘ zurückgegriffen. Dies geschieht erstens, um
die Unabgeschlossenheit und die fehlende Kanonisierung von zeitgenössischer Literatur und Philosophie kenntlich zu machen und zweitens, um eine Abgrenzung
von Theorien der Postmoderne vorzunehmen. Zudem würde der Begriff der
‚Postpostmoderne‘ einer begrifflichen Hybridisierung gleichkommen.25 Gegen!
21
22
23
24
25
Zum Begriff des ‚medial turn‘ und seinen Auswirkungen auf Literatur und Philosophie vgl. Stefan Münker: Philosophie nach dem medial turn. Beiträge zu einer Theorie der Mediengesellschaft. Bielefeld 2009.
Zudem hat Antje Kley in ihrem Beitrag zu Richard Powers’ Plowing the Dark die Folgen des
medial turn für die Wahrnehmung des Subjekts herausgearbeitet und aufgezeigt, dass mediale
Simulation nicht mehr länger wie in der Postmoderne als Spielform einer medial überformten
Wirklichkeit gedacht werden kann, sondern als ernsthafter Versuch, Repräsentationsformen für
das Selbst in der Wirklichkeit zu suchen. Antje Kley: Ethics – Media – Representation. Aesthetic
Experience and Identity Formation in Richard Powers’ Novel Plowing the Dark. In: Christine
Lubkoll, Oda Wischmeyer (Hgg.): ‚Ethical Turn‘? Geisteswissenschaften in neuer Verantwortung. Reihe Ethik – Text – Kultur. Hg. v. Joachim Jacob, Mathias Mayer, Christine Lubkoll,
Claudia Öhlschläger. Paderborn 2009. S. 181-203.
Auch Wägenbaur führt die 1980er Jahre als Wendepunkt ein und nennt darüber hinaus die Fatwa gegen Salman Rushdie im Februar 1989 und die Entdeckung der publizistischen Kollaborationen Paul de Mans aus den Jahren 1941-42 im Dezember 1987 als weitere Punkte. Insgesamt
spricht er davon, dass das ‚Glashaus der Postmoderne Ende der 1980er Jahre einen Sprung bekommen hat‘. Thomas Wägenbaur: Narrative Ethik. Das Paradox der Ethik als KybernEthik der
Literatur. In: Markus Heilmann, Thomas Wägenbaur (Hgg.): Im Bann der Zeichen. Die Angst
vor der Verantwortung in Literatur und Literaturwissenschaft. Würzburg 1998. S. 229-254, hier
S. 229. Der Sammelband von Zemanek und Krones nimmt dagegen die Jahrtausendschwelle als
markanten Punkt, um eine Literatur der Gegenwart auszumachen und begründet dies u.a. mit
dem Ereignis des 11. September 2001. Zudem versuchen sich die beiden Autorinnen dadurch
von den bereits vielfach erschienenen Studien zur sog. Wende-Literatur und Literatur der 1990er
Jahre abzugrenzen. Evi Zemanek, Susanne Krones: Eine Topographie der Literatur um 2000.
Einleitung. In: dies. (Hgg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und
Buchmarkt um 2000. Bielefeld 2008. S. 11-24.
Zur Veränderung der Erinnerungskultur vgl. Aleida Assmann: Das kulturelle Gedächtnis an der
Millenniumsschwelle. Krise und Zukunft der Bildung. Konstanz 2004.
Vgl. hierzu auch Jacques Derrida, der auf die Schwierigkeiten bei der Einführung einer neuen
Epoche hinweist. Entweder laufe dies auf eine statische und tabellarische Auflistung hinaus oder
verliere sich in endloser Vielfältigkeit. Jacques Derrida: Einige Statements und Binsenweisheiten
über Neologismen, New-Ismen, Post-Ismen, Parasitismen und andere kleine Seismen. (Übers. v.
Susanne Lüdemann) Berlin 1997. S. 16.
Eshelman versucht, die gegenwärtige Epochenentwicklung mit dem Begriff des Performatismus
zu erfassen. Ein Begriff, der an dieser Stelle nicht unkritisch rezipiert werden kann, da mit ihm –
aufgrund seiner Offenheit – bereits eine Reihe anderer Phänomene benannt worden sind. Eshel-
EINLEITUNG
15
wart wird in dem Zusammenhang als Konstellation begriffen, wie dies auch
schon Jean-François Lyotard und Peter V. Zima für die Moderne und Postmoderne vorgeschlagen haben.26 Michel Foucaults Begriff der ‚Modernität‘, wie er
ihn in seinem Aufsatz Was ist Aufklärung entwickelt hat, erweist sich hier als sehr
hilfreich. Modernität drückt für ihn eine Haltung gegenüber der Gesellschaft
aus.27 Haltung wird dabei als Willensakt des Subjekts verstanden, sich mit dem
Gegebenen auseinanderzusetzen.28
Diese Auseinandersetzung mit dem Gegebenen findet in der gegenwärtigen Literatur und Philosophie auf vielfache Art und Weise statt. Dementsprechend
können einige Akzentverschiebungen und Gewichtungen herausgearbeitet werden, die – so scheint es – Ausdruck einer solchen Haltung gegenüber der Gesellschaft sind. Zusammengenommen führen diese Beobachtungen zu einer ersten
These, nach der die Kultur der Indifferenz auf ihr Ende zusteuert.29 Die bisher
proklamierte Fragilität der Lebensentwürfe, die zu einem Verlust an Heimat, IchIdentität und authentischer Erfahrung geführt haben, ruft poetische Selbstentwürfe auf den Plan, die dieser Unsicherheit entgegentreten wollen.30 So stellt
Baudrillard 1997 fest:
Wir brauchen eine Kunst, die nicht in Simulation aufgeht, sondern erneut in der
Lage wäre, Illusionen zu erzeugen: Denn Simulieren ist immer ein Spiel mit dem
26
27
28
29
30
man stellt mit seinem Performanzgedanken dem von Gans eingeführten Konzept des ‚Postmillenialismus‘ eine ästhetische Ausdrucksform zur Seite, die die semiotischen, narratologischen und
thematischen Grundzüge der laufenden Epochenentwicklung herauszuarbeiten sucht. Mit Performatismus bezeichnet Eshelman eine Entwicklung hin zu einem „monistischen Zeichenverständnis, einfacher Subjektivität und körperbezogener Geschlechtlichkeit.“ Damit verbunden sei
eine Umstellung von einer Semiotik des Wissens hin zu einer Semiotik des ästhetisch vermittelten Glaubens. Zeitlich gesehen siedelt er die Entwicklung für das Ende der 1990er Jahre an. Raoul Eshelman: Aus der Epoche auschecken. S. 193-219; ders.: Der Performatismus oder das Ende
der Postmoderne. Ein Versuch. In: Wiener Slawistischer Almanach Heft 46/2000. S. 149-173;
ders.: Performatism, or the End of Postmodernism. Colorado 2009. Außerdem: Jost Hermand:
Nach der Postmoderne. Stuttgart 2004; Eric Gans: The Post-Millenial Age. In: Chronicals of
Love and Resentment, 209, 3. Juni 2000. (www.anthropoetics.ucla.edu/views/vw209.htm; letzter
Aufruf am 20. Oktober 2012).
Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Graz u.a. 1986 (Org.: La condition postmoderne. Paris 1979); Peter V. Zima: Zur Konstruktion von Modernismus und Postmoderne: Ambiguität, Ambivalenz und Indifferenz. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft. Jahrgang XXVII/1996 (1). S. 127-141.
