Warum Israel? von Thorsten Becker, Lehrer Im April 2008 ermöglichte uns die Harold–Bob–Stiftung durch eine großzügige Fördersumme, mit einer Gruppe von 16 Schülern für elf Tage nach Israel zu reisen. Elf Tage in Israel lassen den Reisenden eintauchen in eine Welt, die überraschend vielfältig und facettenreich ist: Wer erwartet, es gehe in diesem Land primär um den Konflikt zwischen Juden und Arabern, wird sehr enttäuscht werden: Man stößt auf unzählige verschiedene Lebensentwürfe und Religionen: Israelische Araber, die sich loyal zum Staat Israel erhalten und die genauso durch die Katjuscharaketen der libanesischen Hisbollah bedroht sind, wie die dort lebenden jüdischen Israelis; Araber, die den Staat Israel ablehnen, untereinander verfeindete Araber von Hamas und Fatah; säkulare Juden, orthodoxe Juden, ultraorthodoxe Juden, viele junge jüdische Soldaten, europäische Juden, russische Juden, orientalische Juden, äthiopische, schwarze Juden, zum Judentum konvertierte Christen, alte, deutsch sprechende Juden, die uns zum Teil freundlich, manchmal aber auch sehr ablehnend gegenübertraten, darüber hinaus: Drusen, Ba’hai, Beduinen, und nicht zuletzt: Christen aller Kirchen: protestantische Christen, armenische, orthodoxe, koptische, katholische, jüdische, Pilger auf der Via Dolorossa. Man kann die Bedeutung der Religion im Alltag erleben, wenn man am Schabbat durch das sonst so lebensfrohe Tel Aviv geht und die Straßen fast wie ausgestorben sind, oder wenn man in der Altstadt von Jerusalem vom Muezzin geweckt wird. Die politische Situation erlebt man an den Checkpoints in das Westjordanland, an der für uns ungewöhnlich hohen Präsenz von Polizei und Armee im Alltagsleben, an den ständigen Sicherheitskontrollen selbst an kleineren Kiosken. Man erlebt sie aber auch, wenn man die Mauer erlebt, die an vielen Stellen das israelische Kernland vom Westjordanland trennt oder wenn wir mit dem deutschen Botschafter in Tel Aviv sprechen. Dazu kommt die Konfrontation mit der Schoah, zum einen aus unserer eigenen deutschen Perspektive, z.B. wenn uns als Besucher der Shoa-Gedenkstätte Yad Vaschem deutlich wird, dass wir die Reden Hitlers und die schriftlichen Quellen sofort verstehen, während die anderen Besucher Untertitel und Übersetzungen benötigen, zum anderen aber erfährt man auch mehr über das israelische Selbstverständnis eines mutigen, starken und widerständigen Volkes, das z.B. im Museum in Lochame HaGhettaot zum Ausdruck kommt. Und nicht zuletzt erstaunt den Reisenden das Land Israel: Die Unterschiedlichkeit von Städten wie dem quirligen Tel Aviv, dem geschäftigen Haifa und dem religiösen Jerusalem. Wie erstaunt sind die Schülerinnen und Schüler, wenn sie sehen, dass der Felsendom und die Klagemauer fast näher zusammenliegen als unser Schulgebäude und seine Mensa. Die mediterrane Landschaft um Tel Aviv, die grünen Hügel Galiläas, der See Genezareth und das Tote Meer, die beide tief unter dem Meeresspiegel liegen, die Kühle in der hoch im Gebirge liegenden Stadt Jerusalem und die Hitze in der nur wenige Kilometer südwärts liegenden Wüste, genauso wie ihr unglaublicher Farbenreichtum und ihre Schönheit. Man bekommt ein Gespür für den Raum, in dem sich nach christlicher Überlieferung der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs den Juden offenbarte und in dem Jesus lebte und wirkte, als er versuchte, den Glauben an diesen Gott auf seinen Kern zurückzuführen. Diese Vielfältigkeit von Religion, Politik und Geographie den Schülerinnen