5 Naher und Mittlerer Osten

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Sitzung 5:
FOLIE: MALAYA
Beginnen wir mit dem Ende der Dekolonisierung Malayas. Sie fällt zeitlich
zusammen mit der Internationalisierung des Bürgerkriegs in Südvietnam, und
sie steht am Ende einer geradezu beispiellosen Erfolgsstory des britischen
Spätkolonialismus. 1957 wurden vier Federated Malay States, fünf Unfederated
Malay States, zwei Straits Settlements (Penang und Melaka) auf der
malaiischen Halbinsel (Westmalaysia) und zwei englische Kolonien auf Borneo
(Ostmalaysia), Sabah und Sarawak, als Federation of Malaya (später Federation
of Malaysia oder einfach nur Malaysia) in die Unabhängigkeit entlassen. Hier
passt das Wort. Singapore an der Südspitze der malaiischen Halbinsel blieb
zunächst britische Kolonie, 1963 trat es der Federation of Malaya bei. Damit
war Singapore politisch dekolonisiert. Zwei Jahre später, 1965, trennte sich
Singapore wieder von Malaysia (manche sagen nicht zu Unrecht, es sei
rausgeworfen worden) und wurde unter der autoritären Führung Lew Kuan
Yews zu einem prosperierenden Stadtstaat in den Tropen, dessen
Bruttosozialprodukt pro Kopf dasjenige Deutschlands weit übersteigt. Heute ist
die airconditioned city, wie vorsichtig agierende Kritiker des Regimes ihre Stadt
nennen, eine der globalisiertesten Metropolen der Welt und ein leichter –
manchen angenehmer und manchen langweiliger – Einstieg nach Asien.
FOLIE: MALAYSIA HEUTE
1957: Unabhängigkeit. Das Land blieb aber nicht nur im Commonwealth. Es bot
der britischen Wirtschaft weiterhin ein günstiges Umfeld für Investitionen,
zunächst wurde nichts nationalisiert (später kam es zu Enteignungen bei
Versorgungsunternehmen etc., die allerdings großzügig entschädigt wurden).
Kuala Lumpur ging ein Verteidigungsbündnis mit Großbritannien und
Australien ein, und bis 1960 war sogar ein britischer General director of
operations des malaiischen Militärs. Wie war so etwas möglich?
FOLIE: MERKMALE DER KOLONIALHERRSCHAFT
Die verschiedenen Sultanate auf der malaiischen Halbinsel waren bis 1948
durch unterschiedliche Verträge an die Kolonialmacht gebunden. Manche
Sultane agierten autonom, manchen waren britische ‚Residenten’ unmittelbar
beigeordnet. Dieser ‚Flickenteppich’ indirekter Herrschaft hatte gut funktioniert:
die Kolonialmacht kümmerte sich um Außenpolitik, Verteidigung, Steuern und
Zölle, und ein wenig auch um Bildung, die Sultane kümmerten sich um den
Rest. Politischer Heterogenität stand ein im wesentlichen wirtschaftlich
homogener Raum gegenüber. Malaya war relativ gesehen die reichste Kolonie
des British Empire. Im Süden erstreckten (und erstrecken) sich ausgedehnte
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Plantagen (Kautschuk, Palmöl), und im Norden waren bedeutende Zinnminen.
Nach 1945 war Malaya die wichtigste Quelle von Dollarguthaben für den
Sterling-Raum und damit ein entscheidender Faktor für die Londoner City.
Aufgrund des seit den 1870er Jahren sich entwickelnden wirtschaftlichen
Potentials wanderten einige Hunderttausend Chinesen und einige Zehntausend
Inder nach Malaya ein. Bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges hatte sich
fast eine ethnische Parität von Chinesen und Malaien hergestellt (von den fünf
Millionen Malaien waren 38% ethnische Chinesen, ohne Singapore). Die
ethnischen Gruppen arbeiteten in unterschiedlichen Sektoren der Wirtschaft:
Malaien waren in der Regel in der Landwirtschaft tätig, Chinesen waren
Plantagenarbeiter und Bergleute, zunehmend aber auch Unternehmer. In der
Vorkriegszeit hatte die britische Kolonialverwaltung versucht, die malaiischen
Sorgen vor ‚Überfremdung’ durch kulturelle und politische Privilegierung zu
neutralisieren. Allzu beliebt kann die britische Kolonialherrschaft nicht gewesen
sein, denn nur wenige fanden sich zum Widerstand gegen den japanischen
Angriff bereit.
FOLIE: ENTWICKLUNGEN IN MALAYA
Wie in Indonesien auch war das Besatzungsregime der Japaner unerbittlich und
auf brutale Ausbeutung ausgerichtet. Zehntausende von Malaien (ethnische
Malaien und Chinesen) wurden zur Zwangsarbeit in malaiischen und
thailändischen Minen gezwungen, rund 40.000 starben an Entkräftung und
Hunger. Hinzu kam der Rassenhass der Japaner: die Malaien betrachteten sie als
Halbwilde, und die Chinesen waren der Feind par excellence. Vor diesem
Hintergrund bildete sich eine von ethnischen Chinesen getragene
kommunistische Widerstandsbewegung, die mit Sabotage und Anschlägen auf
sich aufmerksam machte und mit den Alliierten kooperierte. Am Ende des
Krieges wurden die zurückkehrenden Briten mit einiger Erleichterung als
Befreier gefeiert.
In Großbritannien – wir hörten es schon – regierte nach Kriegsende eine
kolonialpolitisch reformorientierte Labour Party, der Machttransfer in Indien
und Burma war nur noch eine Frage der Zeit. Malaiische Eliten richteten ihre
Aufmerksamkeit auf diese Entwicklungen und warteten mit Spannung darauf,
welche Vorschläge für ein reformiertes Empire London machen würde. In der
Tat unterbreitete die Kolonialverwaltung in Kuala Lumpur den Sultanen einen
Vorschlag. Dieser lief auf das genaue Gegenteil dessen hinaus, was die
Franzosen in Indochina und die Niederländer in Indonesien probten: statt
Föderalisierung, Zersplitterung und Fortsetzung einer divide et impera-Politik
wollte Großbritannien die unterschiedlichen Territorien zu einem mehr oder
weniger zentralistischen Ganzen formen (Malayan Union) und dieses allmählich
in die Selbstregierung entlassen. Dagegen protestierten die mit Privilegien
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versehenen Sultane, und dagegen protestierten auch führende malaiische
Verwaltungsbeamte und Anwälte. Denn die Kolonialmacht sah ein
einheitliches Staatsbürgerschaftsrecht für alle – Chinesen und Malaien –
vor. Aus der Ablehnung der Union und des einheitlichen
Staatsbürgerschaftsrechts entstand sehr bald eine politische Gruppierung, die im
wesentlichen aus sozial konservativen Malaien bestand (die United Malays
National Organization, UMNO). Parallel dazu formierte sich eine
Interessenvertretung der Chinesen, die von führenden Unternehmern dominiert
wurde (Malayan Chinese Association, MCA). Beide Gruppierungen waren
sozial konservativ, politisch liberal, ihre Führungspersonen in der Regel in
England ausgebildet. Die britische Kolonialverwaltung – personifiziert durch
Gouverneur Edward Gent – reagierte auf den Protest der UMNO weitsichtig und
pragmatisch: sie kassierte das einheitliche Staatsbürgerschaftsrecht, erreichte,
dass Malaya zoll-, handels- und wirtschaftspolitisch eine Einheit wurde, beließ
aber ansonsten alles beim Alten (Kompromiss 1948).
