Zwischen jugendlichem Freizeitverhalten

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Barbara Manthe
Zwischen jugendlichem Freizeitverhalten,
Subkultur und Opposition
Unangepasste Jugendliche im nationalsozialistischen Köln
Die Edelweißpiraten, unangepasste Jugendliche während des "Dritten Reichs", sind
seit den achtziger Jahren Gegenstand der Widerstandsforschung, aber auch erhitzter
Debatten. Dabei wurde meist entweder anhand einzelner Beispiele auf die Widerstandstätigkeitdieser nicht-konformen Jugendgruppen verwiesen oder jenseits des
historischen Kontextes diskutiert, inwieweit das Verhalten der Edelweißpiraten als
"kriminell" zu werten sei.' Die Frage aber, wer diese Jugendlichen überhaupt waren,
was sie dazu bewegte, sich in Gruppen zusammenzuschließen und wie ihre Aktivitäten aussahen, wurde kaum beantwortet. 2 Für Köln beispielsweise, eine Stadt, in
der die Strukturen unangepasster Jugendgruppen äußerst ausgeprägt waren, gibt es
darüber keine wissenschaftliche Überblicksarbeit Nur wenige Historiker machten es
sich bisher zur Aufgabe, das umfangreiche Aktenmaterial zu sichten. 3
1
2
3
Erwähnt sei hier die seit Jahrzehnten andauernde Debatte um einige Kölner Edelweißpiraten, die sich, nachdem sie die Edelweißpiratenstrukturen verlassen hatten, Ende 1944 einer
Erwachsenengruppe angeschlossen hatten. Im November 1944 wurden sie zusammen mit den
erwachsenen Angehörigen dieser Gruppe in Köln-Ehrenfeld öffentlich gehängt. Vgl. BerndA. Rusinek, Gesellschaft in der Katastrophe. Terror, Illegalität, Widerstand - Köln 1944/45,
Essen 1989 und Matthias von Hellfe1d, Edelweißpiraten in Köln. Jugendrebellion gegen das
3. Reich, Köln 1981.
Als Beispiel einer frühen differenzierten Forschung zu diesem Thema ist auf die Arbeiten von
Detlev Peukert zu verweisen. Vgl. etwa Detlev Peukert, Die Edelweißpiraten. Protestbewegungenjugendlicher Arbeiter im "Dritten Reich". Eine Dokumentation, Köln 3 1988.
In den Monographien von Alfons Kenkmann und Martin Rüther werden unangepasste Jugendliche in Köln thematisiert: Alfons Kenkmann, Wilde Jugend. Lebenswelt großstädtischer
Jugendlicher zwischen Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus und Währungsreform, Essen
1996; Martin Rüther, Köln im Zweiten Weltkrieg. Alltag und Erfahrungen zwischen 1939 und
1945, Darstellungen -Bilder- Quellen, Köln 2005. Unter der Leitung von Martin Rüther
wurde 2004 vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln die Ausstellung "Von Navajos
und Ede1weißpiraten. Unangepasstes Jugendverhalten in Köln 1933-1945" eröffnet.
Geschichte im Westen (GiW) Jahrgang 22 (2007), 89-112
© Klartext Verlag, Essen, ISSN 0930-3286
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Barbara Manthe
Begriffliche und methodische Klärungen
Die Kölner Navajos, eine weitere Gruppierung unangepasster Jugendlicher, und die
Edelweißpiraten hatten viele Facetten. Dazu gehörte zum einen ihr subkultureHer
Kontext, ihre Aktivitäten und ihr Freizeitverhalten. Zum anderen fand eine Politisierung statt, die durch die nationalsozialistische Verfolgung oftmals erst zustande kam.
In diesem Aufsatz sollen Herkunft, Motivation und Verhalten der Jugendlichen analysiert werden; eine Darstellung ihrer Politisierung und ihrer politischen Aktivitäten
anhand einiger Fallbeispiele findet sich in einem zeitgleich veröffentlichten Aufsatz
in der Zeitschrift "Geschichte in Köln". 4
Navajos und Edelweißpiraten waren zum größten Teil Jungen und Mädchen
unter 20 Jahren, die sich ohne konkreten Anlass zu einer selbstbestimmten Freizeitgestaltung zusammengeschlossen hatten. Erste Berührungspunkte entstanden meist
unter Jugendlichen aus der gleichen Wohngegend, die sich auf der Straße trafen.
Zum größten Teil kamen die Jugendlichen aus der Arbeiterschicht oder dem niederen
Angestelltenmilieu; ihre Gruppenzusammenhänge entsprangen einer arbeiterspezifischen Subkultur, die durch Kleidung, Frisuren und Abzeichen geprägt wurde.
Navajos und Edelweißpiraten traten fast immer öffentlich auf. Selbst wenn ihre
Zusammenschlüsse im Privaten begannen, wurden sie von den Verfolgungsbehörden
öffentlich gemacht- etwa wenn die HJ Jagd auf jugendliche Wanderer machte und
es zu Auseinandersetzungen kam. Von wesentlicher Bedeutung waren Musik und
gemeinsame - oft verbotene - Lieder. Gesetze und Verordnungen wurden bewusst
oder unbewusst übertreten, die HJ galt als erste Sanktionierungsinstanz als gemeinsamer Feind. Um die eigenen Freiräume zu verteidigen, waren die Jugendlichen zu
körperlichen Konflikten mit der HJ bereit.
Unangepasste Jugendliche traten meist nicht als individuell handelnde Personen,
sondern als kollektive Akteure auf. Gleichwohl hatte jeder Jugendliche einen subjektiven Grund für sein Verhalten und grenzte sich gerade durch seine Individualität vom Kollektiv, der "Volksgemeinschaft" des NS-Staates ab. Die Jugendlichen
handelten immer in ihrem sozialen und politischen Kontext; sie waren keine autonomen Subjekte, sondern widersprüchliche und unterschiedliche Individuen, die
weder ganz selbstbestimmt noch ganz determiniert agierten.
Zur Erforschung unangepassten Jugendverhaltens in Köln können hauptsächlich
Akten von Gericht und Staatsanwaltschaft genutzt werden. Die Gestapoakten für den
Raum Köln sind nicht überliefert- nur die Vernehmungsprotokolle und die Berichte
der Gestapo, die in den Gerichtsakten abgeheftet wurden, sind vorhanden. Es muss
also auf einen, wenn auch umfangreichen, gleichwohllückenhaften Quellenbestand
4
Vgl. Barbara Manthe, Navajos und Edelweißpiraten in Köln. Zur Politisierung unangepassten
Jugendverhaltens im "Dritten Reich", erscheint in: Geschichte in Köln 54 (2007).
90
Zwischen jugendlichem Freizeitverhalten, Subkultur und Opposition
zurückgegriffen werden. Eine vollständige Kenntnis der Quellen könnte durchaus
andere Schlussfolgerungen nach sich ziehen.
Die ausführlichen und detaillierten Beschreibungen der Verfolgungsbehörden
bieten die Möglichkeit, Gruppen darzustellen, die sonst nicht rekonstruierbar
wären. Tausende Seiten Justizakten sind heute noch erhalten. Sie geben Einblick
in Gruppenstrukturen, die bislang wenig das öffentliche Interesse geweckt haben.
Andere Quellen aus jener Zeit gibt es kaum. Die Gerichtsakten sind jedoch "Texte der
Repression" 5 und spiegeln immer die Wahrnehmung der NS-Verfolgungsbehörden
wider. Wie das Verhör verlief, ob die Jugendlichen misshandelt oder bedroht wurden,
wird meist nicht ersichtlich. Auch sagen die Akten über die inneren Motive und
den Politisierungsprozess der Jugendlichen wenig aus. Die von Gestapo und Gericht
verwendeten Bewertungen wie "asozial", "kriminell" oder auch "staatsfeindlich"
besitzen heute keine Gültigkeit; mit ihnen zu operieren hieße den Argumentationsmustern der Nationalsozialisten zu folgen. Das Verfolgungsinteresse darf daher nicht
außer Acht gelassen werden.
Deshalb ist es von größter Bedeutung, als Konektiv, aber auch als eigenständige
Quelle die schriftlichen und mündlichen Erinnerungen von Zeitzeugen heranzuziehen. Manche Gruppen und Ereignisse tauchen überhaupt nicht in den Akten auf, sei
es, weil die Akten vernichtet sind, sei es, weil die Gestapo keine Kenntnis über diese
Gruppen hatte. Die Prozesse innerhalb der Gruppen, die Motivation und Intention
ihrer Mitglieder, ihre Wahrnehmung und Erlebniswelt sind nur über Erinnerungsberichte erfahrbar. Leider begrenzt sich die Zahl derer, die bereit sind oder waren,
über ihre Zeit als Edelweißpirat zu berichten, auf eine Hand voll Zeitzeugen. 6
Die Forschung zur Oral History hat deutlich gemacht, dass auch Erinnerungsberichte einer quellenkritischen Analyse unterliegen müssen. Der "selektive Apparat" Gedächtnis kann nie dem Anspruch einer allumfassenden Wahrnehmung genügen: "Es gibt keine objektive Erinnerung. "7 Nichtsdestoweniger ist die Erinnerung
der Zeitzeugen als subjektive Akteure gerade deshalb so unentbehrlich, weil der
Facettenreichtum ihrer Erzählung deutlich macht, dass es eine lineare und widerspruchsfreie Geschichtsschreibung nicht geben kann.
Unangepasstes Verhalten von Jugendlichen im Nationalsozialismus wurde von
den meisten Historikern in den Bereichen von Resistenz und Dissens verortet. 8 Dies
5
6
7
8
Rusinek, Gesellschaft (wieAnm. 1), S. 50.
Interviews mit Zeitzeugen wurden vom NS-Dokumentationszentrum Köln geführt. Vgl. www.
eg.nsdok.de.
Daniel Bertaux/lsabelle Bertaux-Wiame, Autobiographische Erinnerung und kollektives
Gedächtnis, in: Lutz Niethammer (Hg.), Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die
Praxis der "Oral History", Frankfurt a. M. 2 1985, S. 149-151.
Resistenz, von Maitin Broszat eingeführt, wurde als "wirksame Abwehr, Begrenzung, Eindämmung der NS-Herrschaft oder ihres Anspruches, gleichgültig von welchen Motiven, Gründen
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Barbara Manthe
war möglich, nachdem sich maßgeblich durch den Beitrag des Forschungsprojekts
"Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933-1945", das 1973 vom Münchner Institut für Zeitgeschichte initiiert wurde, der Widerstandsbegriff von der Geschichte der
"Märtyrer" und großen Helden löste. Daher wurde er notwendigerweise auch um die
partielle oder begrenzte Ablehnung des Nationalsozialismus erweitert.
