Seminar: Schritte des Literaturerwerbs WS 2002/2003 Leitung: Prof. Dr. Cornelia Rosebrock Dr. Irene Pieper Protokollantin: Carolin Schneider, (L1 – 5. Semester) ___________________________________________________________________ Protokoll der Sitzung vom 25.11.02 Vortrag von Prof. Dr. Susanne Nordhofen (Frankfurt) „Mit Fabeln weiter denken. Potentiale einer kleinen Form im Literaturunterricht.“ 1. Einführung der Referentin Dr. Susanne Nordhofen durch Dr. Irene Pieper 2. Vortrag der Referentin Zu Beginn der Sitzung stellt Frau Dr. Nordhofen kurz den Ablauf ihres Vortrages, der sich in drei Teile gliedert, dar. Der erste Teil beschäftigt sich mit der engen Verbindung von Philosophie und Literatur, speziell mit dem Vergleich des Dichters Äsop und dem Philosophen Sokrates. Der zweite Teil geht auf Probleme der Fabel ein, insbesondere auf die Lehre und Moral der Fabel. Der dritte Teil des Vortrages behandelt das Thema „Philosophische Gespräche mit Kindern“. Teil 1: Frau Dr. Nordhofen beginnt mit der Beschreibung Sokrates. Sokrates (469-399 v. Chr.), griechischer Philosoph: Er galt als sehr kleiner und überaus hässlicher Mann, der seine Laufbahn mit folgendem Orakelspruch begann: „Sokrates sei der Weiseste unter den Menschen“. Um dies zu überprüfen, beginnt Sokrates andere Menschen zu testen. Er stellt schlichte Fragen, um Scheinwissen zu entlarven und gibt sich nicht mit rhetorisch hohlen Formen zufrieden. Von sich selbst behauptet Sokrates: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Diese sehr provokante Aussage, soll die Grenze zwischen tatsächlichem Wissen und einer Meinung haben verdeutlichen. Schließlich wird Sokrates, wegen mangelnder Gottesfurcht und Verführung der Jugend, zum Tode verurteilt. Im Gefängnis fasst er schließlich Fabeln Äsops in Verse. Zur Zeit Sokrates waren Fabeln etwas zum Zuhören, bestimmt durch prägnante Kürze, damit die Lehre der Fabel sofort klar erkennbar war. Äsop gehörte zur antiken Allgemeinbildung, seine Fabeln waren kanonisch („Du bist ungebildet,..., hast nicht Äsop gebüffelt.“). Sie wurden vor allem genutzt in der Ausbildung der Rhetorik, aber auch als einfaches Diktat, zur Nacherzählung, zum Auswendiglernen oder Übersetzen, sowie zum Üben des Umganges mit Texten. Zitat: (Holzberg, N.: Die antike Fabel. Darmstadt 1993, S.34) „Der Text wurde entweder durch sorgfältige Charakterisierung der handelnden Personen und Ausmalen der Szenerie erweitert oder auf den Kern seiner Aussage reduziert. Auf das Endziel all dieser Übungen, das Erreichen der Fähigkeit, eine Fabel effektvoll zur Illustration eines Gedankens zu verwenden, arbeiteten die Schüler dann in Etüden hin, die vom fabula docet ausgingen: Es galt entweder ein historisches Ereignis zu finden, das zu der von der Fabel ausgedrückten Lehre passte, oder aus der Fabelhandlung eine andere als die Vorgegebene zu entwickeln. Oder – das war dann wohl die schwierigste Aufgabe – die angehenden Redner sollten einen Lehrsatz zum Erzählen einer ganz neuen Fabel machen.