1 © 2011 Schattauer GmbH, Stuttgart Editorial Schwindel „Im Augenblicke selbst hatte er nur das Gefühl, daß etwas in ihm wie ein toller Kreisel aus der zusammengeschnürten Brust zum Kopfe hinaufwirble, das Gefühl seines Schwindels. Dazwischen hinein sprangen wie stiebende Farbenpunkte Gefühle…“ (Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß) S chwindel ist nicht nur eines der am häufigsten geklagten Beschwerden in der Allgemeinmedizin, HNO und Neurologie – nahezu jeder dritte Mensch leidet im Lauf seines Lebens unter mittelstarkem bis starkem Schwindel – auch in der Psychosomatischen Medizin nimmt der Schwindel eine prominente Stellung ein: Rund 30–50% der komplexen Schwindelerkrankungen fallen als organpathologisch nicht ausreichend erklärbare Beschwerden in das Spektrum der somatoformen Störungen. Im Wesentlichen gibt es drei Gruppen von Schwindelerkrankungen: Neben den primär organischen Schwindelerkrankungen die primär somatoformen Schwindelerkrankungen und daneben sekundär somatoforme Schwindelsyndrome, die in Folge einer organischen Schwindelerkrankung auftreten. Natürlich können auch bei primär organischen Schwindelerkrankungen psychosomatische oder psychiatrische Störungen zu finden sein, die als vom somatischen Geschehen unabhängig einzustufen sind und nicht zu den somatoformen Störungen gehören. Schwindelpatienten sind in ihrer Lebensqualität sowie den Berufs- und Alltagsaktivitäten erheblich beeinträchtigt und nehmen das Gesundheitssystem überproportional häufig in Anspruch; bis zur adäquaten Diagnosestellung und Therapieeinleitung vergehen nicht selten mehrere Jahre. Eine interdisziplinäre Diagnostik ist daher von hohem Stellenwert für eine optimale Behand- lungsplanung. Dabei gilt es zum einen, eine frühzeitige psychosomatisch-psychotherapeutische Basis-Diagnostik als integralen Bestandteil im diagnostischen Prozess zu etablieren, zum anderen ist es essenziell, dass auch bei Patienten, die sich ohne vorgehende somatische Diagnostik direkt beim Psychotherapeuten vorstellen, eine ausreichende somatischen Basisdiagnostik erfolgt. Die diagnostische Einordnung komplexer Schwindelsyndrome ist oft schwierig und erfordert die Zusammenarbeit vielfältiger Fachdisziplinen. Auch für Psychologische Psychotherapeuten gilt es in diesem Kontext, die in ihrem Krankheitsverständnis oft somatisch ausgerichteten und gut belesenen Patienten dort abzuholen, wo sie stehen. Dafür ist auch ein grundlegendes Verständnis der Physiologie und Pathophysiologie der Gleichgewichtsregulation sowie häufiger Störungsbilder hilfreich. Marianne Dieterich gibt daher in ihrem Beitrag einen Überblick über das gesamte Spektrum organischer als auch somatoformer Schwindelbeschwerden. Sie vermittelt die zu Grunde liegende basale Physiologie und Pathophysiologie und schafft damit einen Verständnishintergrund, vor dem die psychodynamische Arbeit mit Schwindelpatienten einfacher gelingen kann. Annegret Eckhardt-Henn vertieft mit ihrem Artikel das psychodynamische Verständnis des Schwindels und erinnert daran, dass insbesondere das Erleben von Schwindelsymptomen für die Betroffenen eine starke, teilweise existenzielle Verunsicherung ausdrücken und den Menschen in seinen subjektiven Grundfesten erschüttern kann. Die leidvoll erlebte und entsprechend geklagte Störung der Körper-Raum-Beziehung entpuppt sich im Verlauf entsprechender psychotherapeutischer Behandlungen häufig als eine Störung der Beziehung zu den Objekten und zur Umwelt. Downloaded from www.pdp-online.info on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 2 Editorial Gabriele Schmid und Claas Lahmann geben einen systematischen Überblick über psychotherapeutische Ansätze und ihre Wirksamkeit in der Behandlung somatoformer Schwindelerkrankungen. Hierbei wird deutlich, dass es bislang an kontrollierten (Langzeit-)Studien mangelt; die größte Evidenz besteht derzeit für die Wirksamkeit von kognitiv-behavioralen Verfahren. Auf Basis ermutigender Studienergebnisse zum Einsatz psychodynamischer Therapieansätze bei allgemeinen somatoformen Störungen sind allerdings entsprechende Therapiestudien bei Patienten mit spezifischen somatoformen Schwindelbeschwerden in Vorbereitung. Eine praxisnahe Darstellung der therapeutischen Optionen liefert Regine Tschan. Sie skizziert die möglichen Elemente einer integrativen multimodalen Therapie wie Psychoedukation, körperliches und mentales Gleichgewichtstraining, Entspannungsverfahren, Expositionsverfahren und ressourcenaktivierende Ansätze. Am Beispiel des in der Mainzer Universitätsmedizin in enger Kooperation mit Marianne Dieterich und Annegret Eckhardt-Henn entwickelten Therapieprogramms „STANDFEST“ zeigt sie, wie eine Gruppentherapie das seelische Gleichgewicht somatoformer Schwindelpatienten stabilisieren kann – ein Erfolg, der auch im Langzeitverlauf stabil bleibt. Den Abschluss des Themenschwerpunkts bildet die kasuistische Darstellung eines Patienten mit persistierendem sekundär somatoformem Schwindel in der Folge einer Kleinhirnischämie unklarer Ätiologie durch Claas Lahmann, Sophie Fischer und Joram Ronel. Eine stationäre multimodale psychosomatische Behandlung, die viele der in den übrigen Beiträgen vorgestellten Elemente beinhaltete, führte zu einer deutlichen Besserung der Beschwerden. Im Sinne einer integrativen störungsorientierten Psychosomatik entsteht in der Zusammenschau der Artikel dieses Themenheftes der Eindruck, dass gerade in der Kombination psychodynamischer und verhaltenstherapeutischer Ansätze – unter Einbeziehung weiterer Ansätze wie Körperpsychotherapie, Ressourcenaktivierung und Psychoedukation – der Schlüssel zu einem besseren Verständnis und effizienten Behandlung des „schwindelnden“ Patienten liegt – ganz ehrlich! Claas Lahmann, München Downloaded from www.pdp-online.info on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved.