Lesen Juden u. Chr., April 2010

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Peter Bingel *
Lesen Juden und Christen dieselbe Bibel?
Vom unterschiedlichen Gebrauch der Bibel und seinen politischen Folgen
im Nahostkonflikt
Stellen wir uns vor, es gäbe nicht die Bibel, speziell das Alte Testament bzw. die
Hebräische Bibel (AT / HB): Gäbe es dann die jüdische Kolonisation Palästinas
seit dem Ende des 19. Jahrhunderts? Gäbe es dann die zionistische Bewegung,
die politisch auf den jüdischen Besitz von ganz Palästina zielt? Wären dann
Millionen arabische Palästinenser, die in Palästina dasselbe Heimatrecht haben
wie wir Deutschen in Deutschland und wie jeder Mensch in seinem Land,
vertrieben, teils getötet, ins Elend getrieben, in Flüchtlingslager oder in
Bantustans
oder in das Freiluftgefängnis Gazastreifen gepresst? Würde dann seit
Jahrzehnten diese tiefe Wunde zwischen der westlich-christlichen Welt und der
arabisch-muslimischen Welt schwären?
Nun, es gibt diese Bibel, das meistverbreitete Buch auf unserem Globus, das
Buch der Juden und der Christen, ihre „heilige“ Schrift, die sie gemeinsam
haben, abgesehen davon, dass die Christen im Neuen Testament die für sie
zentrale Urkunde, nämlich die Zeugnisse von Jesus Christus und von der frühen
Kirche Jesu Christi haben.
Wer liest was in der Bibel?
Dass die meisten Menschen kaum wissen, was im muslimischen Koran steht, ist
bekannt. Viel weniger bewusst ist, dass den meisten nur sehr partiell klar ist,
was – christlich gesprochen – im „Alten Testament“ steht. Das ist deshalb so
entscheidend, weil Christen völlig andere Dinge in diesem riesigen
Schriftenkomplex lesen bzw. gelehrt bekommen als Juden. Selbst christliche
Theologen nehmen kaum wahr, was Juden hauptsächlich in dieser Bibel lesen
und was das für sie praktisch-politisch bedeutet.
Für Christen ist diese Bibel ein rein religiöses Buch. Dagegen ist sie für die
meisten Juden ein national-geschichtliches Buch, zumal die Mehrheit der Juden
(75 – 80%) keine religiöse Orientierung hat. Für die religiösen Juden ist sie
natürlich ein religiöses, aber sie ist zugleich auch ein politisches Buch, weil
wesentliche Glaubensfragen für Juden, z. B. die Landfrage, zugleich politische
Fragen sind. Die Gesprächspartner der christlichen Theologen sind religiöse
Anm. *: Erstellt von Peter Bingel, ev. Theologe, Schulleiter i. R.
in enger Zusammenarbeit mit Winfried Belz, kath. Dipl.-Theologe, Klinikseelsorger i. R.
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Juden, Rabbiner, also keine Vertreter des nichtreligiösen Mehrheitsjudentums.
Diese Rabbiner pflegen für das gesamte Judentum zu sprechen, als würden alle
Juden ihr Judentum religiös verstehen. Dadurch lassen sich die christlichen
Gesprächspartner in die Irre führen.
Christen kennen die „Urgeschichten“ von Schöpfung und Sündenfall, Turmbau
von Babel und Arche Noah etc. Sie hören von Abrahams Gottesbegegnung und
Berufung, von Joseph in Ägypten, vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten,
von den am Berg Sinai gegebenen Geboten und vom Einzug in das „gelobte“,
also das von Gott „versprochene“ Land. Die Propheten und die Psalmen spielen
für sie eine große Rolle.
Demgegenüber hat die Bibel für Juden eine ganz andere Betonung und
Bedeutung, indem sie vorwiegend andere Texte in dieser großen
Schriftensammlung lesen. Die meisten Juden lesen ihre Bibel als
geschichtliches, als nationales, als politisches Buch. Es enthält für sie die
identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Volksgründungsmythen. Diese liegen
für die Frühgeschichte in mythologisch-legendären Formen vor. Später sind
diese Schriften geschichtlich zuverlässiger, tradiert mit religiös-theologischen
Kommentaren. Immer steht dabei die Ethnie „Israel“ im Mittelpunkt, mit
Jahwe, dem Gott Israels. Im Judentum waren Religionsgemeinschaft und
Volksgemeinschaft ungewöhnlich lange identisch, weit über die Zeitenwende
hinaus, bis ins 18. Jahrhundert.
Für das religiöse Judentum ist die Tora, sind die fünf Bücher Mose, der zentrale
Teil der Hebräischen Bibel. In der wissenschaftlichen Exegese und in der kath.
Tradition heißen sie: Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium.
Neben vielen Gesetzesvorschriften enthält die Tora bereits viel Politisches, von
der Landverheißung an Abraham bis zur befohlenen Art und Weise, wie gegen
die in Palästina einheimischen Völker vorzugehen sei (z. B. 5. Mose /Dtn 20).
Für den überwiegenden Teil des Judentums, der säkular ist, sind folgende
Bücher innerhalb der Hebräischen Bibel von hoher, nämlich nationaler
Bedeutung: Teile aus den Mosebüchern, Josua, Richter, 1. und 2. Samuel, 1. und
2. Könige, 1. und 2. Chronik, Esra und Nehemia, später dann die nur in
griechischer Sprache vorliegenden Makkabäerbücher.