Potentiell hätte der sich andeutende ethnische Konflikt zu vergleichbaren
Entwicklungen wie in Indien ausweiten können (dort war er religiös motiviert).
Dazu kam es aber nicht, weil beide Gruppierung und auch die britische
Kolonialverwaltung sich ab 1948 einem gemeinsamen Feind gegenüber sahen:
der Malayan Communist Party (MCP) und ihres militärischen Arms, der
Malayan National Liberation Army (MNLA, die Nachfolgeorganisation der
Widerstandsbewegung gegen die Japaner). MCP und MNLA erklärten wohl auf
Weisung von Moskau im Juni 1948 der Kolonialmacht den Krieg; ein frühes
spektakuläres Opfer war Gouverneur Gent.
FOLIE: DIE EMERGENCY
Die Mitglieder von MCP und MNLA waren fast ausschließlich ethnische
Chinesen, die von den kommunistischen Siegen in China berauscht waren und
von der Errichtung einer kommunistischen Herrschaft träumten. Bei armen
ethnischen Chinesen hatten sie einigen Rückhalt, insbesondere in schwer
zugänglichen ländlichen Regionen. Aber schon Anfang der fünfziger Jahre
konnten sie sich auf dem Land nur noch durch Terror, Erpressung von Geldern
und durch Zwangsrekrutierungen Einfluss und Macht verschaffen. Auf ziemlich
taube Ohren stießen sie bei der chinesischen Wirtschaftselite. Malaien und
Briten schweißte ihre Bedrohung zusammen.
FOLIE 38 BIS 40: GALERIE EMERGENCY
Die so genannte Emergency (Notstand) ging von 1948 bis 1960. In den ersten
beiden Jahren geriet die Kolonialmacht – malaiische, britische und australische
Truppen in die Defensive. Dann aber entwickelte sie einen Plan, der von
General Briggs und dann von dem dynamischen General Gerald Templer
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implementiert wurde. Der Plan beinhaltete folgende Überlegungen und
Elemente: Erstens wollte man die Befriedung ländlicher Regionen nicht der
Armee, sondern der etwas bürgernäheren Polizei überlassen. Zweitens
kontrollierte und schützte man die chinesische Wirtschaftselite, die erhebliche
Summen als ‚Schutzgelder’ an die MNLA überwiesen. Drittens siedelte man
Hunderttausende aus gewachsenen Dörfern in so genannte „new villages“ (neue
Dörfer) um. Diese waren besser ausgestattet, verfügten über Brunnen, stabile
Häuser, Schulen etc., waren allerdings von Stacheldraht umgeben und von
Wachposten kontrolliert, um die Guerilla am Eindringen zu hindern. Schließlich
beinhaltete der Plan die strikte Zuteilung von Lebensmitteln. Reis
beispielsweise durfte nicht auf dem freien Markt gekauft werden, sondern wurde
streng portioniert. Dadurch sollte verhindert werden, dass sich die Guerilla
versorgte.
Diese
drastischen
Maßnahmen
gingen
einher
mit
Amnestieangeboten (1955) und einer allgemeinen Verbesserung der
Lebensbedingungen. Insgesamt war der Plan erfolgreich. Nach 1955 war die
MNLA praktisch besiegt, versprengte Einheiten hielten sich im thailändischen
Grenzgebiet bis 1960, als die Emergency offiziell für beendet erklärt wurde.
Erfolgreich war der Plan auch aus einem anderen Grund: die Guerilla war
sichtbar. Innerhalb der Masse der malaiischen Landbevölkerung waren
Chinesen sofort erkennbar und identifizierbar. Das war ein entscheidender
Unterschied etwa zu Vietnam, wo sich die Guerilla gegen Diem, die
Nachfolgeregime und die Amerikaner „wie Fische im Wasser“ (so Mao Zedong)
bewegen konnte.
FOLIE: Verfassungspolitische Entwicklung
Parallel zur Bekämpfung der kommunistischen Aufstandsbewegung leitete die
Kolonialmacht in enger Verbindung mit UMNO und MCA die
Demokratisierung des Landes ein. 1955 wurden Wahlen zum föderalen
Parlament in Kuala Lumpur abgehalten; aus ihnen ging das Wahlbündnis der
beiden großen Gruppierungen als Sieger hervor. Ministerpräsident wurde Tunku
Abdul Rahman, ein in Oxford ausgebildeter sozialkonservativer Rechtsanwalt
und Spross einer Sultansfamilie. Die Übertragung der Macht im August 1957
war dann eher eine Formsache.
FOLIE 42: TUNKU ABDUL RAHMAN
Verantwortlich für diesen friedlichen und auch langfristig erfolgreichen
Dekolonisierungsprozess waren also mehrere, ineinander greifende Faktoren:
 Ethnische Vielfalt und Konkurrenz und das Bestreben, konsensorientierte
Lösungen zu finden
 Die traumatische japanische Besatzung, die die britische
Kolonialherrschaft in neuem, besseren Licht erscheinen ließ
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 die von der chinesischen und malaiischen Elite wahrgenommene
gemeinsame Bedrohung durch den Kommunismus
 die relativ flexible und pragmatische Vorgehensweise der Briten, die
ebenfalls konsensorientiert vorgingen
Zusammenfassung
Vietnam und Malaya bieten zwei vollkommen unterschiedliche Prozesse der
Dekolonisierung. Frankreich war nach dem Zweiten Weltkrieg aus
wirtschaftlichen und politischen Gründen (Prestige, Standing im internationalen
System) nicht bereit, die Unabhängigkeit Vietnams zu akzeptieren. Dort war der
Kommunismus die einzige politische Kraft, die über eine Massenbasis verfügte
und mit dem Prestige antrat, sowohl gegen die Japaner als auch gegen die
Franzosen gekämpft zu haben. Die nationale Revolution war auch eine soziale:
für Hunderttausende armer Tagelöhner bedeutete das Versprechen einer
kollektivierten Landwirtschaft eine Verbesserung ihrer Lage. Der Protest
entwickelte sich dann erst nach Mitte der fünfziger Jahre, als die Maßnahmen
der Kommunisten vielen Bauern in Nordvietnam zu weit gingen. Letztlich
vermochte es die Kolonialmacht nicht, die kooperierenden Elemente und
Schichten auf ihre Seite zu ziehen: sie versprach zu wenig zu spät, und sie
war letztlich nicht bereit, ihre Versprechungen dann auch zu honorieren.
In Malaya lagen die Dinge anders. Hier noch mal die Stichpunkte von oben:
 Ethnische Vielfalt und Konkurrenz und das Bestreben, konsensorientierte
Lösungen zu finden
 Die traumatische japanische Besatzung, die die britische
Kolonialherrschaft in neuem, besseren Licht erscheinen ließ
 die von der chinesischen und malaiischen Elite wahrgenommene
gemeinsame Bedrohung durch den Kommunismus
 die relativ flexible und pragmatische Vorgehensweise der Briten, die
ebenfalls konsensorientiert vorgingen
FOLIE: NAHER UND MITTLERER OSTEN
Formeller Kolonialismus und Informal Empire
Bislang hatten wir es in Dekolonisierungsprozessen – Indien, die Philippinen,
Indonesien, Indochina und Malaysia – mit formalen Kolonien und Protektoraten
zu tun. Dabei handelte es sich um Fälle im Kontext formaler Kolonialisierung:
Einheimische politische Ordnungen wurden beseitigt beziehungsweise kooptiert
und zumindest teilweise durch fremde Vertreter einer Kolonialmacht ersetzt.
