Sitzung 5: FOLIE: MALAYA Beginnen wir mit dem Ende der Dekolonisierung Malayas. Sie fällt zeitlich zusammen mit der Internationalisierung des Bürgerkriegs in Südvietnam, und sie steht am Ende einer geradezu beispiellosen Erfolgsstory des britischen Spätkolonialismus. 1957 wurden vier Federated Malay States, fünf Unfederated Malay States, zwei Straits Settlements (Penang und Melaka) auf der malaiischen Halbinsel (Westmalaysia) und zwei englische Kolonien auf Borneo (Ostmalaysia), Sabah und Sarawak, als Federation of Malaya (später Federation of Malaysia oder einfach nur Malaysia) in die Unabhängigkeit entlassen. Hier passt das Wort. Singapore an der Südspitze der malaiischen Halbinsel blieb zunächst britische Kolonie, 1963 trat es der Federation of Malaya bei. Damit war Singapore politisch dekolonisiert. Zwei Jahre später, 1965, trennte sich Singapore wieder von Malaysia (manche sagen nicht zu Unrecht, es sei rausgeworfen worden) und wurde unter der autoritären Führung Lew Kuan Yews zu einem prosperierenden Stadtstaat in den Tropen, dessen Bruttosozialprodukt pro Kopf dasjenige Deutschlands weit übersteigt. Heute ist die airconditioned city, wie vorsichtig agierende Kritiker des Regimes ihre Stadt nennen, eine der globalisiertesten Metropolen der Welt und ein leichter – manchen angenehmer und manchen langweiliger – Einstieg nach Asien. FOLIE: MALAYSIA HEUTE 1957: Unabhängigkeit. Das Land blieb aber nicht nur im Commonwealth. Es bot der britischen Wirtschaft weiterhin ein günstiges Umfeld für Investitionen, zunächst wurde nichts nationalisiert (später kam es zu Enteignungen bei Versorgungsunternehmen etc., die allerdings großzügig entschädigt wurden). Kuala Lumpur ging ein Verteidigungsbündnis mit Großbritannien und Australien ein, und bis 1960 war sogar ein britischer General director of operations des malaiischen Militärs. Wie war so etwas möglich? FOLIE: MERKMALE DER KOLONIALHERRSCHAFT Die verschiedenen Sultanate auf der malaiischen Halbinsel waren bis 1948 durch unterschiedliche Verträge an die Kolonialmacht gebunden. Manche Sultane agierten autonom, manchen waren britische ‚Residenten’ unmittelbar beigeordnet. Dieser ‚Flickenteppich’ indirekter Herrschaft hatte gut funktioniert: die Kolonialmacht kümmerte sich um Außenpolitik, Verteidigung, Steuern und Zölle, und ein wenig auch um Bildung, die Sultane kümmerten sich um den Rest. Politischer Heterogenität stand ein im wesentlichen wirtschaftlich homogener Raum gegenüber. Malaya war relativ gesehen die reichste Kolonie des British Empire. Im Süden erstreckten (und erstrecken) sich ausgedehnte 1 Plantagen (Kautschuk, Palmöl), und im Norden waren bedeutende Zinnminen. Nach 1945 war Malaya die wichtigste Quelle von Dollarguthaben für den Sterling-Raum und damit ein entscheidender Faktor für die Londoner City. Aufgrund des seit den 1870er Jahren sich entwickelnden wirtschaftlichen Potentials wanderten einige Hunderttausend Chinesen und einige Zehntausend Inder nach Malaya ein. Bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges hatte sich fast eine ethnische Parität von Chinesen und Malaien hergestellt (von den fünf Millionen Malaien waren 38% ethnische Chinesen, ohne Singapore). Die ethnischen Gruppen arbeiteten in unterschiedlichen Sektoren der Wirtschaft: Malaien waren in der Regel in der Landwirtschaft tätig, Chinesen waren Plantagenarbeiter und Bergleute, zunehmend aber auch Unternehmer. In der Vorkriegszeit hatte die britische Kolonialverwaltung versucht, die malaiischen Sorgen vor ‚Überfremdung’ durch kulturelle und politische Privilegierung zu neutralisieren. Allzu beliebt kann die britische Kolonialherrschaft nicht gewesen sein, denn nur wenige fanden sich zum Widerstand gegen den japanischen Angriff bereit. FOLIE: ENTWICKLUNGEN IN MALAYA Wie in Indonesien auch war das Besatzungsregime der Japaner unerbittlich und auf brutale Ausbeutung ausgerichtet. Zehntausende von Malaien (ethnische Malaien und Chinesen) wurden zur Zwangsarbeit in malaiischen und thailändischen Minen gezwungen, rund 40.000 starben an Entkräftung und Hunger. Hinzu kam der Rassenhass der Japaner: die Malaien betrachteten sie als Halbwilde, und die Chinesen waren der Feind par excellence. Vor diesem Hintergrund bildete sich eine von ethnischen Chinesen getragene kommunistische Widerstandsbewegung, die mit Sabotage und Anschlägen auf sich aufmerksam machte und mit den Alliierten kooperierte. Am Ende des Krieges wurden die zurückkehrenden Briten mit einiger Erleichterung als Befreier gefeiert. In Großbritannien – wir hörten es schon – regierte nach Kriegsende eine kolonialpolitisch reformorientierte Labour Party, der Machttransfer in Indien und Burma war nur noch eine Frage der Zeit. Malaiische Eliten richteten ihre Aufmerksamkeit auf diese Entwicklungen und warteten mit Spannung darauf, welche Vorschläge für ein reformiertes Empire London machen würde. In der Tat unterbreitete die Kolonialverwaltung in Kuala Lumpur den Sultanen einen Vorschlag. Dieser lief auf das genaue Gegenteil dessen hinaus, was die Franzosen in Indochina und die Niederländer in Indonesien probten: statt Föderalisierung, Zersplitterung und Fortsetzung einer divide et impera-Politik wollte Großbritannien die unterschiedlichen Territorien zu einem mehr oder weniger zentralistischen Ganzen formen (Malayan Union) und dieses allmählich in die Selbstregierung entlassen. Dagegen protestierten die mit Privilegien 2 versehenen Sultane, und dagegen protestierten auch führende malaiische Verwaltungsbeamte und Anwälte. Denn die Kolonialmacht sah ein einheitliches Staatsbürgerschaftsrecht für alle – Chinesen und Malaien – vor. Aus der Ablehnung der Union und des einheitlichen Staatsbürgerschaftsrechts entstand sehr bald eine politische Gruppierung, die im wesentlichen aus sozial konservativen Malaien bestand (die United Malays National Organization, UMNO). Parallel dazu formierte sich eine Interessenvertretung der Chinesen, die von führenden Unternehmern dominiert wurde (Malayan Chinese Association, MCA). Beide Gruppierungen waren sozial konservativ, politisch liberal, ihre Führungspersonen in der Regel in England ausgebildet. Die britische Kolonialverwaltung – personifiziert durch Gouverneur Edward Gent – reagierte auf den Protest der UMNO weitsichtig und pragmatisch: sie kassierte das