Peter Bingel * Lesen Juden und Christen dieselbe Bibel? Vom unterschiedlichen Gebrauch der Bibel und seinen politischen Folgen im Nahostkonflikt Stellen wir uns vor, es gäbe nicht die Bibel, speziell das Alte Testament bzw. die Hebräische Bibel (AT / HB): Gäbe es dann die jüdische Kolonisation Palästinas seit dem Ende des 19. Jahrhunderts? Gäbe es dann die zionistische Bewegung, die politisch auf den jüdischen Besitz von ganz Palästina zielt? Wären dann Millionen arabische Palästinenser, die in Palästina dasselbe Heimatrecht haben wie wir Deutschen in Deutschland und wie jeder Mensch in seinem Land, vertrieben, teils getötet, ins Elend getrieben, in Flüchtlingslager oder in Bantustans oder in das Freiluftgefängnis Gazastreifen gepresst? Würde dann seit Jahrzehnten diese tiefe Wunde zwischen der westlich-christlichen Welt und der arabisch-muslimischen Welt schwären? Nun, es gibt diese Bibel, das meistverbreitete Buch auf unserem Globus, das Buch der Juden und der Christen, ihre „heilige“ Schrift, die sie gemeinsam haben, abgesehen davon, dass die Christen im Neuen Testament die für sie zentrale Urkunde, nämlich die Zeugnisse von Jesus Christus und von der frühen Kirche Jesu Christi haben. Wer liest was in der Bibel? Dass die meisten Menschen kaum wissen, was im muslimischen Koran steht, ist bekannt. Viel weniger bewusst ist, dass den meisten nur sehr partiell klar ist, was – christlich gesprochen – im „Alten Testament“ steht. Das ist deshalb so entscheidend, weil Christen völlig andere Dinge in diesem riesigen Schriftenkomplex lesen bzw. gelehrt bekommen als Juden. Selbst christliche Theologen nehmen kaum wahr, was Juden hauptsächlich in dieser Bibel lesen und was das für sie praktisch-politisch bedeutet. Für Christen ist diese Bibel ein rein religiöses Buch. Dagegen ist sie für die meisten Juden ein national-geschichtliches Buch, zumal die Mehrheit der Juden (75 – 80%) keine religiöse Orientierung hat. Für die religiösen Juden ist sie natürlich ein religiöses, aber sie ist zugleich auch ein politisches Buch, weil wesentliche Glaubensfragen für Juden, z. B. die Landfrage, zugleich politische Fragen sind. Die Gesprächspartner der christlichen Theologen sind religiöse Anm. *: Erstellt von Peter Bingel, ev. Theologe, Schulleiter i. R. in enger Zusammenarbeit mit Winfried Belz, kath. Dipl.-Theologe, Klinikseelsorger i. R. 2 Juden, Rabbiner, also keine Vertreter des nichtreligiösen Mehrheitsjudentums. Diese Rabbiner pflegen für das gesamte Judentum zu sprechen, als würden alle Juden ihr Judentum religiös verstehen. Dadurch lassen sich die christlichen Gesprächspartner in die Irre führen. Christen kennen die „Urgeschichten“ von Schöpfung und Sündenfall, Turmbau von Babel und Arche Noah etc. Sie hören von Abrahams Gottesbegegnung und Berufung, von Joseph in Ägypten, vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten, von den am Berg Sinai gegebenen Geboten und vom Einzug in das „gelobte“, also das von Gott „versprochene“ Land. Die Propheten und die Psalmen spielen für sie eine große Rolle. Demgegenüber hat die Bibel für Juden eine ganz andere Betonung und Bedeutung, indem sie vorwiegend andere Texte in dieser großen Schriftensammlung lesen. Die meisten Juden lesen ihre Bibel als geschichtliches, als nationales, als politisches Buch. Es enthält für sie die identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Volksgründungsmythen. Diese liegen für die Frühgeschichte in mythologisch-legendären Formen vor. Später sind diese Schriften geschichtlich zuverlässiger, tradiert mit religiös-theologischen Kommentaren. Immer steht dabei die Ethnie „Israel“ im Mittelpunkt, mit Jahwe, dem Gott Israels. Im Judentum waren Religionsgemeinschaft und Volksgemeinschaft ungewöhnlich lange identisch, weit über die Zeitenwende hinaus, bis ins 18. Jahrhundert. Für das religiöse Judentum ist die Tora, sind die fünf Bücher Mose, der zentrale Teil der Hebräischen Bibel. In der wissenschaftlichen Exegese und in der kath. Tradition heißen sie: Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium. Neben vielen Gesetzesvorschriften enthält die Tora bereits viel Politisches, von der Landverheißung an Abraham bis zur befohlenen Art und Weise, wie gegen die in Palästina einheimischen Völker vorzugehen sei (z. B. 5. Mose /Dtn 20). Für den überwiegenden Teil des Judentums, der säkular ist, sind folgende Bücher innerhalb der Hebräischen Bibel von hoher, nämlich nationaler Bedeutung: Teile aus den Mosebüchern, Josua, Richter, 1. und 2. Samuel, 1. und 2. Könige, 1. und 2. Chronik, Esra und Nehemia, später dann die nur in griechischer Sprache vorliegenden Makkabäerbücher. Dasselbe Buch in völlig verschiedener Nutzung Wir haben also zwischen