Dabei gingen zentrale Regierungsaufgaben – Steuern, Recht, Polizei- und
Militärgewalt, auswärtige Beziehungen, aber auch Bildung und Gesundheit – in
die Hände von Kolonialregierungen über.
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FOLIE: FORMELLES UND INFORMELLES EMPIRE
Wenn wir den Nahen und Mittleren Osten betrachten, treten uns verschiedene
Formen kolonialer Kontrolle und Herrschaft entgegen, und die Grenzen
zwischen formeller und informeller Kontrolle verschwimmen. Jürgen
Osterhammel hat neben Begriffsbestimmungen zum Kolonialismus und zur
kolonialen Herrschaft auch Situationen quasi-kolonialer Kontrolle – das
Phänomen des so genannten Informal Empire – definiert. Er versteht unter
Informal Empire – quasi-kolonialen Abhängigkeitsverhältnissen – ein System,
in dem der unterlegene Staat sein eigenes politisches System und seine
innenpolitischen Funktionen behält. Ein solcher Staat ist dennoch nur
eingeschränkt souverän, weil er sich „ungleichen Verträgen“ unterwerfen
musste, die der Kolonialmacht Privilegien zusicherten, z.B. die Immunität seiner
Bürger, Freihandelsabkommen oder die Stationierung von Truppen auf dem
Staatsgebiet des unterlegenen Staates.
Diese idealtypischen Unterscheidungen differenzieren sich im Kontext
kolonialer Realität. Das gilt ganz besonders für den Nahen und Mittleren Osten.
Hier finden wir formale Kolonien neben informellen Einflusssphären, in denen
eine europäische Macht aber sehr viel mehr Einfluss ausübt, als es die Definition
von Osterhammel erlaubt. Und wir finden Mandatsgebiete des Völkerbundes,
die von europäischen Kolonialmächten verwaltet und wie Kolonien behandelt
werden.
FOLIE: FOKUS
Eine große Weltregion wie diese in relativ kurzer Zeit gewissermaßen
„abzuhandeln“, erscheint unangemessen und sinnlos. Ich werde mich im
Folgenden auf einige Entwicklungen und auf wenige Länder beschränken: auf
die britische Globalstrategie und die Rolle des Nahen und Mittleren Ostens für
das Empire; auf Ägypten als Kernelement britischer Kontrolle im Nahen und
Mittleren Osten; und auf Palästina, das als gewissermaßen doppeltes koloniales
Territorium bis heute das zentrale Problem der Nahostpolitik ist. Kurz streifen
werden wir Entwicklungen auf der arabischen Halbinsel, Staatsbildungsprozesse
in Jordanien und dem Irak, und auf die französischen Mandatsgebiete Libanon
und Syrien.
FOLIE: INDISCHER OZEAN
Britische Globalstrategie und das Ende des Empire
Beginnen möchte ich am zeitlichen Ende der Dekolonisierung 1965 besuchte der
britische Premierminister Harold Wilson Indien. Seinen überraschten
Gastgebern erklärte er: „Die Grenzen Großbritanniens liegen am Himalaja“.
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Wilson wollte damit zweierlei zum Ausdruck bringen. Erstens signalisierte er
Indien Beistand für den Fall erneuter chinesischer militärischer Operationen im
Himalaja. Zweitens beanspruchte er für das Vereinigte Königreich eine
dominante Position im Indischen Ozean. In der Tat lässt sich bis Ende der
sechziger Jahre von einem
anglo-amerikanischen strategischen
Kondominium im Indischen Ozean sprechen. Die Kolonie Aden am Ausgang
des Roten Meeres war eine riesige britische Basis, die kleinen Scheichtümer am
Persischen Golf florierten unter dem Schutz der britische Krone, die Basis in
Singapur (1965 von Malaysia abgespalten und dann unabhängig) bildete den
Kern britischer Strategie in Asien. Auf dem Höhepunkt der so genannten
Konfrontation zwischen Indonesien und Malaysia im Jahre 1965 waren
68.000 britische Soldaten auf Einladung Kuala Lumpurs in der ehemaligen
Kolonie stationiert, um Sukarnos Versuch zu verhindern, das „neokolonialistische“ Gebilde Malaysia (so Sukarnos Sicht der Dinge) zu
zerschlagen. Im Indischen Ozean bildete Diego Garcia gewissermaßen einen
natürlichen Flugzeugträger. Großbritanniens Rolle als kleine Weltmacht speiste
sich Mitte der sechziger Jahre aus seinen Positionen im Indischen Ozean, aus
seiner Fähigkeit, die Verbindungslinien zwischen Europa und Australien,
zwischen dem Persischen Golf und Japan zu sichern. Das Ende kam rasch und
abrupt: mehrere Währungskrisen zwangen die britische Labour-Regierung im
Januar 1968, den Rückzug von East of Suez bekannt zu geben. Die letzten
kolonialen Territorien im arabischen Raum – Aden, Jemen, die Emirate (heute:
Vereinigte Arabische Emirate) und der Oman wurden unabhängig, die Basis in
Singapur trotz des großen Protests der dortigen Regierung geschlossen. Nur in
Aden war die Unabhängigkeit Folge einer militanten, antikolonialistischen
Bewegung. Die Scheichs waren nicht glücklich, fanden dann aber in den
Vereinigten Staaten einen Partner, der noch viel mächtiger war als
Großbritannien.
Zwischen Europa und Indien, zwischen Großbritannien und Singapur, liegt die
arabische Welt. Für Großbritannien war es daher schon im 18. und 19.
Jahrhundert von eminenter strategischer Bedeutung, wie und von wem dieser
Raum beherrscht wurde. Im 20. Jahrhundert kam dann das Erdöl hinzu, der
Stoff, der die globale Wirtschaft am Laufen hält. Erdöl wurde Anfang des
Jahrhunderts im heutigen Irak entdeckt, Anfang der dreißiger Jahre in Saudi
Arabien, und Ende der fünfziger Jahre in den Scheichtümern am Golf (Bahrain,
Dubai, etc.). Wer den Nahen und Mittleren Osten im ausgehenden neunzehnten
Jahrhundert kontrollierte, beherrschte einen wichtigen Teil der Infrastruktur des
globalen Handels. Wer das Gebiet im 20. Jahrhundert kontrollierte, spielte ganz
vorne mit.
FOLIE: OSMANISCHES REICH
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Zoomen wir uns also von der Weltpolitik näher an die Region heran. Sie wird,
nur um Missverständnissen vorzubeugen, im Deutschen und im Englischen
anders definiert. Im Englischen (und Amerikanischen) meint man mit „Near
East“ Nordafrika, mit dem „Middle East“ den Nahen Osten, und mit „Southwest
Asia“ den Mittleren Osten.