Michel Foucault: Was ist Aufklärung. In: ders.: Ästhetik der Existenz. Frankfurt a. M. 2007.
S. 171-190, hier S. 179. (Org. What is Enlightenment? [Qu’est-ce que les Lumières?] In: P. Rabinow (Hg.): The Foucault Reader. New York 1984. S. 32-50).
Dieser Gedanke wird in dem Kapitel Michel Foucault: Haltung einnehmen genauer ausgeführt.
So diagnostiziert Homi Bhabha in den 1990er Jahren einen ‚moral turn‘ der Postmoderne, der
sich in einer Wende vom Poststrukturalismus hin zum Postkolonialismus ausdrückt. Homi K.
Bhabha: The Location of Culture. London 1994.
Zur neu gewonnenen Aktualität des Begriffs der ‚Heimat‘ vgl. exemplarisch die Studien von Andreas Huber: Heimat in der Postmoderne. Zürich 1999; Christoph Türcke: Heimat. Eine Rehabilitierung. Hannover 2006.
16
EINLEITUNG
Selben. Illusion dagegen ist ein Spiel mit dem Anderen, mit der Andersheit, mit der
Alterität.31
Letztlich wirft Baudrillard der Kunst vor, sie habe ihr Geheimnis verloren. Ein
Geheimnis, welches gerade in der Anerkennung und Begegnung mit der absoluten Andersheit des Anderen zu suchen ist. Sinn wird also nicht mehr länger nur
außerhalb des Textes verortet, sondern im Text selbst im Moment des sprachlichen Austausches mit dem Anderen. Ein Umstand, der sich im weiteren Verlauf
der Arbeit als besonders virulent für die gegenwärtige Literatur und Philosophie
bzw. als konstitutiv für eine narrative Ethik erweisen wird.
Die von Baudrillard geforderte Wiederkehr des Erzählens bedeutet aber nicht
nur eine Abwendung vom postmodernen Spielcharakter, zusätzlich wird damit
auch – wie zu zeigen sein wird – der seit der Moderne bestehende Unsagbarkeitstopos radikal in Frage gestellt. Zu überprüfen ist schließlich, ob gegenwärtige
Texte einen anderen Umgang mit Sprache erproben, der sich sowohl vom modernen als auch vom postmodernen Gestus absetzt.32
Wenn in dieser Arbeit die erzählende Literatur im Mittelpunkt steht, so u.a.
aufgrund von Ricœurs Prämisse, nach der die Erzählung das „erste Laboratorium
des moralischen Urteils“ sei. In dieser Funktion sei sie „immer ethisch und niemals neutral.“33 Auch Politycki macht darauf aufmerksam, dass gerade der Roman als die durchlässigste, aufnahmefähigste Gattung in der Mitte des gesellschaftlichen Diskurses entstanden ist und somit prädestiniert für eine ethische
Reflexion der Lebenswelt sei.34 Hinzu kommt, dass der aus der mündlichen Tradition entstandenen Gattung ursprünglich solch verantwortungsvolle Eigenschaften wie das Erteilen von Rat oder Möglichkeiten der Erfahrungsvermittlung attestiert werden.35 Diese Eigenschaften scheinen in der gegenwärtigen Literaturproduktion eine Wiederbelebung zu erfahren, die zusammengenommen für die Frage nach einer Ethik der Narration fruchtbar gemacht werden können. Eine Untersuchung von Lyrik und Drama verdiente daher – unter Berücksichtigung ihrer
je eigenen gattungsgeschichtlichen Tradition – eine gesonderte Betrachtung.
Zusammengenommen lässt sich also eine Reihe von Indizien ausmachen, die
für eine neue Generation von Texten sprechen. Texte, die sich wieder auf die Suche nach dem Subjekt und dessen Sprache machen und die die Indifferenz der
Postmoderne als Mangel erfahren.
!
31
32
33
34
35
Interview mit Jean Baudrillard in: Spiegel Kultur extra (7/1997). S. 12.
Dementsprechend verankern auch Autoren des neoavantgardistischen Schreibens wie Philippe
Sollers Elemente wie Narrativität und Referenz wieder stärker in ihren Texten. Exemplarisch:
Philippe Sollers: Un vrai roman. Mémoires. Paris 2007. Dazu: Johannes Angermüller: Nach dem
Strukturalismus. Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich. Bielefeld 2007.
Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer. Übers. v. Jean Greisch. München 1996. S. 173.
Matthias Politycki, Martin R. Dean, Thomas Hettche, Michael Schindhelm: Was soll der Roman?
Vgl. dazu Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk von Nikolai Lesskow. In:
ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Bd. I. Frankfurt a. M. 1977. S. 385-412.
17
EINLEITUNG
Aufgrund der Vielfältigkeit der gegenwärtigen Literaturszene können natürlich
nicht alle Gewichtungen gleichermaßen und hinreichend aufgezeigt werden. Im
Mittelpunkt der folgenden Studie steht daher – wie bereits angedeutet – die deutlichste und für die gesellschaftliche Relevanz weitreichendste Akzentverschiebung
in der Gegenwartsliteratur: die Hinwendung zu einem ethischen Schreiben und
die damit verbundene Wiederkehr von Subjekt-Konzeptionen.36 Der Akt des
ethischen Schreibens bildet dabei nicht nur die narrative Grundlage vieler Gegenwartstexte und -philosophien, sondern bezieht sich darüber hinaus auch auf
den Dialog zwischen Erzähler und Leser.
Zwar wurden in der Forschung bereits einige Studien zur Gegenwartsliteratur
vorgelegt, vornehmlich zu einzelnen Aspekten der Literaturproduktion, wie dem
‚Wenderoman‘37 oder der Popliteratur38, die bereits erwähnt wurden, aber auch
Phänomene wie das ‚Fräulein Wunder‘39 oder in jüngster Zeit der Familienroman40 bilden Schwerpunkte in der literaturwissenschaftlichen Diskussion.41
!
36
37
38
39
Im Hinblick auf diese Überlegungen ist es auffällig, dass in der gegenwärtigen Literatur vor allem
Fragestellungen verhandelt werden, die die Verfasstheit des Subjekts unmittelbar betreffen. In
Frankreich und Italien lässt sich bereits seit Beginn der 1980er Jahre eine neue Form von Literatur beobachten, die sich um eine Rezentrierung des Subjekts bemüht. Der selbstreferenziellen
Schreibweise der Avantgarde wird eine Absage erteilt. Asholt beispielsweise spricht von einem
Ende der ‚terreur théoretique‘, einem Ende der semiotisch-strukturalistischen „Nach-68er Zeit“.
In Deutschland ist dieser Prozess in der erzählenden Literatur erst in den späteren 1990er Jahren
spürbar. Vgl. Wolfgang Asholt: Der französische Roman der 80er Jahre. Darmstadt 1994, insbesondere S. 7-9; außerdem Richter, der das Fehlen der Neo-Avantgarde Bewegung in Deutschland
dafür verantwortlich macht. Steffen Richter: Trauerarbeit der Moderne. Autorenpoetiken in der
Gegenwartsliteratur. Wiesbaden 2003.
Dazu: Fabrizio Cambi, Alessandro Fambrini (Hgg.): Zehn Jahre nachher. Poetische Identität und
Geschichte in der deutschen Literatur nach der Vereinigung. Trento 2002; Thomas Grub: Wende und Einheit im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. Ein Handbuch. Berlin 2003; Melanie
Fröhlich: Erzählen aus dem Bruch – neue Stimmen deutscher Gegenwartsliteratur. In: Diskursive
Kulturwissenschaft. Analytische Zugänge zu symbolischen Formationen der pOst-Westlichen
Identität in Deutschland. Hg. v. Elize Bisanz. Münster 2005. S. 25-42; Barbara Beßlich, Katharina Grätz, Olaf Hildebrand (Hgg.): Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der
deutschen Literatur nach 1989. Berlin 2006; Fabrizio Cambi (Hg.): Gedächtnis und Identität.