“ ? Die von Holzberg beschriebene Praxis ist durchaus auch heute noch üblich. Äsop, 6. Jahrhundert v.Chr., wurde durch seine volkstümlichen (griechischen) Erzählungen „berühmt“. Er galt, wie Sokrates, als hässlicher Mann. Beide entsprechen also dem Topos des Hässlichen, diese Hässlichkeit unterstreicht jedoch die Schönheit des Inneren. Äsop gilt als die Volksausgabe Sokrates. Seine (plötzlich erworbene) Redekunst befreit den bis dahin in der Sklaverei gefangenen Äsop und lässt ihn schließlich, durch Beantworten von Rätselfragen zum Berater aufsteigen. Die gestellten Fragen beantwortet Äsop nie mit einer genauen Lösung, Fangfragen gibt er generell zurück. Er nimmt die „Gegner“ genau beim Wort, will sein Herr zum Beispiel ein paar Linsen gekocht haben, so bereitet Äsop genau zwei Linsen vor. Äsop lässt, wie Till Eulenspiegel, Handlungen sprechen. Aus diesem Handlungssprechen ersinnt er schließlich Fabeln, dass heißt, er arrangiert analoge Handlungen in Fabeln und weist so indirekt auf Probleme etc. hin. Zitat (Aristoteles, Rhetorica II, 20) „Es gibt nur zwei Arten von Beispielen: Die eine Art besteht nämlich darin, dass man früher gesehene Tatsachen anführt, die andere darin, dass man selbst Ähnliches erdichtet. (...) Die Fabeln sind so recht für Volksreden geeignet und haben das Gute, dass, während es schwer ist, passende Tatsachen zu finden, die wirklich geschehen sind, es ungleich leichter ist, Fabeln zu erfinden. Denn erfinden darf man sie so gut wie Gleichnisse, sobald man nur verstehet, das Ähnliche wahrzunehmen, was umso leichter ist, wenn der Redner philosophische Bildung besitzt.“ Frau Dr. Nordhofen führt nun aus, das jeder, der Fabeln dichten will, einen philosophischen Horizont braucht. Die philosophische Reflexion ist ebenso wie die Introspektion (der „Blick nach Innen“), nötig als Grundlage, um einen Grundgedanken heraus zu kristallisieren. Nur wer explizite und implizite Transfersignale erhält und auch versteht, kann eine Fabel so erstellen, dass intuitiv deutlich wird, was als Botschaft der Fabel gemeint ist. Der Dichter erfindet in einer Fabel das Mögliche, zielt aber darauf, das Allgemeine zu treffen (? Historiker). Im direkten Vergleich Äsop/Sokrates fällt wie bereits erwähnt auf, dass sie beide dem Topos des Häßlichen entsprechen. Weitere Gemeinsamkeiten, die über ihre Häßlichkeit hinausgehen sind: • Beide sind sprachkritisch; Skeptiker. • Sie vertreten keine doktrinale Position. • Sie versuchen andere zum Selberdenken anzuhalten. • Sie haben ihre Ideen/Werke nicht schriftlich hinterlassen. • Ihre Wirkungsgeschichte beginnt erst nach ihrem Tod wirklich. Teil 2: Frau Dr. Nordhofen beginnt den zweiten Teil ihres Vortrages mit der zusammengefassten Erzählung einer antiken Sage von Wolf und Lamm. Ein streitsüchtiger Wolf und ein Lamm treffen, nur durch einen Fluß getrennt, zusammen. Das Lamm, welches sich etwas flußabwärts vom Wolf befindet, wird von diesem schließlich beschuldigt, sein Wasser zu beschmutzen. Das Lamm entgegnet, um sich zu verteidigen, es stehe doch Fluß abwärts, könne das Wasser des Wolfes also überhaupt nicht verdrecken. Der Wolf erfindet darauf hin einen neuen Grund, um zu streiten, bis er am Ende das Lamm auffrisst. Die nun gestellte Frage „Was lehrt uns diese Fabel?“ wird mit einigen zur Fabel gehörenden Zitaten beantwortet. Zitat (Phödrus, Sklave 1.Jh. n. Chr.): „Die Fabel ist auf jene Menschen abgezielt, die Unschuld unterdrücken mit gefälschtem Grund.