Dasselbe Buch in völlig verschiedener Nutzung
Wir haben also zwischen zwei Buchdeckeln sehr verschiedenartige Literaturen,
die auch völlig unterschiedlich genutzt werden. Das Christentum hat nach dem
Zeugnis des Neuen Testaments kein Interesse an der geschichtlich-politischen
Bedeutung von alttestamentlichen Texten, wie sie heute der Zionismus für seine
Begründungen nutzt. Entsprechend werden solche Texte im Gegensatz zu vielen
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anderen alttestamentlichen Schriftstellen im NT nicht zitiert. Für das
zionistische Judentum dagegen sind die geschichtlich-politischen Teile der
Hebräischen Bibel ein wichtiger Teil der ethnisch-nationalen Selbstfindung und
Selbstgestaltung, die seit über 100 Jahren im Gange ist. Mit anderen Worten:
Faktisch haben Christen und Juden sehr unterschiedliche Bibeln, weil das
Mammutwerk Bibel je nach Interessenlage sehr Unterschiedliches hergibt.
Judentum als religiöse und als ethnisch-nationale Gemeinschaft
Die unterschiedliche Nutzung hängt damit zusammen, dass Christentum und
Judentum derart verschieden sind, dass man diese „Größen“ nicht direkt
parallelisieren kann. Denn das Christentum ist eine reine Religionsgemeinschaft.
Judentum dagegen ist zugleich eine religiöse und eine ethnische Gemeinschaft.
Es gibt Judentum als Religion und Judentum als Nation, als Ethnie, als Volk. Im
Laufe der Geschichte hat sich das Zueinander dieser beiden Elemente stark
gewandelt. Im Altertum und bis in die beginnende Neuzeit hinein gab es
Judentum nur in der Identität von Religionsgemeinschaft und
Volksgemeinschaft, wobei das Element Religionsgemeinschaft zeitgemäß bei
Juden und Nichtjuden im Vordergrund des Bewusstseins stand. Die genannte
Verbindung zerbrach in der Aufklärungszeit, zunächst in der westlichen Welt.
Das führte zu einer großen Identitätsunsicherheit bzw. auch zu Identitätsverlust
im Judentum. Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es dann eine im Judentum bis
dahin noch nie da gewesene Erscheinung: eine neue, unreligiöse, rein
nationale Identität des Judentums, die vor allem Theodor Herzl propagierte
und förderte. Das ist die weitgehend erfolgreiche und auch heute noch
hochwirksame zionistische Bewegung, deren Ziel, die Kolonisierung ganz
Palästinas inzwischen weitgehend erreicht ist.
Etwa 50 Jahre nach der Begründung des Zionismus ergab sich mit der jüdischisraelischen Staatsgründung und erst recht mit dem Zugang zur Jerusalemer
Altstadt sowie mit der jüdischen Okkupation des gesamten Restpalästina 1967
eine grundlegende Wandlung in Teilen der jüdischen Religion (Anm.1): Bis
dahin, und zwar seit dem Sieg der Römer gegen die jüdischen Aufstände im 1.
Jahrhundert
n. Chr., war die jüdische Religion weitgehend unpolitisch gewesen. Nun aber
wandelte sich mit der militärischen Eroberung des Eretz Israel, des „Landes
Israel“, die jüdische Religion radikal: Das Land trat wieder in den Mittelpunkt
religiösen Glaubens, und zwar das Land in seiner ursprünglichen politischen
Bedeutung. Nach den tief verstörenden Holocaustgeschehnissen schloss sich die
jüdische Religion gewissermaßen dem von seiner Gründung her rein säkularen
und inzwischen grundlegend erfolgreichen Zionismus an: Nach der jüdischen
Staatsgründung im Jahr 1948 wurden die nationalen zionistischen Ziele rasch
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auch als religiöse jüdische Ziele und Selbstverständlichkeiten definiert. Der
Vorgang dieser tiefgreifenden Wandlung in der jüdischen Religion seit der Mitte
des 20. Jahrhunderts ist noch kaum ins allgemeine Bewusstsein getreten. Im
Ergebnis haben wir im heutigen Judentum, vor allem im israelischen, ein neues
Amalgam von Nation und Religion vor uns. Es ist vergleichbar dem Judentum
der alten Zeit vor der aufstandsbedingten Diaspora. Allerdings haben wir es in
einer anderen Gewichtung vor uns: Im Vordergrund steht heute nach jüdischem
Selbstverständnis eindeutig das Judentum als Ethnie, als Volk, als Nation.
Innerhalb dieser jüdischen Nation spielt die jüdische Religion eine eigene, eine
begrenzte, aber durchaus bedeutende Rolle. Die Verbindung von Nation und
Religion, die es in der Weltgeschichte schon oft gab, führt im heutigen
Judentum vielfach zu einem spezifischen Fundamentalismus und Fanatismus.
Christlicher Irrtum: Judentum nur als Religion
Auf christlicher Seite werden die Wandlungen weitgehend übersehen, die auf
jüdischer Seite stattgefunden haben. Theologen und Kirchenführer pflegen nur
mit Rabbinern umzugehen, um Genaueres über das Judentum zu erfahren und
mit der jüdischen Seite das Verhältnis „Christen - Juden“ zu reflektieren. Von
Rabbinern werden alle Juden als religiöse Juden betrachtet und deshalb
verstehen sie „Israel“ grundlegend religiös. Das ist eine Verzerrung der
Wirklichkeit.
Christen ihrerseits denken immer noch so, als lebten wir in biblischen Zeiten.