In der Forschung wurden auch nicht-konformen Jugendlichen verschiedene Kategorien zugeteilt: Der Historiker Ian Kershaw schlug den Begriff des Dissens vor, den
er ohnehin für geeigneter als den Resistenzbegriffhielt. 9 Für Martin Broszat fiel der
Zusammenschluss in HJ-feindlichen Jugendcliquen unter Resistenz, 10 Gerhar·d Botz
subsumierte ihn unter sozialen Protest.'' Es gibt also keinen einheitlichen Begriff,
der das nicht-konforme Verhalten der Jugendlichen beschreibt.
Der Resistenz- oder Dissensbegriff ist jedoch zu weit auslegbar, um ihn auf das
Spektrum oppositionellen Jugendverhaltens anzuwenden. Es hieße, den einzelnen
Handlungen, die ganz unterschiedlicher Art waren, die Trennschärfe zu nehmen.
Hilfreich ist dagegen Kershaws gesellschaftlicher Forschungsansatz, die "Konfliktpunkte[n] und -Situationen zwischen Regime und einfachem Bürger" zu behandeln. 12
Dies lehnt sich auch an Bemühungen des "Bayern-Projektes" an, Konfliktsituationen
und Konfliktzonen während der nationalsozialistischen Herrschaft zu thematisieren.
Das Projekt ging vom "Konflikt" zwischen dem NS-Regime und wirksamen Kräf-
9
10
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12
92
und Kräften her" definiert. Martin Broszat, Resistenz und Widerstand. Eine Zwischenbilanz
des Forschungsprojektes, in: Martin Broszat/Elke FröhlichfAnton Grassmann (Hg.), Bayern
in der NS-Zeit. Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, München/Wien 1981 , S. 697. Dieser Begriff stieß auf Kritik, nicht zuletzt weil die weite Auslegbarkeil des Resistenzbegriffs
es schwierig macht, zwischen der Selbstbehauptung eigener Interessen bzw. des partiellen
Funktionsausfalls des Regimes einerseits und der Ablehnung des Systems und bewussten Verweigerung geforderter Handlungen und Einstellungen andererseits zu unterscheiden. Vgl. auch
Peter Steinbach, Widerstand im Widerstreit. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus
in der Erinnerung der Deutschen, Paderborn u. a. 2200 I, S. 63; und Hans Mommsen, Widerstand und Dissens im Dritten Reich, in: Klaus-Dietmar Henke/Claudio Natoli (Hg.), Mit dem
Pathos der Nüchternheit. Martin Broszat, das Institut für Zeitgeschichte und die Erforschung
des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M./New York 1991 , S. 113.
Ian Kershaw, "Widerstand ohne das Volk?" Dissens und Widerstand im Dritten Reich, in:
Jürgen Schmädeke!Peter Steinbach (Hg.), Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die
deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hit! er, München/Zürich 1985, S. 790.
Broszat (wie Anm. 8), S. 697.
Gerhard Botz, Methoden- und Theorieprobleme der historischen Widerstandsforschung, in:
Helmut Konrad/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Arbeiterbewegung -Faschismus -Nationalbewußtsein. Festschrift zum 20jährigen Bestand des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes und zum 60. Geburtstag von Herber! Steiner, Wien/München/Zürich
1983, S. 147.
Ian Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Reinbek bei Harnburg 1995, S. 295. Hervorhebung im Original.
Zwischen jugendlichem Freizeitverhalten, Subkultur und Opposition
ten aus, in dessen Rahmen es den Widerstandsbegriff verorteteY "Der ,Konflikt'
zwischen dem Durchsetzungswillen des NS-Regimes und bemerkbaren wirksamen
Gegenkräften" 14 ist auch ein geeigneter Ausgangspunkt zur Erforschung oppositionellen Jugendverhaltens.
Da aber alle Termini der Widerstandsdifferenzierung für das Jugendverhalten
ungeeignet scheinen, kann das Verhalten von Edelweißpiraten und Navajos am
ehesten als "unangepasst" bezeichnet werden. 15 "Unangepasst" ist ein umfassender
Begriff, der aber zugleich den Konflikt, in dem die Jugendlichen mit dem NS-System
standen, thematisiert. Unangepasstes Verhalten ist kein zeitspezifisches Verhalten
der NS-Zeit, es existierte vor und nach der nationalsozialistischen Henschaft. Unangepasstes Jugendverhalten im "Dritten Reich" zeichnete sich durch die Ablehnung
bestimmter NS-Institutionen und den bewussten oder unbewussten Verstoß gegen
geltende Gesetze und Normen aus. Dieser Verstoß geschah öffentlich und kollektiv.
Unangepasste Jugendliche gingen damit ein Risiko ein, da schon ihr Zusammenschluss von den Machthabern verfolgt wurde. Innerhalb von solch asymmetrischen
Benschaftsbeziehungen aber, wie sie der Nationalsozialismus darstellte, erlangte
die "Verteidigung der individuellen Freiheit[ .. .], auch wenn sie nicht in prinzipiellpolitischen Einstellungen begründet war, unter den Bedingungen des NS-Regimes
politische Qualität und wurde[n] durch die Politische Polizei verfolgt" 16 • Der Ausdruck eines jugendlichen Lebensgefühls, den alle unangepassten Jugendlichen
teilten, stellte allein schon einen Konfliktpunkt dar. Von diesem Ausgangspunkt aus
konnte sich widerständiges Verhalten entwickeln, das über bloßes unangepasstes
Verhalten hinausging und sich einiger Aktionsformen des Widerstands bediente, die
sich eindeutig gegen das NS-Regime und seine Repräsentanten richteten. Darunter
fielen etwa das Verteilen von Flugblätter oder das Anbringen von Parolen. Ein Beispiel ist der "Klub der Edelweißpiraten" aus Köln-Nippes, dessen Mitglieder 1942
Flugblätter herstellten und Parolen wie "Heil Navajo" an die Wände malten. 17
13
14
15
16
17
Broszat (wie Anm. 8), S. 699.
Ebenda, S. 694.
Dieser Begriff lehnt sich an die erwähnte Ausstellung "Von Navajos und Edelweißpiraten.
Unangepasstes Jugendverhalten in Köln 1933-1945" des NS-Dokumentationszentrums Köln
an. Vgl. www.museenkoeln.de/ausstellungen/nsd_0404_edelweiss/db_index.html.
Broszat (wie Anm. 8), S. 699. Hervorhebung im Original.
HStAD Ger. Rep. 112118706.
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"Wilde Cliquen": Der Entstehungsprozess der Jugendgruppen
Wie aber sahen die Aktivitäten unangepasster und widerständiger Jugendlicher in
Köln in der Realität aus? Wie fanden sich die Gruppen zusammen, was trieb ihre
Mitglieder dazu, trotz der Verfolgung durch die Nationalsozialisten immer weiter
ihre Vorstellungen von autonomer Freizeitgestaltung durchzusetzen?
In Köln existierten während des "Dritten Reichs" hauptsächlich Gruppen von
Navajos und Edelweißpiraten. Dabei können zwei Phasenunangepassten Jugendverhaltens rekonstruiert werden: Der erste Zeitraum beginnt 1934 und endet 1938.
In diesen Jahren trafen sich Navajo-Gruppen an öffentlichen Plätzen. Zentrales Interesse der Navajos war das abendliche Zusammentreffen, das gemeinsame Singen
von Liedern und Ausflüge am Wochenende.
Eine einheitliche Klassifikation durch den Begriff "Navajos" ist nicht unproblematisch, wurde sie doch oft durch die Verfolgungsbehörden konstruiert. Manche
Jugendliche hatten bis zu ihrer Vernehmung durch die Gestapo noch nie etwas von
Navajos gehört. Dennoch wiesen alle Jugendgruppen sehr ähnliche Strukturen und
Aktivitäten auf; die Mitglieder kannten sich oft untereinander und übernahmen den
Namen auch als Selbstbezeichnung. Über die Herkunft des Begriffs lässt sich nur
mutmaßen. Ein Jugendlicher erklärte: "Wir nannten uns so, weil wir Krach schlugen
wie die Indianer. Wer den Namen aufbrachte, weiss ich nicht. Die Kölner Gruppen
nannten sich zunächst nicht Navajos, nahmen diese Bezeichnung aber später ebenfalls an." 18 In dem Lied "Die Sonne von Mexiko", das von Kölner Navajos gesungen
wurde, kommen die Namensgeber, die amerikanischen Navajos zur Sprache. 19
1938 bricht die schriftliche Überlieferung über die Navajos ab; nach einem großen Schlag der Gestapo im Herbst 193 7, darauffolgenden Prozessen und Urteilen
schienen die Jugendlichen sich vorerst ruhig verhalten zu haben. Bis 1942 gibt es
keine direkten Informationen mehr über unangepasste Jugendgruppen in Köln. Es
existieren aber Hinweise darauf, dass Jugendliche sich weiterhin trafen und deswegen verfolgt wurden. 20
Ab Sommer 1942 finden sich schriftliche Informationen über die Kölner Edelweißpiraten. Von diesem Zeitpunkt an kategorisierten die Verfolgungsbehörden alle
unangepassten Jugendlichen in Köln als Edelweißpiraten; zum Großteil nannten sich
18
19
20
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Vernehmung ErnstS. am 27.10.1937, HStAD Ger. Rep. 17/256, BI. 23. Rechtschreibung im
Original.
www.museenkoeln.de/ausstellungen/nsd_0404_edelweiss/db_index.htm.
Im Jahr 1940 wurden etwa bei einer "Osteraktion" Kölner Navajos festgenommen . Vgl. Kriminalität und Gefährdung der Jugend. Lagebericht bis zum Stande vom I. Januar 1941, hg.
vom Jugendführer des Deutschen Reiches, 1941, abgedruckt in: Arno Klönne (Hg.), Jugendkriminalität und Jugendopposition im NS-Staat. Ein sozialgeschichtliches Dokument, Münster
1981, S. 123.
Zwischen jugendlichem Freizeitverhalten, Subkultur und Opposition
die Jugendlichen aber auch selbst so. Die Bezeichnung Navajos wurde gelegentlich
noch synonym gebraucht.
Die Herkunft des Namens Edelweißpiraten ist ebenfalls ungeklärt; eine Erklärung bezieht sich auf das Edelweiß, das die Jugendlichen als Abzeichen trugen.