zwei Buchdeckeln sehr verschiedenartige Literaturen, die auch völlig unterschiedlich genutzt werden. Das Christentum hat nach dem Zeugnis des Neuen Testaments kein Interesse an der geschichtlich-politischen Bedeutung von alttestamentlichen Texten, wie sie heute der Zionismus für seine Begründungen nutzt. Entsprechend werden solche Texte im Gegensatz zu vielen 3 anderen alttestamentlichen Schriftstellen im NT nicht zitiert. Für das zionistische Judentum dagegen sind die geschichtlich-politischen Teile der Hebräischen Bibel ein wichtiger Teil der ethnisch-nationalen Selbstfindung und Selbstgestaltung, die seit über 100 Jahren im Gange ist. Mit anderen Worten: Faktisch haben Christen und Juden sehr unterschiedliche Bibeln, weil das Mammutwerk Bibel je nach Interessenlage sehr Unterschiedliches hergibt. Judentum als religiöse und als ethnisch-nationale Gemeinschaft Die unterschiedliche Nutzung hängt damit zusammen, dass Christentum und Judentum derart verschieden sind, dass man diese „Größen“ nicht direkt parallelisieren kann. Denn das Christentum ist eine reine Religionsgemeinschaft. Judentum dagegen ist zugleich eine religiöse und eine ethnische Gemeinschaft. Es gibt Judentum als Religion und Judentum als Nation, als Ethnie, als Volk. Im Laufe der Geschichte hat sich das Zueinander dieser beiden Elemente stark gewandelt. Im Altertum und bis in die beginnende Neuzeit hinein gab es Judentum nur in der Identität von Religionsgemeinschaft und Volksgemeinschaft, wobei das Element Religionsgemeinschaft zeitgemäß bei Juden und Nichtjuden im Vordergrund des Bewusstseins stand. Die genannte Verbindung zerbrach in der Aufklärungszeit, zunächst in der westlichen Welt. Das führte zu einer großen Identitätsunsicherheit bzw. auch zu Identitätsverlust im Judentum. Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es dann eine im Judentum bis dahin noch nie da gewesene Erscheinung: eine neue, unreligiöse, rein nationale Identität des Judentums, die vor allem Theodor Herzl propagierte und förderte. Das ist die weitgehend erfolgreiche und auch heute noch hochwirksame zionistische Bewegung, deren Ziel, die Kolonisierung ganz Palästinas inzwischen weitgehend erreicht ist. Etwa 50 Jahre nach der Begründung des Zionismus ergab sich mit der jüdischisraelischen Staatsgründung und erst recht mit dem Zugang zur Jerusalemer Altstadt sowie mit der jüdischen Okkupation des gesamten Restpalästina 1967 eine grundlegende Wandlung in Teilen der jüdischen Religion (Anm.1): Bis dahin, und zwar seit dem Sieg der Römer gegen die jüdischen Aufstände im 1. Jahrhundert n. Chr., war die jüdische Religion weitgehend unpolitisch gewesen. Nun aber wandelte sich mit der militärischen Eroberung des Eretz Israel, des „Landes Israel“, die jüdische Religion radikal: Das Land trat wieder in den Mittelpunkt religiösen Glaubens, und zwar das Land in seiner ursprünglichen politischen Bedeutung. Nach den tief verstörenden Holocaustgeschehnissen schloss sich die jüdische Religion gewissermaßen dem von seiner Gründung her rein säkularen und inzwischen grundlegend erfolgreichen Zionismus an: Nach der jüdischen Staatsgründung im Jahr 1948 wurden die nationalen zionistischen Ziele rasch 4 auch als religiöse jüdische Ziele und Selbstverständlichkeiten definiert. Der Vorgang dieser tiefgreifenden Wandlung in der jüdischen Religion seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ist noch kaum ins allgemeine Bewusstsein getreten. Im Ergebnis haben wir im heutigen Judentum, vor allem im israelischen, ein neues Amalgam von Nation und Religion vor uns. Es ist vergleichbar dem Judentum der alten Zeit vor der aufstandsbedingten Diaspora. Allerdings haben wir es in einer anderen Gewichtung vor uns: Im Vordergrund steht heute nach jüdischem Selbstverständnis eindeutig das Judentum als Ethnie, als Volk, als Nation. Innerhalb dieser jüdischen Nation spielt die jüdische Religion eine eigene, eine begrenzte, aber durchaus bedeutende Rolle. Die Verbindung von Nation und Religion, die es in der Weltgeschichte schon oft gab, führt im heutigen Judentum vielfach zu einem spezifischen Fundamentalismus und Fanatismus. Christlicher Irrtum: Judentum nur als Religion Auf christlicher Seite werden die Wandlungen weitgehend übersehen, die auf jüdischer Seite stattgefunden haben. Theologen und Kirchenführer pflegen nur mit Rabbinern umzugehen, um Genaueres über das Judentum zu erfahren und mit der jüdischen Seite das Verhältnis „Christen - Juden“ zu reflektieren. Von Rabbinern werden alle Juden als religiöse Juden betrachtet und deshalb verstehen sie „Israel“ grundlegend religiös. Das ist eine Verzerrung der Wirklichkeit. Christen ihrerseits denken immer noch so, als lebten wir in biblischen Zeiten. Ihr Bild vom Judentum ist von den biblischen Texten geprägt. Dadurch wird verhindert, dass im Christentum und entsprechend in der westlichen Welt das Judentum in seiner ethnisch-nationalen und somit politischen Realität sachgemäß in den Blick genommen wird. Das Judentum, speziell das israelische, kann aber in seiner politischen-nationalen Existenz gar kein Gegenüber zum Christentum als Religionsgemeinschaft sein, denn der christliche Glaube hat keine spezifische Beziehung zu irgendeiner Nation, auch nicht zur jüdischen. Dass sich der Staat Israel seinerseits in unklarer Begriffsbestimmung auch im Sinne der Religion als „jüdisch“ bezeichnet, kann keinen Einfluss auf das Christentum haben, denn das Christentum ist grundsätzlich nationen-neutral. Die politische Zentralbotschaft der Hebräischen Bibel Hunderte Male steht es im Alten Testament, dass Gott den Juden Palästina, damals „Kanaan“ genannt, zuspricht, am häufigsten in den oben genannten Geschichtsbüchern, aber es beginnt bereits mit Abraham, der mythologischen Symbolfigur für Juden, Christen und Muslime. Da wird Gott zitiert: „Das ganze 5 Land, das du siehst, will ich dir und deinen Nachkommen für immer geben“ (1. Mose/Genesis 13,15, vgl Abrahams Berufung 12,7). Das setzt sich fort bei „Gottes Bund mit Abraham“ (15, 18): „An diesem Tag schloss der Herr mit Abraham folgenden Bund: Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land vom Grenzbach Ägyptens bis zum großen Strom, dem Eufrat“, also einem zukünftig riesigen Volk ein riesiges Land, und dann werden V 19 elf Völker aufgezählt, deren Land Gott im Rahmen seines Abrahambundes dem jüdischen Volk gelobt/ verspricht. Und in 1. Mose/Gen 17,7 heißt es: „Dir und deinen Nachkommen gebe ich ganz Kanaan, das Land, für immer zu eigen …“ In den Geschichtsbüchern, die im 6. Jahrhundert vor Christus ihre endgültige literarische Form gefunden haben, finden sich vielfach aus dem Munde Gottes oder in Beziehung auf Gottesworte Wendungen folgender Art: „Zieh über den Jordan hier mit diesem ganzen Volk in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, geben werde. Jeden Ort, den euer Fuß betreten wird, gebe ich euch.“ „Du sollst diesem Volk das Land zum Besitz geben, von dem du weißt: Ich habe ihren Vätern geschworen, es ihnen zu geben.“ (Ihr werdet) „in das Land hineinziehen und es in Besitz nehmen, das der Herr, euer Gott, euch zu eigen gibt“ (Josua 1, 2-3,6,11). „So gab der Herr Israel das ganze Land, das er ihren Vätern mit einem Eid zugesichert hatte. Sie nahmen es in Besitz und wohnten darin“ (Josua 21,43). Im Zusammenhang mit der Wegführung eines großen Teils der israelitischen Bevölkerung nach Babylon hatte es in diesem 6. Jahrhundert besondere Gründe gegeben, den Umgesiedelten klar zu machen, dass nach wie vor Palästina ihr Land, ihr von Gott zugesichertes Land, bleibt. Die betreffenden Schriften sind im Laufe der Zeit zu heiligem Wort Gottes geronnen und Mittelpunkt jüdischen Glaubens geworden. Dadurch bekam das jüdische Haften an diesem Land eine über alle Maßen gewichtige göttliche Legitimation und noch viel mehr: einen Auftragscharakter. Einst hatte das Judentum die Wegführung nach Babylon und die dortige Diasporaexistenz überlebt. In unseren Zeiten glaubt das religiöse Judentum, dass die jetzige Neubesiedlung und dazu die Neubeherrschung Palästinas weiterhin auf der Linie der einstigen Gottesversprechungen zu sehen ist. Das nationale Judentum seinerseits betrachtet, ebenfalls auf dem Boden der Bibel, die zionistische Kolonisation als geschichtliches Recht. Das politische Judentum unserer Tage wird nicht müde, von den „historischen und natürlichen Rechten“ der Juden auf das Land Palästina zu sprechen. So formulierte es bereits Ben Gurion bei der Ausrufung des jüdischen Staates 1948 und so vertritt es heute die israelische Botschaft in Berlin. Das sind vermeintliche Rechte, die es sonst nirgends auf der Welt gibt. Die Legitimation für den jüdischen Staat beruht einzig und allein auf dem UNO-Teilungsbeschluss vom 29. 11.1947 (Anm. 2). Alles andere ist Mystifizierung und ideologischer Nationalismus. 