Ihr Bild vom Judentum ist von den biblischen Texten geprägt. Dadurch wird
verhindert, dass im Christentum und entsprechend in der westlichen Welt das
Judentum in seiner ethnisch-nationalen und somit politischen Realität
sachgemäß in den Blick genommen wird. Das Judentum, speziell das
israelische, kann aber in seiner politischen-nationalen Existenz gar kein
Gegenüber zum Christentum als Religionsgemeinschaft sein, denn der
christliche Glaube hat keine spezifische Beziehung zu irgendeiner Nation,
auch nicht zur jüdischen. Dass sich der Staat Israel seinerseits in unklarer
Begriffsbestimmung auch im Sinne der Religion als „jüdisch“ bezeichnet, kann
keinen Einfluss auf das Christentum haben, denn das Christentum ist
grundsätzlich nationen-neutral.
Die politische Zentralbotschaft der Hebräischen Bibel
Hunderte Male steht es im Alten Testament, dass Gott den Juden Palästina,
damals „Kanaan“ genannt, zuspricht, am häufigsten in den oben genannten
Geschichtsbüchern, aber es beginnt bereits mit Abraham, der mythologischen
Symbolfigur für Juden, Christen und Muslime. Da wird Gott zitiert: „Das ganze
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Land, das du siehst, will ich dir und deinen Nachkommen für immer geben“ (1.
Mose/Genesis 13,15, vgl Abrahams Berufung 12,7). Das setzt sich fort bei
„Gottes Bund mit Abraham“ (15, 18): „An diesem Tag schloss der Herr mit
Abraham folgenden Bund: Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land vom
Grenzbach Ägyptens bis zum großen Strom, dem Eufrat“, also einem zukünftig
riesigen Volk ein riesiges Land, und dann werden V 19 elf Völker aufgezählt,
deren Land Gott im Rahmen seines Abrahambundes dem jüdischen Volk gelobt/
verspricht. Und in 1. Mose/Gen 17,7 heißt es: „Dir und deinen Nachkommen
gebe ich ganz Kanaan, das Land, für immer zu eigen …“
In den Geschichtsbüchern, die im 6. Jahrhundert vor Christus ihre endgültige
literarische Form gefunden haben, finden sich vielfach aus dem Munde Gottes
oder in Beziehung auf Gottesworte Wendungen folgender Art: „Zieh über den
Jordan hier mit diesem ganzen Volk in das Land, das ich ihnen, den Israeliten,
geben werde. Jeden Ort, den euer Fuß betreten wird, gebe ich euch.“ „Du sollst
diesem Volk das Land zum Besitz geben, von dem du weißt: Ich habe ihren
Vätern geschworen, es ihnen zu geben.“ (Ihr werdet) „in das Land hineinziehen
und es in Besitz nehmen, das der Herr, euer Gott, euch zu eigen gibt“ (Josua 1,
2-3,6,11). „So gab der Herr Israel das ganze Land, das er ihren Vätern mit einem
Eid zugesichert hatte. Sie nahmen es in Besitz und wohnten darin“ (Josua
21,43).
Im Zusammenhang mit der Wegführung eines großen Teils der israelitischen
Bevölkerung nach Babylon hatte es in diesem 6. Jahrhundert besondere Gründe
gegeben, den Umgesiedelten klar zu machen, dass nach wie vor Palästina ihr
Land, ihr von Gott zugesichertes Land, bleibt. Die betreffenden Schriften sind
im Laufe der Zeit zu heiligem Wort Gottes geronnen und Mittelpunkt jüdischen
Glaubens geworden. Dadurch bekam das jüdische Haften an diesem Land eine
über alle Maßen gewichtige göttliche Legitimation und noch viel mehr: einen
Auftragscharakter. Einst hatte das Judentum die Wegführung nach Babylon und
die dortige Diasporaexistenz überlebt. In unseren Zeiten glaubt das religiöse
Judentum, dass die jetzige Neubesiedlung und dazu die Neubeherrschung
Palästinas weiterhin auf der Linie der einstigen Gottesversprechungen zu sehen
ist. Das nationale Judentum seinerseits betrachtet, ebenfalls auf dem Boden der
Bibel, die zionistische Kolonisation als geschichtliches Recht. Das politische
Judentum unserer Tage wird nicht müde, von den „historischen und natürlichen
Rechten“ der Juden auf das Land Palästina zu sprechen. So formulierte es
bereits Ben Gurion bei der Ausrufung des jüdischen Staates 1948 und so vertritt
es heute die israelische Botschaft in Berlin. Das sind vermeintliche Rechte, die
es sonst nirgends auf der Welt gibt. Die Legitimation für den jüdischen Staat
beruht einzig und allein auf dem UNO-Teilungsbeschluss vom 29. 11.1947
(Anm. 2). Alles andere ist Mystifizierung und ideologischer Nationalismus.
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Die biblische Praxis des befohlenen Genozids
Im Blick auf die nationale und die religiöse Wirksamkeit der Hebräischen Bibel,
wie sie im Judentum den Umgang mit der Landfrage prägt, ist es entscheidend,
welche Maßstäbe für die Eroberung des palästinensischen Landes darin
vorgegeben sind. Ein zentrales Muster ist der Genozid, der im Alten Orient
übliche Praxis war (Anm. 3). Er bedeutete: In einer eroberten Stadt werden alle
Menschen getötet. Manchmal kommt hinzu, alles Lebende zu töten, also auch
alle Tiere. In 5. Mose/Dtn 13,17 wird ein solcher Genozid „Ganzopfer“ genannt,
was im Hebräischen „Shoa“ und im Griechischen „Holocaust“ heißt. Diese
Praxis hat nach biblischem Zeugnis beim Volk Israel ihren selbstverständlichen
Platz und nimmt breiten Raum ein. Das sind natürlich Dinge, die im christlichen
Bibelunterricht nicht vorkommen und die in der westlich-christlichen
Gesellschaft kaum bekannt sind, obwohl man sie Schwarz auf Weiß nachlesen
kann. Deshalb wird nun von denjenigen, die diesen Text lesen, einige Geduld
gefordert, um unvoreingenommen wahrzunehmen, was durchaus zum heute in
Israel/Palästina virulenten jüdischen Erbe gehört, wobei es nicht auf die Zahl
oder die Gesamtheit der Tötungen ankommt, sondern darauf, dass die Schwelle
zum Töten bzw. zur frappierenden Missachtung von Menschenwürde und
Menschenrechten äußerst niedrig ist.