Die deutsche Literatur nach der Vereinigung. Würzburg 2008; Simone Bilz: Der Wenderoman
als neues Genre der jungen deutschen Gegenwartsliteratur. Clemens Meyers Als wir träumten
und Thomas Brussigs Wie es leuchtet im Focus der Betrachtung. In: Transitträume. Beiträge zur
deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Augsburg 2009. S. 299-313.
Vgl. dazu: Tristesse Royal. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessig, Christian Kracht,
Eckhart Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin v. Stuckrad-Barre. Berlin 1999; Florian
Illies: Generation Golf. Eine Inspektion. Berlin 2000; Von Acid nach Adlon und zurück. Eine
Reise durch deutschsprachige Popliteratur. Hg. v. Johannes Ullmaier. Mainz 2001; Thomas
Ernst: Popliteratur. Hamburg 2001; Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002; Pop-Literatur. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Sonderband Text und Kritik, X/03. Bonn 2003.
Der äußerst umstrittene Begriff des ‚Fräulein Wunder‘ ist erstmals 2001 von Volker Hage in einem Spiegel-Artikel anlässlich der Erscheinung des Erzählungsbandes von Judith Hermann,
Sommerhaus, später (Frankfurt a. M. 1998) in die Debatte geworfen worden. Er ist seither eine
viel zitierte Wendung für sog. junge schreibende Frauen, die vornehmlich einen melancholischen
Sprachgestus in ihren Texten pflegen und sich scheinbar jenseits von gender-kritischen Fragestellungen bewegen. Zu ihnen werden gezählt: Jenny Erpenbeck, Felicitas Hoppe, Alexa Hennig von
18
EINLEITUNG
Führt man diese Einzelphänomene – wie etwa den Familienroman mit seinen
vielfältigen Möglichkeiten, Generationenkonflikte auszutragen, die Wiederkehr
sog. ursprünglicher Erzählweisen, einen sich verändernden Intertextualitätsbegriff und mit ihm einhergehend eine verstärkte Bibelrezeption, um nur einige
zu nennen – in der Diskussion zusammen, lassen sich vor allem zwei Kriterien
herausarbeiten, die eine klare Abgrenzung von dem bereits zitierten „postmodernen Nihilismus“ aufweisen. Jene im 20. Jahrhundert durch Globalisierungstendenzen und historische Wendephänomene ausgelöste Sinn- und Orientierungskrise führt zwar einerseits zu einem in der gegenwärtigen Literatur durchaus thematisierten Ideologie- und Identitätsverlust, ruft aber – anders als etwa noch in
der Postmoderne, die die Ausdifferenzierung der Gesellschaft als Befreiung empfand – neue Sinnangebote auf den Plan. Verstärkt werden in der Literatur Fragen
nach einem ‚sinnerfüllten Leben‘ aufgeworfen, dies aber nicht mehr im Sinne einer für alle verbindlichen moralisch-normativen Handlungsanweisung oder teleologischen Ausrichtung, sondern in Form eines ethischen Aushandelns. Gefordert
wird also eine Orientierung jenseits normativer Setzungen im Sinne eines ethischdynamischen Dialogs mit Alteritäten. Dennoch verharren die Texte nicht im
Spiel oder der Indifferenz, sondern beziehen aktiv Stellung. Der Prozess des
Durchkreuzens ist nicht, wie noch in der Postmoderne, reiner Selbstzweck, sondern erzeugt Sinn und hilft darüber hinaus, das sprechende Subjekt zu verorten.
In diesem Zusammenhang kann auch die These von der Rückkehr des Autors gesehen werden, die Ende der 1990er Jahre ausgerufen wurde.42
40
41
42
Lange oder Zoë Jenny. Vor allem bei Autorinnen wie Juli Zeh oder Julia Franck, die sich dezidiert mit der Rolle der Frau in ihren Texten auseinandersetzen, ist diese Bezeichnung sicherlich
unzutreffend. Dazu: Michael Opitz, Carola Opitz-Wiemers: Vom „literarischen Fräuleinwunder“
oder „Die Enkel kommen“. In: Deutsche Literaturgeschichte: von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. v. Wolfgang Beutin. Stuttgart 2001. S. 697-700; Heidelinde Müller: Das literarische
Fräuleinwunder: Inspektion eines Phänomens der deutschen Gegenwartsliteratur in Einzelfallstudien. Frankfurt a. M. 2004.
Dazu: Harald Welzer: Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generationenromane. In: Literatur. Beilage zum Mittelweg 36, 1, 2004, S. 53-64; Bernhard Jahn: Familienkonstruktionen 2005. Über das Problem des Zusammenhangs der Generationen im aktuellen
Familienroman. In: Zeitschrift für Germanistik, XVI, 3/2006, S. 581-596; Elena Agazzi: Familienromane, Familiengeschichten und Generationenkonflikte. Überlegungen zu einem eindrucksvollen Phänomen. In: Andrea Bartl (Hg.): Transitträume. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Augsburg 2009. S. 187-203. Vgl. dazu auch das Kapitel Generationengespräche.
Einen guten Überblick über neuere Tendenzen bieten jedoch die Sammelbände von: Corina
Caduff, Ulrike Vedder (Hgg.): Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. München 2005; Evi Zemanek, Susanne Krones (Hgg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen,
Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000. Bielefeld 2008; Andrea Bartl (Hg.): Transitträume.
Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Augsburg 2009.
Vgl. dazu u.a. Fotis Jannides, Gerhard Lauer, Matías Martínez, Simone Winko (Hgg.): Rückkehr
des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999; dies.: Texte zur Theorie
der Autorschaft. Stuttgart 2000. Außerdem der Sammelband, der aus einem DFG-Symposium
hervorgegangen ist: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart
2002.
EINLEITUNG
19
Voraussetzung für diesen Aushandlungsprozess, der sowohl auf der narrativen
als auch auf der inhaltlichen Ebene stattfindet, ist erstens der Mut zur mindestens
vorläufigen Setzung und damit die Verabschiedung einer Literatur, die im Binarismus und der Vielschichtigkeit verhaftet bleibt. Zweitens ist für diese Setzung
ein handelndes und selbstverantwortliches Subjekt erforderlich: ein durch den
Diskurs der Postmoderne geschultes Subjekt, das nun im Sinne Foucaults die
Sorge für sich selbst trägt, indem es den Diskurs aktiv mitgestaltet. Es übernimmt
die Verantwortung für seine Stimme, sowohl innerhalb als auch außerhalb des eigentlichen Textgeschehens. Im Bewusstsein des Diskurses wird eine Subversion
des Diskurses vorgenommen, die schließlich zu einer authentischen Positionierung des Subjekts führt.