einheitliche Staatsbürgerschaftsrecht, erreichte, dass Malaya zoll-, handels- und wirtschaftspolitisch eine Einheit wurde, beließ aber ansonsten alles beim Alten (Kompromiss 1948). Potentiell hätte der sich andeutende ethnische Konflikt zu vergleichbaren Entwicklungen wie in Indien ausweiten können (dort war er religiös motiviert). Dazu kam es aber nicht, weil beide Gruppierung und auch die britische Kolonialverwaltung sich ab 1948 einem gemeinsamen Feind gegenüber sahen: der Malayan Communist Party (MCP) und ihres militärischen Arms, der Malayan National Liberation Army (MNLA, die Nachfolgeorganisation der Widerstandsbewegung gegen die Japaner). MCP und MNLA erklärten wohl auf Weisung von Moskau im Juni 1948 der Kolonialmacht den Krieg; ein frühes spektakuläres Opfer war Gouverneur Gent. FOLIE: DIE EMERGENCY Die Mitglieder von MCP und MNLA waren fast ausschließlich ethnische Chinesen, die von den kommunistischen Siegen in China berauscht waren und von der Errichtung einer kommunistischen Herrschaft träumten. Bei armen ethnischen Chinesen hatten sie einigen Rückhalt, insbesondere in schwer zugänglichen ländlichen Regionen. Aber schon Anfang der fünfziger Jahre konnten sie sich auf dem Land nur noch durch Terror, Erpressung von Geldern und durch Zwangsrekrutierungen Einfluss und Macht verschaffen. Auf ziemlich taube Ohren stießen sie bei der chinesischen Wirtschaftselite. Malaien und Briten schweißte ihre Bedrohung zusammen. FOLIE 38 BIS 40: GALERIE EMERGENCY Die so genannte Emergency (Notstand) ging von 1948 bis 1960. In den ersten beiden Jahren geriet die Kolonialmacht – malaiische, britische und australische Truppen in die Defensive. Dann aber entwickelte sie einen Plan, der von General Briggs und dann von dem dynamischen General Gerald Templer 3 implementiert wurde. Der Plan beinhaltete folgende Überlegungen und Elemente: Erstens wollte man die Befriedung ländlicher Regionen nicht der Armee, sondern der etwas bürgernäheren Polizei überlassen. Zweitens kontrollierte und schützte man die chinesische Wirtschaftselite, die erhebliche Summen als ‚Schutzgelder’ an die MNLA überwiesen. Drittens siedelte man Hunderttausende aus gewachsenen Dörfern in so genannte „new villages“ (neue Dörfer) um. Diese waren besser ausgestattet, verfügten über Brunnen, stabile Häuser, Schulen etc., waren allerdings von Stacheldraht umgeben und von Wachposten kontrolliert, um die Guerilla am Eindringen zu hindern. Schließlich beinhaltete der Plan die strikte Zuteilung von Lebensmitteln. Reis beispielsweise durfte nicht auf dem freien Markt gekauft werden, sondern wurde streng portioniert. Dadurch sollte verhindert werden, dass sich die Guerilla versorgte. Diese drastischen Maßnahmen gingen einher mit Amnestieangeboten (1955) und einer allgemeinen Verbesserung der Lebensbedingungen. Insgesamt war der Plan erfolgreich. Nach 1955 war die MNLA praktisch besiegt, versprengte Einheiten hielten sich im thailändischen Grenzgebiet bis 1960, als die Emergency offiziell für beendet erklärt wurde. Erfolgreich war der Plan auch aus einem anderen Grund: die Guerilla war sichtbar. Innerhalb der Masse der malaiischen Landbevölkerung waren Chinesen sofort erkennbar und identifizierbar. Das war ein entscheidender Unterschied etwa zu Vietnam, wo sich die Guerilla gegen Diem, die Nachfolgeregime und die Amerikaner „wie Fische im Wasser“ (so Mao Zedong) bewegen konnte. FOLIE: Verfassungspolitische Entwicklung Parallel zur Bekämpfung der kommunistischen Aufstandsbewegung leitete die Kolonialmacht in enger Verbindung mit UMNO und MCA die Demokratisierung des Landes ein. 1955 wurden Wahlen zum föderalen Parlament in Kuala Lumpur abgehalten; aus ihnen ging das Wahlbündnis der beiden großen Gruppierungen als Sieger hervor. Ministerpräsident wurde Tunku Abdul Rahman, ein in Oxford ausgebildeter sozialkonservativer Rechtsanwalt und Spross einer Sultansfamilie. Die Übertragung der Macht im August 1957 war dann eher eine Formsache. FOLIE 42: TUNKU ABDUL RAHMAN Verantwortlich für diesen friedlichen und auch langfristig erfolgreichen Dekolonisierungsprozess waren also mehrere, ineinander greifende Faktoren: Ethnische Vielfalt und Konkurrenz und das Bestreben, konsensorientierte Lösungen zu finden Die traumatische japanische Besatzung, die die britische Kolonialherrschaft in neuem, besseren Licht erscheinen ließ 4 die von der chinesischen und malaiischen Elite wahrgenommene gemeinsame Bedrohung durch den Kommunismus die relativ flexible und pragmatische Vorgehensweise der Briten, die ebenfalls konsensorientiert vorgingen Zusammenfassung Vietnam und Malaya bieten zwei vollkommen unterschiedliche Prozesse der Dekolonisierung. Frankreich war nach dem Zweiten Weltkrieg aus wirtschaftlichen und politischen Gründen (Prestige, Standing im internationalen System) nicht bereit, die Unabhängigkeit Vietnams zu akzeptieren. Dort war der Kommunismus die einzige politische Kraft, die über eine Massenbasis verfügte und mit dem Prestige antrat, sowohl gegen die Japaner als auch gegen die Franzosen gekämpft zu haben. Die nationale Revolution war auch eine soziale: für Hunderttausende armer Tagelöhner bedeutete das Versprechen einer kollektivierten Landwirtschaft eine Verbesserung ihrer Lage. Der Protest entwickelte sich dann erst nach Mitte der fünfziger Jahre, als die Maßnahmen der Kommunisten vielen Bauern in Nordvietnam zu weit gingen. Letztlich vermochte es die Kolonialmacht nicht, die kooperierenden Elemente und Schichten auf ihre Seite zu ziehen: sie versprach zu wenig zu spät, und sie war letztlich nicht bereit, ihre Versprechungen dann auch zu honorieren. In Malaya lagen die Dinge anders. Hier noch mal die Stichpunkte von oben: Ethnische Vielfalt und Konkurrenz und das Bestreben, konsensorientierte Lösungen zu finden Die traumatische japanische Besatzung, die die britische Kolonialherrschaft in neuem, besseren Licht erscheinen ließ die von der chinesischen und malaiischen Elite wahrgenommene gemeinsame Bedrohung durch den Kommunismus die relativ flexible und pragmatische Vorgehensweise der Briten, die ebenfalls konsensorientiert vorgingen FOLIE: NAHER UND MITTLERER OSTEN Formeller Kolonialismus und Informal Empire Bislang hatten wir es in Dekolonisierungsprozessen – Indien, die Philippinen, Indonesien, Indochina und Malaysia – mit formalen