Die Bezeichnung "Piraten" knüpft vermutlich an die Kittelbachpiraten an, die Wandergruppen am Niederrhein bildeten. 21 Für die Nationalsozialisten war ",Edelweißpiraten' eine Bezeichnung, die auch sonst von Jugendbünden als Name gewählt wurde,
die sich im Gegensatz zur Hitlerjugend stellten und früheres bündisches Gedankengut
pflegten. [.. .] Als äußeres Zeichen ihrer Zusammengehörigkeit hatten sie ein Edelweiß
gewählt, daß als Stempel verwandt oder als Abzeichen am Rock getragen wurde. "22
Edelweißpiraten waren stark durch den Kriegsalltag geprägt. Im Gegensatz zu
den Jugendlichen der dreißiger Jahre waren sie mit Bombenkrieg, Kriegseinsatz
und einem immer offener terroristisch auftretenden Regime konfrontiert. Musik und
Fahrten waren weiterhin wichtig, doch auch das Organisieren von Lebensmitteln und
anderen Gütern rückte in den Mittelpunkt.
Viele Jugendliche wuchsen in sehr ärmlichen und beengten Verhältnissen auf.
Die Familie des Zeitzeugen Ludwig Hansmann bewohnte beispielsweise, als er ein
Kind war, zu sechst zwei Räume. 23 Über die Familie eines anderen Jugendlichen
schrieb die NSDAP: "Der Vater des obengenannten Jugendlichen ist vor 6 Jahren
gestorben. Die Mutter erhält eine monatliche Rente in Höhe von RM 33,40. Sie trägt
ausserdem Zeitungen aus. Es werden 2 äusserst bescheidene Räume bewohnt, die
in einem wenig ordentlichen Zustand angetroffen wurden. Es wird dafür eine Miete
von RM 25,25 bezahlt."24
Unter solchen Bedingungen konnten "Orte des jugendlichen Freizeitlebens [... ]
nicht die engen Wohnungen, sondern nur die Straße, das Viertel sein. "25 Schon als
Kinder beschäftigten sich die Arbeiterjugendlichen hauptsächlich auf der Straße.
Der erste Kontakt unter den Jugendlichen fand in den meisten Fällen in der
gleichen Wohngegend statt. Ähnlich wie bei den "wilden Cliquen" der Weimarer
Republik kamen sie abends an Plätzen und in Parks zusammen. Oft geschah dies
zufällig: Sie fühlten sich von der Gruppe angezogen oder wurden durch Freunde
dorthin gebracht. Neue Jugendliche konnten meist einfach dazukommen, auf Konspirativität wurde bis auf wenige Ausnahmen kaum Wert gelegt. Im Mittelpunkt
21
22
23
24
25
Peukert, Edelweißpiraten (wie Anm. 2), S. 56.
Urteilsschrift gegen Wilhelm T. u.a. vom 15.9.1943, HStAD Ger. Rep. 112118708, BI. 9.
Rechtschreibung im Original.
Interview mit Ludwig Hansmann [Kapitell: Familie], www.eg.nsdok.de.
Schreiben der NSDAP Kreisleitung Köln lrh. Süd, Hauptamt für Volkswohlfahrt an die Jugendkammer Köln über Ernst P. vom 10.1.1944, HStAD Ger. Rep. 156/42, BI. 64. Rechtschreibung
im Original.
Kenkmann, Jugend (wie Anm. 3), S. 79.
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Barbara Manthe
stand ohnehin der jugendliche Freizeitstil, der von vielen zunächst nicht als Opposition begriffen wurde. 26 An den Treffpunkten hielten sich die Jugendlichen auf,
machten Musik und sangen Lieder.
Einer der frühesten nachgewiesenen Zusammenschlüsse bildete eine NavajoGruppe, die sich an der Alten Mauer am Bach traf und die nach Angaben des vernommenen Jugendlichen Heinz N. seit 1934 bestand. Er berichtete davon, wie
sich die Navajos im Stadtgebiet ausgebreitet hatten: Zuerst trafen sich einzelne
Jugendliche an den Straßenecken und gingen dann zu anderen Sammelplätzen wie
dem Volksgarten oder fuhren zu bekannten Ausftugszielen. Dort lernten sie andere
Jugendliche kennen. So entwickelten sich Navajo-Strukturen in der ganzen StadtY
Walter H. von den Navajos am Georgsplatz schilderte 1937, wie er zu den Navajos kam: "Vor 6 Monaten kam ich erstmals mit den Kreisen von Jugendlichen in
Berührung, die sich ,Navajos' nennen. Ich traf zufällig am Georgsplatz Leo D.,
der mit einem Arbeitskameraden von mir mit Namen Franz H. Fussball spielte.
Ich machte mit und lernte noch 4 weitere Jugendliche kennen, die sich ebenfalls
auf dem Platz aufhielten. Von da ab verkehrte ich regelmässig am Georgsplatz, wo
sich nach und nach etwa 20 Burschen regelmässig einfanden. Es wurden dort allerhand Scherze getrieben, auch mit den dort verkehrenden Mädchen, sowie Lieder
gesungen." 28
Ähnlich verlief die Kontaktaufnahme bei dem Edelweißpiraten Wilhelm T. vom
Leipziger Platz, der 1942 von der Gestapo verhört wurde: "Bei meinem ersten Besuch
der Liesenbergermühle im Juni oder Juli vergangeneu Jahres lernte ich Heinrich K.
(Heina) kennen. Dieser forderte mich auf zum Leipziger Platz zu kommen. Einen
bestimmten Tag nannte er nicht, dort würde sich immer jemand aufhalten, wenn
ich bis 20.00 Uhr warten würde, käme bestimmt jemand. Da meine Bekannten zur
Wehrmacht einberufen waren und ich keinen freundschaftlichen Verkehr hatte, bin
ich eines abends zum Leipziger Platz gegangen. Es war dieses im Dezember 1941.
Ich traf auf dem Leipziger Platz etwa 30 Jugendliche beiderlei Geschlechts. Es
waren dieses alles Personen, die in der Nähe des Leipziger Platzes wohnen. Die
Jugendlichen spielten Gitarre und sangen dazu. Es wurden Marschlieder gesungen,
die auch bei der HJ. bei Gesängen und Märschen angewandt werden."29
Dass der zwanglose Umgang mit Gleichaltrigen zahllose Jugendliche anzog, die
sonst wenig Ausgleich und Freiraum hatten, bestätigte auch der Zeitzeuge Ludwig
26
27
28
29
96
Vgl. Rüther, Köln (wieAnm. 3), S. 222f.
Vernehmung Heinz N. am 13.12.1937, HStAD Ger. Rep. 17/397, BI. 3.
Vernehmung Walter H. am 26.10.1937, HStAD Ger. Rep. 17/256, BI. 15. Rechtschreibung
im Original.
Vernehmung Wilhelm T. am 21.12.1942, HStAD Ger. Rep. 112/18705, BI. 307. Zeichensetzung und Rechtschreibung im Original.
Zwischen jugendlichem Freizeitverhalten, Subkultur und Opposition
Hansmann, der zu den Edelweißpiraten am Volksgarten gehörte: "Es hat mich immer
wieder dahingezogen, [...] es war nicht so, dass ich gesagt habe, ich will da nichts
mit zu tun haben. [... ] Ich war froh, dass ich wieder dahinkam und dass ich mich
mit den Jungens unterhalten konnte [... ],wenn die GitalTe da war, dass wir Musik
gemacht haben, das war sehr schön."30
Von 1934 bis 1938 waren die Navajos in Köln ein weit verbreitetes Phänomen.
Parks, die wie der Volksgarten bald zu den beliebtesten Sammelpunkten avancierten,
boten genug Platz, dass sich dort mehrere Gruppen gleichzeitig trafen. Dass die
Grünanlagen und Nischen der Parks Schutz vor HJ-Streifen bieten konnten, machte
sie für die Jugendlichen noch attraktiver. 31 Die Treffpunkte waren unabdingbar zur
Entstehung der Gruppen, die bis auf wenige Ausnahmen öffentlich und nicht nur im
Freundeskreis stattfand.
Die Justizakten und die Berichte der Zeitzeugen legen ein äußerst dichtes Netz
verschiedener Gruppen und Cliquen offen. Allein für die Navajos finden sich in den
überlieferten Akten über dreißig Treffpunkte. Bei Razzien gegen die Navajos und
den darauffolgenden Verhören stellte die Gestapo immer wieder fest, dass sich Gruppen noch an Dutzenden anderer Orte trafen. Über einige Gruppen gibt es detaillierte
Informationen, andere werden nur am Rande erwähnt.
Die Kölner Edelweißpiraten hatten anders als die Navajos eher zentrale und
stadtweite Treffpunkte, an denen sich dann wesentlich mehr Jugendliche sammelten. Manchmal kamen mehrere hundert Jungen und Mädchen an einem Abend
zusammen. 1942 etwa trafen sich bis zu 200 Jugendliche aus ganz Köln im Volksgarten. Für rechtsrheinische Edelweißpiraten war das Rheinufer in Köln-Mülheim
ein beliebtes Ziel. 32 Verdunklung, Verordnungen und Fliegerangriffe machten es
zudem notwendig, neue Sammelplätze wie Gaststätten und Bunker aufzusuchen.
Vor und in den Bunkern und Luftschutzräumen vertrieben sich die Jugendlichen die
Zeit mit Singen und Musizieren. Manchmal übernachteten die Edelweißpiraten dort
auch- in der Phase des Bombenkriegs kam es oft Nacht für Nacht zu Luftangriffen.
Darüber hinaus waren etliche Jugendliche ausgebombt und fanden in den Bunkern
eine Bleibe für die Nacht und die Gesellschaft anderer Gleichgesinnter. 33
30
31
32
33
Interview mit Ludwig Hansmann [Kapitel 13/7: Unangepasste Jugend], www.eg.nsdok.de.
Vgl. www.museenkoeln .de/ausstellungen/nsd_0404_edelweiss/db_i ndex.
HStAD Ger. Rep. 156/42, 43.
Vgl. www.museenkoeln.de/ausstell ungen/nsd_0404_edel weiss/db_i ndex.html.
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Lebensrealität und Alltagserfahrungen
Über Anzahl und Größe der unangepassten Jugendgruppen sind lediglich Schätzungen möglich, die sich auf Angaben der Jugendlichen und der Gestapo beziehen.