Wir sprechen heute über eine große Region, die ethnographisch von Marokko
im Westen bis an die Grenzen des Irans reicht. Marokko, Algerien und Tunesien
werden wir in einer späteren Sitzung besprechen. Von Norden nach Süden reicht
die arabische Welt von der Südgrenze der Türkei bis in den Süden der
arabischen Halbinsel, nach Ägypten und in den Sudan hinein; einige
schwarzafrikanische Länder wie Mali gehören auch noch dazu.
Was die meisten Länder dieser Region – zumindest die am südlichen
Mittelmeerufer bis zur Grenze des Iran – gemeinsam haben, ist eine islamische
Tradition, eine gemeinsame Religion als spirituelles und weltliches Ordnungsund Erklärungssystem, und die Vergangenheit als mehr oder weniger autonome
Gebiete im osmanischen Reich. Während Algerien bereits nach 1830 kolonisiert
wurde, besetzten die Franzosen Marokko erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Die europäische Kolonialherrschaft im Nahen Osten war von noch kürzerer
Dauer: sie wurde nach dem Ersten Weltkrieg etabliert und fand zwischen 1945
und 1948 ein Ende. Die britische informelle Kontrolle etwa über Ägypten
reichte bis zum Beginn der fünfziger Jahre (1952), einige Länder auf der
arabischen Halbinsel – Jemen, die Emirate am Persischen Golf, Oman – wurden
erst Ende der sechziger Jahre von Großbritannien formell unabhängig. Sie hatten
bereits vorher eine weitgehende Autonomie genossen; ihre Unabhängigkeit ging
zumindest im Fall der Emirate auf die Entscheidung Großbritanniens zurück,
sich zurückzuziehen, und weniger auf einen antikolonialistischen Nationalismus.
Erfolgreich konnte sich hier die Kolonialmacht als Schutzmacht gegen
rebellische Klans im Innern und Machtansprüche seitens des großen Saudi
Arabien präsentieren.
Den hier näher zu betrachtenden Territorien waren zwei Dinge gemeinsam: die
dominierende Rolle des Islam in den Gesellschaften, und die Zugehörigkeit zum
Osmanischen Reich. Doch dieses hatte im 19. Jahrhundert die Rolle als
imperiale Ordnungsmacht, die es noch im 16. und 17. Jahrhundert besessen
hatte, weitgehend eingebüßt. Ägypten war bereits seit langem eine autonome
Provinz, die zwar den Sultan als Symbol der Einheit des Islam und als Träger
der Oberherrschaft anerkannte, sich ansonsten aber selbst verwaltete.
FOLIE: SUEZKANAL
1882 fielen britische Truppen in Ägypten ein, um die Kontrolle über den
strategisch und wirtschaftlich enorm wichtigen Suezkanal besser ausüben zu
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können. Dieser Kanal, zwischen 1854 und 1869 gebaut, verkürzte die
Reisedauer zwischen England und Indien von fünf Monaten auf 45 Tage. Bis
weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein war der Kanal für alle britischen
Regierungen von herausragender strategischer Bedeutung.
Weiter östlich schwand der Einfluss des osmanischen Reiches später. Am Ende
des 19. Jahrhunderts hatte die Hohe Pforte aber auch die Kontrolle über die
arabische Halbinsel weitgehend verloren, und in der Region südlich der Türkei
waren nicht mehr die Sultane, sondern lokale Machthaber die eigentlichen
Herrscher. Am Ende des 19. Jahrhunderts galt das osmanische Reich als der
„kranke Mann Europas“ (auch in Europa hatte das osmanische Reich seine
Oberherrschaft über den Balkan, Bulgarien und Griechenland im 19.
Jahrhundert eingebüßt).
FOLIE: ZUSAMMENBRUCH DES OSMANISCHEN REICHES
Der völlige Untergang des osmanischen Reiches erfolgte von innen und von
außen: 1912 griff eine vom Militär unterstützte Bewegung der „Jungtürken“
nach der Macht, um die Misswirtschaft des Sultans zu beenden. Ein Komitee für
Einheit und Fortschritt wollte das Land modernisieren. Es säkularisierte das
Bildungswesen und das Rechtssystem, unterdrückte christliche Minderheiten
und die muslimische Geistlichkeit, und versuchte, die nur noch locker
kontrollierten arabischen Provinzen zu türkisieren. Millionen von Armeniern in
den Kernprovinzen der Türkei wurden vertrieben, etwa 1.5 Millionen ermordet,
weil die Regierung in Konstantinopel während des Ersten Weltkrieges glaubte,
die Armenier würden gemeinsame Sache mit den Russen machen.
Die Jungtürken beschränkten die Funktionen des Sultans auf repräsentative
Aufgaben, um das osmanische Reich zu modernisieren. Nach dem Ersten
Weltkrieg brach das Reich dann ganz zusammen: 1914 war es auf Seiten der
Mittelmächte Österreich-Ungarn und Deutsches Reich in den Krieg eingetreten,
und nach dem Krieg präsentierten die alliierten Siegermächte dann die
Rechnung für diese falsche Entscheidung.
Dem Kernland des osmanischen Reiches, der Türkei, gelang es bis Anfang der
1920er Jahre, territorial unbeschadet aus den Wirren von Krieg und
unmittelbarer Nachkriegszeit herauszugehen. Russland, das schon lange
begehrlich auf die Dardanellen geschielt hatte, war 1917 aus dem Krieg
ausgeschieden und befand sich im Bürgerkrieg. Im Innern der Türkei gelang es
dem osmanischen General Mustafa Kemal (später: Kemal Attatürk [Vater der
Türken]), die armenische Republik im Süden des Kaukasus zu besiegen, die
Franzosen aus den Südostprovinzen der Türkei, Adana und Mersin, zu
vertreiben und die vielen in der Türkei lebenden Griechen zu vertreiben. 1921
machte er Ankara zur Hauptstadt, 1923 wurde die türkische Republik
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ausgerufen und im gleichen Jahr durch den Vertrag von Lausanne
völkerrechtlich anerkannt. Damit ging die Ära der Osmanen und all das, wofür
sie standen – das Kalifat, die turko-islamische Tradition, sozialer und kultureller
Konservatismus,
religiös
tolerante
Herrschaft
über
disparate
Glaubensgemeinschaften und Religionen – auf dramatische Weise zu Ende. Eine
neue Ära kemalistischen Republikanismus’ begann.
FOLIE: BRITISCHER EINFLUSS UND ARABISCHER AUFSTAND
Großbritanniens Einfluss in der Region war zu dieser Zeit bereits beträchtlich:
Aden als günstige Marinebasis war bereits 1839 erobert worden, andere
Stützpunkte lagen in den heutigen Vereinigten Arabischen Emiraten und im
Oman. Westlich davon beherrschten die Briten Ägypten, der Generalkonsul
seiner Majestät beriet den Khediven in allen wichtigen Fragen. Doch am Ende
des Ersten Weltkrieges machten Aufstände im Sudan und anti-britische
Ausschreitungen in Ägypten eine Aufrechterhaltung der britischen Kontrolle
immer schwieriger. London erklärte daraufhin im Januar 1921 Ägypten für
unabhängig, qualifizierte diese Unabhängigkeit aber erheblich: Großbritannien
kontrollierte nach wie vor den Suezkanal und beaufsichtigte die ausländischen
Wirtschaftsinteressen; es behielt die Kontrolle über die ägyptische Außen- und
Sicherheitspolitik; es regierte weiterhin den Khediven; und es behielt sich das
Recht vor, alle ausländischen Interessen und die der religiösen Minderheiten in
Ägypten zu vertreten. Ägyptens Unabhängigkeit war daher sehr eingeschränkt,
und der britische Generalkonsul war nach wie vor die einflussreichste Person im
Land. Im Grunde änderte sich sehr wenig – die Grenzen zwischen formeller und
informeller Kontrolle, in der Theorie definitorisch voneinander abgrenzbar –
erweisen sich als fließend, wenn man sich die konkreten historischen
Entwicklungen ansieht.