Kolonien und Protektoraten zu tun. Dabei handelte es sich um Fälle im Kontext formaler Kolonialisierung: Einheimische politische Ordnungen wurden beseitigt beziehungsweise kooptiert und zumindest teilweise durch fremde Vertreter einer Kolonialmacht ersetzt. Dabei gingen zentrale Regierungsaufgaben – Steuern, Recht, Polizei- und Militärgewalt, auswärtige Beziehungen, aber auch Bildung und Gesundheit – in die Hände von Kolonialregierungen über. 5 FOLIE: FORMELLES UND INFORMELLES EMPIRE Wenn wir den Nahen und Mittleren Osten betrachten, treten uns verschiedene Formen kolonialer Kontrolle und Herrschaft entgegen, und die Grenzen zwischen formeller und informeller Kontrolle verschwimmen. Jürgen Osterhammel hat neben Begriffsbestimmungen zum Kolonialismus und zur kolonialen Herrschaft auch Situationen quasi-kolonialer Kontrolle – das Phänomen des so genannten Informal Empire – definiert. Er versteht unter Informal Empire – quasi-kolonialen Abhängigkeitsverhältnissen – ein System, in dem der unterlegene Staat sein eigenes politisches System und seine innenpolitischen Funktionen behält. Ein solcher Staat ist dennoch nur eingeschränkt souverän, weil er sich „ungleichen Verträgen“ unterwerfen musste, die der Kolonialmacht Privilegien zusicherten, z.B. die Immunität seiner Bürger, Freihandelsabkommen oder die Stationierung von Truppen auf dem Staatsgebiet des unterlegenen Staates. Diese idealtypischen Unterscheidungen differenzieren sich im Kontext kolonialer Realität. Das gilt ganz besonders für den Nahen und Mittleren Osten. Hier finden wir formale Kolonien neben informellen Einflusssphären, in denen eine europäische Macht aber sehr viel mehr Einfluss ausübt, als es die Definition von Osterhammel erlaubt. Und wir finden Mandatsgebiete des Völkerbundes, die von europäischen Kolonialmächten verwaltet und wie Kolonien behandelt werden. FOLIE: FOKUS Eine große Weltregion wie diese in relativ kurzer Zeit gewissermaßen „abzuhandeln“, erscheint unangemessen und sinnlos. Ich werde mich im Folgenden auf einige Entwicklungen und auf wenige Länder beschränken: auf die britische Globalstrategie und die Rolle des Nahen und Mittleren Ostens für das Empire; auf Ägypten als Kernelement britischer Kontrolle im Nahen und Mittleren Osten; und auf Palästina, das als gewissermaßen doppeltes koloniales Territorium bis heute das zentrale Problem der Nahostpolitik ist. Kurz streifen werden wir Entwicklungen auf der arabischen Halbinsel, Staatsbildungsprozesse in Jordanien und dem Irak, und auf die französischen Mandatsgebiete Libanon und Syrien. FOLIE: INDISCHER OZEAN Britische Globalstrategie und das Ende des Empire Beginnen möchte ich am zeitlichen Ende der Dekolonisierung 1965 besuchte der britische Premierminister Harold Wilson Indien. Seinen überraschten Gastgebern erklärte er: „Die Grenzen Großbritanniens liegen am Himalaja“. 6 Wilson wollte damit zweierlei zum Ausdruck bringen. Erstens signalisierte er Indien Beistand für den Fall erneuter chinesischer militärischer Operationen im Himalaja. Zweitens beanspruchte er für das Vereinigte Königreich eine dominante Position im Indischen Ozean. In der Tat lässt sich bis Ende der sechziger Jahre von einem anglo-amerikanischen strategischen Kondominium im Indischen Ozean sprechen. Die Kolonie Aden am Ausgang des Roten Meeres war eine riesige britische Basis, die kleinen Scheichtümer am Persischen Golf florierten unter dem Schutz der britische Krone, die Basis in Singapur (1965 von Malaysia abgespalten und dann unabhängig) bildete den Kern britischer Strategie in Asien. Auf dem Höhepunkt der so genannten Konfrontation zwischen Indonesien und Malaysia im Jahre 1965 waren 68.000 britische Soldaten auf Einladung Kuala Lumpurs in der ehemaligen Kolonie stationiert, um Sukarnos Versuch zu verhindern, das „neokolonialistische“ Gebilde Malaysia (so Sukarnos Sicht der Dinge) zu zerschlagen. Im Indischen Ozean bildete Diego Garcia gewissermaßen einen natürlichen Flugzeugträger. Großbritanniens Rolle als kleine Weltmacht speiste sich Mitte der sechziger Jahre aus seinen Positionen im Indischen Ozean, aus seiner Fähigkeit, die Verbindungslinien zwischen Europa und Australien, zwischen dem Persischen Golf und Japan zu sichern. Das Ende kam rasch und abrupt: mehrere Währungskrisen zwangen die britische Labour-Regierung im Januar 1968, den Rückzug von East of Suez bekannt zu geben. Die letzten kolonialen Territorien im arabischen Raum – Aden, Jemen, die Emirate (heute: Vereinigte Arabische Emirate) und der Oman wurden unabhängig, die Basis in Singapur trotz des großen Protests der dortigen Regierung geschlossen. Nur in Aden war die Unabhängigkeit Folge einer militanten, antikolonialistischen Bewegung. Die Scheichs waren nicht glücklich, fanden dann aber in den Vereinigten Staaten einen Partner, der noch viel mächtiger war als Großbritannien. Zwischen Europa und Indien, zwischen Großbritannien und Singapur, liegt die arabische Welt. Für Großbritannien war es daher schon im 18. und 19. Jahrhundert von eminenter strategischer Bedeutung, wie und von wem dieser Raum beherrscht wurde. Im 20. Jahrhundert kam dann das Erdöl hinzu, der Stoff, der die globale Wirtschaft am Laufen hält. Erdöl wurde Anfang des Jahrhunderts im heutigen Irak entdeckt, Anfang der dreißiger Jahre in Saudi Arabien, und Ende der fünfziger Jahre in den Scheichtümern am Golf (Bahrain, Dubai, etc.). Wer den Nahen und Mittleren Osten im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert kontrollierte, beherrschte einen wichtigen Teil der Infrastruktur des globalen Handels. Wer das Gebiet im 20. Jahrhundert kontrollierte, spielte ganz vorne mit. FOLIE: OSMANISCHES REICH 7 Zoomen wir uns also von der Weltpolitik näher an die Region heran. Sie wird, nur um Missverständnissen vorzubeugen, im Deutschen und im Englischen anders definiert. Im Englischen (und Amerikanischen) meint man mit „Near East“ Nordafrika, mit dem „Middle East“ den Nahen Osten, und mit „Southwest Asia“ den Mittleren Osten. Wir sprechen heute über eine große Region, die ethnographisch von Marokko im Westen bis an die Grenzen des Irans reicht. Marokko, Algerien und Tunesien werden wir in einer späteren Sitzung besprechen. Von Norden nach Süden reicht die arabische Welt von der Südgrenze der Türkei bis in den Süden der arabischen Halbinsel, nach