Zeitzeugen gaben an, dass sich auch in den Jahren, über die es keine schriftliche
Überlieferung gibt, überall in der Stadtunangepasste Jugendliche trafen. Es erscheint
nicht unrealistisch, dass sich in den beiden Zeiträumen jeweils einige tausend Jugendliche innerhalb der unangepassten Gruppen oder in deren Umfeld bewegten. Den
Jugendlichen erschien unangepasstes Jugendverhalten als ein äußerst weit verbreitetes
Phänomen: "Gegen Ende des Jahres 1942 gab es so viele Edelweißpiraten, dass man
ihre Gruppen an fast allen Luftschutzbunkern in Köln finden konnte." 34 Im Verhör
sagte ein Navajo aus, dass seiner Meinung nach ,jeder zweite oder dritte Junge am
Wochenende heraus fahrt". 35
Auch die Angaben der Verfolgungsbehörden sprechen für diese Schätzung: "Dass
diese Jugendbewegung gerade im Stadtgebiet Köln in grossem Ausmasse besteht,
beweist die Sonderkartei bei der hiesigen Dienststelle, in der über 3.000 dieser Personen erfasst sind", so die Gestapo 1943. 36 In die Arbeitsanstalt Brauweiler wurden
immer wieder massenhaft Jugendliche gebracht, die bei Razzien der Gestapo verhaftet worden waren. Von August 1943 bis Februar 1944 etwa wurden 216 Jugendliche in Brauweiler eingeliefert. Die meisten von ihnen waren zwischen 15 und 18
Jahre alt. 37
Die Navajo-Gruppen zählten meist zwischen zehn und 20 Mitglieder; zu bestimmten Anlässen konnten sich jedoch auch weitaus mehr treffen. Die Jugendlichen kamen
fast alle aus der Arbeiterschaft und der unteren Mittelschicht Kaum ein Jugendlicher besuchte nach der Volksschule eine höhere Schule. Die Navajos standen schon
mit 16 Jahren voll im Arbeitsleben, doch ihr Verdienst war gering. Viele mussten
ihre Familien mitfinanzieren, verdienten wöchentlich manchmal nur vier bis zehn
Reichsmark. 38 Im Vergleich zu den Edelweißpiraten waren die Navajos zum Zeit-
34
35
36
37
38
98
Fritz Theilen, Edelweißpiraten, Köln 2003, S. 33.
Vernehmung Kar! 1. am 22.10.1937, HStAD Ger. Rep. 17/248, BI. 90.
Schlussbericht der Gestapo Köln vom 3.2.1943, HStAD Ger. Rep. 112/18705, BI. 392. Rechtschreibung im Original. Auch Martin Rüther geht davon aus, dass die Anzahl unangepasster
Jugendlicher in Köln in die Tausende ging. Rüther, Köln (wie Anm. 3), S. 340f.
Liste der Gestapo-Häftlinge in Brauweiler 1943-1944. Amt!. beglaubigte Abschrift v.
28.3.1947, Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland (=ALV) 15080, BI. 1-6; vgl. auch
Hermann Daners, "Ab nach Brauweiler ... !"Nutzung der Abtei Brauweiler als Arbeitsanstalt,
Gestapogefängnis, Landeskrankenhaus .. ., Pulheim 1996, S. 20 I. In der Liste der Inhaftierten
befinden sich Namen bekannter Edelweißpiraten.
Vernehmung Franz L. am 19.10.1937, HStAD Ger. Rep. 17/248, BI. 13; Vernehmung Anton
H. am 22.10.1937, HStAD Ger. Rep. 17/248, BI. 93; Vernehmung Helmut M. am 22.10.1937,
HStAD Ger. Rep. 17/248, BI. 116.
Zwischen jugendlichem Freizeitverhalten, Subkultur und Opposition
punktihres Verhörs älter, meist zwischen 17 und 20 Jahren. 39 Oft hatten sie daher die
Machtübernahme durch die Nationalsozialisten noch bewusst miterlebt Ihre Entscheidung, sich von der HJ ab- und den Navajos zuzuwenden geschah in Erinnerung
an eine Zeit, in der der Zusammenschluss in Jugendgruppen noch nicht erbittert
verfolgt wurde.
In der Forschungsdebatte um unangepasstes Jugendverhalten wird oft der Bezug
dieser Jugendlichen zur bürgerlichen bündischen Jugend thematisiert. Die Nationalsozialisten subsumierten alle Navajos und Edelweißpiraten unter der Bezeichnung
"Bündische Jugend". Die Gestapo-Verordnung vom 8. Februar 1936, die alle Bünde
und jegliche bündische Betätigung gemäß der Verordnung des Reichspräsidenten
zum "Schutz von Volk und Staat" vom 28.2.1933 verbot, war ab Mitte der dreißiger
Jahre das allumfassende rechtliche Instrument gegen unangepasste Jugendliche in
Köln. 40
Bei den Navajos bestand durchaus die Möglichkeit der Mitgliedschaft in Jugendorganisationen vor 1933. Darüber geben jedoch nur die Vernehmungsprotokolle Auskunft. Die Jugendlichen waren allerdings darauf bedacht, so wenig Informationen
wie möglich über konfessionelles oder gar linksgerichtetes Engagement zu machen
oder es am besten zu verschweigen.41 Dagegen konnte sich eine frühe Mitgliedschaft
in der HJ- ob sie nun tatsächlich bestanden hatte oder nicht- durchaus positiv auswirken. Ob die Jugendlichen aktiv oder nur formal der HJ angehört oder eine Mitgliedschaft ganz erfunden hatten, wird nicht deutlich. Daher sind kaum gesicherte
Aussagen über das Engagement der Jugendlichen vor der Machtübernahme durch
die Nationalsozialisten möglich. Trotzdem ist der Anteil der HJ-Mitgliedschaften
vor 1933 bei fast einem Drittel der bekannten Fälle sehr hoch; dahinter stand wohl
das generelle Interesse der Jugendlichen, neue Organisationsformen und Zusammenschlüsse auszuprobieren. Insgesamt gaben nur wenige Jugendliche zu, aus der
deutschen Jugendbewegung zu kommen; die Verbindung zur bündischen Jugend war
tatsächlich auch, wenn überhaupt, wohl nur ideell. 42
39
40
41
42
Vgl. auch Interview mit Fritz Theilen [Kapitel 16/5: Unangepasste Jugend], www.eg.nsdok.
de.
Schreiben der Preußischen Geheimen Staatspolizei über die "Bündische Jugend" vom 8.2.1936,
HStAD Ger. Rep. 17/256, BI. 55. Zu den Urteilen siehe HStAD Ger. Rep. 17/250; HStAD Ger.
Rep. 17/256, BI. 85; BI. 12-14; HStAD Ger. Rep. 17/258, BI. 91 f.; HStAD Ger. Rep. 171385,
BI. 79; HStAD Ger. Rep. 171393, BI. 62f.; HStAD Ger. Rep. 17/395, BI. 40; HStAD Ger. Rep.
171397, BI. 94f.; HStAD Ger. Rep. 17/383, BI. 90f.; HStAD Ger. Rep. 112118706, Bl758f.;
HStAD Ger. Rep. 156/43, BI. I.
Vgl. Kenkmann, Jugend (wieAnm. 3), S. 36.
Vgl. auch Alfons Kenkmann, Navajos, Kittelbach- und Edelweißpiraten. Jugendliche Dissidenten im "Dritten Reich", in: Wilfried Breyvogel (Hg.), Piraten, Swings und Junge Garde.
Jugendwiderstand im Nationalsozialismus, Bonn 1991, S. 145 f. , der konstatierte, dass "beide
Jugendkulturen getrennt voneinander den NS-AIItag bewältigten".
99
Barbara Manthe
Die Edelweißpiraten der vierziger Jahre kamen wie die Navajos aus der Arbeiter- und unteren Mittelschicht Im Gegensatz zu diesen befanden sich viele in ihrer
Ausbildung und waren noch Lehrlinge. Ein typischer Lebenslauf eines Arbeiterjugendlichen in den frühen vierziger Jahren war ein achtjähriger Besuch der Volksschule. Danach folgte oft die neunmonatige Landhilfezeit oder, für die Mädchen, das
Pftichtjahr. Nach dem Landjahr gingen die Jugendlichen in die Lehre oder begannen
zu arbeiten. 43 Die meisten Edelweißpiraten waren zum Zeitpunkt des Verhörs 15 bis
18 Jahre alt. Dies lag zum Großteil daran, dass Ältere nun zur Wehrmacht eingezogen worden waren. Trotzdem waren die Edelweißpiraten, ebenso wie die Navajos,
zu politisch motivierten Aktionen sowohl bereit als auch in der Lage.
Bei den Edelweißpiraten ist schon aufgrund ihres Alters kaum eine bündische
Vorgeschichte möglich. Michael Jovy, der in Bonn eine bündische Widerstandsgruppe leitete, stellte in seiner Dissertation 1952 fest: "Im äußeren Auftreten glichen
die auf Fahrt gehenden Edelweißmitglieder weitgehend den bündischen Gruppen
der illegalen Zeit. Jedoch hat eine unmittelbare Beziehung zur bündischen Jugend
wohl nirgends bestanden. Zwar erhielten sich einige Lieder der Bündischen in diesen
Kreisen, man sang sogar: ,Wir wollen bündisch sein ', aber es verband sich hiermit keinerlei klare Vorstellung, was die bündische Jugend eigentlich gewesen war.
[... ]. Im allgemeinen[ ... ] lag die Zeit der Jugendbewegung dem Bewußtsein dieser
Jugendlichen schon so fern, daß eigentlich nur noch die Erinnerung lebendig war,
daß irgendwann die Jugend frei gewesen sei". 44
Bündisch wurde als Synonym von Freiheit begriffen, ohne dass die enge Definition von Bedeutung war. Die Edelweißpiraten konnten sich mit den fragmentarisch
tradierten Merkmalen der bündischen Jugendbewegung identifizieren und benutzten sie als Ausdruck ihrer Opposition. Erwähnt sei nur der Fall des Edelweißpiraten
Wilhelm T., der 1942 "Die Bündische Jugend" an Hausmauern schrieb. 45 Vom soziologischen Gesichtspunkt gesehen können allerdings viel eher die "Eckensteher" und
"wilden Cliquen" der Weimarer Republik als Vorgänger der Navajos und Edelweißpiraten betrachtet werden.
Der Beginn des Krieges änderte auch für die Jugendlichen ihre Lebenssituation.
Der Krieg stellte einen zentralen Unterschied zwischen Navajos und Edelweißpiraten dar, da er das Leben der Jugendlichen in nahezu allen Bereichen massiv ver-
43
44
45
Vgl. Vernehmung Johann G. am 18.12.1942, HStAD Ger. Rep. 112118705, BI. 244; Vernehmung Anton M. am 28.10.1943, 156/42, BI. 14.
Michael Jovy, Jugendbewegung und Nationalsozialismus. Zusammenhänge und Gegensätze.