“ ? Juristischer Missbrauch (Recht eines Anklägers, den Prozess nach Tod des Angeklagten mit dessen Erbe weiterzuführen.) Zitat (Heinrich von Mügeln): „Nu merke, kint: Wo du die wolfe, durstig sist, da soltu trinken miden:“ ? Vermeidungsstrategie ? Mittelalter Zitat (Heinrich Steinhövel): „Mit dieser fabel will Esopus bezeigen, daz by bösen und untrüwen anklegern vernunft und wahrheit koin statt finden; solche wolf findet man in allen stetten.“ ? Verallgemeinerung der Fabel: Untreue u.ä. findet sich überall. Zitat (Martin Luther): „Lere. Der Welt lauft ist, wer frum sein will, der muß leiden, solt mann eine Sache von alten Zaun brechen. Denn gewalt gehet für Recht. Wenn man dem Hunde zu will, so hat er das Ledder gefressen. Wenn der Wolf will, so ist das lamb unrecht.“ • komplizierter zu interpretieren ? erst Bezug zur allgemeinen Weltsicht, dann ? spezifische Spruchweisheiten und ? volkstümliche Redensart, bis ? Luther den Kreis schließt und auf den Wolf zurück kommt. Zitat (La Fontaine): „Das Recht (die Gründe) des stärkeren ist immer das bessere (wirksamere).“ ? selbsterklärend Wen soll man sich zum Vorbild nehmen, den tyrannischen Wolf oder das naive Lamm? Weder der tyrannische Wolf, noch das naive Schaf sind als Vorbild geeignet. Vielmehr ist die realistische Einschätzung einer Situation die Lehre, die aus der Fabel gezogen werden soll (vgl. Moral bei Sprichwörtern aus dem Alltag). Frau Dr. Nordhofen erklärt nun, dass die in Fabeln vorhandenen Leerstellen das eigentlich Interessante sind, da diese vom Leser ausgefüllt werden müssen. Bei Fabeln muss (nach H. Nauss) unterschieden werden zwischen einer normativ präskriptiven und einer deskriptiv explorativen Moralvorstellung. Erstere benutzt den Imperativ (Du sollst.../nicht...) und zeigt auf, was gut für jedes Individuum oder die Gesellschaft ist. Die zweite Moralvorstellung ist eine erkundende/beschreibende und erforscht, was allgemein besser ist (Wie verhalten sich fremde und eigene Moralvorstellungen zueinander?). Sie kommt ohne den Imperativ aus. Zitat (Hans-Robert Jauß: Wege des Verstehens, München 1994, S. 32) „Im Ästhetischen hört das Moralische auf, selbstverständlich zu sein. Hier wird kein normatives Wissen bestätigt oder verordnet, sondern ein neues Verstehen eröffnet, das erfordert, sich selbst ein moralisches Urbild zu bilden. Im Ästhetischen ist die Fiktion in ihrem eigenen Recht, wenn sie immer aufzudecken oder als Möglichkeit zu erproben vermag, was sich nicht von selbst versteht, weil es sich der präskreptiven Moral wie dem rechtlich normierten Verhalten entzieht: nämlich die Vielfalt der Sitten und damit ein Verstehen des Fremden, der Welt in den Augen der Anderen, aber damit die Bildung eines Selbstverständnisses, das sich mehr und mehr aus institutionellem Zwang freizusetzen sucht.“ Die Aussage Jauß gilt im allgemeinen für literarische Text und Kunst, lässt sich aber sehr gut auf Fabeln übertragen, denn die Fabel eröffnet neue Perspektiven in deskriptiv exploratorischer Weise (in Bezug auf die Moral), stellt Selbstverständliches in Frage und zielt auf das Mögliche ab. Frau Dr. Nordhofen erläutert nun, dass das Ausschlaggebende bei einer Fabel die Exemplifikation ist (Bsp. Stoffmuster bei Sofabezug). Das Entscheidende ist also der Schritt von der fiktiven Textwelt in die reale Welt. Bei diesem Schritt müssen frühere Erfahrungen helfen, da man nur so vom Besonderen auf das Allgemeine