Ägypten und in den Sudan hinein; einige schwarzafrikanische Länder wie Mali gehören auch noch dazu. Was die meisten Länder dieser Region – zumindest die am südlichen Mittelmeerufer bis zur Grenze des Iran – gemeinsam haben, ist eine islamische Tradition, eine gemeinsame Religion als spirituelles und weltliches Ordnungsund Erklärungssystem, und die Vergangenheit als mehr oder weniger autonome Gebiete im osmanischen Reich. Während Algerien bereits nach 1830 kolonisiert wurde, besetzten die Franzosen Marokko erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die europäische Kolonialherrschaft im Nahen Osten war von noch kürzerer Dauer: sie wurde nach dem Ersten Weltkrieg etabliert und fand zwischen 1945 und 1948 ein Ende. Die britische informelle Kontrolle etwa über Ägypten reichte bis zum Beginn der fünfziger Jahre (1952), einige Länder auf der arabischen Halbinsel – Jemen, die Emirate am Persischen Golf, Oman – wurden erst Ende der sechziger Jahre von Großbritannien formell unabhängig. Sie hatten bereits vorher eine weitgehende Autonomie genossen; ihre Unabhängigkeit ging zumindest im Fall der Emirate auf die Entscheidung Großbritanniens zurück, sich zurückzuziehen, und weniger auf einen antikolonialistischen Nationalismus. Erfolgreich konnte sich hier die Kolonialmacht als Schutzmacht gegen rebellische Klans im Innern und Machtansprüche seitens des großen Saudi Arabien präsentieren. Den hier näher zu betrachtenden Territorien waren zwei Dinge gemeinsam: die dominierende Rolle des Islam in den Gesellschaften, und die Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich. Doch dieses hatte im 19. Jahrhundert die Rolle als imperiale Ordnungsmacht, die es noch im 16. und 17. Jahrhundert besessen hatte, weitgehend eingebüßt. Ägypten war bereits seit langem eine autonome Provinz, die zwar den Sultan als Symbol der Einheit des Islam und als Träger der Oberherrschaft anerkannte, sich ansonsten aber selbst verwaltete. FOLIE: SUEZKANAL 1882 fielen britische Truppen in Ägypten ein, um die Kontrolle über den strategisch und wirtschaftlich enorm wichtigen Suezkanal besser ausüben zu 8 können. Dieser Kanal, zwischen 1854 und 1869 gebaut, verkürzte die Reisedauer zwischen England und Indien von fünf Monaten auf 45 Tage. Bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein war der Kanal für alle britischen Regierungen von herausragender strategischer Bedeutung. Weiter östlich schwand der Einfluss des osmanischen Reiches später. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Hohe Pforte aber auch die Kontrolle über die arabische Halbinsel weitgehend verloren, und in der Region südlich der Türkei waren nicht mehr die Sultane, sondern lokale Machthaber die eigentlichen Herrscher. Am Ende des 19. Jahrhunderts galt das osmanische Reich als der „kranke Mann Europas“ (auch in Europa hatte das osmanische Reich seine Oberherrschaft über den Balkan, Bulgarien und Griechenland im 19. Jahrhundert eingebüßt). FOLIE: ZUSAMMENBRUCH DES OSMANISCHEN REICHES Der völlige Untergang des osmanischen Reiches erfolgte von innen und von außen: 1912 griff eine vom Militär unterstützte Bewegung der „Jungtürken“ nach der Macht, um die Misswirtschaft des Sultans zu beenden. Ein Komitee für Einheit und Fortschritt wollte das Land modernisieren. Es säkularisierte das Bildungswesen und das Rechtssystem, unterdrückte christliche Minderheiten und die muslimische Geistlichkeit, und versuchte, die nur noch locker kontrollierten arabischen Provinzen zu türkisieren. Millionen von Armeniern in den Kernprovinzen der Türkei wurden vertrieben, etwa 1.5 Millionen ermordet, weil die Regierung in Konstantinopel während des Ersten Weltkrieges glaubte, die Armenier würden gemeinsame Sache mit den Russen machen. Die Jungtürken beschränkten die Funktionen des Sultans auf repräsentative Aufgaben, um das osmanische Reich zu modernisieren. Nach dem Ersten Weltkrieg brach das Reich dann ganz zusammen: 1914 war es auf Seiten der Mittelmächte Österreich-Ungarn und Deutsches Reich in den Krieg eingetreten, und nach dem Krieg präsentierten die alliierten Siegermächte dann die Rechnung für diese falsche Entscheidung. Dem Kernland des osmanischen Reiches, der Türkei, gelang es bis Anfang der 1920er Jahre, territorial unbeschadet aus den Wirren von Krieg und unmittelbarer Nachkriegszeit herauszugehen. Russland, das schon lange begehrlich auf die Dardanellen geschielt hatte, war 1917 aus dem Krieg ausgeschieden und befand sich im Bürgerkrieg. Im Innern der Türkei gelang es dem osmanischen General Mustafa Kemal (später: Kemal Attatürk [Vater der Türken]), die armenische Republik im Süden des Kaukasus zu besiegen, die Franzosen aus den Südostprovinzen der Türkei, Adana und Mersin, zu vertreiben und die vielen in der Türkei lebenden Griechen zu vertreiben. 1921 machte er Ankara zur Hauptstadt, 1923 wurde die türkische Republik 9 ausgerufen und im gleichen Jahr durch den Vertrag von Lausanne völkerrechtlich anerkannt. Damit ging die Ära der Osmanen und all das, wofür sie standen – das Kalifat, die turko-islamische Tradition, sozialer und kultureller Konservatismus, religiös tolerante Herrschaft über disparate Glaubensgemeinschaften und Religionen – auf dramatische Weise zu Ende. Eine neue Ära kemalistischen Republikanismus’ begann. FOLIE: BRITISCHER EINFLUSS UND ARABISCHER AUFSTAND Großbritanniens Einfluss in der Region war zu dieser Zeit bereits beträchtlich: Aden als günstige Marinebasis war bereits 1839 erobert worden, andere Stützpunkte lagen in den heutigen Vereinigten Arabischen Emiraten und im Oman. Westlich davon beherrschten die Briten Ägypten, der Generalkonsul seiner Majestät beriet den Khediven in allen wichtigen Fragen. Doch am Ende des Ersten Weltkrieges machten Aufstände im Sudan und anti-britische Ausschreitungen in Ägypten eine Aufrechterhaltung der britischen Kontrolle immer schwieriger. London erklärte daraufhin im Januar 1921 Ägypten für unabhängig, qualifizierte diese Unabhängigkeit aber erheblich: Großbritannien kontrollierte nach wie vor den Suezkanal und beaufsichtigte die ausländischen Wirtschaftsinteressen; es behielt die Kontrolle über die ägyptische Außen- und Sicherheitspolitik; es regierte weiterhin den Khediven; und es behielt sich das Recht vor, alle ausländischen Interessen und die der religiösen Minderheiten