Der Arabische Aufstand ab 1914
Die ohnehin nur noch oberflächliche osmanische Kontrolle über die arabischen
Provinzen des Reiches ging während des Ersten Weltkrieges weiter verloren.
Aufstände erschütterten zunächst das westliche Arabien. Von Mekka aus betrieb
Scheich Hussein Ibn Ali aus dem Klan der Haschemiten eine Expansionspolitik,
die ihn mit benachbarten Klans in Konflikt brachte. Scheich Hussein suchte
daher nach Verbündeten, und die fand er 1914 in Gestalt der gegen die Türkei
kämpfenden Briten, genauer, in der Person des legendären T.E. Lawrence
(„Lawrence von Arabien“) und einiger britischer Militärs. Scheich Hussein hatte
in Arabien und darüber hinaus zunächst großen Erfolg: mit Hilfe britischer
Waffen und Expertise dehnte er seinen Einfluss auf der arabischen Halbinsel
aus, setzte seinen Sohn Feisal in Damaskus als Herrscher über Syrien ein und
installierte seinen anderen Sohn Abdullah im Amman als König über Jordanien
(früher Transjordanien, von: Land jenseits des Jordan). Hussein und Feisal
erlitten ähnliche Schicksale: beide wurden von ihrem Thron vertrieben. Hussein
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musste sich 1924 gegen die Truppen des Ibn Saud-Klans geschlagen geben, die
ihre Machtbasis um Riad herum hatten, und Feisal wurde 1920 von einer
französischen Armee besiegt. Arbeitslos wurde er deshalb nicht, denn die Briten
setzten ihn einfach auf einen Thron in Bagdad, wo er und seine Nachfolger bis
zur Revolution 1958 mit Hilfe britischer Berater, die vorsichtig im Hintergrund
tätig waren, den Irak regierten.
FOLIE: NAHER UND MITTLERER OSTEN 1920
Innerhalb weniger Jahre waren damit große Teile Arabiens von einer lockeren
Oberherrschaft Konstantinopels, die den Klans eine weitgehende Autonomie
hatte einräumen müssen, unter britischen Einfluss geraten. Auch dieser war
allerdings auf einheimische Machthaber, insbesondere auf die HashemitenDynastie, angewiesen.
FOLIE: FRANKREICH IM LIBANON UND SYRIEN
Aber was hatten die Franzosen dort eigentlich zu suchen? 1916 hatten Briten
und Franzosen ein geheimes Abkommen unterzeichnet, in dem sie die Zukunft
der syrischen, libanesischen, palästinensischen, transjordanischen und
arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches regelten. Konkret: das Gebiet
wurde in Einflussbereiche aufgeteilt. Großbritannien war zunächst gar nicht
daran interessiert, eine weitere europäische Kolonialmacht in unmittelbarer
Nähe seiner Einflussbereiche zu haben. Aber der Erste Weltkrieg erforderte
Kompromisse: an der Westfront starben Hunderttausende von Franzosen, die
Moral der Truppe wurde schlechter, die Regierung in Paris war verzweifelt. In
dieser Stunde der Not konnte – so die Einschätzung Londons – ein solches
Abkommen nur motivieren. Und das tat es dann wohl auch. Denn nach
Kriegsende schickte Frankreich seine müden Krieger in die Levante. Als
öffentliche Begründung musste die Tatsache herhalten, dass Franzosen ohnehin
schon in Syrien und im Libanon lebten und der französische kulturelle Einfluss
beträchtlich war. In der Tat: wohltätige Organisationen und vor allem
Missionare waren im 19. Jahrhundert ins Land gekommen, 1875 wurde von
französischen Jesuiten die St. Joseph Universität in Beirut gegründet. Vor dem
Ersten Weltkrieg gingen rund 50.000 syrische Schüler in eine französische
Schule, nur 23.000 besuchten andere Schulen. Aber friedlich vollzog sich die
französische Besetzung nicht. Tausende Nationalisten begehrten auf, Hunderte
wurden von den Franzosen getötet. Da die Nationalisten schlecht organisiert
waren und auch der König Feisal kein Syrer war und als fremder Herrscher
betrachtet wurde, brach der Widerstand zusammen. Syrien und der Libanon
waren nun französisch. Ihr völkerrechtlicher Status war allerdings der von
Mandatsgebieten des Völkerbunds; eine völkerrechtlich sanktionierte
Kolonisierung meinten sich die Kolonialmächte nach dem Ersten Weltkrieg und
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der Verkündung des Prinzips Selbstbestimmungsrechts der Völker durch den
amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson nicht mehr leisten zu können.
Ich will im Folgenden Syrien und den Libanon ausblenden. Hier nur kurz zur
Information: die französische Kolonialherrschaft war repressiv, Widerstand
wurde nicht geduldet und gnadenlos verfolgt. Die Provinzen des Libanon und
Syriens wurden neu aufgeteilt und orientierten sich im Fall des Libanon an
religiösen Kriterien. Ziel der Franzosen war es, den Libanon zu christianisieren,
die islamische Bevölkerungsmehrheit wurde diskriminiert. Der libanesische
Bürgerkrieg, der 1975 ausbrach (und dem jahrelange Auseinandersetzungen
zwischen
Palästinensern
und
libanesischen
Bevölkerungsgruppen
vorausgegangen waren) kann als eine späte Folge dieser kolonialen
Grenzziehungen verstanden werden. Im zweiten Weltkrieg lavierte die
Kolonialverwaltung zwischen Vichy-Frankreich und dem freien Frankreich hin
und her. Das kostete Sympathien bei den Alliierten, und 1945 war dann Schluss:
die Nationalisten begehrten auf, und Großbritannien drängte die Franzosen aus
dem Land heraus. Syrien und der Libanon wurden unabhängig im vollen Sinn
des Wortes.
FOLIE: STÄDTE IN DEN VIERZIGER JAHREN
FOLIE: GROSSBRITANNIEN UND ÄGYPTEN
Für Großbritannien blieb Ägypten das Territorium, das eine überragende
strategische Rolle im Empire spielte, auch während des Zweiten Weltkrieges.
Ägypten war, wie ein renommierter englischer Historiker kürzlich schrieb, die
Spinne im geo-strategischen Netz des Nahen und Mittleren Ostens und des
Indischen Ozeans. Im November 1942 – das britische Generalkonsulat in Kairo
füllte bereits die Schredder mit Geheimpapieren und packte Koffer – besiegte
eine britische Armee unter General Bernard Montgomery das deutsche AfrikaKorps. Wenig später mussten die deutschen und italienischen Truppen in
Nordafrika kapitulieren. Ägypten war nun nicht mehr von den Achsenmächten
bedroht. Nominell war Ägypten unabhängig, aber wer die eigentliche Macht im
Land besaß, wurde während des Krieges auf vielfältige Weise deutlich.
Allerdings war diese Macht nur noch durch militärische Repression aufrecht zu
erhalten.
FOLIE: KÖNIG FAROUK
König Farouk wurde von weiten Teilen der Bevölkerung als Marionette der
Briten betrachtet, ziviler Ungehorsam häufte sich, es kam zu anti-britischen
Ausschreitungen.
FOLIE: ARABISCHER NATIONALISMUS
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Ägyptischer Nationalismus
Der sich nach dem verlorenen Krieg der Araber gegen Israel 1948 (siehe unten)
entwickelnde arabische und ägyptische Nationalismus vereinte drei Elemente:
 Er war eng verknüpft mit „Moderne“, indem er archaische, feudale
Traditionen zu überwinden suchte;
 Er war militaristisch, indem er militärische Stärke und Disziplin als die
zentralen Werte vertrat, mit denen die Niederlage von 1948 überwunden
werden könne;
 Er betrachtete die Mobilisierung der Bevölkerung für nationalistische
Anliegen als das entscheidende Kriterium seiner Legitimation. Nur
Umfang und Größe der nationalistischen Bewegung würden, so die
Überzeugung, den israelischen Feind irgendwann besiegen.
FOLIE: GAMAL ABDEL NASSER
Wie kaum ein anderer arabischer Nationalist verkörperte Gamal Abdel Nasser
diese drei Elemente – bis er selbst 1967 von den Israelis geschlagen wurde.
Nasser wurde 1918 geboren. In den zwanziger und dreißiger Jahren wuchs er in
einem politischen Klima auf, das durch eine feudale Struktur mit König Farouk
an der Spitze, die englische informelle Kontrolle und durch nationalistische
Forderungen gekennzeichnet war. Die neu gegründete Moslembruderschaft
gewann zahlreiche Anhänger durch ihren religiös orientierten Nationalismus,
und auch innerhalb der ägyptischen Armee wuchs der Unmut auf die Briten und
deren ägyptisches Klientelregime. Nasser machte eine steile Karriere innerhalb
der Armee und wurde in den frühen vierziger Jahren Offiziersausbilder. 1952
erlangte er den Rang eines Oberstleutnants. Im Juli 1952 kam es schließlich zu
einem Staatsstreich führender Offiziere gegen König Farouk. Dieser musste
abdanken, und ein Revolutionärer Kommandorat übernahm in Kairo die Macht.
Es war kein Zufall, dass nationalistische Impulse, Rufe nach politischer und
sozialer Veränderung und Widerstand gegen den britischen Einfluss von der
Armee ausgingen. Denn das Spektrum ziviler Akteure war klein und vor allem
diffus und fragmentiert. Die Armee war die einzige Organisation, die über eine
straffe Organisation, über meritokratische Strukturen (d.h. Leistungsprinzip) und
auch über die technischen Voraussetzungen verfügte, gegen die etablierte Macht
vorzugehen.
Innerhalb des Revolutionären Kommandorates wurde Nasser rasch die
dominierende Figur. Er besaß Charisma, und er wurde rasch populär wegen
seiner populistischen Sozial- und Wirtschaftspolitik. Zu einem wahren
Volkshelden und unbestrittenen Führer der arabischen Welt wurde er 1956. In
diesem Jahr kündigte Nasser die Verträge des Suezkanals und verstaatlichte die
Betreibergesellschaft. Dies war ein Akt mit ökonomischen und politisch13
strategischen Folgen: erstmals in der Geschichte Ägyptens profitierte nun der
ägyptische Staat von den Einnahmen der Betreibergesellschaft, und erstmals in
der Geschichte des Kanals bestimmten nun Ägypter über die Bedingungen,
unter denen Schiffe zwischen dem Mittelmeer und dem Indischen Ozean
verkehrten. Das hatte natürlich politische Implikationen, denn nun konnte
Ägypten den Suezkanal auch einmal sperren, wenn das aus politischen Gründen
erwünscht war.
FOLIE: SUEZKRISE
Großbritannien und Frankreich – wir werden den Fall noch im Rahmen der
Sitzung über ‚Dekolonisierung und Internationale Beziehungen’ besprechen –
versuchten nun, Ende Oktober, Anfang November 1956, in einer Militäraktion
Nasser zur Rücknahme der Nationalisierung zu zwingen. Während französische
und britische Fallschirmjäger die Kanalzone besetzten, stießen von Osten
israelische Truppen auf ägyptisches Territorium vor. Dieser spätkoloniale
Angriff auf einen souveränen Staat stieß jedoch in Moskau und Washington
gleichermaßen auf Empörung: die Sowjets drohten mit der Atombombe, und
Präsident Dwight D. Eisenhower verlangte ultimativ den Rückzug. Auf dem
Höhepunkt des parallel zur Suezkrise stattfindenden Aufstands gegen die
sowjetische Besatzungsmacht in Ungarn platzte den Amerikanern, salopp
gesprochen, der Kragen: sie prangerten ständig den „roten Kolonialismus“ der
Sowjets an und setzten diesem die positive Vorstellung der „Freien Welt“
entgegen, und nun hatten wichtige Akteure dieser freien Welt im Grunde
genauso gehandelt wie die Sowjets. Eisenhower drohte London gar damit,
dringend benötigte Kredite zu stornieren. Diesem Druck mussten sich
Frankreich und Großbritannien beugen: der Rückzug von Suez zeigte an, dass
die Ära des Kolonialismus endgültig vorbei war und dass die Kolonialmächte
nicht mehr wie früher nach ihrem Gusto verfahren konnten. Sie waren
europäische Mittelmächte geworden, die nicht gegen fundamentale Interessen
der beiden Supermächte verstoßen konnten.
Nasser und der arabische Nationalismus nach Suez
Für Nasser bedeutete der schmähliche Rückzug der Kolonialmächte einen
enormen Prestigegewinn im eigenen Land und in der entstehenden Dritten Welt.
Er war bis zum verlorenen Sechstagekrieg gegen Israel 1967 der unbestrittene
Führer des arabischen Raumes und einer der maßgeblichen Wortführer der
Blockfreien Bewegung (über die wir auch noch mehr hören werden). In der
Folge orientierte er sich außenpolitisch und wirtschaftlich eher an der
Sowjetunion, ohne selbst überzeugter Sozialist zu sein, geschweige denn
Kommunist. Und das aus nahe liegenden Gründen, die nicht nur – und das war
natürlich wichtig – mit der zunehmenden amerikanischen Unterstützung Israels
zusammenhingen.
14
Nasser und viele andere arabische Nationalisten – die feudalen Regimes am
Persischen Golf und in Saudi Arabien sind hier nicht gemeint – entschieden sich
für eine staatlich gelenkte Wirtschafts- und Entwicklungspolitik, die sich an der
sozialistischen Planwirtschaft orientierte, aus drei Gründen:
 Es fehlte eine industrielle Basis und eine Unternehmerschaft. Der Staat
rückte geradezu zwangsläufig ins Zentrum wirtschaftlicher Entwicklung.
 Die meisten nationalistischen Führer, die in den fünfziger und sechziger
Jahren an die Macht gelangten, standen dem Kapitalismus skeptisch,
vielfach ablehnend gegenüber. Sie sahen im Kapitalismus die Bedingung
für Kolonialismus, und sie empfanden ihn als Vehikel ausländischer
Interessen.