Der heiligste Teil der heiligen Schriften ist für Juden die Tora, die fünf Bücher
Mose am Anfang der Bibel. Die gesamte Tora wird im Laufe eines jeden Jahres
im jüdischen Gottesdienst verlesen. Im letzten Torateil wird die Praxis des
Genozids, die untrennbar eine religiöse und eine ethnische Praxis ist, genauer
beschrieben. Es handelte es sich um eine zweistufige Anweisung im Namen
Gottes. Bei der ersten Stufe geht es um eroberte Städte, die entfernt vom
vorgesehenen Siedlungsgebiet liegen.
5. Mose/Dtn 20,10-15 heißt es: „Wenn du vor eine Stadt ziehst, um sie
anzugreifen, dann sollst du ihr zunächst eine friedliche Einigung vorschlagen.
Nimmt sie die friedliche Einigung an und öffnet dir die Tore, dann soll die
gesamte Bevölkerung, die du vorfindest, zum Frondienst verpflichtet und dir
untertan sein. Lehnt sie eine friedliche Einigung mit dir ab und will sich mit dir
im Kampf messen, dann darfst du sie belagern. Wenn der Herr, dein Gott, sie in
deine Gewalt gibt, sollst du alle männlichen Personen mit scharfem Schwert
erschlagen. Die Frauen aber, die Kinder und Greise, das Vieh und alles, was sich
darin plündern lässt, darfst du dir als Beute nehmen. Was du bei deinen Feinden
geplündert hast, darfst du verzehren; denn der Herr, dein Gott, hat es dir
geschenkt. So sollst du mit allen Städten verfahren, die sehr weit von dir entfernt
liegen und nicht zu den Städten dieser Völker hier gehören.“
Die zweite Stufe, die Ausführung des vollen Vernichtungsbanns (oder
Vernichtungsweihe), wird dann mit den folgenden Versen angeordnet:
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V16-17: „Aus den Städten dieser Völker jedoch, die der Herr, dein Gott, dir als
Erbbesitz gibt, darfst du nichts, was Atem hat, am Leben lassen. Vielmehr sollst
du die Hetiter und Amoriter, Kanaaniter und Perisiter, Hiwiter und Jebusiter der
Vernichtung weihen, so wie es der Herr, dein Gott, dir zur Pflicht gemacht hat.“
Was bei dieser vollen Vernichtungsweihe geschieht, ist bereits im 2. Kapitel des
5. Mosebuches/Dtn beschrieben, wo es um die Eroberung des Ostjordanlandes
geht (V 31 -34): „Zu mir (Mose) aber sagte der Herr: Hiermit fange ich an. Ich
liefere dir Sihon und sein Land aus. Du fang an, in Besitz zu nehmen! Fang mit
seinem Land an! Sihon rückte mit seinem ganzen Volk gegen uns aus, um bei
Jahaz zu kämpfen. Der Herr, unser Gott, lieferte ihn uns aus. Wir schlugen ihn,
seine Söhne und sein ganzes Volk. Damals eroberten wir alle seine Städte. Wir
weihten die ganze männliche Bevölkerung, die Frauen, die Kinder und die
Greise, der Vernichtung; keinen ließen wir überleben.“
Das Gleiche wird im Folgekapitel beim Sieg über einen anderen König und sein
Volk berichtet.
Ein anderes Beispiel, diesmal aus dem Josuabuch Kap 6: Viele kennen die
eindrucksvolle Geschichte von der Eroberung Jerichos, wie die israelitischen
Priester und die bewaffneten Männer täglich unter ständigem Hörnerblasen die
Stadt umrunden und am siebten Tage bei lautestem Kriegsgeschrei der Israeliten
die Mauern Jerichos einstürzen und das Volk Israel die Stadt erobert. Weniger
bekannt - weniger bekannt gemacht - sind die Umstände dieser sagenhaften
Eroberung: Vor dem Ereignis erklärt der Mosenachfolger Josua (V17): „Die
Stadt mit allem, was in ihr ist, soll zu Ehren des Herrn dem Untergang geweiht
sein.“ Das sieht dann so aus (V21): „Mit scharfem Schwert weihten sie alles,
was in der Stadt war, dem Untergang, Männer und Frauen, Kinder und Greise,
Rinder, Schafe und Esel.“ Es wäre interessant zu erfahren, wie viele Menschen
in der westlich-christlichen Welt hiervon etwas wissen. Gibt es im christlichen
Bereich überhaupt ein Interesse daran, solche Texte ernsthaft wahrzunehmen?
In der Hebräischen Bibel finden sich Dutzende Beispiele für diese alte
orientalische Praxis der Vernichtungsweihe, die als jüdisch-israelitische Praxis
im Namen Jahwes, des Gottes Israels, erscheint (s. Anm. 4).