Versuch einer Klärung, Bonn 1984, zugl. Diss., Köln 1952, S. 178. Es gab allerdings auch
einige Jugendliche, die sich in einer bündischen Tradition sahen oder Kontakte zu Bündischen
pflegten. Vgl. Jean Jül ich, Kohldampf, Knast un Kamelle. Ein Edelweißpirat erzählt sein
Leben, Köln 2003, S. 58 f; Theilen (wie Anm. 34), S. 19.
HStAD Ger. Rep. 112118706.
100
Zwischen jugendlichem Freizeitverhalten, Subkultur und Opposition
änderte. Soziale Kontrolle und Restriktion wurden mit fortschreitendem Verlauf des
Krieges immer drastischer. Die Arbeitszeit stieg auf 60 bis 72 Stunden pro Woche,
während die Lebensmittel immer knapper wurden. Dazu mussten die Jugendlichen
auch Räum- und Wachdienste übernehmen. In der Endphase des Krieges wurden sie
zu schweren Arbeitseinsätzen wie etwa am Westwall herangezogen. Die Nationalsozialisten schränkten mit Tanz- und Gaststättenverboten die Freizeitmöglichkeiten
der Jugendlichen immer weiter ein. 46 Zentral war der Tod als Alltagserfahrung, der
sowohl für die eingezogenen Edelweißpiraten als auch für die zurückgebliebenen
Jugendlichen in Köln stets präsent war.47 Viele Lieder handelten von Abschied und
Tod wie etwa das beliebte Lied "Edelweißpiraten sind treu":
"Wenn die Sirenen in Hamburg ertönen
müssen wir Navajos an Bord.
In einer Kneipe bei einem Made[,
fällt uns der Abschied so schwer.
Rio de Janeiro aohio Kabalero,
Edelweißpiraten sind treu. "48
Aber der Krieg schien zumindest für einige Jugendliche auch Anziehungskraft zu
besitzen. Mit ihm war häufig der Aspekt eines Abenteuers und Erlebnisses verbunden. Der Historiker Detlev Peukert konstatierte dazu: "Der traditionelle Sozialist
konnte prinzipiell gegen den Krieg sein und dennoch akkurat Granatrohre drehen.
Der Edelweißpirat hingegen konnte durchaus vom Soldatenleben träumen, sich aber
dem Kriegsalltag [... ] zu entziehen suchen". 49 Der Edelweißpirat Anton M. etwa
hatte sich vor seiner Verhaftung freiwillig zur Waffen-SS gemeldet, war allerdings
noch nicht angenommen worden. 1944 stellte er aus der Haft heraus noch einmal
Antrag auf Frontbewährung bei der Waffen-SS.50 Die Versuche der Jugendlichen,
46
47
48
49
50
Bernd-A. Rusinek, Desintegration und gesteigerter Zwang. Die Chaotisierung der Lebensverhältnjsse in den Großstädten 1944/45 und der Mythos der Ehrenfelder Gruppe, in: Breyvogel
(wie Anm. 42), S. 283 .
Kenkmann, Jugend (wie Anm. 3), S. 234.
Vernehmung Robert E. am 1.12.1943, HStAD Ger. Rep. 156/42, BI. 45. In anderen Versionen
heißt es "ahoi Kaballero". Hier wird die Bezeichnung "Navajos" synonym zu "Edelweißpiraten" gebraucht.
Detlev Peukert, Die KPD im Widerstand. Verfolgung und Untergrundarbeit an Rhein und Ruhr
1933 bis 1945, Wuppertal 1980, S. 391. Zur Attraktivität des Krieges auf Edelweißpiraten vgl.
auch Kenkmann, Jugend (wie Anm. 3), S. 255 f.
Schreiben der NSDAP Kreisleitung Köln lrh. Süd, Hauptamt für Volkswohlfahrt an die Jugendkammer Köln über Anton M. vom 11.1.1944, HStAD Ger. Rep. 156/42, BI. 66; Schreiben
Anton M. an die Oberstaatsanwaltschaft Köln vom 3.2.1944, HStAD Ger. Rep. 156/42,
Bl.81.
101
Barbara Manthe
durch Meldung zur Front eine Entlassung aus der Haft zu erreichen, sind allerdings
ebenso im Kontext ihrer zum Teil sehr hohen Haftstrafen zu sehen. 51
Auch wer nicht an die Front eingezogen worden war, wurde tagtäglich mit dem
Tod konfrontiert. Zahlreiche Jugendliche wurden mit ihren Familien ausgebombt
oder verloren Verwandte oder Freunde bei den Luftangriffen. Sie selbst halfen während und nach den Angriffen bei Lösch- und Bergungsarbeiten. 52 Die Erfahrung
der vaterlosen Familie prägte die Kinder und Jugendlichen jener Zeit. Mehr und
mehr wurden sie gezwungen, in der Kriegsgesellschaft Funktionen von Erwachsenen zu übernehmenY In den letzten Kriegsjahren waren die Zustände in der Stadt
katastrophal: Im Herbst 1944 war Köln ohne Wasser-, Gas- und Lichtversorgung.
Telefonleitung und Verkehrsverbindung waren zusammengebrochen. 54
Durch diese Erfahrungen sank die Angstschwelle bei den Jugendlichen; Waffenbesitz war in der Endphase des Krieges nicht ungewöhnlich. 55 Der Historiker BerndA. Rusinek sprach für die letzte Kriegsphase von dem Verlust von Räumlichkeit und
Zeitlichkeit. Räumlichkeit ging durch die permanente Zerstörung der Großstadtwelt
verloren. Zeitlichkeit als "die Möglichkeit von Plan, Perspektive und Vertrauen" war
ebenfalls "durch die Bomben-Angriffe und durch die ständig die Stadt durchkämmenden Gestapo-Kommandos in der Substanz zerstört." Schlaf- und Wachrhythmus waren vollständig gestört. Die Folge war Selbstaufgabe und Frustration: "Das
individuelle Ende innerhalb der nächsten Stunden oder Tage war in den Bereich des
Wahrscheinlichen gerückt. "56 In dieser Zeit der Verunsicherung gaben die Gruppen
den Jugendlichen großen RückhaltY Sie schufen eine kollektive Identität, die durch
die Zerstörung von Normalität und Alltäglichkeit sonst kaum noch zu finden war.
Köln war gegen Ende des Krieges eine entvölkerte Stadt. Kurz vor der Befreiung
durch die Alliierten, im Februar 1945, lebten nach amtlichen Angaben auf beiden
51
52
53
54
55
56
57
Der Edelweißpirat Robert E. zum Beispiel wurde im Januar 1944 zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt. Im Februar 1944 bot er an, sich der HJ-Division zur Verfügung zu stellen.
Urteilsschrift gegen Anton M. u.a. vom 26.1.1944, HStAD Ger. Rep. 156/42, BI. 70; Schreiben Robert E. an die Oberstaatsanwaltschaft Köln vom 23.2.1944, HStAD Ger. Rep. 156/42,
BI. 82.
Kenkmann, Jugend (wie Anm. 3), S. 234 f. Franz H. half beim Angriff am 31 . Mai 1942 beim
Löschen und barg Tote und Verwundete. Schreiben Franz H. an den Untersuchungsrichter vom
25.3.1943, HStAD Ger. Rep. 112118705, BI. 511. Fritz Theilen verlor zwei Freunde während
des Bombenangriffsam 29. Juni 1943. Theilen (wie Anm. 34), S. 43.
Kenkmann, Jugend (wie Anm. 3), S. 224-226.
Tätigkeitsbericht der Staatspolizeistelle Köln im September und Oktober 1944, HStAD RW
34/8, BI. 6-8.
Kenkmann, Jugend (wie Anm. 3), S. 239; Rüther, Köln (wie Anm. 3), S. 216.
Rusinek, Desintegration (wie Anm. 46), S. 277 f.
Interview mit Toni Maschner [Kapitel 11/2: Unangepasste Jugend] , www.eg.nsdok.de.
102
Zwischen jugendlichem Freizeitverhalten, Subkultur und Opposition
Rheinseiten gerade noch 85.000 Menschen. 58 In den Ruinen mussten sich die Jugendlichen zurechtfinden. Die Unübersichtlichkeit der zerstörten Stadt bot ihnen aber
auch einen gewissen Schutz. Ihr Leben richtete sich ganz nach den Bedingungen
des Krieges aus: Die Jugendlichen trafen sich in Bunkern und Gaststätten, mussten
ihre Versorgung oft selbst organisieren. Diebstähle von Lebens- und Genussmitteln
und Kleidungsdiebstähle kamen in den letzten Kriegsjahren viel häufiger vor. 59 Viele
Jugendliche, die 1944 zu Schanzenarbeiten am Westwall eingezogen worden waren,
flüchteten und kehrten nach Köln zurück.60 Da sie nun untertauchen mussten und
von der Lebensmittelkartenversorgung ausgeschlossen waren, waren ihre Lebensumstände illegalisiert: Ein Überleben ohne Diebstähle und Einbrüche war nun nicht
mehr möglich.61
Die Abgrenzung zur HJ
In der Zeit vor dieser Extremsituation in der Endphase des Krieges allerdings hatten die Kölner Edelweiß- und Navajo-Gruppen, trotz der sehr unterschiedlichen
Umstände, viele Gemeinsamkeiten. Dazu zählten besonders die Art und Weise, wie
sich die Cliquen bildeten, ihre Freizeitgestaltung, ihre Gruppencodes und das Verhältnis zur HJ, die ihre anfänglichen Reize schnell verlor.
Viele Jugendliche suchten einen Ausgleich zu den Aktivitäten der HJ. In der
Anfangszeit besaßen viele Navajos noch eine positive Haltung gegenüber der Hitlerjugend, waren etwa bereits vor 1933 oder kurz danach eingetreten. Doch sie merkten
bald, dass sie in der HJ keinerlei Mitbestimmungsrecht hatten und dass auf die
Versuche, daran etwas zu ändern, sofort mit Repression geantwortet wurde. So entwickelte der weitaus größte Teil der Jugendlichen eine ablehnende Einstellung zur
Hitlerjugend, die sich häufig in gewaltsamen Auseinandersetzungen auf der Straße
äußerte. Vor allem die Navajos gingen bald auf Konfrontationskurs. Sie entzogen
sich den Erfassungsversuchen der HJ aus verschiedenen Gründen. Vor der Gestapo
gaben viele an, sie hätten keine Zeit oder kein Geld für die Uniform gehabtY Andere
58
59
60
61
62
Rüther, Köln (wie Anm. 3), S. 467.