in Ägypten zu vertreten. Ägyptens Unabhängigkeit war daher sehr eingeschränkt, und der britische Generalkonsul war nach wie vor die einflussreichste Person im Land. Im Grunde änderte sich sehr wenig – die Grenzen zwischen formeller und informeller Kontrolle, in der Theorie definitorisch voneinander abgrenzbar – erweisen sich als fließend, wenn man sich die konkreten historischen Entwicklungen ansieht. Der Arabische Aufstand ab 1914 Die ohnehin nur noch oberflächliche osmanische Kontrolle über die arabischen Provinzen des Reiches ging während des Ersten Weltkrieges weiter verloren. Aufstände erschütterten zunächst das westliche Arabien. Von Mekka aus betrieb Scheich Hussein Ibn Ali aus dem Klan der Haschemiten eine Expansionspolitik, die ihn mit benachbarten Klans in Konflikt brachte. Scheich Hussein suchte daher nach Verbündeten, und die fand er 1914 in Gestalt der gegen die Türkei kämpfenden Briten, genauer, in der Person des legendären T.E. Lawrence („Lawrence von Arabien“) und einiger britischer Militärs. Scheich Hussein hatte in Arabien und darüber hinaus zunächst großen Erfolg: mit Hilfe britischer Waffen und Expertise dehnte er seinen Einfluss auf der arabischen Halbinsel aus, setzte seinen Sohn Feisal in Damaskus als Herrscher über Syrien ein und installierte seinen anderen Sohn Abdullah im Amman als König über Jordanien (früher Transjordanien, von: Land jenseits des Jordan). Hussein und Feisal erlitten ähnliche Schicksale: beide wurden von ihrem Thron vertrieben. Hussein 10 musste sich 1924 gegen die Truppen des Ibn Saud-Klans geschlagen geben, die ihre Machtbasis um Riad herum hatten, und Feisal wurde 1920 von einer französischen Armee besiegt. Arbeitslos wurde er deshalb nicht, denn die Briten setzten ihn einfach auf einen Thron in Bagdad, wo er und seine Nachfolger bis zur Revolution 1958 mit Hilfe britischer Berater, die vorsichtig im Hintergrund tätig waren, den Irak regierten. FOLIE: NAHER UND MITTLERER OSTEN 1920 Innerhalb weniger Jahre waren damit große Teile Arabiens von einer lockeren Oberherrschaft Konstantinopels, die den Klans eine weitgehende Autonomie hatte einräumen müssen, unter britischen Einfluss geraten. Auch dieser war allerdings auf einheimische Machthaber, insbesondere auf die HashemitenDynastie, angewiesen. FOLIE: FRANKREICH IM LIBANON UND SYRIEN Aber was hatten die Franzosen dort eigentlich zu suchen? 1916 hatten Briten und Franzosen ein geheimes Abkommen unterzeichnet, in dem sie die Zukunft der syrischen, libanesischen, palästinensischen, transjordanischen und arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches regelten. Konkret: das Gebiet wurde in Einflussbereiche aufgeteilt. Großbritannien war zunächst gar nicht daran interessiert, eine weitere europäische Kolonialmacht in unmittelbarer Nähe seiner Einflussbereiche zu haben. Aber der Erste Weltkrieg erforderte Kompromisse: an der Westfront starben Hunderttausende von Franzosen, die Moral der Truppe wurde schlechter, die Regierung in Paris war verzweifelt. In dieser Stunde der Not konnte – so die Einschätzung Londons – ein solches Abkommen nur motivieren. Und das tat es dann wohl auch. Denn nach Kriegsende schickte Frankreich seine müden Krieger in die Levante. Als öffentliche Begründung musste die Tatsache herhalten, dass Franzosen ohnehin schon in Syrien und im Libanon lebten und der französische kulturelle Einfluss beträchtlich war. In der Tat: wohltätige Organisationen und vor allem Missionare waren im 19. Jahrhundert ins Land gekommen, 1875 wurde von französischen Jesuiten die St. Joseph Universität in Beirut gegründet. Vor dem Ersten Weltkrieg gingen rund 50.000 syrische Schüler in eine französische Schule, nur 23.000 besuchten andere Schulen. Aber friedlich vollzog sich die französische Besetzung nicht. Tausende Nationalisten begehrten auf, Hunderte wurden von den Franzosen getötet. Da die Nationalisten schlecht organisiert waren und auch der König Feisal kein Syrer war und als fremder Herrscher betrachtet wurde, brach der Widerstand zusammen. Syrien und der Libanon waren nun französisch. Ihr völkerrechtlicher Status war allerdings der von Mandatsgebieten des Völkerbunds; eine völkerrechtlich sanktionierte Kolonisierung meinten sich die Kolonialmächte nach dem Ersten Weltkrieg und 11 der Verkündung des Prinzips Selbstbestimmungsrechts der Völker durch den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson nicht mehr leisten zu können. Ich will im Folgenden Syrien und den Libanon ausblenden. Hier nur kurz zur Information: die französische Kolonialherrschaft war repressiv, Widerstand wurde nicht geduldet und gnadenlos verfolgt. Die Provinzen des Libanon und Syriens wurden neu aufgeteilt und orientierten sich im Fall des Libanon an religiösen Kriterien. Ziel der Franzosen war es, den Libanon zu christianisieren, die islamische Bevölkerungsmehrheit wurde diskriminiert. Der libanesische Bürgerkrieg, der 1975 ausbrach (und dem jahrelange Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und libanesischen Bevölkerungsgruppen vorausgegangen waren) kann als eine späte Folge dieser kolonialen Grenzziehungen verstanden werden. Im zweiten Weltkrieg lavierte die Kolonialverwaltung zwischen Vichy-Frankreich und dem freien Frankreich hin und her. Das kostete Sympathien bei den Alliierten, und 1945 war dann Schluss: die Nationalisten begehrten auf, und Großbritannien drängte die Franzosen aus dem Land heraus. Syrien und der Libanon wurden unabhängig im vollen Sinn des Wortes. FOLIE: STÄDTE IN DEN VIERZIGER JAHREN FOLIE: GROSSBRITANNIEN UND ÄGYPTEN Für Großbritannien blieb Ägypten das Territorium, das eine überragende strategische Rolle im Empire spielte, auch während des Zweiten Weltkrieges. Ägypten war, wie ein renommierter englischer Historiker kürzlich schrieb, die Spinne im geo-strategischen Netz des Nahen und Mittleren Ostens und des Indischen Ozeans. Im November 1942 – das britische Generalkonsulat in Kairo füllte bereits die Schredder mit Geheimpapieren und packte Koffer – besiegte eine britische Armee unter General Bernard Montgomery das deutsche AfrikaKorps. Wenig später mussten die deutschen und italienischen Truppen in Nordafrika kapitulieren. Ägypten war nun nicht mehr von den Achsenmächten bedroht. Nominell war Ägypten unabhängig, aber wer die eigentliche Macht im Land