EIN solches Beispiel soll noch genannt werden, weil es im heutigen Israel
immer wieder eine Rolle spielt. Es geht dabei um die Bekämpfung der
Amalekiter, die im Alten Testament als die größten Feinde Israels gelten, weil
sie sich den Israeliten bei ihrem Zug durch die Wüste entgegen gestellt hatten.
Nach 1. Samuel 15 bekommt König Saul vom Propheten Samuel im Namen
Gottes folgenden Auftrag: „Gehorche jetzt den Worten des Herrn! So spricht der
Herr der Heere: Ich habe beobachtet, was Amalek Israel angetan hat: Es hat sich
ihm in den Weg gestellt, als Israel aus Ägypten heraufzog. Darum zieh jetzt in
den Kampf und schlag Amalek! Weihe alles, was ihm gehört, dem Untergang!
Schone es nicht, sondern töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder
und Schafe, Kamele und Esel!“
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Dieses „Schone es nicht!“, anderen Orts in der Formulierung „Du sollst in dir
kein Mitleid aufsteigen lassen!“ (5. Mose/Dtn 7,16 und 19,21) hat seine
Entsprechung im kürzlich stattgefundenen Gazakrieg, den der
Verteidigungsminister Barak, der sich selbst einen alttestamentlichen Namen
gewählt hat, einen „Krieg ohne Gnade“ nennt (Anfang Januar 2009). „Amalek“
erscheint auch am Ausgang der Jerusalemer Holocaustgedenkstätte als
Mahnung: „Gedenke an Amalek!“ Die Bezeichnung „Amalek“ für die
größten Feinde der Juden wird im heutigen Israel immer wieder auf die
Palästinenser angewandt, dagegen kaum noch auf die Deutschen und ihre
Vernichtungspolitik gegenüber den Juden in der Zeit des Nationalsozialismus.
Vernichtungsweihe: Menschenbild und Gottesbild
Die Vernichtungsweihe, der Genozid, war eine Praxis, die in Israel wie bei
anderen altorientalischen Staaten zur ethnisch-religiösen Existenz gehörte.
Gelegentlich wird sie in der Hebräischen Bibel genau begründet: „damit sie (die
anderen Völker) euch nicht lehren, ihre (religiösen) Gräuel nachzuahmen, die sie
begingen, wenn sie ihren Göttern dienten, und ihr nicht gegen den Herrn, euren
Gott, sündigt“ (5. Mose/Dtn 20,18). Das heißt: Der Genozid diente der
religiösen Reinerhaltung, und zwar mit der Religion der Reinhaltung des Volkes
überhaupt.
Man könnte nun sagen, das alles sei längst grundsätzlich überwunden. Aber in
der aktuellen Verehrung der heiligen Schriften als Gotteswort ist bis heute das
zugehörige Menschenbild virulent, nämlich dass man durchaus Menschen
kollektiv und massenhaft umbringen darf, wenn es eine einleuchtende
Begründung dafür gibt, und genau das ist heute im Nahostkonflikt aktuell. Vor
allem die israelischen Siedlerrabbis und das Militärrabbinat arbeiten in dieser
Richtung. Der Auschwitzüberlebende Hajo G. Meyer kommt in seinem Buch
„Das Ende des Judentums“ zu dem Ergebnis, dass ein Teil der jüdischen
Geistlichkeit eine Auffassung von zentralen Lehrsätzen des Judentums vertritt,
die „offensichtlich auch Elemente, die zu barbarischen Taten anstiften“,
enthalten. Gerade aus den Tagen der israelischen Militäraktion gegen die
Menschen im Gazastreifen im Dez. 2008/ Jan. 2009 gibt es bedrückende
Zeugnisse hierfür.
Die Hebräische Bibel bietet in erheblichen Teilen ein Gottesbild, bei dem der
Gott Israels selbst es ist, der vertreibt. Das beginnt bereits mit der Berufung des
Abraham. Gott gibt Abraham und seinen Nachkommen das Land anderer Völker
(1. Mose/Dtn 15,18-21), womit es als gerechtfertigt gilt, das (versprochene)
Land anderer einfach zu nehmen. Gott selbst ist es, der diese Völker
„verschwinden lässt“, der alle Feinde Israels die Flucht ergreifen lässt (2.
Mose/Ex 23,23-27). Gott vertreibt die betreffenden Völker (V 29), er gibt die
Einwohner in die Hand Israels, damit Israel sie vertreiben (V32) und das Land in
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Besitz nehmen kann (V 30). Auch 2. Mose/Ex 34,11 verspricht Gott Jahwe, die
Völker vor Israel her zu vertreiben (vgl. 33,2 und 3. Mose/Lev 18,24 und 20,23),
damit Israel deren Boden in Besitz nehmen kann. Gott ist es, der diesen Boden
zum Besitz gibt. Er selbst ist der Eroberer (4. Mose/Num 32,4). Gott selbst
kämpft für Israel (5. Mose/Dtn 1,30). Aus Liebe zu diesem „seinem“ Volk
vertreibt er bei Israels Angriff die Völker, um deren Land Israel als Erbbesitz zu
geben (5. Mose/Dtn 4,37-38). 2. Mose/Ex 15,3 heißt es wörtlich: „Der Herr ist
ein Krieger, Jahwe ist sein Name“- Eine solche gewaltpolitische
Gottesvorstellung ist im Neuen Testament undenkbar.
Gott hatte den Stammvätern Israels, Abraham, Isaak und Jakob, geschworen, das
Land zu geben, im Ergebnis „große und schöne Städte, die Du nicht gebaut hast,
mit Gutem gefüllte Häuser, die Du nicht gefüllt hast, in den Felsen gehauene
Zisternen, die du nicht gehauen hast, Weinberge und Ölbäume, die du nicht
gepflanzt hast“ (5. Mose/Dtn 6,10-11, vgl. Josua 24,13). All solcher Raub ist
also legitimiert im Namen Gottes.