Die für die Moderne und Postmoderne vorgenommene Trennung von Ethik
und Ästhetik kann dementsprechend – so eine These der Arbeit – nicht mehr
aufrechterhalten werden. Insofern findet in der gegenwärtigen Literatur eine erneute Zusammenführung von Ethik und Ästhetik statt.43 Symptomatisch scheint
diese Zusammenführung vor allem vor dem Hintergrund der Jahrtausendwende
zu sein. Konnte man doch um 1800 und um 1900 ebenfalls eine Engführung
von Ethik und Ästhetik beobachten: gegen Ende des 18. Jhs. etwa bei Kant und
Schiller und Ende des 19. Jhs. insbesondere bei Nietzsche, bevor das 20. Jh. die
Bereiche Ethik und Ästhetik auszudifferenzieren versuchte.44
Für eine umfassende Beleuchtung des Verhältnisses von Ethik und Ästhetik
und in dessen Folge für eine Herausarbeitung einer narrativen Ethik ist eine Abgrenzung zu Konzepten der Moral unabdingbar. Es lässt sich eine Fülle an Forschungsliteratur zur Begriffsbestimmung von Ethik und Moral finden, die zumeist aus einer theologischen und/oder philosophischen Perspektive heraus argumentiert.45 Auffällig ist hier, dass in jüngster Zeit, etwa seit den 1990er Jahren,
43
44
45
Platen untersucht den Zusammenhang von Ethik und Ästhetik vor allem vor dem Hintergrund
westdeutscher Nachkriegsliteratur, da diese, so seine These, aufgrund der Schuldfrage per se
ethisch aufgeladen sei. Er nähert sich daher dem Gegenstand auf eine sehr fokussierte Art und
Weise. Edgar Platen: Perspektiven literarischer Ethik. Erinnern und Erfinden in der Literatur der
Bundesrepublik. Würzburg 2001.
So Welsch in seinem immer noch grundlegenden Aufsatz: Wolfgang Welsch: Ästhet/hik. Ethische Implikationen und Konsequenzen der Ästhetik. In: Ethik der Ästhetik. Hg. von Christoph
Wulf, Dietmar Kamper und Hans Ulrich Gumbrecht. Berlin 1994. S. 3-22. Vgl. außerdem den
etwas älteren und einführenden Aufsatz von Hans Krämer: Das Verhältnis von Ästhetik und
Ethik in historischer und systematischer Sicht. In: Etho-Poietik. Ethik und Ästhetik im Dialog.
Erwartungen, Forderungen, Abgrenzungen. Hg. v. Bernhard Greiner, Maria Moog-Grünewald.
Bonn 1998. S. 1-13.
Vgl. dazu u.a. Bernhard H. F. Taureck: Ethikkrise – Krisenethik. Analysen, Texte, Modelle.
Reinbek b. Hamburg 1992; Hille Haker: Moralische Identität. Literarische Lebensgeschichten als
Medium ethischer Reflexion. Mit einer Interpretation der Jahrestage von Uwe Johnson. Tübingen/Basel 1999; Franz von Kutschera: Grundlagen der Ethik. 2., völlig neu bearbeitete Auflage.
Berlin/New York 1999; Marcus Düwell: Ästhetische Erfahrung und Moral. Zur Bedeutung des
Ästhetischen für die Handlungsspielräume des Menschen. Freiburg/München 1999; Robert Spaemann: Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns. Stuttgart 2002; Dieter Birnbacher:
Analytische Einführung in die Ethik. Berlin/New York 2003; Mark William Roche: Die Moral
der Kunst. Über Literatur und Ethik. München 2002; Marcus Düwell, Christoph Hübenthal,
20
EINLEITUNG
vor allem eine Renaissance des Ethikbegriffs stattfindet. Es wird weniger nach
moralischen Implikationen von Literatur gefragt, sondern vielmehr nach ethischen Entwürfen in literarischen Texten.46 Gerade im Zusammenhang mit dem
Poststrukturalismus, dem von der Rezeption gemeinhin eine moralfeindliche Perspektive unterstellt wurde, wird nun auf ethische Problemhorizonte hingewiesen.
Allen voran Derridas Ethik der Dekonstruktion wäre hier zu nennen, die auch in
diesem Band diskutiert wird.47
Dementsprechend erlangt auch das Verhältnis von Ethik und Narration eine
besondere Aufmerksamkeit. Zahlreiche Sammelbände sind entstanden, die sich
dem Thema – allerdings meist aus einer historischen Perspektive heraus – nähern.48 Eine umfassende Bearbeitung des Zusammenhangs von Ethik und Narration mit entsprechender theoretischer Grundlegung für die Gegenwartsliteratur
fehlt jedoch bislang.49 Diese Lücke möchte das vorliegende Buch schließen. Für
die gegenwärtige Diskussion einschlägige philosophische Ansätze ebenso wie literarische Texte werden auf ihre narrativen Strategien hin untersucht, die eine
46
47
48
49
Micha H. Werner (Hgg.): Handbuch Ethik. 2., aktualisierte und erweiterte Ausgabe. Stuttgart
2006; Robert Spaemann, Walter Schweidler (Hgg.): Ethik Lehr- und Lesebuch. Texte – Fragen –
Antworten. Stuttgart 2006.
So auch die Ausgangshypothese des Sammelbandes von Claudia Öhlschläger (Hg.): Ethik und
Narration. Reihe Ethik – Text – Kultur. Hg. v. Joachim Jacob, Mathias Mayer, Christine Lubkoll, Claudia Öhlschläger. Paderborn 2009. S. 9.
Vgl. dazu das Kapitel: Kreuzungen: Derrida – Levinas. Außerdem: Thomas Wägenbaur: Narrative Ethik. Das Paradox der Ethik als KybernEthik der Literatur. S.229-253. Wägenbaur setzt sich
hier mit der Kriegspublizistik Paul de Mans während des Zweiten Weltkriegs und Derridas Ethik
der Dekonstruktion auseinander.
Exemplarisch: Dietmar Mieth (Hg): Erzählen und Moral. Narrativität im Spannungsfeld von
Ethik und Ästhetik. Tübingen 2000; Susanne und Christian Krepold (Hg.): Schön und gut?
Studien zu Ethik und Ästhetik in der Literatur. Paderborn 2008; Claudia Öhlschläger (Hg.):
Ethik und Narration. Der von Karen Joisten herausgegebene Sonderband der Zeitschrift für Philosophie siedelt narrative Ethik auf drei Ebenen an: Erstens ist damit eine Art und Weise des
Sprechens über ethische Sachverhalte verbunden, zweitens die Untersuchung moralischer Phänomene auf ihre Narrativität hin und drittens geht es um die narrative Dimension des Ethischen
selbst. Karen Joisten: Möglichkeiten und Grenzen einer narrativen Ethik. Grundlagen, Grundpositionen und Anwendungen. In: dies.: Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen. Berlin
2007. S. 9-21. (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 17).
Zwar entwickelte sich im späten 20. Jh. der sog. ‚ethical criticism‘ als neuer Zweig der Literaturtheorie. Literarische Texte fungieren als Fokusangebote und werden als erklärender Bezugsrahmen für die Identitätskonstitution und -stabilisierung aufgerufen. Allerdings sucht dieser rezeptionsästhetische Ansatz weniger nach narrativen Strategien, die im Text selbst angelegt sind, sondern richtet sein Augenmerk auf die Inhaltsebene der Texte. Darüber hinaus wird der Leser aufgefordert, seine eigene Position dialogisch im Vergleich mit anderen Sinnangeboten herzustellen,
ohne dass dieser Prozess jemals an sein Ende gelangen würde. Dazu: Charles M. Taylor: Quellen
des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Übersetzt von Joachim Schulte. 5. Aufl.