besaß, wurde während des Krieges auf vielfältige Weise deutlich. Allerdings war diese Macht nur noch durch militärische Repression aufrecht zu erhalten. FOLIE: KÖNIG FAROUK König Farouk wurde von weiten Teilen der Bevölkerung als Marionette der Briten betrachtet, ziviler Ungehorsam häufte sich, es kam zu anti-britischen Ausschreitungen. FOLIE: ARABISCHER NATIONALISMUS 12 Ägyptischer Nationalismus Der sich nach dem verlorenen Krieg der Araber gegen Israel 1948 (siehe unten) entwickelnde arabische und ägyptische Nationalismus vereinte drei Elemente: Er war eng verknüpft mit „Moderne“, indem er archaische, feudale Traditionen zu überwinden suchte; Er war militaristisch, indem er militärische Stärke und Disziplin als die zentralen Werte vertrat, mit denen die Niederlage von 1948 überwunden werden könne; Er betrachtete die Mobilisierung der Bevölkerung für nationalistische Anliegen als das entscheidende Kriterium seiner Legitimation. Nur Umfang und Größe der nationalistischen Bewegung würden, so die Überzeugung, den israelischen Feind irgendwann besiegen. FOLIE: GAMAL ABDEL NASSER Wie kaum ein anderer arabischer Nationalist verkörperte Gamal Abdel Nasser diese drei Elemente – bis er selbst 1967 von den Israelis geschlagen wurde. Nasser wurde 1918 geboren. In den zwanziger und dreißiger Jahren wuchs er in einem politischen Klima auf, das durch eine feudale Struktur mit König Farouk an der Spitze, die englische informelle Kontrolle und durch nationalistische Forderungen gekennzeichnet war. Die neu gegründete Moslembruderschaft gewann zahlreiche Anhänger durch ihren religiös orientierten Nationalismus, und auch innerhalb der ägyptischen Armee wuchs der Unmut auf die Briten und deren ägyptisches Klientelregime. Nasser machte eine steile Karriere innerhalb der Armee und wurde in den frühen vierziger Jahren Offiziersausbilder. 1952 erlangte er den Rang eines Oberstleutnants. Im Juli 1952 kam es schließlich zu einem Staatsstreich führender Offiziere gegen König Farouk. Dieser musste abdanken, und ein Revolutionärer Kommandorat übernahm in Kairo die Macht. Es war kein Zufall, dass nationalistische Impulse, Rufe nach politischer und sozialer Veränderung und Widerstand gegen den britischen Einfluss von der Armee ausgingen. Denn das Spektrum ziviler Akteure war klein und vor allem diffus und fragmentiert. Die Armee war die einzige Organisation, die über eine straffe Organisation, über meritokratische Strukturen (d.h. Leistungsprinzip) und auch über die technischen Voraussetzungen verfügte, gegen die etablierte Macht vorzugehen. Innerhalb des Revolutionären Kommandorates wurde Nasser rasch die dominierende Figur. Er besaß Charisma, und er wurde rasch populär wegen seiner populistischen Sozial- und Wirtschaftspolitik. Zu einem wahren Volkshelden und unbestrittenen Führer der arabischen Welt wurde er 1956. In diesem Jahr kündigte Nasser die Verträge des Suezkanals und verstaatlichte die Betreibergesellschaft. Dies war ein Akt mit ökonomischen und politisch13 strategischen Folgen: erstmals in der Geschichte Ägyptens profitierte nun der ägyptische Staat von den Einnahmen der Betreibergesellschaft, und erstmals in der Geschichte des Kanals bestimmten nun Ägypter über die Bedingungen, unter denen Schiffe zwischen dem Mittelmeer und dem Indischen Ozean verkehrten. Das hatte natürlich politische Implikationen, denn nun konnte Ägypten den Suezkanal auch einmal sperren, wenn das aus politischen Gründen erwünscht war. FOLIE: SUEZKRISE Großbritannien und Frankreich – wir werden den Fall noch im Rahmen der Sitzung über ‚Dekolonisierung und Internationale Beziehungen’ besprechen – versuchten nun, Ende Oktober, Anfang November 1956, in einer Militäraktion Nasser zur Rücknahme der Nationalisierung zu zwingen. Während französische und britische Fallschirmjäger die Kanalzone besetzten, stießen von Osten israelische Truppen auf ägyptisches Territorium vor. Dieser spätkoloniale Angriff auf einen souveränen Staat stieß jedoch in Moskau und Washington gleichermaßen auf Empörung: die Sowjets drohten mit der Atombombe, und Präsident Dwight D. Eisenhower verlangte ultimativ den Rückzug. Auf dem Höhepunkt des parallel zur Suezkrise stattfindenden Aufstands gegen die sowjetische Besatzungsmacht in Ungarn platzte den Amerikanern, salopp gesprochen, der Kragen: sie prangerten ständig den „roten Kolonialismus“ der Sowjets an und setzten diesem die positive Vorstellung der „Freien Welt“ entgegen, und nun hatten wichtige Akteure dieser freien Welt im Grunde genauso gehandelt wie die Sowjets. Eisenhower drohte London gar damit, dringend benötigte Kredite zu stornieren. Diesem Druck mussten sich Frankreich und Großbritannien beugen: der Rückzug von Suez zeigte an, dass die Ära des Kolonialismus endgültig vorbei war und dass die Kolonialmächte nicht mehr wie früher nach ihrem Gusto verfahren konnten. Sie waren europäische Mittelmächte geworden, die nicht gegen fundamentale Interessen der beiden Supermächte verstoßen konnten. Nasser und der arabische Nationalismus nach Suez Für Nasser bedeutete der schmähliche Rückzug der Kolonialmächte einen enormen Prestigegewinn im eigenen Land und in der entstehenden Dritten Welt. Er war bis zum verlorenen Sechstagekrieg gegen Israel 1967 der unbestrittene Führer des arabischen Raumes und einer der maßgeblichen Wortführer der Blockfreien Bewegung (über die wir auch noch mehr hören werden). In der Folge orientierte er sich außenpolitisch und wirtschaftlich eher an der Sowjetunion, ohne selbst überzeugter Sozialist zu sein, geschweige denn Kommunist. Und das aus nahe liegenden Gründen, die nicht nur – und das war natürlich wichtig – mit der zunehmenden amerikanischen Unterstützung Israels zusammenhingen. 