Was hier in der Bibel, in der „Heiligen Schrift“, dem „Wort Gottes“, vorgegeben
ist, hat natürlich seine erschreckenden faktischen Auswirkungen heute, da eine
verwandte politische Situation in Palästina gegeben ist.
Die genannten und ihnen verwandte Bibeltexte sind den meisten Christen nicht
bekannt. Wenn Theologen/Theologinnen und Exegeten/Exegetinnen sie
auslegen, versuchen sie den Texten ihre Anstößigkeit zu nehmen, indem sie
darauf hinweisen, dass die Vorgänge historisch sich so nicht zugetragen hätten.
Doch damit ist das Problem, welche Wirkung solche Texte haben, nicht vom
Tisch. Im jüdisch-israelischen Staat werden sie wahrgenommen und umgesetzt,
und zwar bei den Nationalen bzw. Nationalisten (Zionisten), bei den
fundamentalistisch Religiösen und bei den in der Knesset gegenwärtig stark
vertretenen National-Religiösen. Wen muss es da noch wundern, dass für das
heutige Israel UNO-Beschlüsse sowie Völker- und Menschenrechte keinerlei
Bedeutung haben? Wie sollte für ein Volk, das unter dem Einfluss dieser
Bibelpartien steht, ein Rauben, Töten und Vertreiben, das der Nation dienlich
erscheint, als verwerflich gelten, wo doch Gott selbst bzw. die biblische
Überlieferung ein Vorbild für solches Handeln liefern? Nachdem das Judentum
eine machtpolitische Größe geworden ist, bietet die Bibel für alles, was der Staat
Israel mit seinen Institutionen, Organisationen und Gruppen, einschließlich
seines Militärs und seiner Kolonisten („Siedler“), an Raub und Gewalttat ausübt,
- leider - eine absolute Rechtfertigung.
Es ist also festzuhalten: Als Hebräische Bibel, traditionell-christlich
gesprochen, als Altes Testament, hat die Bibel gegenwärtig im Nahen Osten
eine verheerende Wirkung. Sie predigt, in entsprechenden Partien gelesen,
gerade in der heutigen Situation jede Form von Menschenverachtung, Raub
und Unterdrückung gegenüber nichtjüdischen Völkern. Wenn es einen
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Weltindex der verbotenen Texte gäbe, müssten Teile dieser Bibel wegen
Volksverhetzung auf diesen gesetzt werden.
Es sei hier noch einmal eigens betont: Es geht um die Wirkungsgeschichte von
biblischen Texten! Wenn auch die professionellen Bibelausleger heute die
Auffassung vertreten, das Eindringen israelitischer Stämme ins kanaanäische
Land habe in Wirklichkeit als ein langsamer und weitgehend friedlicher
Vorgang stattgefunden und die gewaltverherrlichenden Texte seien
interessegeleitete Konstruktionen aus viel späterer Zeit, vor allem aus den
Jahrzehnten der babylonischen Diaspora im 6. vorchristlichen Jahrhundert, so
entschärft das keineswegs die Problematik, welche Wirkung Texte haben.
Auf jüdischer Seite ist die historisch-kritische Forschung nicht nennenswert
entwickelt. Von jüdisch-religiöser und jüdisch-nationaler Seite werden die
betreffenden Bibeltexte als Mitteilung von Fakten gelesen, ebenso von den zum
Teil einflussreichen christlich-evangelikalen Glaubensgruppierungen in der
westlichen Welt.
Die Hebräische Bibel, das Alte Testament und das ethische Versagen der
Christenheit
Im Unterschied zum Judentum in seiner doppelten Gestalt als Religions- und
Volksgemeinschaft ist das Christentum als reine Religionsgemeinschaft vom
Wesen her keine politische Größe. Zumindest heutzutage verstehen sich die
meisten Kirchen des Westens als eigenständige religiöse, nicht staatsabhängige
Gemeinschaften. Dabei berufen sie sich zu Recht auf das Evangelium und die
frühe Kirche. Seit der konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert waren die
Kirchen jedoch über viele Jahrhunderte hinweg Machtinstitutionen, die dem
christlichen Ethos zutiefst zuwider gehandelt haben. Dabei ist vor allem zu
denken an religiöse Unterdrückung, Kreuzzüge, Ketzer- und Judenverfolgungen
und Hexenverbrennungen etc. Doch mit der langsamen Reduktion dieser
Verbindung mit der weltlichen Macht seit der Aufklärung - oft gegen den
Widerstand der Kirchen - hat sich das christliche Menschenbild geklärt in
Richtung auf die Gottesebenbildlichkeit und Menschenwürde eines jeden
Menschen, unabhängig von Volk, Rasse, Klasse, Religion und staatlicher
Zugehörigkeit. Im christlich-abendländischen Raum wurden schließlich
verbindliche Grundvorstellungen von Menschenrechten und Völkerrecht
entwickelt.