und Schülern in elf Tagen begreifbar werden zu lassen, ist vollkommen unmöglich, zumal sie auch langjähr igen Israelfahrern unbegreifbar bleibt. Worin liegt aber dann der Sinn einer solchen Studienfahrt? Für mich als Lehrer für die Fächer Geschichte, Politik und Religion liegt die Antwort auf diese Frage nach wie vor in dem, für das der Name Auschwitz eine Chiffre geworden ist: Die hochrationale, fabrikmäßig organisierte – und damit historisch singuläre – Massenvernichtung v.a. jüdischen Lebens, und darüber hinaus, wie neueste Forschungen gezeigt haben: Die Beteiligung völlig normaler Menschen – und eben nicht nur verrohter Bestien oder fanatischer SS-Männer – an Massenerschießungen und Gräueltaten. Daraus ergibt sich die niederschmetternde Erkenntnis, die zuvor wohl aufgrund der Unglaublichkeit des Gedankens die Wenigsten geglaubt haben werden: Auschwitz war möglich. Das bedeutet aber auch: es wird auch wieder möglich sein. Man könnte dies nun historisierend abtun und in einen geschichtlichen Kontext einbetten, wenn man nur heute dagegen gefeit wäre, aber die mangelhafte Aufarbeitung vor allem der Denkstrukturen, die die Menschen damals so empfindungs- und empathielos haben werden lassen, dass sie Auschwitz nicht verhindert haben, verbietet das. Die Diskussion um die Karfreitagsfürbitte hat gezeigt, mit welcher Halbherzigkeit die katholische Kirche eine Verständigung mit dem Judentum sucht. Im Protestantismus ist für die stetig anwachsenden evangelikalen Gruppen die Judenmission eine Selbstverständlichkeit. Und solange der Antisemitismus aus den Texten von Politikern wie Möllemann und Hohmann nicht verschwindet, muss man erkennen, dass der „Schoß noch fruchtbar [ist] aus dem das kroch“. Die Aufgabe, die sich für uns daraus ergibt ist zweischichtig: Zuerst: Schuld an der Shoah tragen meines Erachtens weder unsere Schülerinnen und Schüler noch alle anderen, die zu dieser Zeit nicht gelebt haben oder noch Kinder waren. Schuldig werden wir aber, wenn wir uns nicht daran machen, das Antisemitische in unserem christlichen Denken und in unserem politischen Reden mit der Wurzel auszureißen. Darüberhinaus: Aus vielen Gesprächen mit Israelis und Arabern haben wir gelernt, dass vor allem die junge Generation in Israel kriegsmüde geworden ist. „Wir jungen Israelis haben den Krieg satt“ sagte uns einer, der gerade seinen Wehrdienst beendet hatte. Ich setze große Hoffnung in unsere Schülerinnen und Schüler, dass sie, wo immer sie es zu leisten vermögen, einen jungen und engagierten Friedensprozess unterstützen können und daran mitarbeiten werden, damit es eines – hoffentlich nicht allzufernen – Tages, tatsächlich zu einem nachhaltigen Frieden kommt. Können meine Schülerinnen und Schüler diese Aufgabe stemmen? Nein, und schon gar nicht alleine. Aber unsere Studienfahrt ermöglicht ihnen einen Anfang, einen Kontakt, eine Berührung mit Israel und dem Judentum. Wie auch immer dieser Kontakt verläuft, mit dem ihnen eigenen kritischen Geist bilden sie sich ein Urteil und tragen es zurück auf unsere friedliche Havelinsel nach Hermannswerder, zu ihren Mitschülern, ihren Freunden, in ihre Familien. Das sind viele kleine Mosaiksteinchen, mit denen sie – so ist zumindest meine nicht enden wollende Hoffnung – ein neues, junges Bild von Israel und vom Judentum schaffen, das in Zeiten der Not resistent ist gegen christliche Arroganz und Antisemitismus und das – um es mit Dietrich Bonhoeffer zu sagen – erst für die Juden schreit, bevor es gregorianisch singt.