Vernehmung Robert E. am 1.12.1943, HStAD Ger. Rep. 156/42, BI. 45 f.; Schlussbericht der
Gestapo Köln vom 3.2.1943, HStAD Ger. Rep. 112118705, BI. 393.
Vgl. Vernehmung Bartholomäus Schink am 28.10.1944, HStAD Ger. Rep. 248/64, BI. 490;
Vernehmung Ferdinand Steingassam 30.10.1944, HStAD Ger. Rep. 248/64, BI. 502; Vernehmung Jean Jülich am 1.11.1944, HStAD Ger. Rep. 248/64, BI. 527; Vernehmung Günther
Schwarz am 6.11.1944, HStAD Ger. Rep. 248/64, BI. 581 ; Bericht der Gestapo über die Exekutierung von 13 Reichsdeutschen vom 6.11.1944, HStAD Ger. Rep. 248/65, BI. 699.
Interview mit Ludwig Hansmann [Kapitel 1911 : Illegalität], www.eg.nsdok.de.
Vgl. Urteilsschrift gegen Peter S. u. a. vom 16.12.1937, HStAD Ger. Rep. 17/249, BI. 332.
103
Barbara Manthe
gaben zu, dass ihnen die Zwänge der HJ nicht gefielen oder es einfach zu langweilig
war. Franz L. erklärte über die Navajos vom Georgsplatz: "Einen eigentlichen Zweck
oder politische Ziele hat der Bund nicht. Wohl wollen sie alle mit der HJ nichts zu
tun haben. Alles sagen, in der HJ sei nichts los, weil sie sich nicht kommandieren
lassen wollten, insbesondere nicht vonjüngeren als sie selbst."63 Nicht wenige wurden wegen Interesselosigkeit oder unentschuldigten Fehlens ausgeschlossen.
Einige gaben an, ihre Bemühungen, sich in der HJ zu engagieren, seien aufgrund von unfähigen Führern und mangelhaften Strukturen gescheitert: "Bei den
Unterhaltungen kam auch das Gespräch auf die HJ Führer, wobei besonders die
Unkameradschaftlichkeit der HJ Führer erörtert wurde. Es wurden Fälle aufgezählt,
wo die ehemaligen HJ Angehörigen (die jetzigen Navajos) durch ihre Führer zu
Unrecht behandelt wurden. Aus diesem Grund sind in den meisten Fällen die jetzigen Navajos aus der HJ ausgeschieden." 64
Für die Edelweißpiraten der vierziger Jahre hatte es selten einen Zeitpunkt gegeben, an dem sie sich bewusst für eine Mitgliedschaft in der HJ entschieden hatten.
Sie waren zur Zeit der Machtübernahme noch Kinder gewesen und erfuhren die
vermeintliche Alternativlosigkeit der Staatsjugend als besonders erdrückend. Aber
wie bei den Navajos stellte sich bald eine Unzufriedenheit über den Drill und die
Zwänge der HJ ein und die Edelweißpiraten versuchten sich dem zu entziehen.65
In den Verhören sagten sie aus, sie hätten nicht am HJ-Dienst teilgenommen, weil
sie nach der Arbeit zu müde dafür gewesen seien. War der Dienst an einem Sonntag, wollten sie lieber ausschlafen.66 Nach einer langen Arbeitswoche wollten viele
Jugendliche lieber ihre spärliche Freizeit genießen.
Ein Edelweißpirat vom Leipziger Platz geriet über offene soziale Widersprüche
in ein distanziertes Verhältnis zur HJ: "Ich habe immer beobachten müssen, dass die
HJ-Führer der Jetztzeit es immer an der erforderlichen Kameradschaft fehlen liessen.
Der Dienst in der HJ. wurde mir dadurch leid gemacht. Immer wieder musste ich
feststellen, dass die Jugendlichen gutbemittelter Eltern äusserst schnell befördert
wurden."67
Gerade die mangelnde Selbstbestimmung innerhalb der HJ führte dazu, dass
Navajos wie Edelweißpiraten nach den disziplinierenden Maßnahmen der HJ die
63
64
65
66
67
Vernehmung Franz L. am 19.10.1937, HStAD Ger. Rep. 17/248, BI. 15. Rechtschreibung im
Original.
VernehmungAnion H. am 22.10.1937, HStAD Ger. Rep. 17/248, BI. 95. Rechtschreibung im
Original.
Interview mit Ferdinand Steingass [Kapite12/l: NS-Jugendorganisation], www.eg.nsdok.de.
Vernehmung Harry S. am 8.12.1942, HStAD Ger. Rep. 112118704, BI. 150; Vernehmung
Georg B. am 24.12.1942, HStAD Ger. Rep. 112/18705, BI. 318.
Vernehmung Fritz D. am 18.1.1943, HStAD Ger. Rep. 112/18705, BI. 389. Rechtschreibung
im Original.
104
Zwischen jugendlichem Freizeitverhalten, Subkultur und Opposition
Möglichkeit genossen, selbst erkämpfte Freiräume mit eigenen Freizeitvorstellungen zu füllen.
Fahrten, Musik und Kleidung
Eine deutliche Anhindung an die bündische Wandervogel-Tradition waren Ausflüge
und Fahrten in die nähere Umgebung oder gelegentlich auch längere Fahrten innerhalb Deutschlands oder ins Ausland. Fahrten und Wanderungen waren zu dieser Zeit
unter Jugendlichen ein weit verbreitetes Phänomen, da gerade für Arbeiteijugendliche kaum ein kostenfreies Freizeitangebot existierte. Die beengten Arbeits- und
Wohnverhältnisse machten das Natur- und Gemeinschaftserlebnis des Wochenendes zum bedeutsamen Freizeitausgleich. Der Historiker Alfons Kenkmann sah
die Wurzeln des Auf-Fahrt-Gehens sogar nicht in der bürgerlichen Jugendbewegung,
sondern im "Freizeitleben großstädtischer Arbeiterjugend". 68
Dieses Fahrtenverhalten stellte einen krassen Gegensatz zu den massenhaft
organisierten HJ-Zeltlagern dar, mit denen die Nationalsozialisten besonders in der
Anfangsphase des Regimes Jugendliche anwerben wollten. Beliebte Ausflugsziele
der Kölner Jugendlichen waren Ausflugslokale im Bergischen Land. Die Navajos
suchten gerne das Ausflugslokal "Margarethenhöhe" und das Strandbad "Ammerland" in Rösrath auf. Auch der Königsforst, Königswinter und das Siebengebirge
stellten Anziehungspunkte für Navajos wie Edelweißpiraten dar. 69 Die Jugendlichen
bestimmten selbst Fahrtziel und Charakter der Fahrt, die fern des HJ-Drills ablief.
Sie bevorzugten die jugendbewegte Fahrtenromantik mit dem einfachen Leben in
der Natur, Lagerfeuer und Gesang.
Die Fahrten waren darüber hinaus eine Gelegenheit, gleich gesinnte Jugendliche aus anderen Städten kennen zu lernen. Dann wurden Kontakte geknüpft und
Lieder ausgetauscht. Manchmal verabredeten sich die Jugendlichen zu großen überregionalen Treffen. 70
Jean Jülich, Edelweißpirat aus Sülz, erinnerte sich an die für die Jugendlichen
disziplinfreien und so zentralen Ausflüge: "Die Samstagnachmittage verbrachten
wir damit, durch das Gelände zu streifen oder in einem der eiskalten Seen zu baden.
Es war ein herrliches Gefühl, fernab von den Werkbänken der Lehrwerkstatt, fernab
68
69
70
Kenkmann, Jugend (wie Anm. 3), S. 89; vgl. auch Detlev Peukert, Die "Wilden Cliquen" in
den zwanziger Jahren, in: Wilfried Breyvogel (Hg.), Autonomie und Widerstand. Zur Theorie
und Geschichte des Jugendprotests, Essen 1983, S. 67.
www.museenkoeln.de/ausstellungen/nsd_0404_edelweiss/db_index.html.
Vgl. Vernehmung Klaus B. am 29.12.1942, HStAD Ger. Rep. 112118705, BI. 334; Theilen
(wie Anm. 34), S. 32.
105
Barbara Manthe
von der Stadt, die in Trümmern lag, auf einem romantischen Fleck inmitten der
Natur zusammen mit Gleichgesinnten zu sein und nicht irgendwelchen Befehlen
gehorchen zu müssen." 71
Auch Musik und Gesang waren ein treibender Motor der Jugendgruppen. Im
Nationalsozialismus stand die Musik der Hitlerjugend im Dienste weltanschaulicher
und militaristischer Propaganda. Dementsprechend wurde in den "unteren Einheiten von HJ, Jungvolk und BDM zunehmend das gesteuerte Absingen vorgegebener Lieder durchgesetzt, die als eines der wichtigsten Mittel weltanschaulicher
Schulung angesehen wurden." 72 Die Musik der unangepassten Jugendlichen war
dagegen vielfältiger, ungezwungener. Es gab kein festes Repertoire an Liedern,
sondern dieses bestand aus populärer Musik, Kosakenliedern, Abenteuerliedern,
bündischen Liedern und Liedern, die in der HJ gesungen wurden. 73 Einige Lieder
waren keineswegs verboten, andere jedoch waren regimekritisch. Immer aber entsprachen sie dem Lebensgefühl dieser Jugendlichen. Besonders traf dies für die
Lieder zu, die die Sehnsucht nach Weite, Freiheit und Abenteuer ausdrückten. Sie
handelten von weiten Reisen und von fernen Ländern. Ein sehr beliebtes Lied war
"Platow preisen wir den Helden":
"Platow preisen wir den Helden,
unsern Feind hat er besiegt in jeder Schlacht.
Heil dem Sieger, Preis und Ehr;
Heil dem Donkosakenheer. "74
Zum Lebensgefühl gehörte auch die öffentliche Provokation, die durch das laute
Absingen der Lieder erreicht werden konnte. Auch wenn die Cliquen keine formalen
Hierarchien besaßen, hatten meistens die Jugendlichen, die Instrumente besaßen,
das Sagen: "Als führend kann man die Jungen bezeichnen, die eine Gitarre bei
sich führten und durch das Spielen andere Jungen anlocken", so der Edelweißpirat
Ernst P. 75
Es gab Gruppen, die sich eigens zum Singen von Liedern gründeten. Eine etwa
25-köpfige Gruppe, die 1937 auch zusammen mit anderen Navajos auf Fahrt ging,
nannte sich "Singkreis". Ein Mitglied, Hermann S., stellte ein Liederbuch her, in dem
71
72
73
74
75
Jülich (wie Anm. 44), S. 49.