Eine neue Situation ist nach dem 2. Weltkrieg entstanden. Betroffenheit über die
NS-Verbrechen an den Juden, der Wunsch nach Wiedergutmachung und die
Versöhnung mit dem Judentum bzw. mit „Israel“ sind die eine Sache. Hierdurch
wird aber eine angemessene Kritik an der jüdisch-israelischen
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völkerrechtswidrigen Besatzungs-, Landraub- und Kolonisierungspolitik und an
den massenhaften Menschenrechtsverletzungen aufs Äußerste erschwert. Kein
deutscher Politiker kann zusammen mit israelischen Kollegen ein ehemaliges
KZ in Europa oder Yad Vashem in Jerusalem besuchen und gleichzeitig, also im
Rahmen dieser Begegnung, die schreckliche Menschenverachtung der
israelischen Politik gegenüber der einheimischen palästinensischen Bevölkerung
und die jahrzehntelangen katastrophalen Folgen dieser Politik zur Sprache
bringen. Die gemeinsamen Besuche der Horrorstätten gehören aber
grundsätzlich zum Ritus aller solcher Begegnungen. Hier mischen sich
moralische Verpflichtung und politische Interessen. Dies hat zur Folge, dass von
westlicher Seite das christlich-abendländische Menschenbild und Ethos, wenn es
um den Staat Israel und sein Handeln in Palästina geht, fast immer verraten
wird.
Eine andere Sache ist es, daß im Christentum trotz zeitweiliger Verachtung und
wellenartiger Verfolgung des Judentums „Israel“ als geistliche Größe immer
hoch im Kurs stand. Dabei wurde bis vor etwa fünfzig Jahren dieses „Israel“ nur
als das alte, vergangene, gotterwählte Volk der Juden verstanden, das mit dem
Erscheinen Jesu Christi von dem „Neuen Israel“, der Kirche, abgelöst worden
ist. In einer radikalen Neuorientierung hat nach dem Holocaust und dem
Zweiten Weltkrieg die Christenheit in radikaler Selbstkritik weithin die
Überzeugung gewonnen, dass die Erwählung des jüdischen Volkes als „nicht
gekündigt“, als bleibend zu betrachten ist, dass sie also über den Verlust der
damaligen (Halb-) Staatlichkeit hinaus Bestand hat. Damit gilt das jüdische
Volk auch in der Gegenwart und weiterhin als das speziell mit dem Gottesbund
beschenkte, bevorzugte, erwählte Volk Gottes. Für die meisten Christen, vor
allem für die offizielle Theologie, befindet sich somit das aktuelle „Israel“, das
heutige Judentum, vielfach auch identifiziert mit dem jüdischen Staat, in einem
spezifischen Status der Besonderheit und Unberührbarkeit, unantastbar auch in
ethischer Hinsicht. Dies potenziert sich mit dem oben genannten speziell
deutschen Schuldbewusstsein aufgrund der Verfolgungs- und
Holocaustereignisse. Das Zusammenwirken der Schuld-Opfer-Problematik mit
dem christlichen Glauben an die göttliche Erwählung des aktuellen
Judentums und des aktuellen Israel führt dazu, dass das christlich-ethische
Denken, wenn es um den Staat Israel geht, verhängnisvoll gelähmt ist.
Hierzu kommt nun gravierend, was der Hauptgegenstand unserer
Beobachtungen ist: die politischen Inhalte der Hebräischen Bibel, des Alten
Testaments, der „Schrift“ werden von Christen weitgehend als „Wort Gottes“
gelesen. Während überall brutale Besatzungsherrschaft, fortgesetzter Land- und
Wasserraub, Unterdrückung, Schikanierung und Erniedrigung von Menschen,
massives Unrecht, Willkür und Zerstörung von Lebensgrundlagen etc. als
absolute Verbrechen gelten, gilt dies aber nicht, wenn es um Israel und seine
Politik geht. Auch aufgrund der entsprechenden oben z. T. aufgeführten
Bibeltexte werden solche Taten als unangreifbar angesehen, schweigend
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hingenommen und zugelassen. Der Staat Israel handelt nach biblisch
vorgezeichneter Theorie und Praxis: wie im alten Kanaan, so im heutigen
Palästina. Warum soll Israel keine Moscheen bombardieren, wenn ihm in der
Bibel geboten ist, die Altäre anderer Völker und Religionen zu vernichten?
Warum soll Israel nicht die Menschen ins Elend führen und vertreiben, die sich
sozusagen fälschlicher Weise noch auf dem Israel zugesprochenen Boden
befinden? Warum soll Israel nicht auf dem Landanspruch bestehen, ihn
rücksichtslos durchsetzen und darin unterstützt werden, wenn dieser biblischalttestamentlich von Gott hunderte Male zugesprochen und mit Gottes Hilfe
rigoros durchgesetzt wurde?
Überall auf der Welt ist es ohne weiteres möglich, wenigstens in Forderungen
das christliche Menschenbild und die christliche Ethik als Maßstab
einzubringen, nicht aber im Nahost-Konflikt:
Die israelische Macht-, Unterdrückungs- und Raubpolitik, die grundlegend dem
neutestamentlich begründeten christlichen Ethos – wie übrigens auch einem
humanistisch begründeten Ethos - widerspricht, ist durch die Bibel, genauer:
durch wesentliche Teile des Alten Testaments, gerechtfertigt und gedeckt.
Insofern ist sie bibelgemäß, und aufgrund des weit verbreiteten christlichen
Glaubens, dass die gesamte Bibel Wort Gottes ist, wirkt diese Politik für eine
Vielzahl von Christen auch glaubensgemäß und gottgemäß. Deshalb wird im
Nahostkonflikt von christlicher Seite eine an der Menschenwürde und an den
Menschenrechten ausgerichtete Politik vom Staat Israel nicht ernsthaft
eingeklagt.