 Die Importsubstitutionspolitik der Regimes verstärkte die Rolle des
Staates und führte zu einer fortschreitenden Involvierung und Ausweitung
staatlicher Verantwortung in der Wirtschaft.
FOLIE: ROLLE DES STAATES IN DER ÄGYPTISCHEN WIRTSCHAFT
Diese Gründe gelten im Übrigen – das sahen wir am Beispiel Indiens oder
Indonesiens – nicht nur für den arabischen Raum. Hier aber hielten sich dann
aufgrund der Stabilität der Regimes – und der Notwendigkeit der Regimes, über
eine staatlich gelenkte Wirtschaft Legitimierung zu erwerben – tief greifender
als anderswo. Nur ein Beispiel: Das von der ägyptischen Staatswirtschaft
erwirtschaftete Kapital betrug im Jahre 1953 126 Millionen ägyptische Pfund,
vom privaten Sektor wurden im gleichen Jahr 736,6 Millionen Pfund
erwirtschaftet. Zwanzig Jahre später, im Jahre 1973, betrug der Anteil der
staatlichen Wirtschaft am Bruttoinlandsprodukt 1409 Millionen – ein Anstieg
um 1000 Prozent; der Anteil der privaten Wirtschaft war nur um 250 Prozent auf
1807 Millionen ägyptische Pfund gestiegen.
FOLIE: SYKES-PICOT-ABKOMMEN 1916
Das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 teilte Interessengebiete zwischen
Großbritannien und Frankreich im Nahen Osten auf.
FOLIE: BALFOUR-DECLARATION 1917
Eine britische Erklärung, die ebenfalls während des Krieges gemacht wurde,
sollte das Schicksal Palästinas bestimmen: die Balfour Declaration vom 2.
November 1917. Die Balfour Declaration in Form eines Briefes an einen
führenden britischen Zionisten, Lord Rothschild, war weder das Produkt eines
kriegsbedingten Humanismus noch Resultat einer Improvisation. Sie war
kalkuliert, ihr gingen monatelange Vorbereitungen voraus, und im Vorfeld ihrer
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Veröffentlichung wurde der amerikanischen Präsident Woodrow Wilson um Rat
gebeten.
Text: „His Majesty´s Government view with favour the establishment in
Palestine of a National Home for the Jewish People, and will use their best
endeavours to facilite the achievement of this object, it being clearly understood
that nothing shall be done which may prejudice the civil and religious rights of
existing non-Jewish communities in Palestine, or the rights and political status
enjoyed by Jews in any other country.”
Motive:
 Versuch, positiven Einfluss auf jüdische Amerikaner zu nehmen und
dadurch Kriegsanstrengungen zu fördern
 Versuch, russische Juden dazu zu bringen, Druck auf ihre Regierung
auszuüben mit dem Ziel, Russland wieder in den Krieg zu bringen.
 Persönliche Bekanntschaften zwischen Balfour und Rothschild und
zwischen Chaim Weizmann und Premier David Lloyd George
 Imperiale Interessen
FOLIE: ZIONISMUS
Theodor Herzl: Der Judenstaat (1896). Der Zionismus entstand im ausgehenden
19. Jahrhundert in Europa. Er reflektiert zum einen den Nationalismus im
ausgehenden 19. Jahrhundert, in dem Gemeinschaften, die sich auf gemeinsame
Traditionen oder eine gemeinsame Sprache und Kultur stützten, einen
Nationalstaat forderten. Zum anderen war er eine Reaktion auf die vielfältigen
Diskriminierungen von Juden in Europa. Der Zionismus trat für einen eigenen
Staat der Juden in Palästina ein. Bis 1939 kamen in mehreren
Einwanderungswellen jüdische Siedler aus Europa und dem Russischen Reich
bzw. der Sowjetunion. Am Vorabend des 2. Weltkrieges war die jüdische
Bevölkerung auf 445.000 – entsprechend 30% der Bevölkerung Palästinas –
angestiegen. Die indigene Bevölkerung betrug 1947 ca. 1,3 Millionen.
Jüdische Einwanderer, also Europäer, waren von den gleichen Vorstellungen
über
außereuropäische
Kulturen
durchdrungen
wie
Nichtjuden.
Selbstverständlich nahmen auch sie an, dass sie einer überlegenen Kultur und
Religionsgemeinschaft angehörten und das Recht und die Pflicht hatten, ganz
besonders in Palästina ein Land zu entwickeln. Der Slogan hieß: Ein Land ohne
Volk für ein Volk ohne Land. Weithin übersehen wurden die Palästinenser.
FOLIE: PALÄSTINESISCHER AUFSTAND
Von palästinensischer Seite gab es Versuche, auf die Kolonialmacht
einzuwirken, und zwar mit einer doppelten Zielsetzung: die Verhinderung
16
jüdischer Einwanderung, und die Überwindung des Kolonialregimes. Vor 1936
hatte es weitgehend friedliche Bemühungen in diese Richtung gegeben. Eine
nationalistische Bewegung oder auch eine allgemein akzeptierte Führung gab es
aber nicht. Im April 1936 kam es dann aber zu einem Generalstreik, der eine
Reaktion auf den Mord zweier Palästinenser durch Haganah-Kräfte ausgelöst
wurde. Der Streik dauerte sechs Monate und führte zum vollständigen
wirtschaftlichen Stillstand. Insgesamt war er kontraproduktiv: er erfolgte auf
dem Höhepunkt der zionistischen Einwanderung, und er vertiefte die
wirtschaftlichen Gräben zwischen den Volksgruppen. Einwanderer waren mehr
als glücklich, die durch den Streik freiwerdenden Arbeitsplätze zu besetzen,
jüdische Unternehmer rückten in Märkte vor, die vorher von Arabern besetzt
waren. Die Anzahl arabischer Aktivisten stieg von zwischen ein- und
dreitausend in 1936 auf sechs- bis fünfzehntausend in 1938. 1937 kam es zu 438
gewaltsamen Übergriffen, davon 109 auf britische Polizei und Militär, 143
gegen jüdische Einrichtungen, und 109 gegen Araber. 1937 deportierten jedoch
die Briten fast alle führenden Köpfe des Aufstands, der in der Folge nur durch
den massiven Einsatz der Armee niedergeschlagen werden konnte.
Als Reaktion auf den Aufstand sagte die britische Regierung zu, die Zahl der
Einwanderer zu begrenzen. Die Palästinenser gingen insgesamt geschwächt aus
der Auseinandersetzung. Sie forderte ca. 5000 Tote und führte zur Zerschlagung
der palästinensischen Führung. Zionisten waren überzeugter denn je vom
Aufbau eines eigenen Staates, der nur über die Unterdrückung und Vertreibung
der Palästinenser erfolgen konnte.