6 Die biblische Praxis des befohlenen Genozids Im Blick auf die nationale und die religiöse Wirksamkeit der Hebräischen Bibel, wie sie im Judentum den Umgang mit der Landfrage prägt, ist es entscheidend, welche Maßstäbe für die Eroberung des palästinensischen Landes darin vorgegeben sind. Ein zentrales Muster ist der Genozid, der im Alten Orient übliche Praxis war (Anm. 3). Er bedeutete: In einer eroberten Stadt werden alle Menschen getötet. Manchmal kommt hinzu, alles Lebende zu töten, also auch alle Tiere. In 5. Mose/Dtn 13,17 wird ein solcher Genozid „Ganzopfer“ genannt, was im Hebräischen „Shoa“ und im Griechischen „Holocaust“ heißt. Diese Praxis hat nach biblischem Zeugnis beim Volk Israel ihren selbstverständlichen Platz und nimmt breiten Raum ein. Das sind natürlich Dinge, die im christlichen Bibelunterricht nicht vorkommen und die in der westlich-christlichen Gesellschaft kaum bekannt sind, obwohl man sie Schwarz auf Weiß nachlesen kann. Deshalb wird nun von denjenigen, die diesen Text lesen, einige Geduld gefordert, um unvoreingenommen wahrzunehmen, was durchaus zum heute in Israel/Palästina virulenten jüdischen Erbe gehört, wobei es nicht auf die Zahl oder die Gesamtheit der Tötungen ankommt, sondern darauf, dass die Schwelle zum Töten bzw. zur frappierenden Missachtung von Menschenwürde und Menschenrechten äußerst niedrig ist. Der heiligste Teil der heiligen Schriften ist für Juden die Tora, die fünf Bücher Mose am Anfang der Bibel. Die gesamte Tora wird im Laufe eines jeden Jahres im jüdischen Gottesdienst verlesen. Im letzten Torateil wird die Praxis des Genozids, die untrennbar eine religiöse und eine ethnische Praxis ist, genauer beschrieben. Es handelte es sich um eine zweistufige Anweisung im Namen Gottes. Bei der ersten Stufe geht es um eroberte Städte, die entfernt vom vorgesehenen Siedlungsgebiet liegen. 5. Mose/Dtn 20,10-15 heißt es: „Wenn du vor eine Stadt ziehst, um sie anzugreifen, dann sollst du ihr zunächst eine friedliche Einigung vorschlagen. Nimmt sie die friedliche Einigung an und öffnet dir die Tore, dann soll die gesamte Bevölkerung, die du vorfindest, zum Frondienst verpflichtet und dir untertan sein. Lehnt sie eine friedliche Einigung mit dir ab und will sich mit dir im Kampf messen, dann darfst du sie belagern. Wenn der Herr, dein Gott, sie in deine Gewalt gibt, sollst du alle männlichen Personen mit scharfem Schwert erschlagen. Die Frauen aber, die Kinder und Greise, das Vieh und alles, was sich darin plündern lässt, darfst du dir als Beute nehmen. Was du bei deinen Feinden geplündert hast, darfst du verzehren; denn der Herr, dein Gott, hat es dir geschenkt. So sollst du mit allen Städten verfahren, die sehr weit von dir entfernt liegen und nicht zu den Städten dieser Völker hier gehören.“ Die zweite Stufe, die Ausführung des vollen Vernichtungsbanns (oder Vernichtungsweihe), wird dann mit den folgenden Versen angeordnet: 7 V16-17: „Aus den Städten dieser Völker jedoch, die der Herr, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, darfst du nichts, was Atem hat, am Leben lassen. Vielmehr sollst du die Hetiter und Amoriter, Kanaaniter und Perisiter, Hiwiter und Jebusiter der Vernichtung weihen, so wie es der Herr, dein Gott, dir zur Pflicht gemacht hat.“ Was bei dieser vollen Vernichtungsweihe geschieht, ist bereits im 2. Kapitel des 5. Mosebuches/Dtn beschrieben, wo es um die Eroberung des Ostjordanlandes geht (V 31 -34): „Zu mir (Mose) aber sagte der Herr: Hiermit fange ich an. Ich liefere dir Sihon und sein Land aus. Du fang an, in Besitz zu nehmen! Fang mit seinem Land an! Sihon rückte mit seinem ganzen Volk gegen uns aus, um bei Jahaz zu kämpfen. Der Herr, unser Gott, lieferte ihn uns aus. Wir schlugen ihn, seine Söhne und sein ganzes Volk. Damals eroberten wir alle seine Städte. Wir weihten die ganze männliche Bevölkerung, die Frauen, die Kinder und die Greise, der Vernichtung; keinen ließen wir überleben.“ Das Gleiche wird im Folgekapitel beim Sieg über einen anderen König und sein Volk berichtet. Ein anderes Beispiel, diesmal aus dem Josuabuch Kap 6: Viele kennen die eindrucksvolle Geschichte von der Eroberung Jerichos, wie die israelitischen Priester und die bewaffneten Männer täglich unter ständigem Hörnerblasen die Stadt umrunden und am siebten Tage bei lautestem Kriegsgeschrei der Israeliten die Mauern Jerichos einstürzen und das Volk Israel die Stadt erobert. Weniger bekannt - weniger bekannt gemacht - sind die Umstände dieser sagenhaften Eroberung: Vor dem Ereignis erklärt der Mosenachfolger Josua (V17): „Die Stadt mit allem, was in ihr ist, soll zu Ehren des Herrn dem Untergang geweiht sein.“ Das sieht dann so aus (V21): „Mit scharfem Schwert weihten sie alles, was in der Stadt war, dem Untergang, Männer und Frauen, Kinder und Greise, Rinder, Schafe und Esel.