Tägliche Unmenschlichkeit im Rahmen der völkerrechtswidrigen Besetzung
palästinensischer Gebiete wird ohne wirkliche Kritik zugelassen. Die politischen
biblisch-alttestamentlichen Botschaften lähmen die westlich-christliche Welt,
die gegen Völker- und Menschenrechte gerichtete Politik Israels überhaupt
realistisch wahrzunehmen, geschweige denn, gemäß der christlichen bzw.
humanistischen Ethik darauf zu reagieren. Dies ist der Hauptgrund für die
doppelte Moral, mit der der „christliche“ Westen auf das Handeln Israels
reagiert, des Staates, der die politische Konkretisierung des gotterwählten
Judentums darstellt. Dass im reformierten, calvinistischen Protestantismus, der
in den USA vorherrscht, das Alte Testament eine besonders hervorgehobene
Rolle spielt, kommt verstärkend hinzu. Jedenfalls lädt das Christentum durch
seine ethische Inkonsequenz schwere Schuld auf sich.
Mit anderen Worten: Durch wesentliche Teile des Alten Testaments führt die
Heilige Schrift in der gegenwärtigen Situation die Christenheit dazu, ihr
Menschenbild und ihre gesamte Ethik zu verraten. Dadurch wird das
Christentum und damit weitgehend auch die westliche Welt korrumpiert. Sie
werden zu Komplizen des israelischen Rechtsextremismus und unsäglicher
Unmenschlichkeiten. Mit der blinden Unterstützung des jüdischen/ israelischen
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Staates ist an die Stelle eines früheren Antijudaismus im Christentum weithin
ein pro-jüdischer, antipalästinensischer Rassismus getreten.
Dies hat kurz- und langfristig tragische und dramatische Folgen: Die arabischmuslimische Welt beobachtet das israelische Handeln natürlich nicht mit ähnlich
verbundenen Augen. Sie ist mit Recht empört über die doppelten Maßstäbe, die
seitens des Westens angewendet werden, wenn es um Israel geht. Diese
doppelten „standards“ machen den Westen völlig unglaubwürdig. Die
jahrzehntelange Vertiefung der Spaltung der Welt zwischen westlich-christlicher
und arabisch-muslimischer Welt, die in der Dauerwunde Nahostkonflikt eine
Hauptursache hat, ist wesentlich durch die Bibel verursacht: Einerseits durch
eine fundamentalistisch-nationalistische Auslegung auf jüdischer Seite und
andererseits durch einen unreflektierten christlichen Bibelglauben.
Es ist zu befürchten, dass das zu vielen weiteren Kriegen führt.
Es gibt nur eine Lösung: Das Christentum und mit ihm die westliche Welt
müssen sich aus einer Blindheit lösen, die von mangelnder Kritik an erheblichen
Teilen des Alten Testaments verursacht ist. Die Christen bzw. Kirchen müssen
authentisch christlich werden, das heißt: sich an Jesus Christus und seiner
Botschaft orientieren. Jesus hat mit seiner Botschaft von der radikalen
Nächstenliebe, die auch den Feind einbezieht, an prophetischen Texten der Bibel
angeknüpft, die Recht und Gerechtigkeit gerade dem Schwachen und
Unterdrückten gegenüber fordern (vgl. Amos 5,21-24; Jesaja 1,11-17 u.a.). Das
Christentum und die westliche Welt müssen sich energisch von unvertretbaren
altorientalisch-israelitischen Bedingtheiten lösen, von denen Teile der Bibel
bestimmt sind, die in Israels aktuelle Politik hinein wirken und die Christenheit
dazu verführen, ihrem Ethos substantiell untreu zu sein.
Bei dem Bemühen um eine konsequente christliche Ethik und um entsprechende
politisch-ethische Maßstäbe haben Christen alle jene als Verbündete, die sich
den humanen Werten Recht und Gerechtigkeit verpflichtet wissen – nicht zuletzt
auch diejenigen Juden, die die nationalistisch-zionistische Politik des Staates
Israel massiv kritisieren, und zwar in Israel selbst, bei uns in Deutschland, in
Europa und weltweit. Es gibt im Judentum auch eine universalistische,
humanistische Tradition, die in Texten der Hebräischen Bibel zum Ausdruck
kommt, wie z. B. Amos 3,9-10; 4,1b; Micha 4,2c-3; 6,8; Jesaja 32,17; Sacharja
4,6. Heute sind es Gruppierungen wie die „Rabbiner für Menschenrechte“ und
„Juden für einen gerechten Frieden“, die sich an dieser Tradition ausrichten.
Außerdem gibt es im Staat Israel mehrere hochengagierte Friedens- und
Menschenrechtsgruppen, die keinen politischen Einfluss haben, vielmehr auf
dem allgemeinen nationalistischen Hintergrund oft als Verräter am Judentum
betrachtet werden. Aber gerade sie sind es, die in gewisser Weise die Ehre des
Judentums retten. Ihnen ist wachsender Einfluss zu wünschen.
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Die biblischen Zitate wurden der Einheitsübersetzung entnommen.
Anmerkungen:
1) Vgl. z.B. Tom Segev, Elvis in Jerusalem – die moderne israelische Gesellschaft, 2001
2) Der Beschluss der UN-Vollversammlung entsprach dem Mehrheitsvorschlag des UNSonderkomitees für Palästina (UNSCOP) vom April 1947.
3) Zu den Belegstellen, die unten auf den Seiten 6 und 7 aufgeführt sind, seien hier
noch beispielhaft erwähnt: 5.Mose/Dtn 3,6; 13,13ff; Josua 10,28 – 40; 11,11 -14;
Richter 21,10 +11 und 1 Sam 15,3 + 8
4) Siehe Anm. 3
Diese Landkarten veranschaulichen die territorialen Veränderungen in
Palästina durch den Staat Israel nicht zuletzt aufgrund der im Text
behandelten Bibelstellen.
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