14 Nasser und viele andere arabische Nationalisten – die feudalen Regimes am Persischen Golf und in Saudi Arabien sind hier nicht gemeint – entschieden sich für eine staatlich gelenkte Wirtschafts- und Entwicklungspolitik, die sich an der sozialistischen Planwirtschaft orientierte, aus drei Gründen: Es fehlte eine industrielle Basis und eine Unternehmerschaft. Der Staat rückte geradezu zwangsläufig ins Zentrum wirtschaftlicher Entwicklung. Die meisten nationalistischen Führer, die in den fünfziger und sechziger Jahren an die Macht gelangten, standen dem Kapitalismus skeptisch, vielfach ablehnend gegenüber. Sie sahen im Kapitalismus die Bedingung für Kolonialismus, und sie empfanden ihn als Vehikel ausländischer Interessen. Die Importsubstitutionspolitik der Regimes verstärkte die Rolle des Staates und führte zu einer fortschreitenden Involvierung und Ausweitung staatlicher Verantwortung in der Wirtschaft. FOLIE: ROLLE DES STAATES IN DER ÄGYPTISCHEN WIRTSCHAFT Diese Gründe gelten im Übrigen – das sahen wir am Beispiel Indiens oder Indonesiens – nicht nur für den arabischen Raum. Hier aber hielten sich dann aufgrund der Stabilität der Regimes – und der Notwendigkeit der Regimes, über eine staatlich gelenkte Wirtschaft Legitimierung zu erwerben – tief greifender als anderswo. Nur ein Beispiel: Das von der ägyptischen Staatswirtschaft erwirtschaftete Kapital betrug im Jahre 1953 126 Millionen ägyptische Pfund, vom privaten Sektor wurden im gleichen Jahr 736,6 Millionen Pfund erwirtschaftet. Zwanzig Jahre später, im Jahre 1973, betrug der Anteil der staatlichen Wirtschaft am Bruttoinlandsprodukt 1409 Millionen – ein Anstieg um 1000 Prozent; der Anteil der privaten Wirtschaft war nur um 250 Prozent auf 1807 Millionen ägyptische Pfund gestiegen. FOLIE: SYKES-PICOT-ABKOMMEN 1916 Das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 teilte Interessengebiete zwischen Großbritannien und Frankreich im Nahen Osten auf. FOLIE: BALFOUR-DECLARATION 1917 Eine britische Erklärung, die ebenfalls während des Krieges gemacht wurde, sollte das Schicksal Palästinas bestimmen: die Balfour Declaration vom 2. November 1917. Die Balfour Declaration in Form eines Briefes an einen führenden britischen Zionisten, Lord Rothschild, war weder das Produkt eines kriegsbedingten Humanismus noch Resultat einer Improvisation. Sie war kalkuliert, ihr gingen monatelange Vorbereitungen voraus, und im Vorfeld ihrer 15 Veröffentlichung wurde der amerikanischen Präsident Woodrow Wilson um Rat gebeten. Text: „His Majesty´s Government view with favour the establishment in Palestine of a National Home for the Jewish People, and will use their best endeavours to facilite the achievement of this object, it being clearly understood that nothing shall be done which may prejudice the civil and religious rights of existing non-Jewish communities in Palestine, or the rights and political status enjoyed by Jews in any other country.” Motive: Versuch, positiven Einfluss auf jüdische Amerikaner zu nehmen und dadurch Kriegsanstrengungen zu fördern Versuch, russische Juden dazu zu bringen, Druck auf ihre Regierung auszuüben mit dem Ziel, Russland wieder in den Krieg zu bringen. Persönliche Bekanntschaften zwischen Balfour und Rothschild und zwischen Chaim Weizmann und Premier David Lloyd George Imperiale Interessen FOLIE: ZIONISMUS Theodor Herzl: Der Judenstaat (1896). Der Zionismus entstand im ausgehenden 19. Jahrhundert in Europa. Er reflektiert zum einen den Nationalismus im ausgehenden 19. Jahrhundert, in dem Gemeinschaften, die sich auf gemeinsame Traditionen oder eine gemeinsame Sprache und Kultur stützten, einen Nationalstaat forderten. Zum anderen war er eine Reaktion auf die vielfältigen Diskriminierungen von Juden in Europa. Der Zionismus trat für einen eigenen Staat der Juden in Palästina ein. Bis 1939 kamen in mehreren Einwanderungswellen jüdische Siedler aus Europa und dem Russischen Reich bzw. der Sowjetunion. Am Vorabend des 2. Weltkrieges war die jüdische Bevölkerung auf 445.000 – entsprechend 30% der Bevölkerung Palästinas – angestiegen. Die indigene Bevölkerung betrug 1947 ca. 1,3 Millionen. Jüdische Einwanderer, also Europäer, waren von den gleichen Vorstellungen über außereuropäische Kulturen durchdrungen wie Nichtjuden. Selbstverständlich nahmen auch sie an, dass sie einer überlegenen Kultur und Religionsgemeinschaft angehörten und das Recht und die Pflicht hatten, ganz besonders in Palästina ein Land zu entwickeln. Der Slogan hieß: Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land. Weithin übersehen wurden die Palästinenser. FOLIE: PALÄSTINESISCHER AUFSTAND Von palästinensischer Seite gab es Versuche, auf die Kolonialmacht einzuwirken, und zwar mit einer doppelten Zielsetzung: die Verhinderung 16 jüdischer Einwanderung, und die Überwindung des Kolonialregimes. Vor 1936 hatte es weitgehend friedliche Bemühungen in diese Richtung gegeben. Eine nationalistische Bewegung oder auch eine allgemein akzeptierte Führung gab es aber nicht. Im April 1936 kam es dann aber zu einem Generalstreik, der eine Reaktion auf den Mord zweier Palästinenser durch Haganah-Kräfte ausgelöst wurde. Der Streik dauerte sechs Monate und führte zum vollständigen wirtschaftlichen Stillstand. Insgesamt war er kontraproduktiv: er erfolgte auf dem Höhepunkt der zionistischen Einwanderung, und er vertiefte die wirtschaftlichen Gräben zwischen den Volksgruppen. Einwanderer waren mehr als glücklich, die durch den Streik freiwerdenden Arbeitsplätze zu besetzen, jüdische Unternehmer rückten in Märkte vor, die vorher von Arabern besetzt waren. Die Anzahl arabischer Aktivisten stieg von zwischen ein- und dreitausend in 1936 auf sechs- bis fünfzehntausend in 1938. 1937 kam es zu 438 gewaltsamen Übergriffen, davon 109 auf britische Polizei und Militär, 143 gegen jüdische Einrichtungen, und 109 gegen Araber. 1937 deportierten jedoch die Briten fast alle führenden Köpfe des Aufstands, der in der Folge nur durch den massiven Einsatz der Armee niedergeschlagen werden konnte. Als Reaktion auf den Aufstand sagte die britische Regierung zu, die Zahl der Einwanderer zu begrenzen. Die Palästinenser gingen insgesamt geschwächt aus der Auseinandersetzung. Sie forderte ca. 5000 Tote und führte zur Zerschlagung der palästinensischen Führung. Zionisten waren überzeugter denn je vom Aufbau eines eigenen Staates, der nur über die Unterdrückung und Vertreibung der Palästinenser erfolgen konnte. FOLIE: BEDINGUNGEN NACH 1945 Großbritannien fand in den späten vierziger Jahren keine Lösung mehr, das letztlich durch die Balfour Declaration mit verursachte Problem zu lösen, einen Ausgleich zwischen Einheimischen und Immigranten zu schaffen. Bereits vorher war es zwischen 1936 und 1939 mit einer arabischen Revolte konfrontiert gewesen, die im Ergebnis vor allem zu verstärkten terroristischen Aktivitäten von Zionisten gegen britische und arabische Ziele