“ Es wäre interessant zu erfahren, wie viele Menschen in der westlich-christlichen Welt hiervon etwas wissen. Gibt es im christlichen Bereich überhaupt ein Interesse daran, solche Texte ernsthaft wahrzunehmen? In der Hebräischen Bibel finden sich Dutzende Beispiele für diese alte orientalische Praxis der Vernichtungsweihe, die als jüdisch-israelitische Praxis im Namen Jahwes, des Gottes Israels, erscheint (s. Anm. 4). EIN solches Beispiel soll noch genannt werden, weil es im heutigen Israel immer wieder eine Rolle spielt. Es geht dabei um die Bekämpfung der Amalekiter, die im Alten Testament als die größten Feinde Israels gelten, weil sie sich den Israeliten bei ihrem Zug durch die Wüste entgegen gestellt hatten. Nach 1. Samuel 15 bekommt König Saul vom Propheten Samuel im Namen Gottes folgenden Auftrag: „Gehorche jetzt den Worten des Herrn! So spricht der Herr der Heere: Ich habe beobachtet, was Amalek Israel angetan hat: Es hat sich ihm in den Weg gestellt, als Israel aus Ägypten heraufzog. Darum zieh jetzt in den Kampf und schlag Amalek! Weihe alles, was ihm gehört, dem Untergang! Schone es nicht, sondern töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel!“ 8 Dieses „Schone es nicht!“, anderen Orts in der Formulierung „Du sollst in dir kein Mitleid aufsteigen lassen!“ (5. Mose/Dtn 7,16 und 19,21) hat seine Entsprechung im kürzlich stattgefundenen Gazakrieg, den der Verteidigungsminister Barak, der sich selbst einen alttestamentlichen Namen gewählt hat, einen „Krieg ohne Gnade“ nennt (Anfang Januar 2009). „Amalek“ erscheint auch am Ausgang der Jerusalemer Holocaustgedenkstätte als Mahnung: „Gedenke an Amalek!“ Die Bezeichnung „Amalek“ für die größten Feinde der Juden wird im heutigen Israel immer wieder auf die Palästinenser angewandt, dagegen kaum noch auf die Deutschen und ihre Vernichtungspolitik gegenüber den Juden in der Zeit des Nationalsozialismus. Vernichtungsweihe: Menschenbild und Gottesbild Die Vernichtungsweihe, der Genozid, war eine Praxis, die in Israel wie bei anderen altorientalischen Staaten zur ethnisch-religiösen Existenz gehörte. Gelegentlich wird sie in der Hebräischen Bibel genau begründet: „damit sie (die anderen Völker) euch nicht lehren, ihre (religiösen) Gräuel nachzuahmen, die sie begingen, wenn sie ihren Göttern dienten, und ihr nicht gegen den Herrn, euren Gott, sündigt“ (5. Mose/Dtn 20,18). Das heißt: Der Genozid diente der religiösen Reinerhaltung, und zwar mit der Religion der Reinhaltung des Volkes überhaupt. Man könnte nun sagen, das alles sei längst grundsätzlich überwunden. Aber in der aktuellen Verehrung der heiligen Schriften als Gotteswort ist bis heute das zugehörige Menschenbild virulent, nämlich dass man durchaus Menschen kollektiv und massenhaft umbringen darf, wenn es eine einleuchtende Begründung dafür gibt, und genau das ist heute im Nahostkonflikt aktuell. Vor allem die israelischen Siedlerrabbis und das Militärrabbinat arbeiten in dieser Richtung. Der Auschwitzüberlebende Hajo G. Meyer kommt in seinem Buch „Das Ende des Judentums“ zu dem Ergebnis, dass ein Teil der jüdischen Geistlichkeit eine Auffassung von zentralen Lehrsätzen des Judentums vertritt, die „offensichtlich auch Elemente, die zu barbarischen Taten anstiften“, enthalten. Gerade aus den Tagen der israelischen Militäraktion gegen die Menschen im Gazastreifen im Dez. 2008/ Jan. 2009 gibt es bedrückende Zeugnisse hierfür. Die Hebräische Bibel bietet in erheblichen Teilen ein Gottesbild, bei dem der Gott Israels selbst es ist, der vertreibt. Das beginnt bereits mit der Berufung des Abraham. Gott gibt Abraham und seinen Nachkommen das Land anderer Völker (1. Mose/Dtn 15,18-21), womit es als gerechtfertigt gilt, das (versprochene) Land anderer einfach zu nehmen. Gott selbst ist es, der diese Völker „verschwinden lässt“, der alle Feinde Israels die Flucht ergreifen lässt (2. Mose/Ex 23,23-27). Gott vertreibt die betreffenden Völker (V 29), er gibt die Einwohner in die Hand Israels, damit Israel sie vertreiben (V32) und das Land in 9 Besitz nehmen kann (V 30). Auch 2. Mose/Ex 34,11 verspricht Gott Jahwe, die Völker vor Israel her zu vertreiben (vgl. 33,2 und 3. Mose/Lev 18,24 und 20,23), damit Israel deren Boden in Besitz nehmen kann. Gott ist es, der diesen Boden zum Besitz gibt. Er selbst ist der Eroberer (4. Mose/Num 32,4). Gott selbst kämpft für Israel (5. Mose/Dtn 1,30). Aus Liebe zu diesem „seinem“ Volk vertreibt er bei Israels Angriff die Völker, um deren Land Israel als Erbbesitz zu geben (5. Mose/Dtn 4,37-38). 