Frankfurt a. M. 2005. (Org.: Sources of the Self. The Making of the Modern Identity. Harvard
1989); Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Übersetzt von Christa Krüger. Frankfurt a. M. 1992. (Org.: Contingency, Irony, and Solidarity. Cambridge 1989). Erzählung wird
darüber hinaus als moralische Darstellung des Lebens gelesen. Lebenswelt und Ästhetik stehen
demzufolge in unmittelbarem Zusammenhang. Vgl. dazu die Aufsatzsammlung von Martha
Nussbaum: Gerechtigkeit oder Das Gute Leben. Gender Studies. Frankfurt a. M. 1999; dies.:
Vom Nutzen der Moraltheorie für das Leben. Wien 2000.
EINLEITUNG
21
Hinwendung zu einem ethischen Schreiben dokumentieren. So kann gezeigt
werden, dass beide Textsorten sich dem Projekt eines ethischen Schreibens widmen und eine Wende in der gegenwärtigen Debatte um Moderne, Postmoderne
und Gegenwart anzeigen. Darauf aufbauend kann eine erste Standortbestimmung
von gegenwärtiger Literatur und Philosophie versucht werden. Dementsprechend
liefern die vorgestellten philosophischen Ansätze weniger einen Interpretationshorizont für die literarischen Texte, sondern werden diesen gleichberechtigt zur
Seite gestellt.
Im Folgenden wird daher der Versuch unternommen, aus der Ästhetik heraus
eine Ethik zu formulieren, eine Ethik also, die den konkreten Text als Ausgangspunkt der Beobachtung nimmt und auf dieser Basis erst theoretische Prämissen
formuliert. Die literarischen Texte fungieren demzufolge nicht als bloßes Anschauungsmaterial, sondern sind genuiner Bestandteil der zu entwickelnden
Ethik-Konzeption. Narrative Ethik, so ist an den diskutierten Texten zu zeigen,
stellt subversive Strategien wie die der Mündlichkeit, der Wiederholung, der Intertextualität, der Ironie etc. bereit, um den herrschenden Diskurs aufzubrechen
und fordert dazu auf, diesen neu zu bestimmen. Damit einher geht zweitens der
Umstand, dass Ethik wesentlich an einen Aushandlungsprozess gebunden ist, und
zwar sowohl innerhalb des Textgeschehens als auch zwischen Text und Leser. Die
Studie geht nicht davon aus, dass Literatur per se, also aufgrund ihrer fiktionalen
Beschaffenheit, subversive Strategien bereitstellt, die Literatur als das Andere des
Diskurses präsentieren.50 Dass sich der Text selbst schließlich als Anderes inszeniert, wird als bewusste ethische Strategie gelesen, um mit dem Leser Erfahrungen
auszutauschen und um ihn schließlich zu einer Anerkennung der absoluten Andersheit aufzufordern. Aus dieser Erfahrung, so eine These der Arbeit, hat der Leser die Möglichkeit, verändert hervorzugehen und sieht sich schließlich in der Lage, die Grenzen und Möglichkeiten seines Selbst zu hinterfragen. Auf diese Weise
wird dem gesellschaftlichen Diskurs eine neue Dimension des Sagens gegenüberstellt.
Dem angemessen werden für die philosophische Grundlegung des Gegenstandsbereichs Texte ausgewählt, die sich mit dem Bereich der Ethik im Zeichen
des Anderen auseinandersetzen. Diese Texte werden auf ihre Quintessenz für die
Auseinandersetzung mit Ethik und Ästhetik untersucht bzw. hinterfragt. Eine
ausführliche Begründung der Auswahl an philosophischen Texten findet sich in
50
Anders Karl Heinz Bohrer, der mit Nietzsche und Musil das Ethische in die Erfahrung des Ästhetischen direkt implementiert. Stil ist für Bohrer mit Nietzsche Ausdruck einer sittlichen Erhabenheit und aristokratischen Haltung. Mit Musil folgert er weiter, dass Literatur aufgrund ihrer
ästhetischen Beschaffenheit eine Offenbarung des anderen Zustands ermögliche. Karl Heinz
Bohrer: Das Ethische am Ästhetischen. In: Merkur 54/620, 2000. S. 1149-1162, hier S. 1153f.
Auch die Einleitung von Claudia Öhlschläger argumentiert dementsprechend, wenn sie Ethik als
poetische und poetologische Struktur einführt, die den literarischen Texten inhärent ist. Claudia
Öhlschläger. Vorbemerkung. In: Ethik und Narration. S. 11f. Dementsprechend richten auch
die Beiträge des Sammelbandes ihr Augenmerk vor allem auf Narrative der Dynamik und Unentschiedenheit, denen eine ethische Dimension unterstellt wird. Außerdem: Joseph Vogl: Über das
Zaudern. Zürich 2007.
22
EINLEITUNG
dem Kapitel Ethik: Ein Jahrtausendphänomen? Dennoch sei bereits an dieser
Stelle angemerkt, dass die ausgewählten Theorien eine gute Basis für einen literaturwissenschaftlichen Zugang zur gegenwärtigen Ethik-Debatte bilden und dies
aus zwei Gründen: Zum einen nehmen sie wechselseitig aufeinander Bezug und
zum anderen ist Ethik für alle hier vorgestellten Denkansätze genuin an die Sprache gebunden, die als Handlungsakt verstanden wird.
Eine Diskussion um Ethik und Moral – zumal wenn diese unter den Vorzeichen
einer Auseinandersetzung mit dem Anderen geführt wird – ist nicht ohne eine
Beschäftigung mit den Bedingungen des Subjektseins denkbar, da ethisches Handeln unweigerlich an das Vorhandensein eines Subjekts gebunden ist. Die Studie
versucht – in Abgrenzung zu modernen und postmodernen Subjektkonzeptionen
– eine Standortbestimmung des Subjekts in der Gegenwart, geleitet von der These, dass in der gegenwärtigen Philosophie und Literatur eine Wiederkehr des sich
im Diskurs selbst verantwortenden Subjekts behauptet wird. Eine Wiederkehr
und Neukonstitution, die letztlich aus den Erfahrungen, die das Subjekt mit dem
Anderen macht, resultiert. Wie bereits hinreichend diskutiert, findet in der Moderne und Postmoderne eine kritische Hinterfragung des Subjekts und seiner Autonomie statt. Ihm wird seine Handlungsfähigkeit abgesprochen; das Subjekt erweist sich als Effekt von Diskursen.51 Jene Dezentrierung des Subjekts hat
schließlich in der Literaturtheorie dazu geführt, Kategorien wie Autor und Leser
als rein textuelle Phänomene zu fassen bis hin zur These vom ‚Tod des Autors‘.52
Jenes totgesagte Subjekt wird – wie zu zeigen ist – in der Gegenwartsliteratur
reaktiviert. Zwar kann nach dem Gang durch die Postmoderne und den Poststrukturalismus nicht unhinterfragt auf einen naiven vormodernen Subjektbegriff
zurückgegriffen werden. Vielmehr fordert die Gegenwart das Subjekt auf, Haltung einzunehmen; Haltung gegenüber der Welt und gegenüber dem Text. Das
Subjekt ist nicht mehr länger nur ein diskursiv hergestelltes, sondern nimmt
selbst aktiv teil am Diskurs und erlangt so die Möglichkeit zur eigenen Setzung,
indem seine Stimme Gewicht erhält. Es übernimmt Verantwortung für den Diskurs.
Schließlich verfolgt die Studie noch ein weiteres – wissenschaftsgeschichtliches –
Anliegen: Postmoderne Theorien, so scheint es, stoßen an ihre Grenzen und bieten kein hinreichendes Analysekriterium mehr, gefordert wird eine Weiterent51
52
Vgl. hier vor allem die Überlegungen von Foucault, denen in diesem Zusammenhang ein ganzes
Kapitel gewidmet ist: Das Subjekt des Diskurses oder der Diskurs des Subjekts. Dazu: Michel
Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember
1970. München 1974 (Org.: L’ordre du discours. Leçon inaugurale au Collège de France prononcée le 2 décembre 1970. Paris 1970); Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M. 1972 (Org.: L’écriture et la différence. Paris 1967).
Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: ders.: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV.
Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2005. S. 57-63. (Org.: La mort de
l’auteur. Paris 1968).
EINLEITUNG
23
wicklung. Mitte der 1990er Jahre gäbe es in der Literatur und dementsprechend
auch in der Literaturtheorie eine Wende vom postmodernen Spiel hin zur Darstellung des „bitteren Ernsts“, so Ina Schabert in ihrer 2006 erschienenen englischen Literaturgeschichte.53 Tatsächlich ist in der philosophischen Debatte der
letzten 20 Jahre eine Abwendung von der spielerischen Bejahung des postmodernen ‚anything goes‘ zu beobachten. Wohl als Antwort auf die Orientierungs- und
Wertekrise des späten 20. Jhs. entwickeln sich neue Positionen, die in einem global village wieder nach ethischen Orientierungen suchen, ohne allerdings die alten, durch Postmoderne und Poststrukturalismus unmöglich gewordenen Haltungen wieder einzunehmen, denn der Konstruktcharakter von Wertestrukturen
ist nur allzu deutlich herausgearbeitet worden. Insofern ist die ‚NachPostmoderne‘ nicht gleichzusetzen mit der ‚Vor-Postmoderne‘, wie Ina Schabert
weiter diagnostiziert.54 Während viele Autorinnen und Autoren in der frühen
Postmoderne noch jegliche moralische oder ethische Aspekte aus Angst vor Festschreibungen vermieden, entdeckt die Gegenwart die anthropologische und kulturelle Notwendigkeit einer ethischen Selbstpositionierung im Sinne einer Sinnfindung und Orientierungsstiftung. Der sog. ‚Neue Humanismus‘ fühlt sich im
Gegensatz zum alten ‚Liberal humanism‘ zur theoretischen Reflexion verpflichtet.
Die eigene Position wird nur als Setzung gegenüber anderen Standpunkten verstanden. Da Werte nur mittels der Sprache formuliert werden können und da
Sprache – wie spätestens seit der Moderne festgestellt wurde – letztlich einem unendlichen Signifikationsprozess unterliegt, müssen ethische Konzepte ebenso wie
endgültige Bedeutungszuschreibungen beständig hinterfragt werden. Dennoch ist
eine Einsicht in die Notwendigkeit eines Weltmodells zu beobachten, das sich
Fragen nach Wahrheit und Wertestruktur stellt, um sich in dieser als kontingent
erfahrenen Lebenswelt wieder zurechtzufinden.
Zwei Prämissen sind hier von besonderer Bedeutung: Zum einen scheint nun
der ethische Aspekt des ‚linguistic turn‘ in den Mittelpunkt zu rücken. Begrifflichkeiten werden zwar hinterfragt, aber dann für einen Augenblick zum Stillstand gebracht. Zum anderen entsenden Autoren mit ihren Texten einen Erzähler, der dem Leser ein Sinnangebot unterbreitet. Jeder Text ist somit als ernsthafte Aufforderung zu verstehen, mit seinen Lesern in einen Dialog eintreten zu wollen. Wichtig bei diesem Gespräch scheint die Wechselwirksamkeit zu sein, anders
als noch die Bildungsphilosophie des Idealismus und Klassizismus es versprach.
Literatur übernimmt daher keine einseitig belehrende oder moralisierende Funktion mehr, sondern entwickelt gemeinsam mit dem Leser eine Ethik, die an das
handelnde Subjekt rückgebunden ist. Dementsprechend formuliert Politycki in
seiner Regel Nummer 6 für die gegenwärtige Literatur:
53
54
Ina Schabert: Englische Literaturgeschichte. Eine neue Darstellung aus Sicht der Geschlechterforschung. Stuttgart 2006, hier insbesondere S. 413.
Ina Schabert: Nicht-patriarchalische und post-nationale Visionen britischer Gemeinschaft. In:
dies.: Englische Literaturgeschichte. S. 409-441.
24
EINLEITUNG
Vermittlung einer Erfahrung statt einer bloßen Unterhaltung, und damit subtilere
Genüsse bietend als die Spannung einer guten Story: Ein Buch hat das Zeug, seinen
Leser zu verwandeln, ein Buch kann zum Glückserlebnis werden, das weit über seinen Unterhaltungswert hinausgeht.55
!
Nicht nur auf der Figurenebene werden also Erfahrungen ausgetauscht; jenes Gesprächsangebot in gegenwärtigen Texten kann als Appell an den Leser verstanden
werden, der nun aufgefordert wird, sich mit den Positionen des Erzählers auseinanderzusetzen. Durch die Erfahrung mit dem Text wird ein Aushandlungsprozess angestoßen, durch den der Leser angehalten wird, im Diskurs Position zu beziehen. Dieser Prozess führt schließlich zu einer Umdeutung oder Konversion der
Subjekte und ihrer Stimmen. Auf diesen Aspekt haben – wie auszuführen ist –
vor allem Judith Butler und Michel Foucault hingewiesen. Dementsprechend
kann dieser Austausch zwischen Erzähler und Leser nicht nur als Form der
Selbstpraxis im Sinne Foucaults und damit als Konstitution eines sich selbst beschreibenden Subjektes verstanden werden, sondern auch als genuin ethischer
Dialog.
Die Wiederkehr des Subjekts sowohl auf der anthropologischen als auch auf
der narratologischen Ebene und die damit zusammenhängende Neubestimmung
des Verhältnisses von Ethik und Ästhetik fordern offensichtlich eine Literaturwissenschaft, die das Subjekt ernst nimmt und sich mit dessen Stimme auseinandersetzt. Besonders im Jahr der Geisteswissenschaften (2007) ließ sich daher eine gehäufte Auseinandersetzung mit der Verantwortlichkeit der Wissenschaft gegenüber ihren Gegenständen feststellen.56 Auch innerhalb der Literaturwissenschaft
werden neue Möglichkeiten gesucht, die den veränderten literarischen Strategien
gerecht werden.
Strukturalistische und poststrukturalistische Modelle scheinen einem Autor,
der für seinen Text Verantwortung übernimmt und einem Erzähler, der Anspruch auf seine Stimme erhebt, nicht mehr ausreichend gerecht zu werden.
Dementsprechend gilt es, die Trias Autor, Text und Leser auf ihre Veränderungen im Bereich der Gegenwartsliteratur hin zu überprüfen. Gefordert ist eine Literaturwissenschaft, die einerseits das Sinnangebot des Textes ernst nimmt, andererseits aber auch den Mut hat, über dieses Angebot hinauszugehen. Eine Literaturwissenschaft, die in Auseinandersetzung mit dem Text einen Standpunkt entwickelt, der ihrer neuen Verantwortung Rechnung trägt.
55
56
Matthias Politycki: Der amerikanische Holzweg. In: ders.: Vom Verschwinden der Dinge in der
Zukunft. S. 147.
Vgl. u.a. Christine Lubkoll, Oda Wischmeyer (Hgg.): ‚Ethical Turn‘? – Geisteswissenschaften in
neuer Verantwortung. Reihe Ethik – Text – Kultur. Hg. v. Joachim Jacob, Christine Lubkoll,
Mathias Mayer, Claudia Öhlschläger. Paderborn 2009.