Martin Rüther, "Wo keine Gitarre klingt, da ist die Luft nicht rein!" Anmerkungen zum Singen
in der NS-Zeit, in: Martin Rüther/Jan Ü.Krauthäuser/Rainer G. Ott (Hg.), "Es war in Schanghai". Kölner Bands interpretieren Lieder der Edelweißpiraten, Köln 2004, S. 17.
Ebenda, S. 22.
Anklageschrift gegen Wilhelm T. u.a. vom 23.6.1943, HStAD Ger. Rep. 112!18706, BI. 614.
Vernehmung Ernst P. am 27.10.1943, HStAD Ger. Rep. 156/42, BI. 9.
106
Zwischen jugendlichem Freizeitverhalten, Subkultur und Opposition
die beliebtesten und bekanntesten Lieder abgedruckt waren.76 Solche selbst gemachten Liederbücher waren keine Seltenheit in unangepassten Jugendgruppen. Regelrechte Tauschbörsen entstanden, in denen die Bücher untereinander ausgetauscht
und Lieder abgeschrieben wurden, was deren Verbreitung immens beschleunigte.
Gemeinsames Liedgut ermöglichte eine rasche Integration von neuen Jugendlichen
in Gruppen. Das Liedgut der Navajos und Edelweißpiraten war unmittelbares Distinktionselement und, obwohl in den meisten Fällen übernommen, für alle wichtiger
Bestandteil einer Subkultur, die eine hohe Attraktivität auf andere Jugendliche ausübte.
Zu dem selbstbestimmten Auftreten gehörte auch eine eigene Kleidung, die
Kluft. Eine eigene Kluft war in gleicher Weise immer ein Merkmal der Jugendbewegung gewesen. Die Nationalsozialisten beklagten die "Phantasie-Uniformen", 77
mit denen sich die Jugendlichen gerne schmückten. Von der Gestapo darüber befragt,
versuchte die Navajo Maria S. Entstehung und Zweck der Kluft zu erklären: "Die
fast gleichmässige Kluft wurde zu dem Zwecke getragen, einheitlich gekleidet zu
sein, sodass man sich auch aufFahrt gegenseitig erkennen könne. Dass die Kleidung
von jemand bestimmt worden ist, kann ich nicht sagen. Ich glaube vielmehr, dass
sie sich nach und nach herausgebildet hat. Kam z. B. ein Junge zu uns der eine Hose
trug, die etwa bis zum Knie reichte, so lachten wir ihn aus und forderten ihn auf, es
den anderen gleichzutun und die Hose ganz kurz zu schneiden."78
Im Januar 1936 meldete der Bannstreifenführer Heinz W. Aktivitäten von Kölner
Navajos, "die eine schwarze Hose und eine Schwarze Weste aus Manchester tragen.
Zu dieser Kluft tragen sie noch weisse Hochlandstrümpfe oder Schaftstiefel. Dazu
tragen sie bunte Halstücher, Skimützen, teilweise dazu bunte karierte Hemden, Tornister und Brotbeutel und Koppel." 79
Die Navajos schmückten sich gerne mit Kraftriemen mit Totenkopf-Abzeichen.
Die Mädchen trugen dunkle Röcke, dazu Hemden und Halstücher. 80 Mit ähnlicher
Kluft, nämlich kurzer Hose, Stiefeln, umgeschlagenen weißen Strümpfen, karierten Hemden und Halstüchern kleideten sich auch die Edelweißpiraten, die darüber
76
77
78
79
80
Bericht der Staatspolizeistelle Köln über Vergehen gegen die V. 0. v. 28.2.33, v. 1.11.33
(Reichskulturkammergesetz) und gegen das Gesetz v. 20.12.34 (Heimtückegesetz) vom
22.12.1937, HStAD Ger. Rep. 17/383, BI. 1.
Kenkmann, Jugend (wie Anm. 3), S. 190.
Vernehmung Maria S. am 30.12.1937, HStAD Ger. Rep. 17/395, BI. 16. Zeichensetzung und
Rechtschreibung im Original.
Bericht Heinz W. am 13.1.1936, HStAD Ger. Rep. 112/2190, BI. 2. Rechtschreibung im
Original.
Bericht der Staatspolizeistelle Köln über staatsfeindliche Betätigung vom 15.9.1937, HStAD
Ger. Rep. 17/385, BI. 1.
107
Barbara Manthe
hinaus durch ihre langen Haare auffielen. 81 Viele Jugendliche trugen verbotene
Abzeichen. Edelweiß und Totenkopf waren dabei die beliebtesten Symbole und
indizierten den Machthabern die Zugehörigkeit zu den Cliquen.82 Navajos in Kalk
hatten ein eigenes metallenes Emblem mit den Buchstaben "KN" für Kalker Navajos
hergestellt. 83 Andere trugen Koppeln, die sie mit dem Bildehen der Zigarettenfirma
"Haus Neuerburg" beklebten. 84
Ein durchgängiges Moment war die Verweigerung des Hitler-Grußes innerhalb der
Cliquen. Über die Navajos konstatierte das Sondergericht, "dass sie sich als Gegner
der Hitlerjugend gefühlt haben und dass dementsprechend der Deutsche Gruss Heil
Hitler bei ihnen verpönt war".85 Jugendliche, die mit "Heil Hitler" grüßten, waren
nicht gerne gesehen. Statt dessen benutzten sie die bündischen Grüße "Honido"
und "Ahoi" oder sagten "Guten Tag". Eine weitere Grußform war der "Fingergruß",
wobei beim Händedruckjeweils die kleinen Finger ineinander gekreuzt wurden.86
Kleidung und Gruppenstil halfen trotz loser Strukturen und hoher Fluktuation,
Gruppenidentität und Gemeinschaftsgefühl herzustellen. Schon von weitem konnten
sich die Jugendlichen erkennen und zwischen Freund und Feind unterscheiden.
"Die Mädchen gehörten dazu". Das Verhältnis zwischen Mädchen und Jungen
Nahezu alle Edelweißpiraten- und Navajo-Gruppen waren konträr zur HJ gemischte
Gruppen, die gemeinsam auf Fahrt gingen. Für das Verständnis der Jugendlichen
von selbstbestimmter Freizeit war die Möglichkeit, dass sich Mädchen und Jungen
ungestört trafen, von großer Wichtigkeit. Der Edelweißpirat Robert E. äußerte sich
hierzu 1943 vor der Gestapo: "Die Jungen werden auch vielfach durch die Mädchen
an diesen Zusammenkünften angezogen. Wenn die Mädchen nicht daran teilnähmen,
würden auch die Jungen wegbleiben."87
Für die Mädchen bot dies noch mehr als für die Jungen die Gelegenheit, fern von
gesellschaftlichen Zwängen Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht zu machen.
Darüber hinaus widersprach das öffentliche Auftreten als nicht-konforme junge
81
82
83
84
85
86
87
Vgl. Jülich (wie Anm. 44), 44-46.
Kenkmann, Jugend (wie Anm. 3), S. 191.
Vernehmung HeinrichS. am 22.10.1937, HStAD Ger. Rep. 17/258, BI. 40.
Schreiben der HJ, Gebiet II, Mittelrhein an die Staatspolizeistelle Köln vom 23.7.1936,
HStAD Ger. Rep. 112/2548, BI. 2.
Urteilsschrift gegen Peter S. u.a. vom 16.12.1937, HStAD Ger. Rep. 17/249, BI. 337. Rechtschreibung im Original.
Vernehmung Hermann K. am 20.10.1937, HStAD Ger. Rep. 17/248, BI. 19; Vernehmung Kar!
S. am 22.10.1937, HStAD Ger. Rep. 17/248, BI. 64.
Vernehmung Robert E. am 1.12.1943, HStAD Ger. Rep. 156/42, BI. 45.
108
Zwischen jugendlichem Freizeitverhalten, Subkultur und Opposition
Frauen komplett dem Mädchen- und Frauenbild des Nationalsozialismus: Anstatt
sich zu Hause und im BDM auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter vorzubereiten,
entschieden die weiblichen Navajos und die Edelweißpiratinnen selbst über ihre
Kleidung, ihre Freizeitaktivitäten und ihre Freunde. Unter diesem Aspekt standen
Mädchen sicher unter viel größerem Druck als die Jungen.
Über die Motive der Mädchen und ihre Rolle innerhalb der Gruppen ist nur wenig
bekannt. Das liegt zum einen daran, dass sich bisher lediglich eine Zeitzeugin bereit
erklärte, über ihre Zeit als Edelweißpiratin zu berichten. Zum anderen betrachteten
die nationalsozialistischen Vetfolgungsbehörden unangepasste Mädchen selten als
Akteure. Dementsprechend wenig ist über Mädchen in den Akten vorhanden. Zu
ihrem Glück: In der überlieferten Geschichte der Kölner Navajos und Edelweißpiraten stand nur ein Mädchen wegen bündischer Betätigung 1943 vor Gericht- sie
wurde freigesprochen. 88 Bei Gerichtsverhandlungen mussten Mädchen allerdings oft
als Zeuginnen gegen die Jungen auftreten.
Dennoch war den Verfolgungsbehörden gerade die Beteiligung von Mädchen
ein Dorn im Auge. "Die Gestapo sah die Frauen nicht selten funktional in der Rolle
des Sexualobjektes für die männlichen Cliquenmitglieder." 89 Dies und weniger die
Funktion von Gruppenmitgliedern, die vielleicht auch die Ablehnung des NS-Staates
teilten, wurde ihnen zugeschrieben. Daher wurden alle Hinweise auf sexuelle Handlungen als Beleg für diese Annahme gewertet.
Sexuelle Beziehungen unangepasster Jugendlicher wurden gerade bei den Navajos für die Diffamierung in der Öffentlichkeit genutzt. Wenige Tage nach einer Verurteilung von Kölner Navajos im Dezember 1937 meldete die Zeitung "Der Neue
Tag": "Den Eltern mag diese Verhandlung als besondere Warnung dienen. Denn die
Angeklagten entfernten sich unter nichtigen Vorwänden sehr häufig vom Elternhause, um[ ... ] gemeinsam Fahrten zu unternehmen. Dabei trafen sie sich mitunter
mit Mädchen im Walde. Gelegentlich blieben sie auch über Nacht aus." 90
Die "Unsittlichkeit" der Jugendlichen wurde immer wieder hervorgehoben.