2. Mose/Ex 15,3 heißt es wörtlich: „Der Herr ist ein Krieger, Jahwe ist sein Name“- Eine solche gewaltpolitische Gottesvorstellung ist im Neuen Testament undenkbar. Gott hatte den Stammvätern Israels, Abraham, Isaak und Jakob, geschworen, das Land zu geben, im Ergebnis „große und schöne Städte, die Du nicht gebaut hast, mit Gutem gefüllte Häuser, die Du nicht gefüllt hast, in den Felsen gehauene Zisternen, die du nicht gehauen hast, Weinberge und Ölbäume, die du nicht gepflanzt hast“ (5. Mose/Dtn 6,10-11, vgl. Josua 24,13). All solcher Raub ist also legitimiert im Namen Gottes. Was hier in der Bibel, in der „Heiligen Schrift“, dem „Wort Gottes“, vorgegeben ist, hat natürlich seine erschreckenden faktischen Auswirkungen heute, da eine verwandte politische Situation in Palästina gegeben ist. Die genannten und ihnen verwandte Bibeltexte sind den meisten Christen nicht bekannt. Wenn Theologen/Theologinnen und Exegeten/Exegetinnen sie auslegen, versuchen sie den Texten ihre Anstößigkeit zu nehmen, indem sie darauf hinweisen, dass die Vorgänge historisch sich so nicht zugetragen hätten. Doch damit ist das Problem, welche Wirkung solche Texte haben, nicht vom Tisch. Im jüdisch-israelischen Staat werden sie wahrgenommen und umgesetzt, und zwar bei den Nationalen bzw. Nationalisten (Zionisten), bei den fundamentalistisch Religiösen und bei den in der Knesset gegenwärtig stark vertretenen National-Religiösen. Wen muss es da noch wundern, dass für das heutige Israel UNO-Beschlüsse sowie Völker- und Menschenrechte keinerlei Bedeutung haben? Wie sollte für ein Volk, das unter dem Einfluss dieser Bibelpartien steht, ein Rauben, Töten und Vertreiben, das der Nation dienlich erscheint, als verwerflich gelten, wo doch Gott selbst bzw. die biblische Überlieferung ein Vorbild für solches Handeln liefern? Nachdem das Judentum eine machtpolitische Größe geworden ist, bietet die Bibel für alles, was der Staat Israel mit seinen Institutionen, Organisationen und Gruppen, einschließlich seines Militärs und seiner Kolonisten („Siedler“), an Raub und Gewalttat ausübt, - leider - eine absolute Rechtfertigung. Es ist also festzuhalten: Als Hebräische Bibel, traditionell-christlich gesprochen, als Altes Testament, hat die Bibel gegenwärtig im Nahen Osten eine verheerende Wirkung. Sie predigt, in entsprechenden Partien gelesen, gerade in der heutigen Situation jede Form von Menschenverachtung, Raub und Unterdrückung gegenüber nichtjüdischen Völkern. Wenn es einen 10 Weltindex der verbotenen Texte gäbe, müssten Teile dieser Bibel wegen Volksverhetzung auf diesen gesetzt werden. Es sei hier noch einmal eigens betont: Es geht um die Wirkungsgeschichte von biblischen Texten! Wenn auch die professionellen Bibelausleger heute die Auffassung vertreten, das Eindringen israelitischer Stämme ins kanaanäische Land habe in Wirklichkeit als ein langsamer und weitgehend friedlicher Vorgang stattgefunden und die gewaltverherrlichenden Texte seien interessegeleitete Konstruktionen aus viel späterer Zeit, vor allem aus den Jahrzehnten der babylonischen Diaspora im 6. vorchristlichen Jahrhundert, so entschärft das keineswegs die Problematik, welche Wirkung Texte haben. Auf jüdischer Seite ist die historisch-kritische Forschung nicht nennenswert entwickelt. Von jüdisch-religiöser und jüdisch-nationaler Seite werden die betreffenden Bibeltexte als Mitteilung von Fakten gelesen, ebenso von den zum Teil einflussreichen christlich-evangelikalen Glaubensgruppierungen in der westlichen Welt. Die Hebräische Bibel, das Alte Testament und das ethische Versagen der Christenheit Im Unterschied zum Judentum in seiner doppelten Gestalt als Religions- und Volksgemeinschaft ist das Christentum als reine Religionsgemeinschaft vom Wesen her keine politische Größe. Zumindest heutzutage verstehen sich die meisten Kirchen des Westens als eigenständige religiöse, nicht staatsabhängige Gemeinschaften. Dabei berufen sie sich zu Recht auf das Evangelium und die frühe Kirche. Seit der konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert waren die Kirchen jedoch über viele Jahrhunderte hinweg Machtinstitutionen, die dem christlichen Ethos zutiefst zuwider gehandelt haben. Dabei ist vor allem zu denken an religiöse Unterdrückung, Kreuzzüge, Ketzer- und Judenverfolgungen und Hexenverbrennungen etc. Doch mit der langsamen Reduktion dieser Verbindung mit der weltlichen Macht seit der Aufklärung - oft gegen den Widerstand der Kirchen - hat sich das christliche Menschenbild geklärt in Richtung auf die Gottesebenbildlichkeit und Menschenwürde eines jeden Menschen, unabhängig von Volk, Rasse, Klasse, Religion und staatlicher Zugehörigkeit. Im christlich-abendländischen Raum wurden schließlich verbindliche Grundvorstellungen von Menschenrechten und Völkerrecht entwickelt. Eine neue Situation ist nach dem 2. Weltkrieg entstanden. Betroffenheit über die NS-Verbrechen an den Juden, der Wunsch nach Wiedergutmachung und die Versöhnung mit dem Judentum bzw. mit „Israel“ sind die eine Sache. Hierdurch wird aber eine angemessene Kritik an der jüdisch-israelischen 11 völkerrechtswidrigen Besatzungs-, Landraub- und Kolonisierungspolitik und an den massenhaften Menschenrechtsverletzungen aufs Äußerste erschwert. Kein deutscher Politiker kann zusammen mit israelischen Kollegen ein ehemaliges KZ in Europa oder Yad Vashem in Jerusalem besuchen und