Editorial Schwindel

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Editorial
Schwindel
„Im Augenblicke selbst hatte er nur das Gefühl,
daß etwas in ihm wie ein toller Kreisel aus der zusammengeschnürten Brust zum Kopfe hinaufwirble, das Gefühl seines Schwindels. Dazwischen
hinein sprangen wie stiebende Farbenpunkte Gefühle…“ (Robert Musil: Die Verwirrungen des
Zöglings Törleß)
S
chwindel ist nicht nur eines der am häufigsten geklagten Beschwerden in der Allgemeinmedizin, HNO und Neurologie –
nahezu jeder dritte Mensch leidet im Lauf seines
Lebens unter mittelstarkem bis starkem Schwindel – auch in der Psychosomatischen Medizin
nimmt der Schwindel eine prominente Stellung
ein: Rund 30–50% der komplexen Schwindelerkrankungen fallen als organpathologisch nicht
ausreichend erklärbare Beschwerden in das
Spektrum der somatoformen Störungen.
Im Wesentlichen gibt es drei Gruppen von
Schwindelerkrankungen: Neben den primär organischen Schwindelerkrankungen die primär
somatoformen Schwindelerkrankungen und daneben sekundär somatoforme Schwindelsyndrome, die in Folge einer organischen Schwindelerkrankung auftreten.
Natürlich können auch bei primär organischen Schwindelerkrankungen psychosomatische oder psychiatrische Störungen zu finden
sein, die als vom somatischen Geschehen unabhängig einzustufen sind und nicht zu den somatoformen Störungen gehören.
Schwindelpatienten sind in ihrer Lebensqualität sowie den Berufs- und Alltagsaktivitäten erheblich beeinträchtigt und nehmen das Gesundheitssystem überproportional häufig in Anspruch;
bis zur adäquaten Diagnosestellung und Therapieeinleitung vergehen nicht selten mehrere Jahre. Eine interdisziplinäre Diagnostik ist daher von
hohem Stellenwert für eine optimale Behand-
lungsplanung. Dabei gilt es zum einen, eine frühzeitige psychosomatisch-psychotherapeutische
Basis-Diagnostik als integralen Bestandteil im diagnostischen Prozess zu etablieren, zum anderen
ist es essenziell, dass auch bei Patienten, die sich
ohne vorgehende somatische Diagnostik direkt
beim Psychotherapeuten vorstellen, eine ausreichende somatischen Basisdiagnostik erfolgt.
Die diagnostische Einordnung komplexer
Schwindelsyndrome ist oft schwierig und erfordert die Zusammenarbeit vielfältiger Fachdisziplinen. Auch für Psychologische Psychotherapeuten gilt es in diesem Kontext, die in ihrem Krankheitsverständnis oft somatisch ausgerichteten
und gut belesenen Patienten dort abzuholen, wo
sie stehen. Dafür ist auch ein grundlegendes Verständnis der Physiologie und Pathophysiologie
der Gleichgewichtsregulation sowie häufiger
Störungsbilder hilfreich.
Marianne Dieterich gibt daher in ihrem Beitrag einen Überblick über das gesamte Spektrum
organischer als auch somatoformer Schwindelbeschwerden. Sie vermittelt die zu Grunde liegende basale Physiologie und Pathophysiologie
und schafft damit einen Verständnishintergrund,
vor dem die psychodynamische Arbeit mit
Schwindelpatienten einfacher gelingen kann.
Annegret Eckhardt-Henn vertieft mit ihrem Artikel das psychodynamische Verständnis des
Schwindels und erinnert daran, dass insbesondere das Erleben von Schwindelsymptomen für die
Betroffenen eine starke, teilweise existenzielle
Verunsicherung ausdrücken und den Menschen
in seinen subjektiven Grundfesten erschüttern
kann. Die leidvoll erlebte und entsprechend geklagte Störung der Körper-Raum-Beziehung entpuppt sich im Verlauf entsprechender psychotherapeutischer Behandlungen häufig als eine Störung der Beziehung zu den Objekten und zur
Umwelt.
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Editorial
Gabriele Schmid und Claas Lahmann geben
einen systematischen Überblick über psychotherapeutische Ansätze und ihre Wirksamkeit in der
Behandlung somatoformer Schwindelerkrankungen. Hierbei wird deutlich, dass es bislang an
kontrollierten (Langzeit-)Studien mangelt; die
größte Evidenz besteht derzeit für die Wirksamkeit von kognitiv-behavioralen Verfahren. Auf Basis ermutigender Studienergebnisse zum Einsatz
psychodynamischer Therapieansätze bei allgemeinen somatoformen Störungen sind allerdings entsprechende Therapiestudien bei Patienten mit spezifischen somatoformen Schwindelbeschwerden in Vorbereitung.
Eine praxisnahe Darstellung der therapeutischen Optionen liefert Regine Tschan. Sie skizziert die möglichen Elemente einer integrativen
multimodalen Therapie wie Psychoedukation,
körperliches und mentales Gleichgewichtstraining, Entspannungsverfahren, Expositionsverfahren und ressourcenaktivierende Ansätze. Am Beispiel des in der Mainzer Universitätsmedizin in
enger Kooperation mit Marianne Dieterich und
Annegret Eckhardt-Henn entwickelten Therapieprogramms „STANDFEST“ zeigt sie, wie eine
Gruppentherapie das seelische Gleichgewicht
somatoformer Schwindelpatienten stabilisieren
kann – ein Erfolg, der auch im Langzeitverlauf
stabil bleibt.
Den Abschluss des Themenschwerpunkts bildet die kasuistische Darstellung eines Patienten
mit persistierendem sekundär somatoformem
Schwindel in der Folge einer Kleinhirnischämie
unklarer Ätiologie durch Claas Lahmann, Sophie
Fischer und Joram Ronel. Eine stationäre multimodale psychosomatische Behandlung, die viele
der in den übrigen Beiträgen vorgestellten Elemente beinhaltete, führte zu einer deutlichen
Besserung der Beschwerden.
Im Sinne einer integrativen störungsorientierten
Psychosomatik entsteht in der Zusammenschau
der Artikel dieses Themenheftes der Eindruck, dass
gerade in der Kombination psychodynamischer
und verhaltenstherapeutischer Ansätze – unter
Einbeziehung weiterer Ansätze wie Körperpsychotherapie, Ressourcenaktivierung und Psychoedukation – der Schlüssel zu einem besseren Verständnis und effizienten Behandlung des „schwindelnden“ Patienten liegt – ganz ehrlich!
Claas Lahmann, München
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