geführt hatte. Die Terrorkampagne jüdischer Organisationen nahm nach dem 2. Weltkrieg zu, auch der Ruf nach einem unabhängigen Staat Israel. Dieser war unter den besonderen Bedingungen der Nachkriegszeit und der Erfahrungen des Holocausts, in dem das nationalsozialistische Deutschland mehr als sechs Millionen jüdische Frauen, Kinder und Männer ermordet hatte, kaum noch zu unterdrücken. In Europa (und auch in Großbritannien) war die Öffentlichkeit, soweit sie sich überhaupt für Palästina interessiert, für die Etablierung eines jüdischen Staates. FOLIE: PALÄSTINA ISRAEL Der UN-Teilungsplan und die Gründung Israels 17 Ab 1947 zogen sich dann die Briten sukzessive aus Städten und Gemeinden zurück, weil sie faktisch keine Ordnung mehr gewährleisten oder die Sicherheit herstellen konnten. Die Folge war, dass Palästinenser und Juden ein Rennen machten um die zurückgelassenen Strukturen, Einrichtungen und Räume. Unter dem Eindruck der Entwicklungen verabschiedeten die UN die Resolution 181, die einen Teilungsplan vorsah: dieser war für die Juden sehr günstig und reflektierte humanitäre Interessen, relative Unkenntnis der Lage vor Ort, aber auch immer noch einen gewissen Antisemitismus (etwa auf Seiten der Sowjetunion. Ein eigener jüdischer Staat bedeutete eben auch, dass man eine diskriminierte und ungeliebte Minderheit loswerden konnte). Obwohl die Juden zum Zeitpunkt der Verabschiedung etwa 33% der Bewohner stellten und nur über ca. 6-7% des Landes verfügten, bekamen sie 55% des zumeist fruchtbaren Landes zugesprochen, die Palästinenser mussten sich mit dem weniger ertragreichen Land begnügen. Die Machtverhältnisse 1947/48 waren klar: die Briten waren auf dem Rückzug, palästinensische Truppen beliefen sich auf vielleicht 7000 in 1948, gegenüber ca. 60.000 Bewaffneten auf jüdischer Seite. Im April 1948 kam es dann zu einer jüdischen Offensive. Haifa, Jaffa, West-Jerusalem und das östliche Galiläa fielen binnen weniger als einer Woche im April. Die Folge war ein Massenexodus von Palästinensern. Israelische Quellen sprechen von 520.000, arabische von zwischen 750.000 und einer Million. Auslöser des Massenexodus war nicht, wie früher behauptet, ein angeblicher Aufruf arabischer Rundfunksender, das Land zu verlassen. Vielmehr spielte Terror und eine systematische Politik der Vertreibung die zentrale Rolle. Am 15. Mai 1948 setzten dann fünf arabische Armeen zum Gegenstoß an: Ägypten, Libanon, Syrien, Jordanien und die Befreiungsarmee der Palästinenser. Nach anfänglichen Erfolgen mussten die arabischen Armeen dann aber in die Defensive gehen, und die Israelis eroberten mehr Territorium, als ihnen nach dem UN-Teilungsplan zustand. Im Waffenstillstandsvertrag vom Februar 1949 hielt Jordanien nur noch die arabischen Teile von Jerusalem und die West Bank, den westlichen Teil am Fluss Jordan. Ägypten hielt den Gaza-Streifen. Das war alles, was von Palästina übrig blieb. FOLIE: ZUSAMMENFASSUNG Nach dem ersten Weltkrieg teilten Großbritannien und Frankreich Teile des Nahen Ostens in Einflusssphären auf. Großbritannien übte darüber hinaus informelle Kontrolle über weite Teile des Nahen und Mittleren Ostens aus. Dies rührte zum einen aus der kolonialen Tradition (Aden etc.) her, zum anderen war Großbritannien aus strategischen Interessen (Suezkanal, Erdöl) daran interessiert. 18 Großbritanniens Rückzug von „East of Suez“ markierte das Ende der Weltmachtrolle Großbritanniens. Er kam Ende der sechziger Jahre unter dem Eindruck der Finanzkrisen plötzlich und für viele überraschend. In der historischen Perspektive stellt sich dieser Rückzug weniger rasch dar und entpuppt sich als Prozess: als jahrzehntelanges Festhalten an der Kontrolle über Ägypten und den Suezkanal, als letztlich gescheiterter Versuch, in Palästina einen Ausgleich zwischen jüdischen Immigranten und arabischer Bevölkerung zu schaffen; als letztlich ebenfalls erfolgloses Bemühen, den indirekten Einfluss im Iran festzuschreiben. In diesem langen historischen Prozess versuchte Großbritannien verschiedentlich, das Rad der Geschichte aufzuhalten: 1953 im Iran, als es im Verbund mit der CIA dem Schah Reza Pahlevi zur absoluten Macht verhalf, und 1956, als es im Verbund mit Frankreich und Israel versuchte, mit Hilfe einer klassisch-imperialistischen Kanonenboot-Politik die Verstaatlichung des Suezkanals zu verhindern. In beiden Fällen, und im Ergebnis des historischen Prozesses, rückten die Vereinigten Staaten in die Rolle Großbritanniens. Die sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Nahen und Mittleren Ostens sind nicht nur auf die Kolonialzeit zurückzuführen. Aber die Kolonialherrschaft trug das Ihre dazu bei: die von ihr gestützten Regimes waren Feudalregimes, die Partizipation von Bürgern ablehnten und unterdrückten; die von Großbritannien tolerierte und in der Frühphase auch begünstigte jüdische Migration führte zur Etablierung einer europäischen Siedlungskolonie in Palästina. Allerdings war es nach dem Holocaust europäischen Regierungen, aber auch den in den Vereinten Nationen agierenden Regierungen kaum möglich, die Gründung eines Staates Israel zu verhindern. Aber bereits im Osmanischen Reich entwickelten sich Traditionen, die bis heute fortwirken: das Primat bewaffneter Kräfte über zivile Akteure, die Förderung des Klanwesens und die Persistenz feudaler Strukturen. Die Dominanz des Militärs in arabischen Gesellschaften wurde durch die Auseinandersetzungen mit Israel gestärkt und ist bis heute ein Charakteristikum arabischer Gesellschaften. Schwache wirtschaftliche Entwicklung ließ Regimes immer wieder nach anderen Gründen für ihre Legitimation suchen: die Mobilisierung der arabischen Bevölkerungen gegen Israel und Kriege gegen Israel lenkten auch immer wieder von den eigenen Defiziten ab. Zweifellos spielt die von den arabischen religiösen Eliten vertretene Auslegung des Koran eine wichtige Rolle bei der schleppenden wirtschaftlichen Entwicklung, die durch anhaltenden demographischen Druck verschärft wird. Arabische Wissenschaftlicher argumentieren heute (so in einem Bericht der Vereinten Nationen zu Human Development Report), die zwei entscheidenden Faktoren für mangelndes wirtschaftliches Wachstum sind unzureichende säkulare Bildungssysteme und die massive Diskriminierung von Frauen in den arabischen Gesellschaften. 19