gleichzeitig, also im Rahmen dieser Begegnung, die schreckliche Menschenverachtung der israelischen Politik gegenüber der einheimischen palästinensischen Bevölkerung und die jahrzehntelangen katastrophalen Folgen dieser Politik zur Sprache bringen. Die gemeinsamen Besuche der Horrorstätten gehören aber grundsätzlich zum Ritus aller solcher Begegnungen. Hier mischen sich moralische Verpflichtung und politische Interessen. Dies hat zur Folge, dass von westlicher Seite das christlich-abendländische Menschenbild und Ethos, wenn es um den Staat Israel und sein Handeln in Palästina geht, fast immer verraten wird. Eine andere Sache ist es, daß im Christentum trotz zeitweiliger Verachtung und wellenartiger Verfolgung des Judentums „Israel“ als geistliche Größe immer hoch im Kurs stand. Dabei wurde bis vor etwa fünfzig Jahren dieses „Israel“ nur als das alte, vergangene, gotterwählte Volk der Juden verstanden, das mit dem Erscheinen Jesu Christi von dem „Neuen Israel“, der Kirche, abgelöst worden ist. In einer radikalen Neuorientierung hat nach dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg die Christenheit in radikaler Selbstkritik weithin die Überzeugung gewonnen, dass die Erwählung des jüdischen Volkes als „nicht gekündigt“, als bleibend zu betrachten ist, dass sie also über den Verlust der damaligen (Halb-) Staatlichkeit hinaus Bestand hat. Damit gilt das jüdische Volk auch in der Gegenwart und weiterhin als das speziell mit dem Gottesbund beschenkte, bevorzugte, erwählte Volk Gottes. Für die meisten Christen, vor allem für die offizielle Theologie, befindet sich somit das aktuelle „Israel“, das heutige Judentum, vielfach auch identifiziert mit dem jüdischen Staat, in einem spezifischen Status der Besonderheit und Unberührbarkeit, unantastbar auch in ethischer Hinsicht. Dies potenziert sich mit dem oben genannten speziell deutschen Schuldbewusstsein aufgrund der Verfolgungs- und Holocaustereignisse. Das Zusammenwirken der Schuld-Opfer-Problematik mit dem christlichen Glauben an die göttliche Erwählung des aktuellen Judentums und des aktuellen Israel führt dazu, dass das christlich-ethische Denken, wenn es um den Staat Israel geht, verhängnisvoll gelähmt ist. Hierzu kommt nun gravierend, was der Hauptgegenstand unserer Beobachtungen ist: die politischen Inhalte der Hebräischen Bibel, des Alten Testaments, der „Schrift“ werden von Christen weitgehend als „Wort Gottes“ gelesen. Während überall brutale Besatzungsherrschaft, fortgesetzter Land- und Wasserraub, Unterdrückung, Schikanierung und Erniedrigung von Menschen, massives Unrecht, Willkür und Zerstörung von Lebensgrundlagen etc. als absolute Verbrechen gelten, gilt dies aber nicht, wenn es um Israel und seine Politik geht. Auch aufgrund der entsprechenden oben z. T. aufgeführten Bibeltexte werden solche Taten als unangreifbar angesehen, schweigend 12 hingenommen und zugelassen. Der Staat Israel handelt nach biblisch vorgezeichneter Theorie und Praxis: wie im alten Kanaan, so im heutigen Palästina. Warum soll Israel keine Moscheen bombardieren, wenn ihm in der Bibel geboten ist, die Altäre anderer Völker und Religionen zu vernichten? Warum soll Israel nicht die Menschen ins Elend führen und vertreiben, die sich sozusagen fälschlicher Weise noch auf dem Israel zugesprochenen Boden befinden? Warum soll Israel nicht auf dem Landanspruch bestehen, ihn rücksichtslos durchsetzen und darin unterstützt werden, wenn dieser biblischalttestamentlich von Gott hunderte Male zugesprochen und mit Gottes Hilfe rigoros durchgesetzt wurde? Überall auf der Welt ist es ohne weiteres möglich, wenigstens in Forderungen das christliche Menschenbild und die christliche Ethik als Maßstab einzubringen, nicht aber im Nahost-Konflikt: Die israelische Macht-, Unterdrückungs- und Raubpolitik, die grundlegend dem neutestamentlich begründeten christlichen Ethos – wie übrigens auch einem humanistisch begründeten Ethos - widerspricht, ist durch die Bibel, genauer: durch wesentliche Teile des Alten Testaments, gerechtfertigt und gedeckt. Insofern ist sie bibelgemäß, und aufgrund des weit verbreiteten christlichen Glaubens, dass die gesamte Bibel Wort Gottes ist, wirkt diese Politik für eine Vielzahl von Christen auch glaubensgemäß und gottgemäß. Deshalb wird im Nahostkonflikt von christlicher Seite eine an der Menschenwürde und an den Menschenrechten ausgerichtete Politik vom Staat Israel nicht ernsthaft eingeklagt. Tägliche Unmenschlichkeit im Rahmen der völkerrechtswidrigen Besetzung palästinensischer Gebiete wird ohne wirkliche Kritik zugelassen. Die politischen biblisch-alttestamentlichen Botschaften lähmen die westlich-christliche Welt, die gegen Völker- und Menschenrechte gerichtete