Über zwei weibliche Navajos notierte der Gestapo-Beamte S.: "Sie sind in sittlicher
Hinsicht [handschriftlich unterstrichen] trotz ihrer Jugend als verkommen [handschriftlich doppelt unterstrichen] zu bezeichnen. Dies äusserte sich vornehmlich auf
den Fahrten die diese Mädels gemeinsam mit den sog. ,Navajos' unternahmen." 91
88
89
90
91
HStAD Ger. Rep. 112/18704-18709. Zur Geringschätzung der Mädchen durch die Gestapo
vgl. auch Kenkmann, Jugend (wie Anm. 3), S. 176.
Kenkmann: Navajos (wie Anm. 42), S. 142.
DerNeueTagNr. 347 vom 18.12.1937, HStAD Ger. Rep.17/249, B1317.
Bericht des Gestapo-Beamten S. vom 15.2.1938, HStAD Ger. Rep. 17/385, BI. 33. Rechtschreibung im Original.
109
Barbara Manthe
Während die Nationalsozialisten die bündische Bewegung wegen angeblicher
oder tatsächlicher Homosexualität verfolgten, 92 taucht diese Anschuldigung in den
Ermittlungsakten gegen Navajos und Edelweißpiraten nicht auf. Hier ging es nur um
die Kriminalisierung heterosexueller Beziehungen.
Ein anderes Bild von selbstständig agierenden Mädchen zeichneten befragte
Zeitzeugen. Ludwig Hansmann bestätigte die eigenständige Entscheidung der
Mädchen, zu den Gruppen zu stoßen: "Die waren auf einmal da. [... ] Die waren
genauso wie wir, die wollten Musik machen, die wollten mit uns singen, die wollten
mit uns flachsen[ ... ]. Das war nicht schlecht, das war gut.[ ... ] Die Mädchen haben
wir akzeptiert[ ... ], die gehörten dazu." 93
Ein Navajo vom Georgsplatz betonte im Verhör: "An den Sonntagsausflügen
nehmen auch junge Mädchen teil, die von uns auch liebgehalten werden. Wenn mir
Vorhaltungen gemacht werden, dass wir bei unseren Zusammenkünften auf dem
Georgsplatz auch Mädchen mitbringen, so weiß ich ganz genau, dass diese ohne
unsere Aufforderung zu uns kommen. Bei dieser Zusammenkunft singen wir Lieder,
erzählen Witze und machen Dummheiten mit den Mädchen."94
Ob die Jungen die Mädchen aber tatsächlich als vollkommen gleichberechtigte
Mitglieder ansahen, bleibt zu bezweifeln. Auch Navajos und Edelweißpiraten hatten gesellschaftliche Rollenbilder verinnerlicht. Die Quellenlage zu dieser Frage
ist allerdings so dürftig, dass sie sich an dieser Stelle nicht beantworten lässt. Die
Rolle der Mädchen in den Gruppen lässt sich ebensowenig wie der Stellenwert der
Sexualität rekonstruieren.
Die Motivation zumindest, sich den Gruppen anzuschließen scheint sich - trotz
des sicherlich vorhandenen Dominanzverhaltens der Jungen - nicht grundlegend
von der der Jungen unterschieden zu haben. Cilly D. aus Nippes berichtete, eine
Arbeitskollegin hätte ihr von ihren Fahrten erzählt und sie gefragt, ob sie daran teilnehmen wolle. 95 Über die Navajo Maria S. schrieb die Gestapo: "Es ist ihr bekannt,
dass die bündische Aufmachung verboten ist. Trotzdem hat sie an den Fahrten teilgenommen, weil ihr das freiere Leben besser gefiel als beim BDM." Darüber hinaus
vermerkte die Gestapo: "zeigt keine Reue". 96 Anneliese S. gab ähnliche Motive an:
"[W]enn ich befragt werde, warum ich denn trotz meines Wissens um das Verbot
derart bündischer Betätigung noch aufFahrt ging und mich insbesondere bekannten
92
93
94
95
96
So schrieb die Gestapo über den Nerother Bund: "Insbesondere der für Köln und das übrige
Westdeutschland mussgebende Bund ,Nerother Wandervogel' war stark homosexuell durch
seine Führer Gebr. Gelbermann verseucht worden." Schlussbericht der Gestapo Köln vom
3.2.1943, HStAD Ger. Rep. 112118705,81392. Rechtschreibung im Original.
Interview mit Ludwig Hansmann [Kapitell3/6: Unangepasste Jugend], www.eg.nsdok.de.
Vernehmung Aloys S. am 14.10.1937, HStAD Ger. Rep. 17/248, BI. 178 f.
Vernehmung Cäcilie D. am 7.12.1942, HStAD Ger. Rep. 112/18704, BI. 128.
Notiz der Gestapo Köln über Maria S. vom 29.8.1937, HStAD Ger. Rep. 17/395, BI. 3.
110
Zwischen jugendlichem Freizeitverhalten, Subkultur und Opposition
Mitgliedern der Gruppe ,Navajo' anschloss, so erwidere ich darauf, dass ich gerne
auf Fahrt ging und nicht alleine bleiben wollte. "97
Mädchen wurden von der Gestapo zwar gering geschätzt, aber dennoch als
gefährlich betrachtet: Sie übten eine nicht geringe Anziehungskraft auf männliche
Jugendliche aus, an den Treffen teilzunehmen. Die Gestapo konnte und wollte aber
nicht sehen, dass die Mädchen als eigenständige Akteure ihre eigenen Beweggründe
hatten, sich den Jugendgruppen anzuschließen. Ähnlich wie bei den männlichen
Jugendlichen entsprangen die Motive einer oppositionellen Haltung, dem Wunsch
nach autonomer Freizeitgestaltung oder dem Streben nach Freiheit von den Disziplinierungsversuchen durch Eltern, Arbeitsstelle und BDM.
Auch in dieser Hinsicht setzten also Navajos und Edelweißpiraten gegen die
Zwänge der Nationalsozialisten ihre eigenen Vorstellungen durch. Dabei nahmen
sie einen hohen Preis in Kauf, drohten ihnen doch Verhaftungen, Schläge und Haft.
Trotzdem war ihr Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben stärker.
Fazit
Kölner Navajos und Edelweißpiraten widerlegen die überholte Vorstellung einer
NS-Gesellschaft, in der öffentliche Devianz angeblich nicht möglich war. Jugendliche aus den untersten Schichten, auch in der Bundesrepublik noch als "asozial"
oder "kriminell" diffamiert, äußerten ihren Protest gegen die Zwänge des Systems
in aller Öffentlichkeit- ein Schritt, zu dem viele Erwachsene jener Zeit nicht bereit
waren. Das kollektive Handeln von Navajos und Edelweißpiraten ist der essentielle
Faktor für ihre heutige wissenschaftliche Erschließung. Gerade das massenhafte
Auftreten der Jugendlichen, nicht selten offensiv und provokant, störte die vermeintliche Ordnung der "Volksgemeinschaft". Unangepasstes Verhalten im NS-Regime
stellte natürlich auf der anderen Seite für Jugendliche ein hohes Risiko dar; für ihre
Einstellung gingen sie auch für lange Zeit ins Gefängnis.
Hatten in den 30er Jahren Jugendliche noch Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik, so waren während des Krieges Edelweißpiraten fast komplett im
Nationalsozialismus sozialisiert worden. Die Kämpfe um die eigene Autonomie
und Freizeitgestaltung wichen mehr und mehr dem Überlebenskampf während
des Bombenkriegs und den Erfahrungen mit den brutalen Kriegsmaßnahmen des
NS-Regimes. Männliche Jugendliche waren darüber hinaus mit dem Kriegseinsatz
konfrontiert, wesentlich jüngere rückten in die Gruppen nach. Navajos wie Edelweißpiraten zeichnete die Opposition zur Hitlerjugend aus, die Institution, die die
direkte Repression gegen die Jugendlichen ausübte. Die meisten der unangepassten
97
VernehmungAnneliese S. vom 21.12.1937, HStAD Ger. Rep. 17/397, BI. 42.
111
Barbara Manthe
Jugendlichen hatten ihre- anfangs oftmals nicht negativen- Erfahrungen mit der HJ
gemacht und waren aus unterschiedlichen Gründen ausgetreten oder ausgeschlossen
worden. Sie zögerten nicht, HJ-Mitglieder zu attackieren; der speziell zur Bekämpfung der Jugendlichen eingerichtete HJ-Streifendienst wurde besonderes Objekt des
Hasses.
Die Jugendlichen ordneten sich nicht den Integrationsangeboten und Erfassungsversuchen der HJ unter und brachten kulturelle Formen hervor, "in denen sie sich
vom Nationalsozialismus abgrenzten und ihre eigenen Erfahrungszusammenhänge
auf eigene Weise ausdrückten"- so der Historiker Peukert. Sie alle verband ein subkulturelles Milieu, das es ihnen ermöglichte, eine gemeinsame kollektive Identität
zu schaffen. "Sie entwickelten Werte des Gruppenverhaltens und Regeln, wie man
den anderen, um so vieles Mächtigeren so begegnete, daß man[ ... ] sich sogar überlegen fühlen konnte, weil man mehr Spaß hatte, und sich, indem man sich wehrte,
selbst bewies." 98
Die Kölner Jugendlichen wiesen im Übrigen kaum Bezüge zur bündischen
Jugend auf, die in Hinblick auf die Zusammensetzung ihrer Mitglieder, die exklusiven Aufnahmeprinzipien und ihren Inhalten wenig mit der Realität von Navajos und
Edelweißpiraten zu tun hatte. Gleichwohl galt allen "bündisch" immer als Symbol
von Freiheit. Die ideelle Bezugnahme auf eine diffuse bündische Tradition ist eine
Tatsache, die auch von Detlev Peukert übersehen wurde.
Der vergleichende Blick auf andere jugendliche Widerstandsstrukturen in Köln
zeigt, dass diese nach dem bisherigen Forschungsstand- abgesehen von der katholischen Jugend - marginal waren und zahlenmäßig in keinem Verhältnis zu den
Massen unangepasster Navajos und Edelweißpiraten standen.
Aber auch die Widersprüchlichkeiten der Jugendlichen, die zum Großteil im NSStaat sozialisiert wurden, müssen benannt werden. Ihre anfängliche Begeisterung
für die HJ oder der Wunsch, der Wehrmacht oder gar der SS beizutreten, stehen
im scheinbar krassen Gegensatz zu ihrem unangepassten oder widerständigen Verhalten. Doch die Kölner Navajos und Edelweißpiraten besaßen oft weniger eine
fundierte Weltanschauung, als dass sie empört und oft spontan auf unliebsame NSMaßnahmen reagierten. Nur so kann ein authentisches Bild von einer Protestbewegung entstehen, die im "Dritten Reich" ihresgleichen sucht.
98
Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982, S. 202.
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