EINLEITUNG
25
Vorgehensweise:
Die vermittels der Einleitung vorgenommene Sensibilisierung für die Relevanz
der Fragestellung findet ihre Vertiefung und theoretische Grundlegung durch die
sich anschließende Besprechung einiger philosophischer Ansätze. Anliegen des
ersten Abschnitts Ethik vom Anderen her ist es nicht nur, ein theoretisches Fundament für die nachfolgende Analyse literarischer Texte zu schaffen. Vielmehr
geht es in jenen Kapiteln auch und vor allem um die Erkundung philosophischer
Schreibweisen, die sich nicht nur inhaltlich, sondern auch formal – also in ihren
eigenen narrativen Strategien – mit Möglichkeiten eines ethischen Schreibens
auseinandersetzen. Allen Ansätzen gemeinsam ist – und dies scheint ein wesentliches Kriterium für ein sog. ethisches Schreiben zu sein – die sprachliche Begegnung mit dem Anderen. Ethik ist also nicht nur wesentlich an den sprachlichen
Akt gebunden, sondern in erster Linie eine Auseinandersetzung mit der Andersheit des Anderen.
In dem Abschnitt Erzählen als Begegnung mit dem Anderen werden gegenwärtige literarische Texte auf ihre vielfältigen narrativen Strategien hin befragt,
die in Zusammenhang mit dem Bedürfnis nach einem ethischen Schreiben gebracht werden können. Einem ethischen Schreiben, welches vor allem – und hier
lässt sich eine Parallele zu den philosophischen Texten aufzeigen – im Kontext
einer sprachlichen Begegnung mit dem Anderen steht. Dementsprechend werden
vor allem jene Texte in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, die diese Begegnung literarisch thematisieren und in einem zweiten Schritt auch selbst inszenieren.
Anhand der vorgestellten Texte kann gezeigt werden, dass es in der gegenwärtigen Literatur eine Reihe von Authentifizierungsstrategien gibt, die diesem Anspruch auf Erfahrungsaustausch gerecht werden wollen. Es hat fast den Anschein,
als handle es sich hier um eine „schriftliche Fixierung des Authentischen“, um ein
Verlangen nach Intensität in der Literatur.57
Im Bewusstsein dessen, dass bereits die Auswahl der behandelten Texte eine
ethische Entscheidung mit sich bringt, kann und soll es keinesfalls darum gehen,
einen Beitrag zur Kanonisierung gegenwärtiger Literatur zu leisten. Im Gegenteil,
die hier vorgenommene Auswahl der Literatur möchte kein Resultat literarischer
Wertung sein, sondern versucht eine Dialektik herzustellen zwischen den von
Étiemble eingeführten Konzepten des „comparatisme planétaire“ und dem „plaisir d’amateur“.58 Eine ausführliche Kontextualisierung der Texte in die literatur57
58
Pedro Juan Guatièrrez: Schmutzige Havanna Trilogie. Hamburg 2002. S. 115.
René Étiemble: Faut-il réviser la notion de Weltliteratur? In: Actes du Ive Cengrès de
l’association Internationale de Littérature Comparée. Fribourg 1964. Hg. v. Francois Jost. 2. Bde.
Paris 1966. Bd. I. S. 5-16. Vgl. dazu den Artikel von Hendrik Birus: Am Schnittpunkt von Germanistik und Komparatistik. Die Idee der Weltliteratur heute. In: Germanistik und Komparatistik. Hg. v. Hendrik Birus. Stuttgart 1995. S. 339-457. Außerdem der immer noch einschlägige
Artikel von Simone Winko: Literarische Wertung und Kanonbildung. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold, Heinrich Detering. München 1996. S. 585-601.
26
EINLEITUNG
wissenschaftliche Diskussion und eine Begründung der Auswahl findet sich jeweils zu Beginn jedes Analysekapitels. In Korrespondenz mit dem in der vorliegenden Studie entwickelten Ethik-Verständnis werden vor allem solche Texte
einbezogen, die den ethischen Aushandlungsprozess narrativ in den Mittelpunkt
rücken. Untersucht wird also eine Literatur, die bereits mit dem Anliegen verfasst
wird, eine ethische Auseinandersetzung mit dem Anderen unter Berücksichtigung
seiner Andersartigkeit leisten zu wollen.
Dementsprechend widmet sich das erste Kapitel des Analyseteils Erzählen als Begegnung mit dem Anderen der Fremdheit als Erfahrung. Es werden Texte untersucht, die sich mit Fragen der kulturellen Andersheit auseinandersetzen bzw. den
Grenzen und Möglichkeiten der Anerkennung des absolut Fremden. In dessen
Folge wird das eigene Selbst im Angesicht des Anderen oftmals einer Konversion
ausgesetzt. Der eigene kulturelle Hintergrund wird einer Überprüfung unterzogen, Herkunft als Fremde erfahren. Erzählen erweist sich schließlich als Versuch,
Rechenschaft abzulegen, vor dem Anderen und vor sich selbst und avanciert in
dessen Folge zur (Er)findung des Selbst.
Im Gegensatz zum ersten Kapitel stellt das zweite Kapitel Der literarische Liebesdiskurs Texte in den Mittelpunkt, die die Begegnung mit dem Anderen nicht
im öffentlichen Raum stattfinden, sondern zu einer intimen Erfahrung werden
lässt. Die Bandbreite reicht hier von der Auseinandersetzung mit alternativen Geschlechteridentitäten bis hin zur leidenschaftlichen Liebe, die nicht nur die Andersheit des Geliebten im Blick hat, sondern sich auch davor bewahrt, jenen vom
Standpunkt des Selben aus festzuschreiben. Die Faszination der Liebesbegegnung
scheint geprägt von einer Begehrensstruktur, die sich wesentlich durch ein produktives Wechselverhältnis von Nähe und Distanz auszeichnet und in dem sowohl das Selbst als auch der Andere nach einem authentischen Ausdruck des eigenen Selbst suchen.
Schließlich wird Das Generationengespräch mit seinen vielfältigen Möglichkeiten des aktiven Erfahrungsaustausches diskutiert, in dem nicht nur gemeinsam
– im Austausch mit dem Anderen – Erinnerung praktiziert und Vergangenheit
aufgearbeitet, sondern im Anschluss daran auch Identität neu formiert wird. Insbesondere gilt dies für Texte, die sich mit der Shoa auseinandersetzen und nach
Möglichkeiten des Aussagens suchen.
Bereits an diesem kurzen Überblick deutet sich an, dass der Begriff des Anderen eine vielfältige Ausgestaltung erfährt und auf seine Möglichkeiten und Grenzen hin ausgelotet werden muss. Allen Texten gemeinsam scheint – so eine erste
These – die Ausbildung einer narrativen Ethik, die Schreiben wesentlich als Begegnung und Auseinandersetzung mit der Andersartigkeit des Anderen versteht
und die eine Neubestimmung des Verhältnisses von Ethik und Ästhetik notwendig macht. Aus der Zusammenschau literarischer und philosophischer Texte kann
also gezeigt werden, dass die gegenwärtige Literatur sich vor allem dem Projekt
eines ethischen Schreibens widmet und damit eine existenzielle Komponente in
die Literatur zurückholt.
EINLEITUNG
27
Die Untersuchung abschließend werden Möglichkeiten und Grenzen einer
verantwortungsvollen Literaturwissenschaft diskutiert, die im Zeichen der Ethik
eine Neubestimmung von Autor, Text und Leser notwendig macht.
1. ETHIK VOM ANDEREN HER
1.1 Ethik Allerorten:
Ein Phänomen der Jahrtausendwende?
1.1.1 Hinführung
In der Moderne, so Welsch in seinem Aufsatz über Ethik und Ästhetik, sei die
Ästhetik zu einem Fundamentalprinzip aufgerückt, da Wahrheit – zunächst als
Hauptkategorie der Wissenschaft – nunmehr allein ästhetisch bestimmt werde.
Die Folge sei eine Polarisierung von Ethik und Ästhetik. Diese Polarisierung setze
sich in der Postmoderne fort und finde in dem sog. ‚postmodernen Nihilismus‘
ihre Zuspitzung.1 Wie Waldenfels bemerkt, sei eine auffällige Scheu zu beobachten, sich mit Fragen von Ethik und Moral auseinanderzusetzen oder gar eine
Ethik- bzw. Moraltheorie zu entwickeln. Und dies selbst bei Denkern, die sich
ganz offenkundig mit Fragen der Ethik und Moral beschäftigt haben, wie z.B.
Derrida, Levinas oder Merlau-Ponty. 2 Dies mag daran liegen, dass jeder Versuch,
eine Ethik zu begründen, ihren ‚blinden Fleck‘ hat und notwendigerweise zum
Scheiten verurteilt ist. So weist Niklas Luhmann darauf hin, dass jede Unterscheidung von gut und böse an sich selbst nicht gut ist und so jede Moralbegründung in einen unendlichen Regress gerät. Ethisches könne sich nur zeigen, Moral
sei also nicht – entgegen Kant – mit der Vernunft zu erreichen.
Nun ist aber, insbesondere seit den 80er und 90er Jahren des vergangenen
Jahrhunderts, eine Renaissance der Debatte um Ethik und Ästhetik zu beobachten. Dies ist, so Luhmann weiter, „nicht sonderlich überraschend“, denn „mit geradezu astrologischer Regelmäßigkeit kommt es in den 80er Jahren eines jeden
Jahrhunderts zu einer solchen Ethikwelle – mindestens seit der Verbreitung des
Buchdrucks.“3
TP
1
2
3
Wolfgang Welsch: Ästhet/hik. Ethische Implikationen und Konsequenzen der Ästhetik. In:
Ethik der Ästhetik. Hg. v. Christoph Wulf, Dietmar Kamper und Hans Ulrich Gumbrecht. Berlin 1994. S. 3-22.
So Waldenfels in seiner Einführung zu dem Sammelband Der Anspruch des Anderen. Die
Gründe für diese Zurückhaltung sucht er vor allem darin, dass die Frage nach Ethik und Moral
lange Zeit im Schatten des welthistorischen Geschehens stand. Allerdings, so bemerkt er weiter,
sei diese Scheu keinesfalls mit einem Desinteresse gegenüber ethischen Fragestellungen gleichzusetzen. Bernhard Waldenfels: Einführung: Ethik vom Anderen her. In: Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik. Hg. v. Bernhard Waldenfels, Iris Därmann. München 1998. S. 7-17, hier S. 7.
Niklas Luhmann: Paradigm lost. Über die ethische Reflexion der Moral. Rede von Niklas Luhmann anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989. Frankfurt a. M. 1990. S. 7-47, hier
S. 10.
30
ETHIK ALLERORTEN: EIN PHÄNOMEN DER JAHRTAUSENDWENDE?
Ich überlasse es den Astrologen zu erklären, wieso dieser Komet Ethik regelmäßig
gegen Ende des Jahrhunderts und ziemlich genau im 9. Jahrzehnt erscheint. Meine
Frage ist, ob und wie wir ihn in der gesellschaftlichen Lage am Ende des 20. Jahrhunderts nutzen können. Und meine Antwort wird lauten: nicht durch Fortschreiben und Reformulieren der Texttraditionen, sondern nur durch die Kooperation
von soziologischer Gesellschaftstheorie und ethischer Reflexion.4
!
Die Präsenz der Ethikdebatte in Feuilleton und Wissenschaft sowie die Beobachtung Luhmanns berechtigen schließlich zu der Frage, wie diese aktuelle EthikRenaissance aussieht, was dran ist am sog. ‚Ethical Turn‘?5 Zwei Überlegungen
sind dabei von besonderer Bedeutung: Erstens ist nach dem Spezifischen dieser
Ethik-Renaissance zu fragen, wo also lassen sich Anknüpfungspunkte finden, wo
gehen die diskutierten Ethikkonzepte neue Wege? Folgt man den Überlegungen
Luhmanns, muss zweitens die Frage gestellt werden, ob nicht der ‚Ethical Turn‘
ein Charakteristikum der Jahrtausendschwelle ist und damit zugleich Ausdruck
unserer Gegenwart.6!
Eine Debatte um Ethik und Ästhetik kann allerdings nicht ohne eine erneute
Diskussion des Subjekts geführt werden, zumal – wie in den letzten Jahren zu
beobachten – sich auch hier eine Renaissance abzeichnet. Es ist zu klären, inwieweit auf bestehende Subjekttheorien zurückgegriffen wird, diese aber auch hinterfragt, revidiert und weitergeführt werden. Die Wiederkehr der Ethikdebatte ruft
also offensichtlich auch das von der Postmoderne und dem Poststrukturalismus
bereits in Frage gestellte Subjekt wieder auf den Plan.
Die Studie möchte keine bloße Begriffsbestimmung leisten. Stattdessen soll ein
Weg aufgezeigt und es sollen Tendenzen herausgearbeitet werden, die sich durch
die Konfrontation und Gegenüberstellung verschiedener Lektüren ergeben. Mit
Paul Ricœur erweist sich die ‚Zerstreuung‘ (dispersion) als adäquate Beschreibungskategorie für das Phänomen der Ethik, da diese wesentlich an die Anerkennung der Andersheit des Anderen gebunden ist.7
!
4
5
6
7
Niklas Luhmann: Paradigm lost. S. 17.
Der Begriff des ‚Ethical Turn‘ stammt ursprünglich aus der nordamerikanischen Hermeneutik,
wie sie z.B von J.H. Miller oder Martha Nussbaum vertreten wird. Für einen ersten Überblick
vgl.: Todd F. Davis, Kenneth Womack (Hgg.): Mapping the Ethical turn. A Reader in Ethics,
Culture and Literary Theory. London 2001; Peter Baker: Deconstruction and the Ethical Turn.
Gainesville 1995; Claire Nouvet (Hg.): Literature and the Ethical Question. In: Yale French
Studies (79), 1991; Christine Lubkoll, Oda Wischmeyer (Hgg.): ‚Ethical Turn‘? Geisteswissenschaften in neuer Verantwortung. Reihe Ethik – Text – Kultur. Hg. v. Joachim Jacob, Christine
Lubkoll, Matthias Mayer, Claudia Öhlschläger. Paderborn 2009.
Im Übrigen ist der ‚Ethical Turn‘ nicht die einzig ausgerufene Wende an der Schwelle zum neuen Jahrtausend. Bachmann-Medick beschäftigt sich mit den Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften insgesamt und beleuchtet eine Reihe von sog. ‚Turns‘. Doris Bachmann-Medick:
Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2006.
Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer. Übers. v. Jean Greisch. München 1996. S. 426. (Org.
Soi-même comme un autre. Paris 1990. S. 410; im Folgenden wird die Seitenangabe der frz.
Ausgabe nach dem Schrägstrich mitgenannt). Zur theoretischen Grundlegung des Begriffs der
‚Zerstreuung‘ vgl. das Kapitel Die ethische Ausrichtung auf den Anderen.
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