Politik Israels überhaupt realistisch wahrzunehmen, geschweige denn, gemäß der christlichen bzw. humanistischen Ethik darauf zu reagieren. Dies ist der Hauptgrund für die doppelte Moral, mit der der „christliche“ Westen auf das Handeln Israels reagiert, des Staates, der die politische Konkretisierung des gotterwählten Judentums darstellt. Dass im reformierten, calvinistischen Protestantismus, der in den USA vorherrscht, das Alte Testament eine besonders hervorgehobene Rolle spielt, kommt verstärkend hinzu. Jedenfalls lädt das Christentum durch seine ethische Inkonsequenz schwere Schuld auf sich. Mit anderen Worten: Durch wesentliche Teile des Alten Testaments führt die Heilige Schrift in der gegenwärtigen Situation die Christenheit dazu, ihr Menschenbild und ihre gesamte Ethik zu verraten. Dadurch wird das Christentum und damit weitgehend auch die westliche Welt korrumpiert. Sie werden zu Komplizen des israelischen Rechtsextremismus und unsäglicher Unmenschlichkeiten. Mit der blinden Unterstützung des jüdischen/ israelischen 13 Staates ist an die Stelle eines früheren Antijudaismus im Christentum weithin ein pro-jüdischer, antipalästinensischer Rassismus getreten. Dies hat kurz- und langfristig tragische und dramatische Folgen: Die arabischmuslimische Welt beobachtet das israelische Handeln natürlich nicht mit ähnlich verbundenen Augen. Sie ist mit Recht empört über die doppelten Maßstäbe, die seitens des Westens angewendet werden, wenn es um Israel geht. Diese doppelten „standards“ machen den Westen völlig unglaubwürdig. Die jahrzehntelange Vertiefung der Spaltung der Welt zwischen westlich-christlicher und arabisch-muslimischer Welt, die in der Dauerwunde Nahostkonflikt eine Hauptursache hat, ist wesentlich durch die Bibel verursacht: Einerseits durch eine fundamentalistisch-nationalistische Auslegung auf jüdischer Seite und andererseits durch einen unreflektierten christlichen Bibelglauben. Es ist zu befürchten, dass das zu vielen weiteren Kriegen führt. Es gibt nur eine Lösung: Das Christentum und mit ihm die westliche Welt müssen sich aus einer Blindheit lösen, die von mangelnder Kritik an erheblichen Teilen des Alten Testaments verursacht ist. Die Christen bzw. Kirchen müssen authentisch christlich werden, das heißt: sich an Jesus Christus und seiner Botschaft orientieren. Jesus hat mit seiner Botschaft von der radikalen Nächstenliebe, die auch den Feind einbezieht, an prophetischen Texten der Bibel angeknüpft, die Recht und Gerechtigkeit gerade dem Schwachen und Unterdrückten gegenüber fordern (vgl. Amos 5,21-24; Jesaja 1,11-17 u.a.). Das Christentum und die westliche Welt müssen sich energisch von unvertretbaren altorientalisch-israelitischen Bedingtheiten lösen, von denen Teile der Bibel bestimmt sind, die in Israels aktuelle Politik hinein wirken und die Christenheit dazu verführen, ihrem Ethos substantiell untreu zu sein. Bei dem Bemühen um eine konsequente christliche Ethik und um entsprechende politisch-ethische Maßstäbe haben Christen alle jene als Verbündete, die sich den humanen Werten Recht und Gerechtigkeit verpflichtet wissen – nicht zuletzt auch diejenigen Juden, die die nationalistisch-zionistische Politik des Staates Israel massiv kritisieren, und zwar in Israel selbst, bei uns in Deutschland, in Europa und weltweit. Es gibt im Judentum auch eine universalistische, humanistische Tradition, die in Texten der Hebräischen Bibel zum Ausdruck kommt, wie z. B. Amos 3,9-10; 4,1b; Micha 4,2c-3; 6,8; Jesaja 32,17; Sacharja 4,6. Heute sind es Gruppierungen wie die „Rabbiner für Menschenrechte“ und „Juden für einen gerechten Frieden“, die sich an dieser Tradition ausrichten. Außerdem gibt es im Staat Israel mehrere hochengagierte Friedens- und Menschenrechtsgruppen, die keinen politischen Einfluss haben, vielmehr auf dem allgemeinen nationalistischen Hintergrund oft als Verräter am Judentum betrachtet werden. Aber gerade sie sind es, die in gewisser Weise die Ehre des Judentums retten. Ihnen ist wachsender Einfluss zu wünschen. 14 Die biblischen Zitate wurden der Einheitsübersetzung entnommen. Anmerkungen: 1) Vgl. z.B. Tom Segev, Elvis in Jerusalem – die moderne israelische Gesellschaft, 2001 2) Der Beschluss der UN-Vollversammlung entsprach dem Mehrheitsvorschlag des UNSonderkomitees für Palästina (UNSCOP) vom April 1947. 3) Zu den Belegstellen, die unten auf den Seiten 6 und 7 aufgeführt sind, seien hier noch beispielhaft erwähnt: 5.Mose/Dtn 3,6; 13,13ff; Josua 10,28 – 40; 11,11 -14; Richter 21,10 +11 und 1 Sam 15,3 + 8 4) Siehe Anm. 3 Diese Landkarten veranschaulichen die territorialen Veränderungen in Palästina durch den Staat Israel nicht zuletzt aufgrund der im Text behandelten Bibelstellen.