FOLIE: BEDINGUNGEN NACH 1945
Großbritannien fand in den späten vierziger Jahren keine Lösung mehr, das
letztlich durch die Balfour Declaration mit verursachte Problem zu lösen, einen
Ausgleich zwischen Einheimischen und Immigranten zu schaffen. Bereits
vorher war es zwischen 1936 und 1939 mit einer arabischen Revolte
konfrontiert gewesen, die im Ergebnis vor allem zu verstärkten terroristischen
Aktivitäten von Zionisten gegen britische und arabische Ziele geführt hatte. Die
Terrorkampagne jüdischer Organisationen nahm nach dem 2. Weltkrieg zu, auch
der Ruf nach einem unabhängigen Staat Israel. Dieser war unter den besonderen
Bedingungen der Nachkriegszeit und der Erfahrungen des Holocausts, in dem
das nationalsozialistische Deutschland mehr als sechs Millionen jüdische
Frauen, Kinder und Männer ermordet hatte, kaum noch zu unterdrücken. In
Europa (und auch in Großbritannien) war die Öffentlichkeit, soweit sie sich
überhaupt für Palästina interessiert, für die Etablierung eines jüdischen Staates.
FOLIE: PALÄSTINA ISRAEL
Der UN-Teilungsplan und die Gründung Israels
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Ab 1947 zogen sich dann die Briten sukzessive aus Städten und Gemeinden
zurück, weil sie faktisch keine Ordnung mehr gewährleisten oder die Sicherheit
herstellen konnten. Die Folge war, dass Palästinenser und Juden ein Rennen
machten um die zurückgelassenen Strukturen, Einrichtungen und Räume. Unter
dem Eindruck der Entwicklungen verabschiedeten die UN die Resolution 181,
die einen Teilungsplan vorsah: dieser war für die Juden sehr günstig und
reflektierte humanitäre Interessen, relative Unkenntnis der Lage vor Ort, aber
auch immer noch einen gewissen Antisemitismus (etwa auf Seiten der
Sowjetunion. Ein eigener jüdischer Staat bedeutete eben auch, dass man eine
diskriminierte und ungeliebte Minderheit loswerden konnte). Obwohl die Juden
zum Zeitpunkt der Verabschiedung etwa 33% der Bewohner stellten und nur
über ca. 6-7% des Landes verfügten, bekamen sie 55% des zumeist fruchtbaren
Landes zugesprochen, die Palästinenser mussten sich mit dem weniger
ertragreichen Land begnügen.
Die Machtverhältnisse 1947/48 waren klar: die Briten waren auf dem Rückzug,
palästinensische Truppen beliefen sich auf vielleicht 7000 in 1948, gegenüber
ca. 60.000 Bewaffneten auf jüdischer Seite. Im April 1948 kam es dann zu einer
jüdischen Offensive. Haifa, Jaffa, West-Jerusalem und das östliche Galiläa
fielen binnen weniger als einer Woche im April. Die Folge war ein
Massenexodus von Palästinensern. Israelische Quellen sprechen von 520.000,
arabische von zwischen 750.000 und einer Million. Auslöser des Massenexodus
war nicht, wie früher behauptet, ein angeblicher Aufruf arabischer
Rundfunksender, das Land zu verlassen. Vielmehr spielte Terror und eine
systematische Politik der Vertreibung die zentrale Rolle. Am 15. Mai 1948
setzten dann fünf arabische Armeen zum Gegenstoß an: Ägypten, Libanon,
Syrien, Jordanien und die Befreiungsarmee der Palästinenser. Nach anfänglichen
Erfolgen mussten die arabischen Armeen dann aber in die Defensive gehen, und
die Israelis eroberten mehr Territorium, als ihnen nach dem UN-Teilungsplan
zustand. Im Waffenstillstandsvertrag vom Februar 1949 hielt Jordanien nur noch
die arabischen Teile von Jerusalem und die West Bank, den westlichen Teil am
Fluss Jordan. Ägypten hielt den Gaza-Streifen. Das war alles, was von Palästina
übrig blieb.
FOLIE: ZUSAMMENFASSUNG
Nach dem ersten Weltkrieg teilten Großbritannien und Frankreich Teile des
Nahen Ostens in Einflusssphären auf. Großbritannien übte darüber hinaus
informelle Kontrolle über weite Teile des Nahen und Mittleren Ostens aus. Dies
rührte zum einen aus der kolonialen Tradition (Aden etc.) her, zum anderen war
Großbritannien aus strategischen Interessen (Suezkanal, Erdöl) daran
interessiert.
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Großbritanniens Rückzug von „East of Suez“ markierte das Ende der
Weltmachtrolle Großbritanniens. Er kam Ende der sechziger Jahre unter dem
Eindruck der Finanzkrisen plötzlich und für viele überraschend. In der
historischen Perspektive stellt sich dieser Rückzug weniger rasch dar und
entpuppt sich als Prozess: als jahrzehntelanges Festhalten an der Kontrolle über
Ägypten und den Suezkanal, als letztlich gescheiterter Versuch, in Palästina
einen Ausgleich zwischen jüdischen Immigranten und arabischer Bevölkerung
zu schaffen; als letztlich ebenfalls erfolgloses Bemühen, den indirekten Einfluss
im Iran festzuschreiben. In diesem langen historischen Prozess versuchte
Großbritannien verschiedentlich, das Rad der Geschichte aufzuhalten: 1953 im
Iran, als es im Verbund mit der CIA dem Schah Reza Pahlevi zur absoluten
Macht verhalf, und 1956, als es im Verbund mit Frankreich und Israel versuchte,
mit Hilfe einer klassisch-imperialistischen Kanonenboot-Politik die
Verstaatlichung des Suezkanals zu verhindern. In beiden Fällen, und im
Ergebnis des historischen Prozesses, rückten die Vereinigten Staaten in die
Rolle Großbritanniens.
Die sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Nahen und Mittleren Ostens
sind nicht nur auf die Kolonialzeit zurückzuführen. Aber die Kolonialherrschaft
trug das Ihre dazu bei: die von ihr gestützten Regimes waren Feudalregimes, die
Partizipation von Bürgern ablehnten und unterdrückten; die von Großbritannien
tolerierte und in der Frühphase auch begünstigte jüdische Migration führte zur
Etablierung einer europäischen Siedlungskolonie in Palästina. Allerdings war es
nach dem Holocaust europäischen Regierungen, aber auch den in den Vereinten
Nationen agierenden Regierungen kaum möglich, die Gründung eines Staates
Israel zu verhindern.
Aber bereits im Osmanischen Reich entwickelten sich Traditionen, die bis heute
fortwirken: das Primat bewaffneter Kräfte über zivile Akteure, die Förderung
des Klanwesens und die Persistenz feudaler Strukturen. Die Dominanz des
Militärs in arabischen Gesellschaften wurde durch die Auseinandersetzungen
mit Israel gestärkt und ist bis heute ein Charakteristikum arabischer
Gesellschaften. Schwache wirtschaftliche Entwicklung ließ Regimes immer
wieder nach anderen Gründen für ihre Legitimation suchen: die Mobilisierung
der arabischen Bevölkerungen gegen Israel und Kriege gegen Israel lenkten
auch immer wieder von den eigenen Defiziten ab. Zweifellos spielt die von den
arabischen religiösen Eliten vertretene Auslegung des Koran eine wichtige Rolle
bei der schleppenden wirtschaftlichen Entwicklung, die durch anhaltenden
demographischen Druck verschärft wird. Arabische Wissenschaftlicher
argumentieren heute (so in einem Bericht der Vereinten Nationen zu Human
Development Report), die zwei entscheidenden Faktoren für mangelndes
wirtschaftliches Wachstum sind unzureichende säkulare Bildungssysteme und
die massive Diskriminierung von Frauen in den arabischen Gesellschaften.
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