schließen kann. Es gilt, vom Einzelnen ausgehend, eine Regel für das Allgemeine zu finden. Das Allgemeine kann jedoch nicht empirisch geprüft werden, es bedarf vielmehr der Zustimmung. ð Fabeln bringen beim Leser die reflektierende Urteilskraft zum Laufen, sie liefern ein Sprungbrett. Ausgenommen sind moderne Fabeln, sie verzichten auf eine Moral und haben deshalb kein Sprungbrett. Sie sind anspruchsvoller, da kein common sense vorhanden ist. Teil 3: Fabeln waren lange an (junge) Erwachsene gerichtet. Heute werden sie bereits in der Sekundarstufe eins behandelt. Anhand der Fabeln (belehrender Text) können die SchülerInnen in exemplarischer Weise erste literarische Erfahrungen sammeln. Die Kompetenzen der Kinder werden gefördert, d.h. sie lernen den Aufbau eines Textes kennen, entwickeln Methoden zur Handlungsfindung und bilden eine moralische Urteilsfähigkeit aus. Warum sind Kinder keine Philosophen? Die drei (in der Vorlesung) genannten Hauptmerkmale sind: - Seriositätseinwand - Spracheinwand - Entwicklungspsychologischer Einwand Kinder drücken sich noch zu ganzheitlich aus, sie können noch nicht differenzieren. Die in der Philosophie notwendige Fähigkeit, etwas auf einen Begriff zu bringen, fehlt den Kindern noch. Kinder erzählen Geschichten, um Sachverhalte darzustellen. Wie lassen sich also Fabeln in den Literaturunterricht einbeziehen? Die Fabel darf nicht in einen bestimmten Kontext gestellt werden, der die Frage „Was will uns der Dichter damit sagen“ klärt, sondern der Zugang sollte über die Frage „Welches Problem hat sich der Dichter gestellt (und wie hat er es gelöst)?“ geschaffen werden. Dieser Weg lässt die Kinder selbst das in der Fabel behandelte Problem finden, untersuchen und schließlich die Moral finden. Fabeln schaffen bei den Kindern die Möglichkeit selbst zu denken, indem sie selbst etwas untersuchen. Diskussion: Frage: (Streit zwischen Dichtern und Philosophen) Ist die Fabel eine philosophische Form der Dichtung? Antwort: Platon einerseits Ablehnung, andererseits schafft er Gleichnisse (Höhlengleichnis). Aristoteles schätzt die Fabel als eine Art der aufgewerteten Dichtung, da sie eine Moral enthält. Frage: Unterschied Mythos/Fabel Antwort: legein: Vernunftgeleitetes Sprechen (logos = Vernunft) mythein: Sprechen Frage: Akzent – Problemeröffnung in der Schule (Klasse 6) Antwort: Die Schule greift häufig zu kurz, das Potential der Fabel wird nicht genutzt, der Unterricht ist zu „kurzatmig“. Frage: Ist die Fabel durch den frühen Einsatz in der Schule überhaupt ganzheitlich zu behandeln oder wird sie zur netten Tiergeschichte? Antwort: Die Fabel gilt als belehrender Text und wird in der Klasse 6 (Gym/RS) und in Klasse 8 (HS) behandelt. Kritik: Die Fabeln müssen „runter transformiert“ werden, um die Lehren verdeutlichen zu können. Die Schüler müssen Fähigkeiten einsetzen, die sie eigentlich noch nicht entwickelt haben. Auch die Entwicklungspsychologie spricht sich gegen den frühen Einsatz von Fabeln aus. Frage: Wenn Fabeln später eingesetzt werden sollen, müssen dann nicht auch Märchen später behandelt werden? Denn auch bei Märchen gibt es Abstraktionsniveau. Die komplette Verarbeitung eines Textes widerspricht dem Literaturerwerb. Antwort: Kinder nehmen intuitiv mehr auf, als sie artikulieren können. ein hohes